High-Rise - J.G. Ballard - E-Book

High-Rise E-Book

J.G. Ballard

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Beschreibung

Der Psychiater Dr. Robert Laing wohnt in einem hochtechnisierten Hochhaus mit 40 Stockwerken, das seinen Bewohnern den größten Komfort verspricht: Alles ist hier vorhanden, vom Supermarkt über Swimming-Pools bis zu Kindergärten, so dass die gutsituierten Bewohner das Haus nur noch zur Arbeit verlassen müssen. Eine perfekt scheinende »Gated Community« für die Mittelklasse. Allerdings sind die Etagen sowie die Parkplätze nach Einkommen und Status geordnet.
Laing macht nicht nur die Bekanntschaft des Fernsehjournalisten Richard Wilder, der im zweiten Stock wohnt, sondern auch die des Architekten und Schöpfers des Hochhauses, Anthony Royal, der über allen ganz oben residiert. Nachdem im Hochhaus nach und nach bestimmte Funktionen ausfallen, Aufzüge blockieren, die Müllschlucker ihren Dienst versagen, kommt es zu Konflikten zwischen den Parteien und den drei Protagonisten. Eine immer offenere Tyrannei tritt zu Tage und jeder gibt sich in der entstehenden Anarchie seinen Perversionen und Obsessionen hin. Keiner verlässt mehr das Haus, und die Zustände eskalieren in sinnloser Zerstörungswut…

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Seitenzahl: 296

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J.G. Ballard High-Rise

Aus dem Englischen von

Michael Koseler

Inhalt

1. Kritische Masse

2. Partyzeit

3. Tod eines Bewohners

4. Hinauf!

5. Die vertikale Stadt

6. Gefahr in den Straßen des Himmels

7. Vorbereitungen für den Auszug

8. Die Raubvögel

9. In den Niederungen

10. Der leere Teich

11. Strafexpeditionen

12. Zum Gipfel

13. Körperzeichnungen

14. Letzter Triumph

15. Die Abendbelustigung

16. Ein glückliches Arrangement

17. Der Pavillon am See

18. Der Blutgarten

1 Kritische Masse

Später, als er auf seinem Balkon saß und den Hund aß, dachte Dr. Robert Laing über die außergewöhnlichen Ereignisse nach, die sich während der vergangenen drei Monate in diesem riesigen Apartmentgebäude zugetragen hatten. Jetzt, da sich alles wieder normalisiert hatte, überraschte es ihn, dass es keinen offenkundigen Anfang gegeben hatte, keinen Punkt, von dem ab ihr Leben in eine deutlich unheilvollere Dimension eingetreten war. Mit seinen vierzig Stockwerken und tausend Apartments, seinem Supermarkt und seinen Swimmingpools, seiner Bank und seiner Grundschule – die alle in den oberen Regionen praktisch verlassen dalagen – bot das Hochhaus mehr als genug Gelegenheit zu Gewalttätigkeit und Auseinandersetzung. Seine eigene Einraumwohnung im fünfundzwanzigsten Stock war gewiss der letzte Ort, den Laing als Stätte eines Anfangsgeplänkels gewählt hätte. Diese überteuerte Zelle, die nahezu willkürlich in die steil aufragende Fassade des Apartmentgebäudes gefügt war, hatte er nach seiner Scheidung speziell deswegen gekauft, weil sie ihm Ruhe, Frieden und Anonymität gewährleistete. Trotz aller Bemühungen Laings, sich von seinen zweitausend Nachbarn und dem System belangloser Kontroversen und Irritationen, das ihre einzige Form von Kollektivleben darstellte, fernzuhalten, war es seltsamerweise gerade hier, wo sich das erste bedeutungsvolle Ereignis zugetragen hatte – auf diesem Balkon, wo er jetzt neben einem Feuer aus Telefonbüchern hockte und das gebratene Hinterviertel des Schäferhundes aß, bevor er zu seiner Vorlesung an der Medizinischen Hochschule aufbrach.

Als er vor drei Monaten an einem Sonnabendmorgen kurz nach elf Uhr das Frühstück zubereitete, wurde Dr. Laing durch eine Explosion auf dem Balkon vor seinem Wohnzimmer aufgeschreckt. Eine Flasche Schaumwein war aus einem fünfzehn Meter über ihm gelegenen Stockwerk gefallen, war, während sie nach unten sauste, von einer Markise abgeprallt und auf dem gefliesten Balkonfußboden zerschellt.

Der Wohnzimmerteppich war mit Schaum und Glasscherben gesprenkelt. Laing stand mit nackten Füßen inmitten der scharfen Splitter und beobachtete, wie der in Wallung geratene Wein über die geborstenen Fliesen schäumte. Hoch über ihm, im einunddreißigsten Stock, war eine Party im Gange. Er konnte die Geräusche absichtlich überdreht-lebhaften Geplauders, das aggressive Geplärr eines Plattenspielers hören. Vermutlich war die Flasche von einem ausgelassenen Gast über das Geländer gestoßen worden. Unnötig zu sagen, dass es niemanden auf der Party auch nur im geringsten kümmerte, wo dieses Geschoss schließlich landen würde – aber wie Laing bereits entdeckt hatte, neigten die Leute in Hochhäusern dazu, sich für Bewohner, die mehr als zwei Stockwerke unter ihnen lebten, nicht zu interessieren.

Um zu versuchen, das Apartment zu lokalisieren, stieg Laing über die sich ausbreitende Lache kalten Schaums. Hätte er dort gesessen, so hätte er sich leicht mit dem längsten Hangover der Welt wiedergefunden. Er lehnte sich über das Geländer hinaus und spähte die Fassade des Gebäudes hinauf, sorgfältig dabei die Balkons zählend. Wie gewöhnlich machten ihn jedoch die Ausmaße des vierzigstöckigen Blocks schwindlig. Er senkte die Augen zum gefliesten Fußboden und stützte sich gegen den Türpfosten. Das immense Volumen freien Raums, das das Gebäude vom rund vierhundert Meter entfernten Nachbarhochhaus trennte, brachte seinen Gleichgewichtssinn durcheinander. Bisweilen hatte er das Gefühl, in der Gondel eines Riesenrades zu leben, die ständig einhundert Meter über dem Erdboden schwebte.

Nichtsdestoweniger versetzte das Hochhaus Laing immer noch in Hochstimmung; es war eine von fünf identischen Anlagen im Entwicklungsprojekt und die erste, die fertiggestellt und bezogen wurde. Allesamt lagen sie am Nordufer des Flusses in einem Gebiet aufgelassener Hafen- und Speicheranlagen, das einen halben Quadratkilometer groß war. Die fünf Hochhäuser befanden sich am östlichen Rand des Projektgeländes, mit Blick über einen Zierteich – gegenwärtig ein leeres Betonbecken, das von Parkplätzen und Bauutensilien umgeben war. Auf dem gegenüberliegenden Ufer stand das vor Kurzem fertiggestellte Konzerthaus, flankiert von Laings Medizinischer Hochschule und den neuen Fernsehstudios. Die wuchtige Größenordnung der Glas- und Betonbauten sowie seine eindrucksvolle Lage an einer Biegung des Flusses hoben das Entwicklungsprojekt scharf von der heruntergekommenen Umgebung ab, verfallenden Reihenhäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert und leeren Fabriken, die für die Bebauung bereits in Abschnitte unterteilt waren.

Trotz der Nähe der drei Kilometer weiter westlich am Fluss gelegenen City gehörten die Bürogebäude Central Londons zu einer anderen Welt, zeitlich wie auch räumlich. Ihre gläsernen Blendwände und Fernmeldeantennen waren durch die Verkehrsabgase, die auch Laings Erinnerungen an die Vergangenheit verschwimmen ließen, nur undeutlich zu sehen. Vor sechs Monaten, als er den Pachtvertrag seines Hauses in Chelsea verkauft hatte und in die Geborgenheit des Hochhauses umgezogen war, war er fünfzig Jahre in der Zeit vorwärtsgereist, weg von überfüllten Straßen, Verkehrsstaus, U-Bahn-Fahrten in der Stoßzeit zum alten Lehrkrankenhaus, wo er in einem Büro, das er nicht für sich allein hatte, Studenten instruierte.

Hier hingegen war sein Leben von Weiträumigkeit, Licht und den Freuden einer subtilen Art von Anonymität geprägt. Für die Fahrt zum Physiologischen Institut der Medizinischen Hochschule brauchte er fünf Minuten, und von diesem einzigen Ausflug abgesehen, war Laings Leben im Hochhaus so autark wie das Gebäude selbst. Der Apartmentblock war praktisch eine kleine vertikale Stadt, deren zweitausend Einwohner in himmelwärts reichenden Kästen untergebracht waren. Das Gebäude war gemeinsamer Besitz der Bewohner und wurde von ihnen selbst mittels eines im Hause wohnenden Verwalters und seines Personals betreut.

Trotz seiner Größe enthielt das Hochhaus eine beeindruckende Reihe von Versorgungseinrichtungen. Das gesamte zehnte Stockwerk wurde von einer weitläufigen Halle eingenommen, die so groß war wie das Deck eines Flugzeugträgers und einen Supermarkt, Bank und Frisiersalon, einen Swimmingpool mit Sporthalle, einen gut bestückten Spirituosenladen und eine Grundschule für die wenigen kleinen Kinder im Block enthielt: Hoch über Laing, im fünfunddreißigsten Stock, gab es einen zweiten, kleineren Swimmingpool, eine Sauna und ein Restaurant. Entzückt von diesem Überangebot an Komfort, machte sich Laing immer weniger die Mühe, das Gebäude zu verlassen. Er packte seine Plattensammlung aus und nahm, auf seinem Balkon sitzend und über die Parkplätze und Betonflächen unter sich blickend, mit musikalischer Begleitung sein neues Leben auf. Obwohl das Apartment nur im fünfundzwanzigsten Stock lag, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, eher auf den Himmel hinunter- als zu ihm hinaufzublicken. Jeden Tag schienen die Türme Central Londons ein kleines bisschen entfernter, wie die Landschaft eines verlassenen Planeten, die allmählich seinem Gedächtnis entschwand. Im Gegensatz zu der ruhigen und klaren Geometrie des Konzerthauses und der Fernsehstudios unter ihm ähnelte die gezackte Skyline der City dem unruhigen Elektro-Enzephalogramm einer ungelösten psychischen Krise.

Das Apartment war teuer gewesen; Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad waren genau aneinandergepasst, um Raum zu sparen und Flure zu vermeiden. Gegenüber seiner Schwester Alice Frobisher, die mit ihrem Mann, einem Verleger, drei Etagen tiefer in einem größeren Apartment wohnte, hatte Laing die Bemerkung gemacht: »Der Architekt muss seine Entwicklungsjahre in einer Raumkapsel verbracht haben – es überrascht mich, dass die Wände nicht gekrümmt sind…«

Zuerst hatte die Betonlandschaft des Projekts für Laing etwas Befremdendes – eine Anlage, die für einen Krieg entworfen war, zumindest auf unbewusster Ebene. Nach all den Spannungen seiner Scheidung war eine Reihe von Betonbunkern das Letzte, worauf er jeden Morgen blicken wollte.

Alice überzeugte ihn jedoch bald von dem schwer bestimmbaren Reiz, den das Leben in einem Luxushochhaus hatte. Sieben Jahre älter als Laing, schätzte sie die Bedürfnisse ihres Bruders in den Monaten nach seiner Scheidung scharfsichtig ein. Sie hob die Effizienz der Versorgungseinrichtungen des Gebäudes hervor, die absolute Ungestörtheit. »Du könntest allein hier sein, in einem leeren Gebäude – bedenke das einmal, Robert.« Unlogischerweise fügte sie hinzu: »Außerdem ist es voll von Leuten der Art, die du kennenlernen solltest.«

Hier sprach sie einen Umstand an, der Laing bei seinen Besichtigungsbesuchen nicht entgangen war. Die zweitausend Bewohner bildeten eine praktisch homogene Ansammlung gut situierter Leute aus akademischen und freien Berufen – Rechtsanwälte, Ärzte, Steuerberater, ranghohe Universitätsdozenten und leitende Angestellte aus der Werbebranche, zusammen mit einer kleineren Gruppe von Piloten, Filmtechnikern und Trios von Stewardessen, die gemeinsam ein Apartment bewohnten. Nach den üblichen Maßstäben hinsichtlich Bildungsgrad und Verdienst standen sie einander wahrscheinlich näher als die Mitglieder jedes anderen sozialen Gemischs, hatten den gleichen Geschmack und die gleichen Ansichten, die gleichen Marotten und den gleichen Lebensstil – was seinen deutlichen Niederschlag fand in den Marken der Autos auf den Parkplätzen rings um das Hochhaus, in der eleganten, aber irgendwie genormten Weise, in der sie ihre Apartments möblierten, in der Auswahl an exquisiten Lebensmitteln in der Feinkostabteilung des Supermarkts, im Tonfall ihrer selbstsicheren Stimmen. Kurzum, sie stellten das perfekte Milieu dar, mit dem Laing unsichtbar verschmelzen konnte. Die überspannte Vision seiner Schwester – wie Laing allein in einem leeren Gebäude lebte – kam der Wahrheit näher, als ihr bewusst war. Das Hochhaus war eine gewaltige Maschine, die nicht dafür bestimmt war, dem kollektiven Ganzen der Bewohner zu Diensten zu stehen, sondern dem individuellen, isolierten Wohnungsinsassen. Sein aus Rohren von Klimaanlagen, Fahrstühlen, Müllschluckern und elektrischen Schaltsystemen bestehendes Personal sorgte für eine nie nachlassende Betreuung und Bedienung, für die man vor einem Jahrhundert ein ganzes Heer von unermüdlichen Dienstboten gebraucht hätte.

Von alldem abgesehen, war der Kauf einer Wohnung in der Nähe der neuen Medizinischen Hochschule durchaus sinnvoll, nachdem Laing dort zum Akademischen Rat in Physiologie ernannt worden war. Es half ihm außerdem, wieder einmal die Entscheidung, den Lehrberuf aufzugeben und sich als praktischer Arzt niederzulassen, aufzuschieben. Aber er sagte sich, dass er immer noch darauf wartete, dass seine wahren Patienten auftauchten – vielleicht würde er sie hier im Hochhaus finden? Dergestalt seine Bedenken wegen des Wohnungspreises mit Vernunftgründen beschwichtigend, unterschrieb Laing einen Vertrag auf neunundneunzig Jahre und bezog sein Tausendstel Anteil der Steilwand.

Die Geräusche der Party hoch über ihm hielten an, verstärkt von den Luftströmen, die dann und wann um das Gebäude fegten. Der restliche Sekt rieselte durch die Abflussrinne des Balkons und perlte in das bereits wieder makellos saubere Abflussrohr. Laing setzte seinen nackten Fuß auf die kalten Fliesen und löste mit seinen Zehen das Etikett von der Glasscherbe. Er erkannte den Sekt sofort wieder, eine Marke teuren, unechten Champagners, den der Spirituosenladen im zehnten Stock vorgekühlt verkaufte und der dort der beliebteste Artikel war.

Den gleichen Sekt hatten sie letzten Abend auf Alices Party getrunken, die in ihrer Art eine ebenso verworrene Angelegenheit gewesen war wie die, die gegenwärtig über ihm stattfand. Äußerst erpicht darauf, sich zu entspannen, nachdem er den ganzen Nachmittag in den Physiologie-Labors Versuche vorgeführt hatte, war Laing, der überdies ein Auge auf einen attraktiven weiblichen Gast geworfen hatte, auf unerklärliche Weise in eine kleinere Auseinandersetzung mit seinen unmittelbaren Nachbarn im fünfundzwanzigsten Stock geraten, einem ehrgeizigen jungen Kieferchirurgen namens Steele und seiner aggressiven, modebewussten Frau. Mitten in einer betrunkenen Unterhaltung war Laing plötzlich klargeworden, dass er es fertiggebracht hatte, sie wegen des gemeinsamen Müllschluckers tief zu kränken. Die beiden hatten Laing hinter der Bar seiner Schwester in die Enge getrieben, wo Steele ihn mit einer Reihe spitzer Fragen bombardierte, als sei er von der unverantwortlichen Einstellung eines Patienten gegenüber seinen Zähnen ernsthaft beunruhigt. Sein schmales Gesicht, das von einem Mittelscheitel gekrönt war – für Laing immer Anzeichen irgendeines sonderbaren Charakterzuges –, rückte immer näher, und fast erwartete Laing, dass Steele ihm eine Metallklammer oder einen Retraktor zwischen die Zähne zwängen würde. Seine heftige, glamouröse Frau unterstützte die Attacke, da sie sich von Laings lässiger Art, seiner Gleichgültigkeit gegenüber der ernsthaften Angelegenheit, im Hochhaus zu leben, irgendwie provoziert fühlte. Laings Vorliebe für Cocktails vor dem Lunch, sein nacktes Sonnenbaden auf dem Balkon und sein allgemein unkonventionelles Verhalten nervten sie offenbar. Sie war offensichtlich der Meinung, dass Laing mit seinen dreißig Jahren zwölf Stunden am Tag in einer Schickeria-Praxis arbeiten und in jeder Hinsicht so respektabel-wichtigtuerisch wie ihr Mann sein müsste. Ohne Zweifel betrachtete sie Laing als eine Art internen Ausbrecher aus dem medizinischen Beruf, der über einen Geheimgang in eine weniger verantwortungsbewusste Welt verfügte.

Dieses kleinkarierte Gezänk überraschte Laing, aber nach seiner Ankunft in dem Apartmentgebäude erkannte er bald die außergewöhnliche Anzahl schwach verhüllter Antagonismen in seiner Umgebung. Das Hochhaus hatte ein zweites Leben eigener Art. Die Gespräche auf Alices Party bewegten sich auf zwei Ebenen – nie weit unterhalb des Schaums fachsimpelnden Geplauders war eine harte Decke persönlicher Rivalität. Bisweilen hatte er das Gefühl, sie alle warteten darauf, dass jemand einen ernsthaften Fehler beging.

Nach dem Frühstück räumte Laing das Glas vom Balkon. Zwei der Schmuckfliesen waren geborsten. Leicht verärgert hob Laing den Flaschenhals auf, in dem noch der von Draht und Folie umwickelte Korken steckte, und warf ihn über das Balkongeländer. Einige Sekunden später hörte er ihn zwischen den unten geparkten Autos zersplittern.

Laing riss sich zusammen und spähte vorsichtig über die Brüstung – er hätte leicht jemandes Windschutzscheibe einschlagen können! Laut über diese normwidrige Geste lachend, blickte er zum einunddreißigsten Stock hinauf. Was feierten sie um elf Uhr dreißig vormittags? Laing hörte, wie der Lärm zunahm, als weitere Gäste eintrafen. War das eine Party, die versehentlich zu früh begonnen hatte, oder eine, die die ganze Nacht gedauert hatte und jetzt ihren zweiten Anlauf nahm? Die innere Zeit des Hochhauses verlief, wie eine künstliche psychologische Atmosphäre, nach einem eigenen Rhythmus, der durch eine Kombination von Alkohol und Schlaflosigkeit bewirkt wurde.

Auf dem Balkon schräg über ihm richtete eine Nachbarin Laings, Charlotte Melville, auf einem Tisch ein Tablett mit Drinks her. Seine strapazierte Leber machte sich unangenehm bemerkbar, und Laing erinnerte sich, dass er letzten Abend auf Alices Party eine Einladung zum Cocktail angenommen hatte. Dankenswerterweise hatte Charlotte ihn vor dem Kieferchirurgen mit der Müllschluckermacke gerettet. Laing war zu betrunken gewesen, um bei dieser gutaussehenden, fünfunddreißigjährigen Witwe irgendwie zu landen. Er hatte lediglich erfahren, dass sie Werbetexterin war und eine kleine, aber florierende Agentur besaß. Die Nähe ihres Apartments wie auch ihre ungezwungene Art reizten Laing und riefen in ihm ein verwirrendes, aus Lüsternheit und romantischer Erwartung gemischtes Gefühl hervor – er hatte festgestellt, dass er, je älter er wurde, romantischer und gleichzeitig gefühlloser wurde.

Sex war eine Sache, die, wie Laing sich ständig in Erinnerung rief, das Hochhaus potenziell im Überfluss bot. Gelangweilte Ehefrauen, aufgetakelt wie für eine aufwendige Mitternachtsgala auf dem Panoramadach, lungerten in den ruhigen Stunden des frühen Nachmittags bei den Swimmingpools und dem Restaurant herum oder schlenderten Arm in Arm die Halle im zehnten Stock entlang. Fasziniert, aber mit Vorsicht beobachtete Laing, wie sie an ihm vorbeibummelten. Trotz seines vorgetäuschten Zynismus wusste er, dass er sich in dieser Zeit kurz nach seiner Scheidung in einer verletzlichen Phase befand – eine glückliche Affäre, mit Charlotte Melville oder sonst jemand, und er würde geradewegs wieder in eine Ehe schlittern. Er war in das Hochhaus gezogen, um von allen Beziehungen loszukommen. Selbst die Anwesenheit seiner Schwester und die damit verbundenen Erinnerungen an ihre übernervöse Mutter, eine Arztwitwe, die allmählich in den Alkoholismus abrutschte, schien ihm zunächst zu nah und unbehaglich.

Charlotte hatte jedoch all diese Befürchtungen rasch zerstreut. All ihre Gedanken galten noch immer ihrem an Leukämie verstorbenen Mann sowie dem Wohlergehen ihres sechs Jahre alten Sohnes und, wie sie Laing gestand, ihrer Schlaflosigkeit – ein weitverbreitetes Leiden im Hochhaus, fast eine Epidemie. Alle Bewohner, die er kennengelernt hatte, brachten, wenn sie hörten, dass Laing Arzt war, irgendwann ihre Schlaflosigkeit zur Sprache. Auf Partys erörterten die Leute ihre Schlaflosigkeit in der gleichen Weise, in der sie von den anderen baubedingten Konstruktionsmängeln des Apartmentblocks sprachen. In den frühen Morgenstunden versanken die zweitausend Bewohner in einer geräuschlosen Flut von Seconal.

Laing war Charlotte zuerst im Swimmingpool des fünfunddreißigsten Stocks begegnet, wo er gewöhnlich zum Schwimmen hinging, teils um allein zu sein, und teils um den Kindern aus dem Weg zu gehen, die den Pool im zehnten Stock benutzten. Als er sie zum Essen im Restaurant einlud, akzeptierte sie sofort, aber als sie sich an den Tisch setzten, sagte sie unverblümt: »Hören Sie, ich möchte nur über mich selbst sprechen.«

Das hatte Laing gefallen

Als er dann mittags in Charlottes Apartment eintraf, war schon ein zweiter Gast anwesend, ein Fernsehregisseur namens Richard Wilder. Er war ein gedrungener, streitsüchtiger Mann, der früher professioneller Rugbyspieler gewesen war und der mit seiner Frau und zwei Söhnen im zweiten Stock des Gebäudes wohnte. Die lärmenden Partys, die er mit seinen Freunden in den unteren Stockwerken feierte – Piloten und Stewardessen, die gemeinsam ein Apartment bewohnten –, hatten ihn bereits in diverse Auseinandersetzungen verstrickt. Bis zu einem gewissen Grade hatte die ungeregelte Zeiteinteilung der Bewohner in den unteren Etagen sie von den Nachbarn über ihnen abgeschnitten. In einem unbedachten Moment hatte seine Schwester Laing zugeflüstert, dass irgendwo im Hochhaus ein Bordell betrieben würde. Das rätselhafte Kommen und Gehen der Stewardessen, die ein reges gesellschaftliches Leben führten – besonders in den Etagen über ihr –, beunruhigte Alice offensichtlich, als ob diese Mädchen auf irgendeine Weise die natürliche soziale Ordnung des Gebäudes störten, sein gänzlich auf der Stockwerkhöhe basierendes Rangsystem. Laing hatte bemerkt, dass er und seine Mitbewohner gegenüber Lärm oder irgendeiner Belästigung, die aus den Stockwerken über ihnen kamen, weit nachsichtiger waren als gegenüber den gleichen Dingen aus den Etagen unter ihnen. Gleichwohl mochte er Wilder, mit seiner lauten Stimme und den ruppigen Manieren eines Rugbyspielers. Er brachte das nötige Maß an Ungewohntem in den Apartmentblock. Seine Beziehung zu Charlotte Melville war schwer abzuschätzen – seine starke sexuelle Aggressivität war von einer ungeheuren Ruhelosigkeit überzogen. Kein Wunder, dass seine Gemahlin, eine blasse junge Frau mit einem akademischen Grad, die für die literarischen Wochenschriften Kinderbücher rezensierte, ständig erschöpft wirkte.

Als Laing auf dem Balkon stand und von Charlotte einen Drink entgegennahm, kam der Lärm der Party aus der klaren Luft nach unten, als ob der Himmel selbst an die Geräusche angeschlossen wäre. Charlotte zeigte auf einen Glassplitter auf Laings Balkon, der seinem Besen entgangen war.

»Stehen Sie unter Beschuss? Ich habe etwas fallen hören.« Sie rief Wilder zu, der mitten auf ihrem Sofa lümmelte und seine massigen Beine betrachtete: »Das sind diese Leute im einunddreißigsten Stock.«

»Welche Leute?«, fragte Laing. Er nahm an, dass sie eine bestimmte Gruppe meinte, eine Clique von übermäßig aggressiven Filmschauspielern oder Steuerberatern oder vielleicht eine ausgeflippte Ansammlung von Trunkenbolden. Aber Charlotte zuckte unbestimmt die Achseln, als ob es unnötig sei, genauer zu sein. Offensichtlich hatte in ihrem Denken eine Art Abgrenzung stattgefunden, so wie er selbst ohne Weiteres die Leute nach den Stockwerken, in denen sie wohnten, einordnete.

»Übrigens, was feiern wir alle eigentlich?«, fragte er, als sie ins Wohnzimmer zurückgingen.

»Wissen Sie das nicht?« Wilder wies mit der Hand auf Wände und Decke. »Volles Haus. Wir haben den Punkt der kritischen Masse erreicht.«

»Richard meint, dass das letzte Apartment bezogen wurde«, erklärte Charlotte. »Nebenbei bemerkt haben uns die Bauunternehmer eine Gratisparty versprochen, wenn das tausendste Apartment verkauft ist.«

»Würde mich interessieren, ob sie das Versprechen halten«, bemerkte Wilder. Offensichtlich machte es ihm Spaß, das Hochhaus schlechtzumachen. »Der unnahbare Anthony Royal sollte ja für die Getränke sorgen. Sie haben ihn doch kennengelernt, glaube ich«, sagte er zu Laing. »Den Architekten, der unser Selbstmörderparadies entworfen hat.«

»Wir spielen zusammen Squash«, entgegnete Laing. Da er den kritischen Unterton in Wilders Stimme bemerkte, fügte er hinzu: »Einmal in der Woche – ich kenne den Mann kaum, aber ich mag ihn.«

Wilder beugte sich vor, seinen wuchtigen Kopf zwischen die Fäuste stemmend. Laing bemerkte, dass er sich fortwährend anfasste, dauernd die Haare auf seinen massigen Waden inspizierte, die Rücken seiner narbigen Hände beroch, als ob er gerade den eigenen Körper entdeckt hätte. »Es ist eine Gunst, dass Sie ihn kennengelernt haben«, sagte Wilder. »Ich möchte wissen, warum. Eine isolierte Figur – ich sollte ihm grollen, aber irgendwie tut mir der Mann leid, der wie eine Art gefallener Engel über uns schwebt.«

»Er hat ein Penthouseapartment«, bemerkte Laing. Er hatte kein Bedürfnis, wegen seiner kurzen Freundschaft mit Royal in irgendein Tauziehen verwickelt zu werden. Er hatte diesen wohlhabenden Architekten, ehemaliges Mitglied des Konsortiums, das das Entwicklungsprojekt entworfen hatte, kennengelernt, als Royal sich noch von den letzten Folgen eines leichten Autounfalls erholte. Laing hatte ihm geholfen, das komplizierte Gymnastikgerät im Penthouse aufzubauen, wo Royal, ein Mittelpunkt großer Neugier und großen Interesses, seine Zeit verbrachte. Wie alle ständig sagten, wohnte Royal ›oben auf dem Dach‹, als ob er in einer Art glamouröser Hütte lebte.

»Royal war der Erste, der hier einzog«, teilte Wilder ihm mit. »An ihm ist etwas, was ich noch nicht kapiert habe. Vielleicht sogar ein Schuldgefühl – er lungert dort oben herum, als warte er darauf, dass man ihm auf die Schliche kommt. Ich habe schon vor Monaten erwartet, dass er auszieht. Er hat eine reiche junge Frau, also warum sollte er in dieser besseren Mietskaserne bleiben?« Bevor Laing widersprechen konnte, fuhr Wilder fort: »Ich weiß, dass Charlotte gegenüber dem Leben hier Vorbehalte hat – das Problem bei diesen Häusern ist, dass sie nicht für Kinder geplant sind. Der einzige freie Raum entpuppt sich als der Parkplatz von jemand anderem. Übrigens beabsichtige ich, fürs Fernsehen einen Dokumentarfilm über Hochhäuser zu machen, Doktor, der einen wirklich genauen Blick auf die physischen und psychischen Zwänge wirft, die das Leben in einer riesigen Eigentumswohnanlage wie dieser mit sich bringt.«

»Da werden Sie viel Material haben.«

»Zuviel, wie immer. Ich würde gern wissen, ob Royal mitmachen würde – Sie könnten ihn fragen, Doktor. Da er einer der Architekten des Blocks und sein erster Bewohner war, wären seine Ansichten interessant. Ihre auch…«

Während Wilder ununterbrochen und mit großer Schnelligkeit redete, wobei seine Worte den aus seinem Mund kommenden Zigarettenrauch überfluteten, wandte Laing seine Aufmerksamkeit Charlotte zu. Sie sah Wilder gespannt an und nickte bei jedem seiner Argumente. Laing mochte ihre Entschlossenheit, für sich und ihren kleinen Sohn einzutreten, ihren offenkundigen gesunden Verstand und ihre Klugheit. Seine eigene Ehe mit einer Ärztin und Spezialistin für Tropenmedizin war eine kurze, aber totale Katastrophe gewesen, das Ergebnis von weiß der Himmel was für Bedürfnissen. Mit treffsicherem Urteil hatte sich Laing mit dieser hochnervösen und ehrgeizigen jungen Ärztin eingelassen, der Laings Weigerung, den Lehrberuf aufzugeben – der als solcher schon verdächtig war – und sich unmittelbar mit den politischen Aspekten der Präventivmedizin zu befassen, unbegrenzt Anlass zu Zank und Auseinandersetzung gegeben hatte. Nach nur sechs gemeinsamen Monaten war sie plötzlich einer internationalen Hungerhilfe-Organisation beigetreten und zu einer Dreijahrestour aufgebrochen. Aber Laing hatte keine Anstalten gemacht, ihr nachzureisen. Aus Gründen, die ihm noch nicht klar waren, hatte er sich gesträubt, die Lehrtätigkeit und die zugegebenermaßen fragwürdige Sicherheit aufzugeben, mit Studenten zu tun zu haben, die noch fast in seinem Alter waren.

Charlotte, so vermutete er, würde das verstehen. Im Geiste malte sich Laing den möglichen Verlauf einer Affäre mit ihr aus.

Die Nähe und die Distanz, die das Hochhaus zu gleicher Zeit bot, dieses neutrale emotionelle Ambiente, in dem sich die faszinierendsten Beziehungen entwickeln konnten, hatte begonnen, ihn als solches zu interessieren. Aus irgendeinem Grund zog er sich, wie er feststellte, selbst in dieser noch imaginären Begegnung schon zurück, denn er spürte, dass sie alle weit stärker miteinander verknüpft waren, als ihnen klar war. Ein fast greifbares Netz von Rivalitäten und Intrigen verband sie miteinander.

Wie er vermutete, war selbst dieses scheinbar zwanglose Treffen in Charlottes Apartment arrangiert worden, um seine Einstellung gegenüber den Bewohnern der oberen Stockwerke zu prüfen, die versuchten, Kinder vom Swimmingpool im fünfunddreißigsten Stock auszuschließen.

»Unserer Verträge garantieren uns gleichen Zugang zu allen Einrichtungen«, erläuterte Charlotte. »Wir haben beschlossen, eine Eltern-Aktionsgruppe zu gründen.«

»Schließt mich das nicht aus?«

»Wir brauchen einen Arzt im Komitee. Das pädiatrische Argument würde von Ihnen viel wirkungsvoller kommen, Robert.«

»Nun, vielleicht…« Laing zögerte, sich festzulegen. Schneller als er dächte, würde er in einer hochbrisanten Fernseh-Dokumentation figurieren oder an einem Sit-in vor dem Büro des Hausverwalters teilnehmen. Da es ihm zu diesem Zeitpunkt widerstrebte, in eine Rangelei zwischen den Stockwerken gezogen zu werden, stand Laing auf und verabschiedete sich. Als er ging, hatte sich Charlotte mit einer Beschwerdeliste bewaffnet. Neben Wilder sitzend, begann sie, wie eine gewissenhafte Lehrerin, die den Stundenplan für das nächste Schuljahr vorbereitet, die Beanstandungen, die dem Hausverwalter vorgelegt werden sollten, einzeln durchzugehen.

Als Laing in sein Apartment zurückkehrte, war die Party im einunddreißigsten Stock vorbei. In der Stille stand er auf seinem Balkon und genoss das wunderbare Spiel des Lichts auf dem vierhundert Meter entfernten Nachbarblock. Das Gebäude war gerade fertiggestellt worden, und durch Zufall kamen die ersten Bewohner gerade an dem Morgen an, da der Letzte in seinen, Laings Block gezogen war. Ein Möbelwagen fuhr rückwärts in die Zufahrt zum Lastenaufzug, und bald würden die Teppiche und Stereolautsprecher, die Frisierkommoden und Nachttischlampen im Fahrstuhlschacht nach oben befördert werden, um die Bestandteile einer privaten Welt zu bilden.

Laing dachte an die überwältigende Freude und Aufregung, die die neuen Wohnungsinhaber empfinden würden, wenn sie zum ersten Mal von ihrem luftigen Felsvorsprung in der Steilwand blickten, und stellte diese Gefühle der Unterhaltung zwischen Wilder und Charlotte Melville gegenüber, die er gerade gehört hatte. Wie widerstrebend auch immer, musste er sich jetzt etwas eingestehen, was er versucht hatte zu verdrängen – dass die vergangenen sechs Monate eine Zeit ständigen Gezänks zwischen seinen Nachbarn gewesen waren, eine Zeit belangloser Dispute wegen defekter Fahrstühle und Klimaanlagen, unerklärlicher Stromausfälle, Lärm, Rangeleien um Parkplätze – kurzum, wegen jener Unmenge kleinerer Defekte, die die Architekten bei der Planung dieser überteuerten Wohnungen eigens hätten vermeiden müssen. Die unterschwelligen Spannungen zwischen den Bewohnern waren bemerkenswert stark, gedämpft zum Teil durch den zivilisierten Ton, der im Haus herrschte, und zum Teil durch die offenkundige Notwendigkeit, aus diesem riesigen Apartmentblock eine gelungene Sache zu machen.

Laing erinnerte sich an einen unbedeutenden, aber unangenehmen Vorfall, der sich am vergangenen Nachmittag in der Einkaufshalle des zehnten Stocks zugetragen hatte. Während er darauf wartete, in der Bank einen Scheck einzulösen, fand vor den Türen des Swimmingpools eine heftige Auseinandersetzung statt. Eine Gruppe Kinder, noch nass vom Wasser, wich vor der imponierenden Gestalt eines Kostenbuchhalters aus dem siebzehnten Stock zurück. Ihm gegenüber stand in diesem ungleichen Kampf Helen Wilder. Die Streitsucht ihres Mannes hatte ihr schon lange jedes Selbstvertrauen geraubt. Während sie nervös versuchte, die Kinder unter Kontrolle zu halten, hörte sie sich gleichmütig die Maßregelung des Buchhalters an und gab dann und wann eine schwache Entgegnung von sich.

Laing verließ den Bankschalter und ging auf sie zu, vorbei an den überfüllten Kassen des Supermarkts und den Reihen von Frauen, die im Frisiersalon unter der Trockenhaube saßen. Während er neben Mrs. Wilder stand und wartete, bis sie ihn erkannte, folgerte er aus dem Gehörten, dass der Buchhalter sich darüber beschwerte, dass ihre Kinder – und nicht zum ersten Mal – im Schwimmbecken uriniert hätten.

Laing legte kurz Fürsprache ein, aber der Buchhalter rauschte durch die Pendeltür davon, überzeugt, dass er Mrs. Wilder genügend eingeschüchtert hatte, um ihre Kinderbrut für immer zu vertreiben.

»Danke, dass Sie meine Partei ergriffen haben – Richard hätte eigentlich hier sein sollen.« Sie entfernte eine feuchte Haarsträhne aus ihren Augen. »Es wird langsam unmöglich – wir vereinbaren feste Zeiten für die Kinder, aber die Erwachsenen kommen trotzdem.« Sie nahm Laings Arm und blinzelte nervös durch die überfüllte Halle. »Macht es Ihnen etwas aus, mich zum Fahrstuhl zurückzubegleiten? Das hört sich sicher ziemlich paranoid an, aber ich bin immer mehr von der Idee besessen, dass wir eines Tages tätlich angegriffen werden…« Sie zitterte unter ihrem feuchten Handtuch, während sie die Kinder vorwärtstrieb. »Es ist fast, als seien dies nicht die Leute, die wirklich hier leben.«

*

Während des Nachmittags musste Laing an diese letzte Bemerkung Helen Wilders denken. So absurd sie auch klang, hatte die Feststellung doch etwas Wahres an sich. Dann und wann traten seine Nachbarn, der Kieferchirurg und seine Frau, auf ihren Balkon und blickten Laing stirnrunzelnd an, als ob sie die entspannte Art, in der er sich in seinem Ruhesessel zurücklehnte, missbilligten. Laing versuchte, sich ihr gemeinsames Leben zu vergegenwärtigen, ihre Hobbys, ihre Gespräche, ihr Liebesleben. Es war schwer, sich irgendeine Art von häuslicher Wirklichkeit vorzustellen, als wären die Steeles ein Paar Geheimagenten, die auf wenig überzeugende Weise versuchten, Ehe zu spielen. Im Kontrast dazu war Wilder wirklich genug, gehörte aber schwerlich zum Hochhaus.

Laing lag zurückgelehnt auf seinem Balkon und beobachtete, wie die Dämmerung über die Fassaden der Nachbarblocks kroch. Ihre Größe schien entsprechend dem Spiel des Lichts auf ihren Flächen zu wechseln. Manchmal, wenn er abends aus der Medizinischen Hochschule nach Hause zurückkehrte, war er überzeugt, dass das Hochhaus es fertiggebracht hatte, sich im Laufe des Tages auszudehnen. Auf seinen Betonstreben schien der vierzigstöckige Block sogar noch höher zu sein, als ob eine Gruppe von Bauarbeitern aus den Fernsehstudios in ihrer Freizeit so nebenher ein weiteres Stockwerk hinzugefügt hätte. Die fünf Apartmentgebäude am östlichen Rand des anderthalb Quadratkilometer umfassenden Projektgeländes bildeten zusammen eine wuchtige Palisade, die in der Dämmerung die dahinterliegenden Vorortstraßen bereits in Dunkelheit getaucht hatte.

Die Hochhäuser schienen fast die Sonne selbst herauszufordern – Anthony Royal und die Architekten, die den Komplex geplant hatten, hatten wohl kaum die dramatische Auseinandersetzung vorausgesehen, die sich jeden Morgen zwischen diesen Betonklötzen und der aufgehenden Sonne abspielte. Es war durchaus passend, dass die Sonne zunächst zwischen den Streben der Apartmentblocks erschien und sich dann über den Horizont erhob, als scheue sie sich, diese Reihe von Giganten zu wecken. Von seinem Büro im obersten Stock der Medizinischen Hochschule beobachtete Laing immer, wie ihre Schatten im Laufe des Morgens über die Parkplätze und leeren Flächen des Projektgeländes wanderten, wie Schleusentore, die sich öffneten, um den Tag hereinzulassen. Trotz all seiner Vorbehalte musste Laing zugeben, dass diesen riesigen Gebäuden ihr Versuch, den Himmel zu besiedeln, geglückt war.

Kurz nach neun versetzte an jenem Abend ein Stromausfall die neunte, zehnte und elfte Etage vorübergehend in Dunkelheit. Wenn er auf diese Episode zurückblickte, überraschte Laing das Ausmaß des Durcheinanders während der fünfzehn Minuten Finsternis. Etwa zweihundert Menschen hielten sich in der Halle des zehnten Stocks auf, und viele wurden verletzt, als alles in wilder Flucht zu den Fahrstühlen und Treppen stürmte. In der Dunkelheit kam es zu mehreren absurden, aber unangenehmen Auseinandersetzungen zwischen denen, die zu ihren Wohnungen in den unteren Stockwerken hinunterfahren wollten, und den Bewohnern aus den oberen Etagen, die darauf bestanden, nach oben in die kühleren Höhen des Gebäudes zu entweichen. Während des Stromausfalls wurden zwei der zwanzig Fahrstühle außer Betrieb gesetzt. Die Klimaanlage war abgeschaltet worden, und eine Frau, die zwischen dem zehnten und elften Stock mit dem Fahrstuhl stecken blieb, wurde hysterisch, möglicherweise weil sie Opfer einer kleineren sexuellen Belästigung geworden war – die gerade rechtzeitige Wiederherstellung der Beleuchtung enthüllte eine stattliche Ausbeute unerlaubter Kontakte, die unter den wohlwollenden Bedingungen totaler Dunkelheit wie eine gefräßige Pflanzenart gediehen.

Laing war auf dem Weg zur Sporthalle, als der Strom ausfiel. Da er nicht darauf erpicht war, sich in das Gedränge in der Halle zu begeben, wartete er in einem leeren Klassenzimmer der Grundschule. Während er allein an einem der Miniaturpulte der Kinder saß, umgeben von den undeutlichen Umrissen ihrer an die Wand gehefteten fröhlichen Zeichnungen, hörte er, wie sich ihre Eltern in der Fahrstuhllobby balgten und herumschrien. Als das Licht wieder anging, begab er sich hinaus unter die aufgescheuchten Bewohner und tat sein Bestes, um jedermann zu beruhigen. Er überwachte den Transport der hysterischen Frau aus dem Fahrstuhl zu einem Sofa in der Lobby. Es handelte sich um die starkknochige Frau eines Juweliers aus dem vierzigsten Stock, die sich mit aller Kraft an Laings Arm klammerte und ihn erst losließ, als ihr Mann erschien.

Während sich die Menge der Bewohner zerstreute und ihre Finger die Fahrstuhlknöpfe für die gewünschten Etagen drückten, bemerkte Laing, dass während des Stromausfalls zwei Kinder in einem anderen Klassenzimmer Zuflucht gesucht hatten. Jetzt standen sie im Eingang zum Swimmingpool und wichen in Abwehrhaltung vor der hochgewachsenen Gestalt des Kostenbuchhalters aus dem siebzehnten Stock zurück. Dieser selbsternannte Hüter des Wassers hatte einen langstieligen Poolrechen wie eine bizarre Waffe in der Hand.

Aufgebracht rannte Laing vor. Aber die Kinder wurden nicht vom Pool vertrieben. Sie traten beiseite, als Laing sich näherte. Der Buchhalter stand am Rand des Wassers und langte unbeholfen mit dem Rechen über die unbewegte Oberfläche. Am tiefen Ende des Beckens kletterten drei Schwimmer, die während des ganzen Stromausfalls Wasser getreten hatten, über den Rand. Einer von ihnen war, wie er ohne weiter darüber nachzudenken bemerkte, Richard Wilder. Laing ergriff den Stiel des Rechens. Während die Kinder zuschauten, half er dem Buchhalter, ihn über das Wasser zu strecken.

In der Mitte des Pools trieb der ertrunkene Körper eines afghanischen Windhundes.

2 Partyzeit

In den Tagen nach dem Ertrinken des Hundes legte sich die im Hochhaus herrschende Überreiztheit allmählich wieder, aber für Dr. Laing war diese relative Ruhe nur umso unheilschwangerer. Der Swimmingpool im zehnten Stock blieb leer, zum Teil, so vermutete Laing, weil jedermann glaubte, dass das Wasser durch den toten Afghanen verseucht sei. Ein fast greifbarer giftiger Dunst lag über dem unbewegten Wasser, als ob der Geist des ertrunkenen Tieres alle im Gebäude vorhandenen Kräfte der Rache und Vergeltung an sich zöge.

Einige Tage nach dem Vorfall schaute Laing auf seinem morgendlichen Weg zur Medizinischen Hochschule kurz in der Halle des zehnten Stocks vorbei. Nachdem er für den Abend einen Squashplatz für sein wöchentliches Spiel mit Anthony Royal gebucht hatte, ging er auf den Eingang des Swimmingpools zu. Er erinnerte sich an die Panik und die wilde Flucht während des Stromausfalls. Im Gegensatz dazu war das Einkaufszentrum jetzt fast leer; im Spirituosenladen bestellte ein einzelner Kunde seinen Wein. Laing schob die Pendeltür zurück und schlenderte um den Pool. Die Umkleidekabinen waren geschlossen, die Vorhänge vor die Duschnischen gezogen. Der Bademeister, ein pensionierter Sportlehrer, war nicht in seiner Kabine hinter den Sprungbrettern. Augenscheinlich war die Entweihung seines Wassers zu viel für ihn gewesen.

In der gleichbleibenden fluoreszierenden Beleuchtung stand Laing neben dem gefliesten Rand am tiefen Ende des Beckens. Dann und wann verursachte die leichte, von der das Hochhaus umströmenden Luft hervorgerufene Seitwärtsbewegung des Gebäudes eine warnende Kräuselung der glatten Wasserfläche, als ob sich in seinen ozeanischen Tiefen ein riesiges Lebewesen im Schlaf bewegte. Im fiel ein, wie er dem Buchhalter geholfen hatte, den Afghanen aus dem Wasser zu heben, und wie ihn dessen geringes Gewicht überrascht hatte. Wie ein großes Wiesel hatte der Hund, dessen schönes Fell mit gechlortem Wasser getränkt war, auf den farbigen Fliesen gelegen. Während sie darauf warteten, dass die Besitzerin, eine Fernsehschauspielerin aus dem siebenunddreißigsten Stock, nach unten kam und den Hund abholte, untersuchte Laing ihn sorgfältig. Es waren keine äußeren Verletzungen oder Zeichen von Gewaltanwendung zu sehen. Es war denkbar, dass er aus seiner Wohnung in einen vorbeikommenden Fahrstuhl gestreunt und während des Durcheinanders beim Stromausfall in die Einkaufshalle gekommen war, in den Swimmingpool gefallen und dort an Erschöpfung gestorben war. Aber die Erklärung stimmte schwerlich mit den Tatsachen überein. Der Stromausfall hatte wenig mehr als fünfzehn Minuten gedauert, und ein Hund von dieser Größe war kräftig genug, um stundenlang zu schwimmen. Außerdem hätte er am seichten Ende einfach auf seinen Hinterbeinen stehen können. Aber wenn er in den Pool geworfen und in der Dunkelheit von einem guten Schwimmer unter Wasser gehalten worden wäre…