Betoninsel - J.G. Ballard - E-Book

Betoninsel E-Book

J.G. Ballard

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Beschreibung

Auf seinem Heimweg von der Arbeit kommt Robert Maitland, ein 35-jähriger Architekt, mit seinem Jaguar von der Fahrbahn ab, durchbricht eine Leitplanke und wird auf eine Verkehrsinsel geschleudert. Als er verletzt wieder zu sich kommt, versucht er vergeblich Hilfe zu holen und die Fahrbahn oberhalb der Böschung mit ihrem rasenden Verkehrsstrom zu überqueren. Gefangen im verwilderten Niemandsland eines gigantischen Autobahnkreuzes muss er mit dem wenigen, was sich in seinem Wagen befindet, auskommen. Nach Überwindung von Schock und Apathie nimmt er den Kampf um sein Überleben auf, beginnt sich einzurichten und seinen Lebensraum auszukundschaften, bis er nach einer gewissen Zeit plötzlich bemerkt, dass er in der Zone nicht alleine ist...
Ballards zeitgenössische Version des Robinson Crusoe lotet auf meisterhafte Weise die grotesken Abgründe der Moderne aus und schafft eine zeitlose Allegorie der mensch­lichen Existenz zwischen technischer Monstrosität und archaischer Natur.

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Seitenzahl: 206

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J.G. Ballard

Betoninsel

Aus dem Englischen von Herbert Genzmer

diaphanes

Inhalt

Cover

Titel

1 Durch die Leitplanke

2 Die Böschung

3 Verletzung und Erschöpfung

4 Der Wasserbehälter

5 Der Begrenzungszaun

6 Das Unwetter

7 Der brennende Wagen

8 Die Botschaften

9 Fieber

10 Der Luftschutzbunker

11 Rettung

12 Der Akrobat

13 Das Feuersignal

14 Ein Schlückchen Gift

15 Die Bestechung

16 Die Nahrungsquelle

17 Das Duell

18 Fünf Pfund

19 Vieh und Reiter

20 Die Insel bekommt einen Namen

21 Delirium

22 Der Pavillon der Türen

23 Das Trapez

24 Flucht

1 DurchdieLeitplanke

Kurz nach drei Uhr am Nachmittag des 22. April 1973 fuhr ein fünfunddreißig Jahre alter Architekt namens Robert Maitland mit hoher Geschwindigkeit die Ausfahrt des Westway-Kreuzes in der Londoner Innenstadt hinunter. Fünfhundert Meter vor der Einfahrt auf den neu gebauten Abzweiger zur M4, als der Jaguar die Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 Stundenkilometern bereits überschritten hatte, platzte der linke Vorderreifen. Die explodierende Luft, die von der Betonbrüstung zurückschlug, schien in Robert Maitlands Schädel zu detonieren. Von einem Stoß mit dem Kopf gegen die Chromleiste des Seitenfensters benommen, umklammerte er während der letzten Sekunden vor dem Zusammenstoß die schlingernden Speichen des Lenkrads. Das Auto schleuderte von einer Seite auf die andere über die leeren Fahrbahnen und warf seine Hände wie die einer Puppe herum. Der zerfetzende Reifen zog eine schwarze diagonale Linie über die weißen Markierungsstreifen, die an der langen Kurve der Autobahnbegrenzung entlangliefen. Außer Kontrolle durchbrach der Wagen die Palisade der hölzernen Böcke, die als provisorische Straßensperren dienten. Über die Seitenbankette stieß das Auto den grasbewachsenen Abhang der Böschung hinunter. Dreißig Meter weiter kam es an der verrostenden Karosserie eines auf der Seite liegenden Taxis zum Halt. Kaum verletzt von diesem gewaltsamen Zwischenfall, der hier gerade sein Leben gestreift hatte, lag Robert Maitland gegen das Lenkrad gelehnt. Sein Jackett und seine Hose waren mit den glitzernden Splittern der zerborstenen Windschutzscheibe übersät wie ein Anzug aus Lichtern.

In diesen ersten Minuten, während er sich von seiner Benommenheit erholte, erinnerte Robert Maitland vom Unfall nur noch den explodierenden Reifen, das aufblitzende Sonnenlicht, als der Wagen aus dem Tunnel der Hochstraße fuhr, und die zerplatzte Windschutzscheibe, die sein Gesicht stach. Die Abfolge der gewalttätigen Ereignisse, jeweils nur Mikrosekunden in ihrer Dauer, hatte sich hinter ihm geöffnet und geschlossen wie ein Höllenschacht.

»… mein Gott…«

Maitland horchte und erkannte sein eigenes schwaches Flüstern. Seine Hände, mit Fingern, die gefühllos dalagen, als hätte man sie seziert, ruhten noch auf den zerbrochenen Speichen des Lenkrads. Er presste die Handflächen gegen den Rand des Steuers und drückte sich hoch. Der Wagen war auf abschüssigem Gelände zum Stehen gekommen, umgeben von Brennnesseln und wildem Gras, das hüfthoch vor dem Fenster wuchs.

Dampf zischte und spritzte aus dem geborstenen Kühler und spuckte Tropfen rostigen Wassers. Vom Motor tönte ein hohles Dröhnen, es klang wie sein mechanisches Todesröcheln.

Maitland starrte auf die Lenkstange unterhalb der Instrumentenanzeige und wurde sich der merkwürdigen Position seiner Beine bewusst. Seine Füße lagen zwischen den Pedalen, als seien sie überstürzt von dem mysteriösen Abbruchkommando, das den Unfall arrangiert hatte, dorthin gelegt worden.

Er bewegte seine Beine und war beruhigt, als sie wieder ihre gewohnte Position zu beiden Seiten der Lenksäule einnahmen. Die Pedale reagierten auf den Druck seiner Fußsohlen. Maitland ignorierte das Gras und die Autobahn draußen und begann eine behutsame Inventur seines Körpers. Er prüfte seine Oberschenkel und seinen Bauch, fegte die Glassplitter der Windschutzscheibe von seinem Jackett, betastete seinen Brustkasten und untersuchte seine Knochen auf Anzeichen für Brüche.

Im Rückspiegel überprüfte er seinen Kopf. Ein dreieckiger Bluterguss wie das Blatt einer Maurerkelle zeichnete seine rechte Schläfe. Seine Stirn war mit Schmutz- und Ölspritzern bedeckt, die durch die zerplatzende Windschutzscheibe ins Wageninnere getragen worden waren. Maitland knetete sein Gesicht und versuchte einen Ausdruck in seine schlaffe Haut und Gesichtsmuskulatur zu massieren. Alles Blut war aus seinem wuchtigen Unterkiefer und seinen harten Wangen gewichen. Die Augen, die ihn aus dem Spiegel heraus anstarrten, waren ausdruckslos und zeigten keine Reaktion. Es war, als sähe er einen psychotischen Halbbruder an.

Warum war er so schnell gefahren? Er hatte sein Büro in Marylebone um drei Uhr verlassen, um nicht in den Berufsverkehr zu geraten, Zeit genug also, langsam und sicher zu fahren. Er erinnerte sich daran, wie er in den zentralen Kreisverkehr des Westway-Kreuzes eingebogen, dann weiter auf den Tunnel der Hochstraße zugesteuert war. Er hörte noch die Reifen, wie sie die Betonschwellen entlangbretterten und in ihrem Windschatten Staub und Zigarettenschachteln wegfegten. Als der Wagen aus der Tunnelausfahrt glitt, warf die Aprilsonne einen Regenbogen auf die Windschutzscheibe und blendete ihn für einen Moment…

Sein selten angelegter Sicherheitsgurt hing am Haken neben seiner Schulter. Wie Maitland sich offen eingestand, fuhr er stets mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit. Einmal am Steuer eines Wagens, übermannte irgendein aus der Art geschlagenes Gen, in einem Anfall von Unbesonnenheit, seinen für gewöhnlich vorsichtigen und klarsichtigen Charakter. Heute, als er über die Autobahn raste, nach einer dreitägigen Konferenz ohnehin müde, gleichzeitig in Gedanken wegen der nicht zu leugnenden Doppelzüngigkeit, die sich daraus ergab, dass er seine Frau so bald nach einer Woche mit Helen Fairfax wiedersah, hatte er fast willentlich den Unfall herbeigeführt. Vielleicht in einer bizarren Form von moralischer Rechtfertigung seines Tuns.

Er schüttelte den Kopf über sich selbst und schlug die letzten Stücke der Windschutzscheibe mit der Hand heraus. Vor sich sah er die rostende Karosserie des auf der Seite liegenden Taxis, gegen das der Jaguar gefahren war. Halb von Brennnesseln verdeckt, lagen einige weitere Autowracks mit abmontierten Reifen und Chromleisten herum, die rostigen Türen standen offen.

Maitland stieg aus dem Jaguar und stand in hüfthohem Gras. Als er sich abstützte, verbrannte das heiße Kunststoffdach seine Hände. Im Schutz der hohen Böschung stand die Luft, aufgeheizt von der Nachmittagssonne. Einige wenige Autos, von denen nur die Dächer oberhalb der Brüstung sichtbar waren, fuhren über die Autobahn. Eine Linie tiefer Radspuren wie die Schnitte eines gigantischen Skalpells war von dem Jaguar in die gestampfte Erde der Böschung gefurcht worden und zeigte etwa dreißig Meter vom Tunnel entfernt den Punkt, wo er von der Straße abgekommen war. Dieser Abschnitt der Autobahn und ihre Zubringer westlich des Autobahnkreuzes waren erst vor zwei Monaten für den Verkehr freigegeben worden, und weite Abschnitte der Leitplanken mussten noch angebracht werden.

Maitland watete durch das hohe Gras zur Vorderseite seines Wagens. Ein einziger Blick sagte ihm, dass er jede Hoffnung aufgeben konnte, den Wagen zu einer nahe gelegenen Ausfahrtsstraße fahren zu können. Die Front war in sich selbst zusammengedrückt worden, wie ein eingefallenes Gesicht. Drei der vier Scheinwerfer waren kaputt, und der Kühlergrill war in die Waben des Kühlers gepresst worden. Die Wucht des Aufpralls hatte den Motor aus seiner Aufhängung gerissen, ihn nach hinten geschoben und dabei den Rahmen verzogen. Der scharfe Geruch von Frostschutzmittel und heißem Rost stach Maitland in die Nase, als er sich bückte, um die Radkästen zu untersuchen.

Den konnte er völlig abschreiben! Verdammt, er hatte diesen Wagen gemocht. Er ging durch das Gras zu einem unbewachsenen Flecken zwischen Jaguar und Böschung. Überraschenderweise hatte bisher noch niemand angehalten, um ihm zu helfen. Wenn die Fahrer aus dem Dunkel des Tunnels in die schnelle, vom nachmittäglichen Sonnenlicht erleuchtete Rechtskurve fuhren, waren sie wohl zu beschäftigt, um die zerbrochenen hölzernen Absperrplanken zu bemerken.

Maitland schaute auf seine Uhr. Es war drei Uhr achtzehn, wenig mehr als zehn Minuten waren seit dem Unfall vergangen. Als er durch das Gras ging, fühlte er sich benommen wie jemand, der gerade Zeuge eines erschütternden Ereignisses geworden war, einer Massenkarambolage oder einer öffentlichen Hinrichtung… Er hatte seinem achtjährigen Sohn versprochen, rechtzeitig daheim zu sein, um ihn von der Schule abholen zu können. Maitland stellte sich David in diesem Moment vor, wie er ruhig vor den Toren des Richmond Parks in der Nähe des Militärkrankenhauses wartete, ohne zu ahnen, dass sein Vater zehn Kilometer entfernt neben einem verunglückten Wagen am Fuß einer Autobahnböschung gestrandet war. Ironischerweise würde in diesem warmen Frühlingswetter eine Reihe von verkrüppelten Kriegsveteranen in ihren Rollstühlen an den Parktoren sitzen, als wollten sie dem Jungen die Auswahl von Verletzungen vorführen, die sein Vater erlitten haben könnte.

Maitland ging zum Jaguar zurück und schob das wilde Gras mit den Händen beiseite. Selbst diese kleine Anstrengung erhitzte sein Gesicht und seine Brust. Er sah sich ein letztes Mal um, mit dem bewussten Blick eines Mannes, der dabei ist, einen trostlosen Ort für immer zu verlassen. Von dem Unfall noch erschüttert, spürte er allmählich die Prellungen an seinen Schenkeln und seiner Brust. Der Zusammenstoß hatte ihn wie einen kaputten Punchingball auf das Lenkrad geworfen – die zweite Kollision, wie Sicherheitsexperten das technisch verniedlichend nannten. Er lehnte sich gegen den Kofferraum des Jaguars und versuchte, sich zu beruhigen; er wollte sich diesen Ort mit seinem wilden Gras und den verlassenen Autos im Gedächtnis einprägen, an dem er um ein Haar sein Leben verloren hätte.

Er beschirmte seine Augen vor dem Sonnenlicht und sah, dass er auf einer kleinen Verkehrsinsel verunglückt war, dreieckig und vielleicht zweihundert Meter lang, die in dem Niemandsland zwischen drei zusammenlaufenden Autobahnen lag. Die Spitze der Insel wies nach Westen auf die untergehende Sonne, deren warmes Licht über den entfernten Fernsehstudios von White City lag. Die Grundlinie bildete die nach Süden führende Hochstraße, die sich in einer Höhe von mehr als zwanzig Metern dahinzog. Sie ruhte auf massiven Betonsäulen. Ihre sechs Spuren waren durch metallene Blenden verdeckt, die die unten fahrenden Fahrzeuge schützen sollten.

Hinter Maitland bildete die zehn Meter hohe Böschung der nach Westen führenden Autobahn, von der er abgekommen war, den nördlichen Wall der Insel. Vor ihm und damit die südliche Begrenzung der Insel bildend, lag die steile Böschung des dreispurigen Zubringers, der sich in einem nordwestlichen Bogen unter der Hochstraße durchzog und an der Spitze der Insel in die Autobahn einmündete. Obwohl nicht einmal einhundert Meter entfernt, schien dieser frisch mit Gras bepflanzte Abhang hinter dem überhitzten Licht der Insel, von ihrem wilden Gras, den verlassenen Autos und Baustellengerätschaften verborgen zu sein. Der Verkehr floss über die westwärts führenden Spuren des Zubringers, aber die metallenen Leitplanken schirmten die Insel vor den Fahrern ab. Die hohen Masten von drei Richtungsanzeigern erhoben sich aus Betonfundamenten, die in die Seitenbankette der Straße eingelassen waren.

Maitland drehte sich um, als ein Flughafenbus auf der Autobahn vorüberfuhr. Die Passagiere auf dem oberen Deck, unterwegs nach Zürich, Stuttgart und Stockholm, saßen steif wie eine Gruppe von Schaufensterpuppen auf ihren Sitzen. Zwei von ihnen, ein Mann mittleren Alters in einem weißen Regenmantel und ein junger Sikh mit einem Turban auf seinem kleinen Kopf, sahen auf Maitland hinunter, und für ein paar Sekunden hatten sie Blickkontakt, aber Maitland entschied sich dagegen, ihnen zuzuwinken. Was dachten sie wohl, was er da tat? Vom Oberdeck des Busses könnte es durchaus so aussehen, als wäre sein Jaguar unbeschädigt, und vielleicht nahmen sie an, er wäre jemand von der Autobahngesellschaft oder ein Straßenbauingenieur.

Unter der Hochstraße am östlichen Ende der Insel trennte ein Maschendrahtzaun das Ödlanddreieck von dem Gebiet dahinter ab. Dieses Gelände war zu einem wilden Müllabladeplatz geworden. Im Schatten unter der Betonspanne lagen mehrere verlassene Möbellaster, ein Stapel leerer Reklametafeln, Berge von Reifen und Metallabfall. Vierhundert Meter östlich der Hochstraße war durch den Zaun ein Einkaufszentrum sichtbar. Ein roter Doppeldeckerbus bog um einen kleinen Platz und fuhr an den gestreiften Markisen mehrerer Geschäfte vorüber.

Es gab eindeutig keine andere Möglichkeit, die Insel zu verlassen, als über die Böschungen. Maitland zog den Zündschlüssel aus dem Armaturenbrett und öffnete den Kofferraum des Jaguars. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein umherwandernder Stadtstreicher oder Herumtreiber den Wagen fände, war gering – die Insel war von der sie umgebenden Welt an zwei Seiten durch die hohen Böschungen und den Maschendrahtzaun auf der dritten abgeschnitten. Die vorgeschriebenen Begrünungsmaßnahmen mussten von den Bauunternehmen noch durchgeführt werden, und so war das vorhandene Inventar dieses schäbigen Trakts, seine rostenden Autos und sein hartes Gras, noch unberührt.

Maitland fasste den Griff seines ledernen Handkoffers und versuchte, ihn aus dem Kofferraum zu heben. Von der Anstrengung wurde ihm schwarz vor Augen. Augenblicklich wich ihm das Blut aus dem Kopf, sein Kreislauf sank aufs notwendige Minimum. Er ließ den Koffer sinken und lehnte sich schwach gegen die offene Haube des Kofferraums.

In den polierten Flächen des hinteren Kotflügels starrte Maitland auf sein verzerrtes Spiegelbild. Sein großer Körper war schief wie der einer grotesken Vogelscheuche, und sein weißhäutiges Gesicht schwappte über die gekurvten Konturen der Karosserie. Die Grimasse eines Wahnsinnigen, mit einem Ohr am Ende eines langen Stiels, zehn Zentimeter von seinem Kopf entfernt.

Der Unfall hatte ihn mehr aus den Angeln gehoben, als ihm klar war. Maitland sah hinunter auf den Inhalt des Kofferraums – ein Werkzeugkasten, ein Stapel Architekturzeitschriften und ein Karton mit einem halben Dutzend Flaschen Weißburgunder, die er für seine Frau Catherine mit nach Hause brachte. Nach dem Tod seines Großvaters im vergangenen Jahr hatte Maitlands Mutter ihm immer wieder von dem Wein des alten Mannes gegeben.

»Maitland, du könntest jetzt einen Drink vertragen…«, sagte er laut zu sich selbst. Er schloss den Kofferraum ab, langte auf den Rücksitz des Wagens und nahm seinen Regenmantel, seinen Hut und seine Aktentasche heraus. Beim Aufprall war eine Menge vergessener Dinge unter den Sitzen hervorgerutscht – eine halbleere Tube Sonnencreme, Erinnerung an einen Ferienaufenthalt in La Grande Motte mit Dr.Helen Fairfax, den Vorabdruck eines Vortrags, den sie auf einem Seminar für Kinderärzte gehalten hatte, eine Schachtel von Catherines Zigarillos, die er versteckt hatte, als er wollte, dass sie das Rauchen aufgab.

Mit der Aktentasche in seiner linken Hand, dem Hut auf dem Kopf und dem Regenmantel über der rechten Schulter machte sich Maitland auf den Weg zur Böschung. Es war drei Uhr einunddreißig, immer noch weniger als eine halbe Stunde nach dem Unfall.

Er schaute ein letztes Mal auf die Insel zurück. Schon hatte das hüfthohe Gras, gezeichnet von den gewundenen Korridoren, die seine unsicheren Bewegungen um den Wagen bezeugten, wieder begonnen, sich aufzurichten, und verbarg den silbernen Jaguar fast. Ein dünnes gelbes Licht lag über der Insel, ein unerfreulicher Dunst, der aus dem Gras aufzusteigen schien und darüber hing wie über einer Wunde, die nie verheilt war.

Der Dieselmotor eines Lasters donnerte unter der Hochstraße. Maitland wandte der Insel den Rücken zu, schritt auf den Fuß der Böschung zu und kletterte mühsam die weiche Steigung hinauf. Er würde die Böschung erklettern, einen Wagen anhalten und wieder unterwegs sein.

2 DieBöschung

Die Erde floss um ihn herum wie ein warmer sandiger Fluss. Auf halber Höhe der Böschung sank Maitland bis zu den Knien in den rutschigen Abhang. Der lose aufgelegte Mutterboden war nur vorgesehen, die Grasdecke zu tragen, aber die Sämlinge, die durch die offene Oberfläche trieben, hatten diesen Belag noch nicht gefestigt. Maitland arbeitete sich weiter voran und suchte nach einem festen Untergrund, seine Aktentasche benutzte er dabei wie ein Paddel. Der steile Anstieg der Böschung ging beinahe über seine Kräfte, aber er trieb sich weiter.

Als er Blut in seinem Mund schmeckte, hielt er inne und setzte sich hin. Er hockte sich auf den pudrigen Abhang, zog sein Taschentuch aus der Tasche und betupfte seine Zunge und seine Lippen. Der rote Fleck formte den Abdruck seines zittrigen Mundes wie ein verbotener Kuss. Maitland befühlte die weiche Haut seiner Schläfe und seines Wangenknochens. Die Prellung zog sich von seinem Ohr bis zum rechten Nasenloch. Als er seinen Finger gegen die Oberlippe drückte, fühlte er die Verletzungen seines Zahnfleischs und der Nebenhöhlen, einen losen Eckzahn.

Während er darauf wartete, dass er wieder zu Atem kam, horchte Maitland auf den Verkehr, der über seinem Kopf dahinzog. Die Geräusche von Motoren dröhnten ohne Unterlass durch den Tunnel. Auf der anderen Seite der Insel hatte sich der Zubringer jetzt gefüllt, und Maitland schwenkte seinen Regenmantel in Richtung der vorüberfahrenden Wagen. Die Fahrer jedoch waren damit beschäftigt, sich auf die Wegweiser und die Auffahrt zur Autobahn zu konzentrieren.

Die Türme der fernen Büroblöcke reckten sich in die nachmittägliche Luft. Als Maitland den warmen Dunst über Marylebone absuchte, konnte er fast sein eigenes Gebäude erkennen. Irgendwo hinter den gläsernen Wänden des siebzehnten Stocks tippte seine Sekretärin die Tagesordnung für die Sitzung des Finanzausschusses in der nächsten Woche und dachte nicht einen Moment daran, dass ihr Chef mit blutigem Mund auf dieser Autobahnböschung hockte.

Seine Schultern begannen zu zittern, ein schnelles Rasen, das sein Zwerchfell verkrampfte. Mit Anstrengung nur überwand Maitland den Anfall. Er schluckte den Schleim, der in seiner Kehle würgte, und starrte auf den Jaguar, in Gedanken wieder bei dem Unfall. Es war dumm von ihm gewesen, die Geschwindigkeitsbegrenzung zu missachten. Er hatte sich darauf gefreut, Catherine wiederzusehen und in ihrem kühlen, in klaren Linien gehaltenen Haus mit seinen großen weißen Räumen auszuspannen. Nach drei Tagen mit Helen Fairfax, in der warmen und komfortablen Wohnung dieser klugen Ärztin, fühlte er sich kurz vor dem Erstickungstod.

Maitland stand auf und schob sich seitwärts über den Abhang. Drei Meter über seinem Kopf waren die befestigten Autobahnbankette und die Holzböcke der provisorischen Begrenzung. Maitland warf seine Aktentasche den Abhang hinauf. Auf Beinen und Unterarmen bewegte er sich wie eine Krabbe vorwärts, erklomm festeren Boden, langte dann mit beiden Händen nach den asphaltierten Banketten und zog sich auf die Straße.

Erschöpft von der Anstrengung, setzte Maitland sich unsicher auf einen der Holzböcke. Er wischte seine schmutzigen Hände an der Hose ab. Die Aktentasche und der Regenmantel lagen in einem schmierigen Bündel zu seinen Füßen wie das Gepäck eines Penners. Sein Hemd war schweißgetränkt, und Flecken zeichneten sich schon auf seinem Jackett ab. Er fühlte Blut in seinem Mund und schluckte ohne Unterlass.

Er stand auf und wandte sich dem entgegenkommenden Verkehr zu. Drei Spuren voll mit Fahrzeugen rasten auf ihn los. Sie kamen aus dem Tunnel und beschleunigten in der schnellen Kurve. Der Berufsverkehr hatte begonnen. Verstärkt durch die Wände und das Dach des Tunnels, hallte der Lärm von der Betonstraße um Maitland herum wider und ertränkte seine ersten Rufe. Ab und zu entstand zwischen den dahinrasenden Fahrzeugen ein Abstand von vielleicht fünfzehn Metern, aber selbst während dieser ersten Minuten, die Maitland dort mit Aktentasche und Regenmantel winkend stand, schoben sich die Aberhunderte von Wagen mit ihren heimwärtsdrängenden Fahrern immer enger zusammen, bis sie Stoßstange an Stoßstange fuhren.

Maitland ließ seine Aktentasche sinken und betrachtete den Verkehr, der an ihm vorbeitoste. Die roten Holzböcke waren durch den Fahrtwind der beschleunigenden Fahrzeuge durcheinandergeschoben worden. Tief am westlichen Himmel schien die starke Sonne den Fahrern jetzt direkt in die Augen, wenn sie aus dem Tunnel in die schnelle Rechtskurve fuhren.

Maitland sah an sich hinunter. Jackett und Hose waren mit Schweiß, Dreck und Motorenöl verschmiert – selbst wenn sie ihn bemerkten, wären nur wenige Fahrer scharf darauf, ihn mitzunehmen. Aber davon abgesehen war es nahezu unmöglich, hier mit der Geschwindigkeit herunterzugehen und anzuhalten. Der Druck des nachfolgenden Verkehrs, endlich frei von den langen Staus, die das Westway-Kreuz während des Berufsverkehrs immer blockierten, zwang sie unerbittlich weiter.

In dem Versuch, sich sichtbarer aufzustellen, schob sich Maitland das schmale befestigte Bankett entlang. An dieser schnellen Kurve war kein Fußgänger- oder Notweg vorgesehen, und die Autos, die mit einer Geschwindigkeit von einhundert Stundenkilometern an ihm vorbeisausten, waren nicht weiter als einen Meter von ihm entfernt. Immer noch mit Regenmantel und Aktentasche ging er die Reihe der Holzbegrenzungen entlang und schob dabei jede einzelne aus dem Weg. Er schwenkte seinen Hut durch die mit Abgasen erfüllte Luft und schrie über seine Schulter in den Motorenlärm:

»Hilfe…! Stopp…! Hierher…!«

Zwei Böcke, durch einen vorüberfahrenden Laster zusammengestoßen, blockierten seinen Weg. Die Autoschlangen rauschten vorbei und schwenkten unter den Wegweisern in Richtung Autobahnauffahrt hinüber. Bremslichter pumpten, und das Sonnenlicht loderte über die Windschutzscheiben wie elektrische Lanzen.

Warnend blökte hinter Maitland eine Hupe, als er um die Böcke herumkletterte. Mit einem böse gestikulierenden Insassen hinter dem Fenster zuckte ein Auto nur Zentimeter an seiner rechten Hüfte vorbei. Maitland wich zurück und sah den weißen Rumpf eines Polizeiwagens in der äußeren Spur. Nur zwei, drei Meter hinter der Stoßstange des vorausfahrenden Wagens, bewegte er sich mit einer konstanten Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern, aber der Fahrer sah sich nur über die Schulter nach Maitland um.

»Langsam…! Polizei…!«

Maitland schwenkte Hut und Aktentasche, aber der Polizeiwagen war von dem Fluss des Verkehrs weggespült worden. Bei dem Versuch, ihm zu Fuß zu folgen, wurde Maitland beinahe vom Kotflügel eines vorbeifahrenden Taxis erfasst. Eine schwarze Limousine raste aus dem Dunkel des Tunnels auf ihn zu, und der uniformierte Chauffeur bemerkte ihn erst im letzten Moment.

Maitland wurde sich klar, dass er an den Holzböcken zermalmt würde, und trat einen Schritt zurück. Seine rechte Hand schmerzte von einem Schlag. Die Haut war durch ein abstehendes Stück Fenster- oder Außenspiegeleinfassung aufgerissen worden. Er wickelte sein blutverschmiertes Taschentuch darum.

Etwa dreihundert Meter entfernt, jenseits der östlichen Einfahrt in den Tunnel, befand sich eine Notrufsäule, aber er wusste, dass er bei dem Versuch, durch den Tunnel zu gehen, ums Leben kommen würde. Maitland ging vorsichtig am Straßenrand entlang und stellte sich an der Stelle auf, wo der Jaguar von der Straße abgekommen war. Er zog seinen Regenmantel an und knöpfte ihn sorgsam zu, glättete seinen Hut und winkte den vorüberfahrenden Fahrzeugen ruhig zu.

Er stand noch dort, als es zu dämmern begann. Scheinwerfer zitterten an ihm vorbei, ihre Strahlen schnitten über sein Gesicht. Hupen dröhnten ohne Ende, während die drei Reihen von Fahrzeugen sich mit aufleuchtenden Rücklichtern auf die Auffahrt zubewegten. Der Berufsverkehr hatte seinen Höhepunkt erreicht. Schwach stand Maitland am Straßenrand und winkte mit kraftloser Hand, es schien ihm, als wäre jedes Fahrzeug in London dutzendmal an ihm vorbei- und wieder vorbeigefahren, und im Zuge einer großangelegten spontanen Verschwörung übersahen ihn alle Fahrer und Beifahrer absichtlich. Er war sich sehr klar darüber, dass bis zum Ende des Berufsverkehrs gegen acht Uhr niemand für ihn anhalten würde. Mit viel Glück könnte er dann vielleicht die Aufmerksamkeit eines einzelnen Fahrers auf sich lenken.

Maitland hob seine Armbanduhr in das blendende Licht der vorbeiziehenden Scheinwerfer. Es war sieben Uhr fünfundvierzig. Sein Sohn würde schon lange allein nach Hause gekommen sein. Catherine wäre entweder ausgegangen oder bereitete sich das Abendessen in der Annahme, er hätte sich entschlossen, weiterhin bei Helen Fairfax in London zu bleiben.

Maitland dachte an Helen, wie sie in ihrer Klinik mit dem Ophthalmoskop in der Brusttasche ihres weißen Kittels kritisch in die Augen irgendeines kleinen Kindes schaute, und sah auf die Wunde an seiner Hand. Er war jetzt müder und angegriffener als je zuvor seit dem Unfall. Selbst in der warmen, auspuffschwangeren Luft zitterte er stark; es fühlte sich an, als würde sein gesamtes Nervensystem mit unsichtbaren Messern abgeschabt und seine Nerven durch ihre Bahnen gezogen. Sein Hemd klebte an der Brust wie eine nasse Schürze. Gleichzeitig befiel ihn eine kalte Hochstimmung. Er vermutete, dass der Schwindel, den er fühlte, das erste Anzeichen für eine Kohlenmonoxydvergiftung war. Er winkte den in der Dunkelheit an ihm vorbeijagenden Wagen und torkelte hin und her wie ein Betrunkener.

Ein Tanklastzug raste über die äußere Spur auf ihn zu, seine gelbe Masse füllte fast den gesamten Tunnel aus. Als er sich durch die Biegung arbeitete, sah der Fahrer Maitland zwischen seinen Scheinwerfern schwanken. Druckluftbremsen zischten und stampften. Maitland ging dem Tankwagen gelassen aus dem Weg, nahm seinen Hut und warf ihn unter die gewaltigen Hinterräder. In sich hineinlachend, schaute Maitland zu, wie er verschwand.

»He…!« Er gestikulierte mit der Aktentasche. »Mein Hut – Sie haben meinen Hut…!«

Hupkonzerte um ihn her. Ein Taxi blieb beinahe stehen, seine Stoßstange streifte Maitlands Bein. Der Fahrer starrte wütend auf Maitland und tippte sich an die Stirn, als er davonfuhr. Maitland winkte ihm galant hinterher. Er wusste, dass er zu erschöpft war, um sich zu kontrollieren. Seine einzige Hoffnung war, dass er sich so verrückt aufführte, dass Leute nur deshalb anhielten, um ihn davon abzuhalten, ihre Autos zu beschädigen. Er schaute auf das Blut aus seinem Mund auf seinen Fingern, warf aber die Hand in die Luft und winkte dem Verkehr zu. Während er auf das Gewirr der nächtlich erleuchteten Betonrampen blickte, wurde er ihm klar, wie sehr er all diese Fahrer und ihre Fahrzeuge hasste.

»Anhalten…!«

Er schüttelte seine blutverschmierte Faust einer ältlichen Fahrerin entgegen, die ihn über ihr Steuerrad hinweg misstrauisch ansah.

»Ja, Sie…! Verschwinden Sie schon! Weg mit Ihrem verdammten Auto! Nein – anhalten!«

Er trat einen der hölzernen Böcke auf die Fahrbahn und lachte, als ein Laster ihn gegen ihn zurückwarf, so dass er gegen sein linkes Knie prallte. Er schob einen anderen hinterher.

Seine Stimme schwoll zu einem krächzenden Schrei über dem Verkehrslärm an, ein bitterer Urschrei.

»Catherine…! Catherine…!«