Die eigene Haut retten - Katharina Vollmeyer - E-Book

Die eigene Haut retten E-Book

Katharina Vollmeyer

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Beschreibung

Dieses Buch erklärt, was Skin Picking (auch Dermatillomanie genannt) ist und was zu dieser Erkrankung führen kann. Die Autorinnen verknüpfen dazu das vorhandene Fachwissen mit den Erfahrungen der Selbsthilfe und stellen Betroffenen Techniken vor, um weniger zu kratzen oder den Schaden möglichst gering zu halten. Angehörige erhalten Tipps, wie sie konstruktiv mit Skin Picking umgehen können. Außerdem können Hautärzt*innen und Psychotherapeut*innen ihr Wissen über diese gar nicht so seltene Erkrankung erweitern.

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Nicht aus heiterem Himmel

»Wer immer wieder an seiner Haut knibbelt, drückt oder kratzt, der tut dies nicht aus heiterem Himmel, immer und überall. Der Drang tritt in der Regel nicht völlig unwillkürlich auf, sondern vielmehr in bestimmten Situationen, an ganz bestimmten Orten, bei besonderen Gefühlen oder einem ganz bestimmten Gedanken. Die eigenen Auslöser kennenzulernen und wahrzunehmen ist wichtig, um überhaupt etwas verändern zu können.«

Katharina Vollmeyer und Susanne Fricke

Die eigene Haut retten

Hilfe bei Skin Picking

B A L A N C E ratgeber

Katharina Vollmeyer und Susanne Fricke:

Die eigene Haut retten. Hilfe bei Skin Picking

BALANCE ratgeber

4. Auflage 2021

ISBN 978-3-86739-277-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86739-278-5

ISBN E-Book (epub) 978-3-86739-279-2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2012, 2016, 2021

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

www.balance-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Karin Koch, Köln

Umschlagkonzeption: GRAFIKSCHMITZ, Köln, unter Verwendung eines Fotos von Seleneos / photocase.com

Typografie und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Inhalt

Die Störung hat endlich einen Namen

Skin Picking – was ist das?

Zunächst ein paar Zahlen

Beschreibung der Erkrankung

Auslöser

Negative Folgen von Skin Picking

Wie Psychologinnen und Ärzte die Krankheit beschreiben

Abgrenzung von alltäglichen Gewohnheiten

Abgrenzung von ähnlichen Erkrankungen

Die Haut ist der Spiegel der Seele: Hintergründe

Ursachen von Skin Picking

Der Beginn der Erkrankung

Warum »einfach aufhören« nicht funktioniert

Sich in der eigenen Haut wohlfühlen: Was Sie selbst tun können

Grundlegende Veränderungen für ein besseres Lebensgefühl

Techniken zur Bewältigung von Skin Picking-Episoden

Pflege der Haut

Umgang mit schlechteren Phasen und Rückfällen

Die eigene Haut retten: Sich professionelle Hilfe suchen

Verhaltenstherapie

Behandlung der Haut

Vertraute Personen einbeziehen

Wie vertraute Personen helfen können

Umgang mit unerwünschter Hilfe

Hinweise für vertraute Personen

Noch ein paar Worte zum Schluss

Dank

Adressen und Literaturempfehlungen

Informationen und Erfahrungsberichte zum Thema Skin Picking

Informationen zu anderen Themen

Im Buch verwendete Literatur

Leseprobe: Mirjam Tanner – Dem Leben einen Dreh geben

Die Störung hat endlich einen Namen

Liebe Leserin, lieber Leser,

wer an Skin Picking leidet, fühlt sich mit dieser Krankheit meist allein. Niemand sonst scheint dieses Problem zu haben. Die Betroffenen spüren, dass etwas nicht stimmt. Die Handlungen verursachen einen hohen Leidensdruck; im Alltag wirken sie einschränkend und belastend. Doch im eigenen Umfeld und in den Medien scheint dieses Problem bisher kaum vorzukommen. Die Folge: Man hat keine Ansprechperson und auch einem selbst fehlen die Worte, um das Kratzen, Drücken und Quetschen der Haut beim Namen zu nennen.

Viele Betroffene leiden daher stumm, oft über Jahre oder gar Jahrzehnte. Sie fühlen sich »nicht normal« und verstehen nicht, warum sie sich nicht einfach »zusammenreißen« und das »Knibbeln« nicht einfach lassen können. Und Menschen im Umfeld äußern gut gemeinte, aber wenig hilfreiche Ratschläge wie »Hör doch einfach damit auf«.

Umso überraschender ist es dann für viele, wenn sie erfahren, dass es für ihr Problem einen Namen gibt. Und nicht nur einen. Im Deutschen spricht man von Dermatillomanie. Dieser Begriff kommt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus Derma (= Haut), tillein (= rupfen) und Mania (= Begeisterung, Wahnsinn). Ähnliche Bedeutung haben auch das englische Skin Picking oder Neurotic Excoriation oder das französische Acne Excoriée. Auch handelt es sich nicht um ein erst kürzlich entdecktes Phänomen. Bereits im Jahre 1875 sprach zum ersten Mal der englische Arzt Sir Erasmus Wilson von »neurotic excoriation«. In Frankreich wurde seit Längerem beobachtet, dass vor allem junge Mädchen im Pubertätsalter an dieser Erkrankung leiden. Daher der Begriff »Acne excoriée des jeunes filles« (Kratz-Akne bei jungen Mädchen). Wir haben uns entschieden, in diesem Buch hauptsächlich den englischen Namen Skin Picking zu verwenden, weil dieser Begriff in der deutschsprachigen Selbsthilfeszene am häufigsten benutzt wird.

Obwohl in der Fachliteratur schon lange beschrieben, machen Betroffene weiterhin die Erfahrung, dass selbst Professionelle die Erkrankung nicht kennen: Entweder werden die Wunden von Ärzten zwar gesehen, aber nicht weiter thematisiert, oder sie werden wie eine klassische Akne behandelt; manche Betroffene berichten von sehr kritischen oder gar verächtlichen Reaktionen auf ihre selbst verursachten Verletzungen. Auch unter Psychotherapeutinnen ist Skin Picking bisher kaum bekannt. Zwar profitieren viele Betroffene sehr von einer Psychotherapie hinsichtlich anderer Problembereiche in ihrem Leben, Skin Picking hingegen wird meist nicht thematisiert.

Erfreulicherweise gibt es aber in den letzten Jahren viele positive Entwicklungen. Im Internet haben sich Foren gebildet, in denen sich Betroffene austauschen und gegenseitig Trost, Tipps und seelische Unterstützung geben. Bloggerinnen berichten offen über ihre Erkrankung, und auch auf YouTube gibt es viele Beiträge zu Skin Picking. Immer wieder einmal wird das Thema in Zeitschriften aufgegriffen und dazu Artikel veröffentlicht. Auch findet sich vermehrt fachliche Literatur zu Dermatillomanie. Auf dem Gebiet der psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlung sind ebenfalls positive Entwicklungen zu sehen: Seit 2015 gilt Dermatillomanie offiziell als Diagnose. Außerdem gibt es mittlerweile Untersuchungen zu passenden Behandlungstechniken, einige Studien zu Medikamenten, und in einzelnen Städten wurden spezielle Anlaufstellen für Betroffene eröffnet.

Trotz dieser insgesamt positiven Entwicklung ist das Thema Skin Picking weithin unerschlossen. Die Forschung steht im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen noch am Anfang, Fachliteratur ist oft nur schwer zugänglich und für Laien nur schwer verständlich. Therapieangebote sind viel zu selten, und auch in den Medien wird bisher noch zu wenig darüber berichtet. Betroffene sind insgesamt immer noch viel zu oft auf sich allein gestellt.

Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, dieses Buch zu schreiben. Ein wichtiges Anliegen ist uns, allgemein verständliche Informationen über diese Erkrankung zu geben: Wann spricht man überhaupt von Skin Picking? Wie kann man Skin Picking von »alltäglichem Pulen und Kratzen« unterscheiden? Und wie von anderen Erkrankungen? Warum hat man überhaupt diesen Drang zu knibbeln? Und was steckt dahinter? Fragen, die viele Betroffene bewegen und zu denen ein großes Informationsbedürfnis besteht.

Darüber hinaus erfahren Sie, was Sie selbst tun können, wenn Sie betroffen sind. Wir möchten Sie mit verhaltenstherapeutischen Techniken vertraut machen, die Sie in Eigenregie anwenden können und die Ihnen helfen, weniger zu kratzen. Außerdem möchten wir Ihnen zeigen, was Sie tun können, damit es Ihnen insgesamt besser geht, denn die meisten Betroffenen haben festgestellt, dass sie ihre Haut weniger bearbeiten, wenn es ihnen insgesamt besser geht. Sie werden lesen, was Sie für Ihre Haut tun können, um den Schaden möglichst gering zu halten. Sicherlich sind Ihnen viele Tipps schon bekannt, aber vielleicht erfahren Sie auch Neues, das Sie für sich nutzen können.

Wenn Sie merken, dass die Hilfe zur Selbsthilfe nicht ausreicht, so finden Sie in diesem Buch zusätzlich Informationen über weitere Behandlungsmöglichkeiten. Das, was Sie mit diesem Buch gelernt und ausprobiert haben, kann in einer späteren Therapie für Sie und Ihre Therapeutin sehr nützlich sein.

Unser Buch ist in erster Linie für Betroffene geschrieben. Es richtet sich aber auch an Angehörige und vertraute Menschen, denn sie haben oft ähnliche Fragen. Die Lektüre dieses Buches kann helfen, mehr Verständnis für die Krankheit zu entwickeln und den Umgang mit Betroffenen entsprechend zu erleichtern. Auch für Experten kann das Buch sehr informativ sein. Wir denken dabei vor allem an Psychotherapeutinnen und Hautärzte, die Betroffene behandeln und die spezifische Kenntnisse erwerben oder auffrischen möchten.

Wir hoffen, dass Sie sich nach dem Lesen dieses Buches nicht mehr allein mit Ihrer Erkrankung fühlen. Wir freuen uns, wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, viele nützliche Informationen und gute Anregungen für sich finden.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Bekämpfung von Skin Picking und dem Aufbau von mehr Lebensqualität und Lebensfreude!

Katharina Vollmeyer und Susanne Fricke

Skin Picking – was ist das?

Von Skin Picking betroffene Personen berühren, reiben, kratzen oder quetschen Hautstellen. Sie folgen dabei einem starken inneren Drang, dem sie kaum Widerstand entgegensetzen können. Das Bearbeiten der Haut führt in der Regel zu beachtlichen Gewebeschäden und Schmerzen sowie zu großem Schamgefühl und starker Selbstabwertung. Darüber hinaus bedeutet die Erkrankung meist eine starke Beeinträchtigung im beruflichen und privaten Alltag.

In diesem Kapitel wollen wir Sie erst einmal damit vertraut machen, was genau unter der Erkrankung Skin Picking zu verstehen ist. Wir nennen Ihnen dazu zunächst ein paar Zahlen, beschreiben die Erkrankung näher und erläutern, welche negativen Folgen Skin Picking mit sich bringt. Des Weiteren behandeln wir die diagnostische Einordnung von Skin Picking, die Abgrenzung von alltäglichen Gewohnheiten und von ähnlichen Erkrankungen. Am Schluss fassen wir noch einmal das Wichtigste zusammen.

Zunächst ein paar Zahlen

Skin Picking kommt häufiger vor, als man denkt. Trotzdem ist die Erkrankung bisher weitgehend unbekannt. Statistiken, empirische Daten und Zahlen sind daher noch recht rar und die folgenden Angaben zur Häufigkeit nur als ungefähre Schätzungen zu verstehen. Außerdem liegen erst seit kurzer Zeit einheitliche Kriterien vor, um genau feststellen zu können, wann jemand unter Skin Picking leidet und wann nicht. Davor mussten Forscher eigene Definitionen für ihre Untersuchungen entwickeln, die sich zum Teil unterschieden, was sich auf die Vergleichbarkeit der Zahlen auswirkte. Erst für die Zukunft sind daher zuverlässigere Daten zu erwarten, weil es erst jetzt diese einheitliche Definition gibt (zur diagnostischen Einordnung siehe S. 36 ff.). Trotz dieser Einschränkungen liefern auch die vorläufigen Daten Hinweise, wie häufig Skin Picking ist.

Bei einer telefonischen Umfrage, die Nancy KEUTHEN mit ihrer Forschergruppe (2010) durchführte, gaben 1,4 % der über 2.500 befragten erwachsenen Amerikanerinnen und Amerikaner an, dass sie übermäßig ihre Haut bearbeiten und deswegen aktuell sehr belastet oder in wichtigen Lebensbereichen beeinträchtigt sind. 10 % (= 251 der Befragten) sagten, dass sie zumindest einmal in ihrem Leben so stark ihre Haut bearbeitet hatten, dass Hautverletzungen entstanden waren. Von diesen 251 Personen wiederum gaben 12 % an, dass sie dadurch sehr belastet waren. Knapp 5 % äußerten sogar, dass sie deswegen wichtige Aufgaben nicht wahrnehmen konnten. HAYES und Mitarbeitende (2009) fanden in ihrer Untersuchung ähnlich hohe Zahlen. Hier litten ca. 5 % (= 19 von 354 befragten Amerikanern) unter Skin Picking.

Neben diesen beiden Untersuchungen an US-Bürgerinnen und -Bürgern aus der Normalbevölkerung gibt es weitere Untersuchungen, in denen spezielle Gruppen befragt wurden, beispielsweise Psychologiestudentinnen und -studenten: 5 % aller deutschen Psychologiestudenten sind von behandlungsbedürftigem Skin Picking betroffen, wie Antje Bohne und ihre Kollegen herausfanden (2002). Ähnlich sind die Ergebnisse für amerikanische Psychologiestudenten, nämlich 4 % Betroffene (KEUTHEN und andere 2000). Außerdem sollen 2 % aller Hautarztpatienten unter Dermatillomanie leiden, wie GRIESEMER bereits 1978 feststellte.

Skin Picking tritt auch in Kombination mit anderen psychiatrischen Erkrankungen auf: 8 % aller erwachsenen Zwangskranken und 13 % aller zwangskranken Kinder und Jugendlichen leiden gleichzeitig an Skin Picking (GRANT u. a. 2006 und 2010). Besonders betroffen sind Menschen mit einer körperdysmorphen Störung. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung, bei der sich Betroffene sehr stark mit einem (scheinbaren) äußerlichen Makel beschäftigen, der für Außenstehende gar nicht oder kaum erkennbar ist (siehe »Abgrenzung von ähnlichen Erkrankungen«). Ungefähr ein Drittel dieser Menschen sind gleichzeitig an Skin Picking erkrankt (GRANT u. a. 2006).

Dass Skin Picking gar nicht so selten ist, spiegelt sich mittlerweile sehr deutlich im Internet wider. Es gibt etliche Plattformen zum Thema, Bloggerinnen, die sich offen zu ihrer Erkrankung äußern und Tipps geben, auch auf YouTube wird das Problem thematisiert. Es gibt Interviews, Berichte von Betroffenen, Austausch mit Leidensgenossinnen.

Unter den Betroffenen überwiegen klar die Frauen. Je nach Untersuchung beträgt der Frauenanteil 60 bis 90 %. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Männeranteil unterschätzt wird, da Männer im Allgemeinen seltener psychologische Hilfe in Anspruch nehmen als Frauen.

Die Erkrankung kann zu jeder Zeit auftreten, entwickelt sich jedoch besonders häufig in der späten Kindheit oder frühen Jugend, wie mehrere Untersuchungen belegen (z. B. FLESSNER & WOODS 2006 sowie WILHELM u. a. 1999). Nicht selten besteht am Anfang ein Zusammenhang mit Akne. Neben den seit Kindheit und Jugend Betroffenen gibt es eine zweite Gruppe, bei denen behandlungsbedürftiges Skin Picking zwischen 30 und 45 Jahren beginnt (GRANT & ODLAUG 2010).

Die Erkrankung ist nicht immer gleich präsent. Viele Betroffene berichten von guten und von schlechten Zeiten mit schwächerem und stärkerem Skin Picking. Manche erleben auch symptomfreie Zeiträume, wenn es ihnen richtig gut geht. Wird Skin Picking nicht behandelt, so besteht das Risiko, dass die Erkrankung chronisch wird. Zumindest dauert es oft viele Jahre, bis sich jemand aufgrund von Skin Picking in psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung begibt, und nur schätzungsweise knapp die Hälfte der Betroffenen nimmt überhaupt eine solche Behandlung in Anspruch. Grund hierfür ist häufig, dass sie sich schämen oder nicht wissen, dass die Erkrankung behandelt werden kann. Fachleute wiederum fragen oft nicht nach, ob jemand unter Skin Picking leidet, weil sie die Erkrankung einfach nicht kennen.

Beschreibung der Erkrankung

Skin Picking ist ein sehr vielgestaltiges Krankheitsbild: Die Art und Weise, wie die Haut bearbeitet wird, die darum herum stattfindenden Rituale und Verhaltensweisen, die Auslöser im Vorfeld und die Folgen können von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein. Wir möchten Ihnen daher im Folgenden einen Eindruck von der Erkrankung und ihren vielfältigen Erscheinungsformen geben.

CHARLOTTE*» Ich bin in der Regel eine Stunde am Tag damit beschäftigt, meine Haut zu zerstören. Am meisten bearbeite ich mein Gesicht, ein wenig die rechte und linke Halspartie, den Nacken, das Dekolleté, meinen Rücken, die Oberarme und meinen Po. Manchmal die Kopfhaut. Im Gesicht knibbel ich mit beiden Händen vor dem Spiegel. Die anderen Stellen bearbeite ich in der Regel mit einer Hand, wenn ich z. B. am Schreibtisch oder auf der Couch sitze.

Das beginnt morgens im Bett, da sucht meine Hand schon nach Stellen, wo eine kleine Kruste abgezogen werden kann. Bin ich dann im Bad, kontrolliere ich mein Gesicht und finde meist auch ein paar Stellen, an denen ich mit beiden Händen herumdrücke. Während der Arbeit bin ich dann an der einen oder anderen Stelle noch mal dran. In der Mittagspause auch ein wenig. Dann sitze ich z. B. am Computer und kratze an meinem Rücken oder an den Oberarmen. Abends ist es am schlimmsten, weil ich dann nicht mehr aus dem Haus muss und ungeschminkt bleiben kann. Ich knibbele, drücke und ziehe kleine Hautfetzen ab. Vor dem Spiegel vergesse ich völlig die Zeit und bearbeite am Ende wieder die Hautstellen, mit denen ich angefangen habe. «

Viele Menschen, die nur gelegentlich an ihrer Haut »herumpulen«, können sich gar nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, für die dieses »Herumpulen« keineswegs eine harmlose Angewohnheit, sondern ein großes Problem ist. Die Erkrankung Skin Picking ist mit alltäglichem Knibbeln und Kratzen nicht zu vergleichen: Sie nimmt sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch, sie ist für Betroffene sehr belastend und führt oft zu starken Beeinträchtigungen im Alltag.

Sie knibbeln und pulen, kratzen, reiben, drücken oder quetschen ihre Haut. Sie folgen einem unwiderstehlichen Drang, dem sie kaum Widerstand entgegensetzen können. Dieser Drang ist ein wichtiges Merkmal der Erkrankung, er ist gewissermaßen untrennbar mit der Erkrankung verknüpft. Es ist, als ob das Denken aussetzt: Die Betroffenen schalten ab und geben sich völlig dem Bearbeiten der Haut hin. Warnende und rationale Gedanken sind in diesem Moment weitgehend machtlos, Gedanken an die negativen Konsequenzen existieren entweder nicht oder werden beiseitegeschoben und ignoriert. Erst wenn der ekstatische Schub nachlässt, findet eine Rückkehr in die Realität statt und auf das Getane wird meist mit Reue und Schuldgefühlen zurückgeblickt.

Bei den bearbeiteten Hautstellen handelt es sich vorwiegend um Hautunreinheiten wie Pickel oder Mitesser. Es können aber auch Insektenstiche, Entzündungen, Wunden, Narben oder Muttermale sein. Teilweise wird auch gesunde Haut bearbeitet. In der Regel ist nicht nur eine Hautpartie betroffen, sondern es gibt mehrere Bereiche, die bearbeitet werden. Am häufigsten betroffen ist das Gesicht, weil es leicht zu erreichen ist. Im Prinzip können aber alle Bereiche der Haut betroffen sein. Meist werden die Fingernägel oder Fingerspitzen verwendet, es werden aber auch Hilfsmittel wie Pinzetten, Nadeln oder andere spitze Gegenstände benutzt.

EMMA» Bin ich zu Hause und arbeite am Schreibtisch, so bin ich sehr oft und auch unbewusst damit beschäftigt, im Gesicht und am Dekolleté nach Unreinheiten zu suchen und diese auszudrücken oder aufzupulen. Dies geht buchstäblich bis aufs Blut. Ist etwas uneben, sprich entzündet oder verkrustet, muss ich so lange daran herumdrücken oder quetschen, bis ich das Gefühl habe, dass ›der Dreck‹ oder die Unebenheit weg ist. Je nach Art der Stelle ziehe ich den Schorf ab oder drücke Entzündungen, Unreinheiten oder Eiter heraus. Finde ich nichts oder kriege ich den ›Dreck‹ nicht heraus, kratze und drücke ich aggressiver. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich mithilfe von ›Werkzeug‹ versucht habe, eine Unebenheit wegzubekommen. Die Stellen werden dann richtige Krater. «

Skin Picking kann bewusst durchgeführt werden oder auch völlig automatisch ablaufen. Betroffene beschreiben dann häufig ein Trance-Gefühl oder eine Art geistige Abwesenheit. Das kann so weit gehen, dass Betroffene erst dann merken, was sie tun, wenn die Haut anfängt zu bluten.

Außerdem werden vor oder nach dem eigentlichen Kratzen, Pulen und Quetschen bestimmte Verhaltensweisen gezeigt, die individuell sehr verschieden sein können. Die Verhaltensweisen haben für den Einzelnen aber eine große Bedeutung. Manche müssen z. B. vorher mehrere Male über die ausgewählte Hautstelle streichen, bevor sie sie bearbeiten. Oder es gehört zu ihrem Ritual, hinterher ein abgezogenes Hautstück zwischen den Fingern zu rollen. Nicht wenige (35 % nach der 1999 von WILHELM und Kollegen durchgeführten Untersuchung) essen hinterher die Hautreste.

TOBIAS» Wichtig: den abgeknibbelten Schorf aufessen. Also schön lange drauf herumkauen und dann herunterschlucken. Das gibt mir eine große Befriedigung. (Ganz schön eklig, ich weiß!) «

Die Zeit, die pro Tag für das Bearbeiten der Haut aufgewendet wird, ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich und auch nicht jeden Tag gleich. Angaben reichen von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden für eine Skin Picking-Episode. Die meisten Betroffenen berichten von mehreren Episoden pro Tag. Das können im Extremfall bis zu 150 Episoden am Tag sein, so eine Untersuchung von TWOHIG und WOODS (2001).

Auslöser

Wer immer wieder an seiner Haut knibbelt, drückt oder kratzt, der tut dies nicht aus heiterem Himmel, immer und überall. Der Drang tritt in der Regel nicht völlig unwillkürlich auf, sondern vielmehr in bestimmten Situationen, an ganz bestimmten Orten, bei besonderen Gefühlen oder einem ganz bestimmten Gedanken. Skin Picking-Episoden können also sowohl durch innere als auch äußere Bedingungen ausgelöst werden sowie durch eine Kombination aus beiden.