Die einzige Wahrheit - Jodi Picoult - E-Book

Die einzige Wahrheit E-Book

Jodi Picoult

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Beschreibung

Tiefe Verzweiflung erfasst die junge Katie. Doch in der kleinen Amisch-Gemeinde von Lancaster County kann sie niemandem ihr Geheimnis anvertrauen. Deshalb betet sie zu Gott, dass das hilflose Bündel vor ihr im Stroh für immer aus ihrem Leben verschwinden möge – und steht wenig später unter Mordverdacht. Vor dem faszinierenden Hintergrund der Lebenswelt einer Amisch-Gemeinde erzählt Jodi Picoult von Liebe und Tod, Verrat und bewegender Treue: ein meisterhafter psychologischer Thriller und die Geschichte einer mitreißenden Freundschaft zweier ungewöhnlicher Frauen.

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Für meinen Dad, Myron Picoult, der mich lehrte, ich selbst zu sein.

Es gibt nicht viele Männer auf der Welt,

die niesen können wie eine Ente,

die Nadeln im Heuhaufen finden,

ganz schlechte Wortspiele machen …

und ihre Töchter so vorbehaltlos vergöttern.

Ich liebe dich.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

9. Auflage Juli 2010

ISBN 978-3-492-95329-0

© Jodi Picoult 2000

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Plain Truth«, Pocket Books / Simon & Schuster Inc., New York 2000

© der deutschsprachigen Originalausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2001, erschienen im Verlagsprogramm Kabel

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagmotiv: Thomas Klementsson / Link Image

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

 TEIL I 

________________

Ich muß sein ein Christenkind

Sanft und mild wie Christen sind;

Muß recht schlicht sein, treu und wahr

In Wort und Tat und Denken gar …

Muß bedenken, Gott schaut an,

Was ich gedacht und was getan.

Amischer Kinderreim

1

Sie hatte oft davon geträumt, wie ihre kleine Schwester tot unter dem Eis trieb, aber heute nacht sah sie zum erstenmal, wie Hannah verzweifelt die Finger ins Eis krallte. Sie konnte Hannahs Augen sehen, weit aufgerissen und milchig, sie spürte Hannahs Nägel übers Eis kratzen. Dann wachte sie plötzlich auf. Es war nicht Winter – es war Juli. Unter ihren Händen war kein Eis, bloß zerwühlte Bettlaken. Doch wieder war auf der anderen Seite jemand, der sich mit aller Kraft zu befreien versuchte.

Sie biß sich auf die Unterlippe, als die Faust in ihrem Bauch sich noch fester zusammenballte. Den Schmerz niederkämpfend, der in Wellen kam und ging, lief sie auf Zehenspitzen hinaus in die Nacht.

Als sie in den Stall trat, miaute die Katze. Sie keuchte jetzt, und ihre Beine zitterten wie Weidenzweige. In der hintersten Ecke des Verschlags, in dem die Kühe kalbten, ließ sie sich ins Heu nieder und zog die Knie an. Die Kühe mit den dicken, prallen Bäuchen drehten ihre großen, erstaunten Augen in ihre Richtung, wandten sich dann schnell wieder ab, als wüßten sie, daß es klüger war, nicht hinzuschauen.

Sie konzentrierte sich auf das Fell der Holsteinkühe, bis die schwarzen Flecken tanzten und verschwammen. Sie grub die Zähne in den aufgerollten Saum ihres Nachthemdes. Sie spürte einen ungeheuren Druck, als würde sie von innen nach außen gekehrt, und sie erinnerte sich, wie sie und Hannah sich immer durch das Loch im Stacheldrahtzaun am Bach zwängten, schiebend und windend, nur noch Knie und Ächzen und Ellbogen, bis sie hindurchpurzelten.

Es war so plötzlich vorüber, wie es begonnen hatte. Und auf dem blutbefleckten Heu zwischen ihren Beinen lag ein Baby.

Aaron Fisher rollte sich unter dem bunten Quilt auf die Seite und blickte auf die Uhr neben dem Bett. Nichts hatte ihn aufgeweckt, kein bestimmtes Geräusch, aber nach fünfundvierzig Jahren als Farmer konnten ihn Kleinigkeiten aus dem Schlaf reißen: ein Huschen im Mais, eine Veränderung im Rauschen des Windes, das Kratzen der Zunge eines Muttertieres, das ein neugeborenes Kalb sauberleckt.

Er spürte, wie die Matratze nachgab, als Sarah sich hinter ihm aufstützte, ihr langer Zopf ringelte sich über ihre Schulter wie ein Seemannsseil. »Was iss letz?« Was ist los?

Es waren nicht die Tiere; erst in einem Monat sollte die erste Kuh kalben. Es war kein Einbrecher; dazu war das Geräusch zu zart. Er spürte, wie der Arm seiner Frau sich um ihn schlang. »Nix«, murmelte er. Aber er wußte nicht, ob er Sarah beruhigen wollte oder sich selbst.

Sie wußte, wie man die Schnur durchschnitt, die wie eine purpurne Spirale zum Bauch des Babys lief. Mit zitternden Händen nahm sie die alte Schere, die an einem Haken neben der Tür des Verschlages hing. Sie war rostig, und Heu klebte daran. Zwei feste Schnitte durchtrennten die Schnur, und sofort schoß Blut daraus hervor. Entsetzt drückte sie die Enden mit den Fingern zu, suchte verzweifelt nach irgend etwas zum Abbinden. Sie wühlte im Stroh herum und fand ein kleines Stück Heukordel, das sie rasch um die Nabelschnur wickelte. Die Blutung ließ nach, hörte schließlich auf. Erleichtert sank sie nach hinten – und dann fing das Neugeborene an zu schreien.

Sie nahm das Baby und wiegte es in ihren Armen. Mit einem Fuß schob sie Stroh zusammen, um das Blut mit einer sauberen Lage zu bedecken. Der Mund des Babys öffnete und schloß sich um den Baumwollstoff ihres Nachthemdes, saugend.

Sie wußte, was das Baby wollte, brauchte, aber sie konnte es nicht tun. Es würde alles real machen.

Also gab sie dem Baby statt dessen ihren kleinen Finger. Sie ließ den winzigen, kräftigen Mund saugen, während sie tat, was man ihr für extreme Streßsituationen beigebracht hatte; was sie jetzt schon seit Monaten tat. Sie betete: »O Herr, bitte mach, daß es weggeht.«

Das Klirren von Ketten weckte sie. Es war noch dunkel draußen, aber die Milchkühe folgten ihrer inneren Uhr und erhoben sich in ihren Verschlägen, die Euter blau geädert und prall voll Milch, wie ein zwischen ihren Beinen gefangener Vollmond. Sie hatte Schmerzen und war müde, doch sie wußte, daß sie den Stall verlassen mußte, bevor die Männer zum Melken kamen. Als sie nach unten blickte, begriff sie, daß ein Wunder geschehen war: Das blutgetränkte Stroh war wieder frisch, bis auf einen kleinen Fleck unter ihrem Gesäß. Und die beiden Dinge, die sie beim Einschlafen in den Händen gehalten hatte – die Schere und das Neugeborene –, waren verschwunden.

Sie erhob sich mühsam und blickte zum Dach hinauf, voller Ehrfurcht und Demut. »Danki«, flüsterte sie und lief hinaus in die Dunkelheit.

Wie alle anderen sechzehnjährigen Amisch-Jungen ging auch Levi Esch nicht mehr zur Schule. Er hatte die achte Klasse abgeschlossen und war jetzt bald in dem Alter, in dem er durch die Taufe in den amischen Glauben aufgenommen werden würde. In der Zwischenzeit half er bei Aaron Fisher aus, der keinen Sohn mehr hatte, der ihn auf der Milchfarm unterstützte. Den Job hatte Levi auf Empfehlung seines älteren Vetters Samuel hin bekommen, der inzwischen schon seit fünf Jahren bei den Fishers in die Lehre ging. Und da alle wußten, daß Samuel in naher Zukunft die Tochter der Fishers heiraten und seine eigene Farm bewirtschaften würde, konnte Levi wohl bald mit einer Beförderung rechnen.

Sein Arbeitstag begann um vier Uhr morgens. Es war noch stockdunkel, und Levi konnte nicht sehen, wie Samuels Kutsche ankam, aber er hörte das schwache Klingeln von Geschirr und Zugriemen. Er griff sich seinen breitkrempigen Strohhut, lief hinaus und sprang auf den Sitz neben Samuel.

»Morgen«, sagte er außer Atem.

Samuel nickte ihm zu, sagte aber nichts.

»Was ist los?« neckte Levi. »Hat Katie dir gestern keinen Gutenachtkuß gegeben?«

Samuel blickte finster und versetzte Levi einen Stoß, so daß dessen Hut nach hinten in die Kutsche rollte. »Halt doch einfach die Klappe.« Der Wind raunte im zerzausten Rand des Maisfeldes, während sie schweigend dahinfuhren. Nach einer Weile steuerte Samuel den Einspänner auf den Hof der Fishers. Levi bohrte die Spitze seines Stiefels in die weiche Erde und wartete, bis Samuel das Pferd ausgespannt und auf die Weide geführt hatte, dann gingen sie zum Stall.

Die Lampen, die sie beim Melken brauchten, wurden von einem Generator gespeist, der auch die Vakuumpumpen mit Strom versorgte, die an den Zitzen der Kühe befestigt wurden. Aaron Fisher kniete neben einem Tier, besprühte das Euter mit Jodlösung und wischte es dann mit einer Seite aus einem alten Telefonbuch trocken. »Samuel, Levi«, begrüßte er sie.

Er sagte ihnen nicht, was sie zu tun hatten, weil sie es längst wußten. Samuel schob die Schubkarre unter ein Silo und fing an, das Futter zu mischen. Levi schaufelte den Mist hinter den Kühen heraus, blickte dabei immer wieder zu Samuel hinüber und wünschte sich, er wäre schon ebenso erfahren wie er.

Die Stalltür ging auf, und Aarons Vater kam hereingeschlendert. Elam Fisher wohnte im Groossdaadi-Haus, einer kleinen Wohnung, die dem Haupthaus angeschlossen war. Elam half zwar beim Melken, doch Levi kannte die ungeschriebenen Regeln: darauf achten, daß der alte Mann nichts Schweres trug, verhindern, daß er sich übermäßig anstrengte, und ihm das Gefühl geben, daß Aaron ohne ihn nicht zurechtkäme, obwohl dieser das durchaus gekonnt hätte, jederzeit. »Jungs«, polterte Elam und blieb dann wie angewurzelt stehen. Seine Nase kräuselte sich über dem langen, weißen Bart. »Ha, wir haben ein Kälbchen bekommen.«

Verwundert richtete Aaron sich auf. »Nein. Der Verschlag ist leer.«

Elam schüttelte den Kopf. »Aber es riecht so.«

»Hier riecht’s eher nach Levi, der mal wieder ein Bad gebrauchen könnte«, scherzte Samuel, während er vor der ersten Kuh eine Ration Futter auskippte. Als Samuel mit der Schubkarre an ihm vorbeikam, holte Levi aus, rutschte jedoch auf dem frischen Mist aus und landete in der Auffangrinne für die Gülle. Er biß die Zähne zusammen, als Samuel laut loslachte. »Das reicht jetzt«, sagte Aaron tadelnd, obwohl es auch um seine Lippen zuckte. »Levi, ich glaub, Sarah hat deine sauberen Sachen in die Sattelkammer gelegt.« Levi rappelte sich mit glühenden Wangen wieder auf. Er ging in das Kämmerchen, in dem die Decken und das Zaumzeug für die Arbeitspferde und Maultiere der Farm aufbewahrt wurden.

Levi schaute sich um, konnte aber nirgendwo Kleidung entdecken. Dann fiel ihm etwas Buntes in dem Stapel Pferdedecken auf. Wenn Sarah Fisher seine Sachen gewaschen hatte, dann wahrscheinlich zusammen mit der übrigen Wäsche. Er hob die schwere, gestreifte Decke hoch und sah seine Hose und sein smaragdgrünes Hemd zu einem Bündel zusammengerollt. Levi machte einen Schritt nach vorn, um die Sachen an sich zu nehmen, als er plötzlich in das winzige, reglose Gesicht eines Neugeborenen blickte.

»Aaron!« Levi keuchte. »Aaron, du mußt sofort kommen.« Aaron wechselte einen Blick mit seinem Vater, dann rannten sie beide los, gefolgt von Samuel.

Levi stand vor einem Hocker, auf dem Pferdedecken gestapelt waren, und darauf lag ein schlafendes Baby, in ein Männerhemd eingewickelt. »Ich … ich glaube, es atmet nicht.«

Aaron trat näher. Es war schon lange her, daß er mit einem so kleinen Baby zu tun gehabt hatte. Die weiche Haut des Gesichtchens war kalt. Er kniete nieder und drehte seinen Kopf zur Seite, hoffte, daß sein Ohr ein Atmen wahrnehmen würde. Er legte seine flache Hand auf die Kinderbrust. Dann drehte er sich zu Levi um. »Lauf zu den Schuylers und frag sie, ob du ihr Telefon benutzen darfst«, sagte er. »Ruf die Polizei.«

»So ein Blödsinn«, sagte Lizzie Munro zu dem diensthabenden Beamten. »Ich kümmere mich doch nicht um ein lebloses Baby. Schick einen Rettungswagen hin.«

»Die sind schon da. Und haben einen Detective angefordert.«

Lizzie verdrehte die Augen. Seit sie als Detective-Sergeant bei der Polizei des East Paradise Township war, wurden die Rettungssanitäter von Jahr zu Jahr jünger. Und dümmer. »Das ist eine medizinische Angelegenheit, Frank.«

»Tja, irgendwas ist da jedenfalls nicht in Ordnung.« Der Lieutenant reichte ihr einen Zettel mit der Anschrift.

»Fisher?« las Lizzie, verwundert über den Namen und die Straße. »Sind das Amische?«

»Ich glaub, ja.«

Lizzie seufzte und griff nach ihrer dicken, schwarzen Tasche und ihrer Dienstmarke. »Du weißt doch auch, daß das Zeitverschwendung ist.« In der Vergangenheit hatte Lizzie gelegentlich mit Jugendlichen von den Amischen der Alten Ordnung zu tun gehabt, die sich in einer Scheune getroffen hatten, um zu trinken und zu tanzen. Ein- oder zweimal war sie gerufen worden, um die Aussage eines amischen Geschäftsmannes aufzunehmen, bei dem eingebrochen worden war. Doch ansonsten hatten die Amischen kaum etwas mit der Polizei zu tun. Ihre Gemeinde lebte unauffällig inmitten der normalen Welt, wie eine kleine Luftblase, unberührt von allem anderen.

»Fahr hin und nimm ihre Aussagen auf, ich revanchier mich auch dafür.« Frank hielt ihr die Tür auf, als sie aus dem Büro ging. »Ich besorg dir eine richtig schöne, dicke Straftat, in die du dich verbeißen kannst.«

»Du mußt mir keinen Gefallen tun«, sagte Lizzie, aber sie mußte schmunzeln, als sie in ihren Wagen stieg und zur Farm der Fishers fuhr.

Im Hof der Fishers standen ein Streifenwagen, ein Rettungswagen und eine Kutsche. Lizzie ging zum Haus und klopfte.

Niemand öffnete, aber hinter sich hörte Lizzie eine sanfte, angenehm melodische Frauenstimme. Eine Amisch-Frau mittleren Alters in einem lavendelfarbenen Kleid mit schwarzer Schürze kam rasch auf Lizzie zu. »Ich bin Sarah Fisher. Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin Detective-Sergeant Lizzie Munro.«

Sarah nickte ernst und führte Lizzie in die Sattelkammer, wo sich zwei Sanitäter über ein Baby beugten. »Was haben wir?«

»Ein Neugeborenes. Betonung auf neu. Kein Puls, keine Atmung, als wir ankamen, und es ist uns nicht gelungen, den Kleinen zu reanimieren. Einer von den Farmarbeitern hat ihn gefunden, unter einer Pferdedecke und eingewickelt in ein grünes Hemd. Ich kann nicht sagen, ob es eine Totgeburt war oder nicht, aber irgendwer hat jedenfalls versucht, die Leiche zu verstecken. Ich glaub, einer von euren Leuten ist irgendwo bei den Ställen. Vielleicht kann der Ihnen mehr sagen.«

»Moment mal – jemand hat dieses Baby zur Welt gebracht und dann versucht, es zu verstecken?«

»Ja. Vor ungefähr drei Stunden.«

Schlagartig war der schlichte Einsatz, der eigentlich einen Arzt verlangt hätte, komplizierter, als Lizzie gedacht hatte, und die Person, die am ehesten verdächtig war, stand nur einen Meter entfernt. Lizzie blickte zu Sarah Fisher hoch, die zitternd die Arme um sich schlang. »Das Baby ist … tot?«

»Ich fürchte ja, Mrs. Fisher.«

Lizzie öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, wurde jedoch von einem entfernten Geräusch abgelenkt, als würden Gerätschaften hin und her geschoben. »Was ist das?«

»Die Männer sind mit dem Melken fertig.«

»Melken?«

»Diese Dinge …«, sagte die Frau leise, »müssen trotzdem getan werden.«

Plötzlich empfand Lizzie tiefes Mitleid für sie. Das Leben legte für den Tod niemals eine Atempause ein; sie selbst sollte das besser wissen als die meisten. Sie legte einen Arm um Mrs. Fishers Schulter, nicht ganz sicher, in welcher psychischen Verfassung die Frau war, und sagte in sanfterem Ton: »Ich weiß, daß das schwer für Sie ist, aber ich muß Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Baby stellen.« Sarah Fisher hob den Blick und sah Lizzie in die Augen. »Das ist nicht mein Baby«, sagte sie. »Ich hab keine Ahnung, wo es herkommt.«

Eine halbe Stunde später bückte sich Lizzie zum Fotografen der Spurensicherung hinunter. »Beschränken Sie sich auf den Stall. Die Amischen lassen sich nicht gerne fotografieren.«

Zumindest verstand Lizzie jetzt, warum sie hergerufen worden war. Ein unidentifizierter toter Säugling, eine unbekannte Mutter. Und das alles mitten auf einer Amisch-Farm.

Sie hatte die Nachbarn befragt, ein lutheranisches Paar, das versicherte, kaum je laute Stimmen von den Fishers gehört zu haben, und sich nicht erklären konnte, wo das Baby herkam. Sie hatten zwei Töchter im Teenageralter, von denen eine einen Nasen- und einen Nabelring trug. Beide hatten Alibis. Trotzdem waren sie bereit, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen, um als Verdächtige auszuscheiden.

Sarah Fisher hingegen lehnte das ab. Lizzie dachte darüber nach, während sie in der Milchkammer stand und zusah, wie Aaron Fisher einen kleinen Kanister Milch in einen größeren leerte. Er war ein großer und dunkler Typ mit muskulösen Armen. Sein Bart reichte ihm bis auf die Brust. Als er fertig war, stellte er den Kanister ab und wandte sich Lizzie zu.

»Meine Frau war nicht schwanger, Detective«, sagte Aaron.

»Sind Sie sicher?«

»Sarah kann keine Kinder mehr bekommen. Die Ärzte haben das so eingerichtet, nachdem sie bei der letzten Geburt fast gestorben wäre.«

»Ihre anderen Kinder, Mr. Fisher – wo waren die, als das Baby gefunden wurde?«

Ein Schatten huschte über das Gesicht des Mannes. »Meine Tochter hat oben geschlafen. Mein anderes Kind ist … fort.«

»Fort, heißt das, ausgezogen?«

»Tot.«

»Ihre Tochter, die oben geschlafen hat, ist wie alt?«

»Achtzehn.«

Lizzie blickte auf. Weder Sarah Fisher noch die Sanitäter hatten erwähnt, daß noch eine Frau im gebärfähigen Alter auf der Farm wohnte. »Wäre es möglich, daß sie schwanger war, Mr. Fisher?«

Das Gesicht des Mannes wurde so rot, daß Lizzie sich schon Sorgen machte. »Sie ist nicht mal verheiratet.«

»Das ist keine unabdingbare Voraussetzung, Sir.«

Aaron Fisher starrte sie an, kalt und klar. »Für uns schon.«

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis alle vierzig Kühe gemolken waren. Samuel schloß das Gatter, nachdem er die Jungkühe auf die Weide gelassen hatte, und ging dann zum Haupthaus. Eigentlich sollte er Levi helfen, den Stall ein weiteres Mal auszumisten, aber heute konnte das warten.

Er klopfte nicht an, sondern öffnete einfach die Tür, als gehörte ihm nicht nur das Haus schon, sondern auch die junge Frau, die am Herd stand. Er verharrte einen Moment, genoß den Anblick, wie das Sonnenlicht ihr Profil noch anmutiger machte, das honigfarbene Haar golden tönte, betrachtete die geschickten Bewegungen, mit denen sie das Frühstück bereitete.

»Katie«, sagte Samuel und trat ein.

Vor Schreck ließ sie den Löffel in die Teigschüssel fallen und drehte sich rasch um. »Ach, du bist es, Samuel.« Sie sah an seiner Schulter vorbei, als erwartete sie, hinter ihm eine Armee zu sehen. »Mam hat gesagt, ich soll genug für alle machen.«

Samuel ging zu ihr, nahm die Schüssel und stellte sie auf die Arbeitsplatte. Er griff nach ihren Händen. »Du siehst gar nicht gut aus.«

Sie verzog das Gesicht. »Danke für das Kompliment.«

Er zog sie näher an sich. »Alles in Ordnung?«

Wenn sie ihn ansah, waren ihre Augen so strahlendblau wie ein Ozean, den er einmal auf dem Umschlag eines Reisemagazins gesehen hatte, und – so stellte er sich vor – ebenso unendlich tief. Sie hatten ihn als erstes zu Katie hingezogen, unter all den Menschen während eines Gottesdienstes. Sie hatten in ihm die Überzeugung geweckt, daß er auch noch in vielen, vielen Jahren alles tun würde für diese eine Frau.

Sie entzog sich ihm und begann, Pfannkuchen zu wenden. »Du kennst mich doch«, sagte sie atemlos. »Ich werde nervös, wenn ich mit Englischen zu tun habe.«

»So viele sind’s nicht. Bloß eine Handvoll Polizisten.« Samuel betrachtete sorgenvoll ihren Rücken. »Aber es kann sein, daß sie mit dir reden wollen. Sie wollen mit allen reden.«

Sie drehte sich langsam um. »Was haben sie denn da draußen gefunden?«

»Hat deine Mutter dir nichts gesagt?«

Katie schüttelte langsam den Kopf, und Samuel zögerte, hin und her gerissen, ob er ihr die Wahrheit sagen oder ob er sie möglichst lange in Unwissenheit belassen sollte, was ihm lieber wäre. Er fuhr sich mit den Händen durch das strohfarbene Haar, so daß es in alle Richtungen stand. »Tja, also, sie haben ein Baby gefunden. Tot.« Er sah, wie sich ihre Augen weiteten, diese unglaublichen Augen, und dann sank sie auf einen der Küchenstühle. »Oh«, flüsterte sie benommen.

Sofort war er neben ihr, hielt sie im Arm und flüsterte, daß er sie von hier wegbringen würde, sollte die Polizei doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Er spürte, wie sie sich gegen ihn lehnte, und einen Augenblick lang war Samuel überglücklich – nach so vielen Tagen, in denen er zurückgewiesen worden war. Doch dann erstarrte Katie und wich zurück. »Ich glaube, das ist nicht der richtige Zeitpunkt«, sagte sie streng. Sie stand auf und stellte die Gasflammen am Herd ab, verschränkte dann die Arme vor dem Bauch. »Samuel, es gibt tatsächlich einen Ort, an den du mich bringen sollst.«

»Wohin du willst«, versprach er.

»Ich möchte, daß du mich zu dem Baby bringst.«

»Es ist Blut«, bestätigte der Gerichtsmediziner, der im Kälberverschlag vor einem kleinen, dunklen Fleck kauerte. »Und Plazenta. Nicht von einer Kuh, der Größe nach zu schließen. Hier hat jemand vor kurzem ein Baby geboren.«

»Totgeburt?«

Er zögerte. »Das kann ich ohne Autopsie nicht sagen – aber mein Gefühl sagt nein.«

»Dann ist es einfach so … gestorben?«

»Das hab ich auch nicht gesagt.«

»Wollen Sie damit sagen, daß jemand dieses Baby absichtlich getötet hat?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Es ist wohl eher Ihr Job, das herauszufinden.«

Angesichts der kurzen Zeitspanne zwischen Geburt und Tod lag die Vermutung nahe, daß die Mutter selbst die Tat begangen hatte. »Und wie? Stranguliert?«

»Eher erstickt. Morgen müßte ich einen vorläufigen Autopsiebericht fertig haben.« Lizzie dankte ihm und entfernte sich vom Tatort, der jetzt von uniformierten Polizisten gesichert wurde. Plötzlich hatte sie es nicht mehr mit einem Fall von Kindesaussetzung zu tun, sondern mit einem möglichen Mord. Es gab genug Anhaltspunkte, um von einem Bezirksrichter die Genehmigung für die Entnahme von Blutproben zu bekommen, die die Täterin entlarven würden.

Als die Stalltür sich öffnete, blieb sie stehen. Ein großer blonder Mann – einer von den Helfern auf der Farm – trat gemeinsam mit einer jungen Frau in das dämmrige Licht. Er nickte Lizzie zu. »Das ist Katie Fisher.«

Sie war hübsch, eine dieser ländlichen Erscheinungen, bei denen Lizzie immer an frische Sahne und Frühling denken mußte. Sie trug die traditionelle Kleidung der Amischen der Alten Ordnung: langärmeliges Kleid mit schwarzer Schürze, die knapp unterhalb der Knie endete. Ihre Füße waren nackt und schwielig – Lizzie hatte immer gestaunt, wenn sie die jungen Amischen ohne Schuhe über Schotterstraßen laufen sah. Außerdem war die junge Frau so nervös, daß Lizzie ihre Angst förmlich riechen konnte. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte Lizzie sanft. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Katie rückte näher an den stattlichen jungen Mann neben sich. »Katie hat letzte Nacht geschlafen«, sagte er. »Sie hat nicht mal gewußt, was passiert ist, bis ich es ihr erzählt habe.«

Katie war von irgend etwas abgelenkt worden. Sie starrte über Lizzies Schulter hinweg in die Sattelkammer, wo die Babyleiche unter Aufsicht des Gerichtsmediziners weggebracht wurde. Plötzlich riß sie sich von Samuel los und lief aus dem Stall. Lizzie rannte ihr bis zur Veranda des Haupthauses nach. Lizzie beobachtete, wie die junge Frau versuchte, die Fassung zurückzugewinnen. Normalerweise hätte Lizzie das als Anzeichen für ein schlechtes Gewissen gedeutet – doch Katie Fisher war eine Amisch. Als Amisch konnte man in Lancaster County aufwachsen, ohne je eine Nachrichtensendung im Fernsehen oder einen Film gesehen zu haben, ohne Vergewaltigung und prügelnde Ehemänner und Mord. Man konnte ein totes Baby sehen und von diesem Anblick ehrlich und zutiefst erschüttert sein.

Andererseits hatte es in den letzten Jahren jugendliche Mütter gegeben, die ihre Schwangerschaften geheimgehalten und das Neugeborene hatten verschwinden lassen. Jugendliche Mütter, die sich gar nicht darüber im klaren waren, was sie getan hatten. Jugendliche Mütter aller sozialer Gruppen, aller Religionen.

Katie schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. »Tut mir leid«, sagte sie. »Als ich – den Leichnam gesehen hab – mußte ich an meine Schwester denken.«

»Die gestorben ist?«

Katie nickte. »Sie ist ertrunken, als sie sieben war.«

Lizzie schaute zu den Feldern hinüber, ein grünes Meer, das sich in der leichten Brise kräuselte. In der Ferne wieherte ein Pferd, und ein anderes antwortete ihm. »Wissen Sie, was mit dem Baby passiert ist?« fragte Lizzie leise.

Katie verengte die Augen. »Ich lebe auf einer Farm.«

»Aber es gibt Unterschiede zwischen Tieren und Frauen. Wenn Frauen gebären und nicht medizinisch versorgt werden, bringen sie sich in große Gefahr.« Lizzie stockte. »Katie, gibt es vielleicht irgend etwas, das sie mir sagen möchten?«

»Ich hab kein Baby bekommen«, antwortete Katie. »Wirklich nicht.« Aber Lizzie starrte auf den Verandaboden. Auf den weiß gestrichenen Dielenbrettern war ein rotbrauner Fleck. Und an Katies nacktem Bein rann langsam Blut herab.

2

Ellie

In meinen Alpträumen sah ich lauter Kinder. Vor allem sechs kleine Mädchen, deren Knie unter den karierten Trägerröcken der St.-Ambrose’s-Schuluniform hervorschauten. Ich sah sie innerhalb eines Augenblicks erwachsen werden; in dem Moment, als die Geschworenen meinen Mandanten freisprachen, den Grundschulrektor, der sie sexuell mißbraucht hatte.

Es war mein größter Triumph als Anwältin in Philadelphia; der Urteilsspruch, der mich mit einem Schlag bekannt machte und nach dem mein Telefon nicht mehr stillstand, weil dauernd andere angesehene Bürger der Stadt anriefen, die durch die Gesetzeslücken schlüpfen wollten. Am Abend des Urteilsspruchs lud Stephen mich in »Victor’s Café« ein. Für das Geld hätten wir einen Gebrauchtwagen kaufen können. Er erzählte mir, daß die beiden Seniorpartner seiner Kanzlei, der renommiertesten der Stadt, mich zu einem Gespräch eingeladen hatten.

»Stephen«, sagte ich erstaunt, »als ich mich vor fünf Jahren bei euch vorgestellt habe, hast du gesagt, du könntest keine Beziehung zu einer Frau in deiner Kanzlei haben.« Er zuckte die Achseln. »Vor fünf Jahren«, sagte er, »war vieles anders.«

Er hatte recht. Vor fünf Jahren bastelte ich noch an meiner eigenen Karriere. Vor fünf Jahren glaubte ich noch, daß der Hauptnutznießer eines Freispruchs mein Mandant sei und nicht ich. Vor fünf Jahren hätte ich von einer Chance, wie Stephen sie mir in seiner Kanzlei anbot, nur träumen können.

Ich lächelte ihn an. »Wann soll das Gespräch stattfinden?«

Später entschuldigte ich mich und ging zur Toilette. Die Toilettenfrau wartete geduldig neben einem Tablett mit Make-up, Haarspray und Parfüm. Ich ging in eine Kabine und fing an zu weinen – um diese sechs kleinen Mädchen, um die Beweise, die ich erfolgreich unterschlagen hatte, um die Anwältin, die ich hatte werden wollen, als ich vor Jahren mein Jurastudium abschloß – noch so voller Prinzipien, daß ich diesen Fall niemals angenommen, erst recht nicht so schwer dafür gearbeitet hätte, ihn zu gewinnen.

Ich kam wieder heraus und drehte den Wasserhahn auf. Ich schob die Seidenärmel meiner Kostümjacke hoch und seifte meine Hände gründlich ein. Jemand tippte mir auf die Schulter, und als ich mich umsah, stand die Toilettenfrau hinter mir und hielt mir ein Handtuch hin. Ihre Augen waren hart und dunkel wie Kastanien. »Schätzchen«, sagte sie, »manche Flecken kriegst du einfach nie mehr weg.«

In meinen Alpträumen gab es noch ein anderes Kind, aber sein Gesicht hatte ich nie gesehen. Es war das Baby, das ich nie gehabt hatte, und so, wie die Dinge standen, auch nie haben würde. Viele Menschen machten Witze über die biologische Uhr, aber in Frauen wie mir gab es sie nun mal – obwohl ich das Ticken niemals als Weckruf verstanden hatte, sondern eher als Auftakt zu einer Bombenexplosion. Zögern, zögern, und dann – wumm! – hatte man die letzte Chance vertan.

Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Stephen und ich wohnten seit acht Jahren zusammen.

Am Tag nach seinem Freispruch schickte mir der Schulleiter von St. Ambrose’s zwei Dutzend rote Rosen. Stephen kam in die Küche, als ich sie gerade in den Müll stopfte.

»Was machst du denn da?«

Ich drehte mich langsam zu ihm um. »Quält dich eigentlich nie der Gedanke, daß du, wenn du einmal die Grenze überschritten hast, nicht mehr zurückkannst?«

»Herrgott, jetzt redest du wieder wie Konfuzius.«

»Ich wollte einfach nur wissen, ob es dich nicht packt. Genau hier.« Ich zeigte auf mein Herz, das mir noch immer weh tat. »Guckst du dir im Gerichtssaal nie die Leute an, deren Leben von einem Menschen zerstört wurde, von dem du weißt, daß er todsicher schuldig ist?«

Stephen griff nach seiner Kaffeetasse. »Auch die muß jemand verteidigen. So funktioniert unser Rechtssystem nun mal. Wenn du so ein Weichei bist, dann geh doch zur Staatsanwaltschaft.« Er zog eine Rose aus dem Mülleimer, knickte die Blüte ab und steckte sie mir hinters Ohr. »Du mußt auf andere Gedanken kommen. Was hältst du davon, wenn wir beide raus nach Rehoboth Beach fahren und ein bißchen schwimmen gehen?« Er beugte sich näher zu mir und fügte hinzu: »Nackt.«

»Sex ist kein Seelenpflaster, Stephen.«

Er machte einen Schritt zurück. »Entschuldigung, wenn ich das vergessen habe. Es ist schon so lange her.«

»Darüber will ich jetzt nicht diskutieren.«

»Da gibt’s auch nichts zu diskutieren, El. Ich hab schon eine zwanzig Jahre alte Tochter.«

»Aber ich nicht.« Die Worte schwebten in der Luft, so zart wie eine Seifenblase, kurz bevor sie platzt. »Hör mal, ich kann ja verstehen, daß du die Sterilisation nicht rückgängig machen lassen willst. Aber es gibt andere Möglichkeiten –«

»Nein, gibt es nicht. Ich werde nicht zusehen, wie du Kataloge von Samenspendern durchblätterst. Und ich will auch nicht, daß eine Sozialarbeiterin mein Leben durchforstet, um zu entscheiden, ob ich es wert bin, irgendein chinesisches Kind großzuziehen, das man auf einem Berg ausgesetzt hat.«

»Stephen, es reicht! Halt den Mund!«

Zu meiner Verblüffung verstummte er augenblicklich. Er setzte sich, verstockt und wütend. »Das war überflüssig«, sagte er schließlich. »Wirklich, das war unter der Gürtellinie.«

»Was denn?«

»Wie du mich bezeichnest, verdammt. Als alten Hund.«

Ich sah ihn an. »Ich hab gesagt: Halt den Mund.«

Stephen blickte verblüfft, dann fing er an zu lachen. »Halt den Mund – meine Güte! Ich hab dich falsch verstanden.«

Wann hast du mich das letzte Mal richtig verstanden, dachte ich, aber ich konnte es mir gerade noch verkneifen.

Die Kanzlei von Pfister, Crown und DuPres lag im Zentrum von Philadelphia und erstreckte sich über drei Etagen eines Wolkenkratzers aus Glas und Stahl. Ich brauchte eine Ewigkeit, um die passende Garderobe für das Gespräch auszusuchen. Schließlich entschied ich mich für ein Kostüm, in dem ich, wie ich fand, am selbstbewußtesten aussah. Ich trank eine Tasse koffeinfreien Kaffee, ging im Geist die Strecke durch und machte mich eine Stunde vor dem vereinbarten Termin auf den Weg, obwohl die Entfernung nur fünfzehn Meilen betrug.

Um Punkt elf Uhr schob ich mich hinter das Lenkrad meines Honda. »Seniorpartner«, murmelte ich. »Und alles unter 300 000 Dollar pro Jahr ist inakzeptabel.« Dann setzte ich meine Sonnenbrille auf und fuhr Richtung Highway.

Ich legte eine Kassette ein und ließ die Bässe dröhnen, so laut, daß ich bei einem riskanten Spurwechsel kaum das wütende Hupen des Pick-up hörte, den ich geschnitten hatte.

»Hoppla«, murmelte ich und schloß beide Hände fester ums Lenkrad. Fast im selben Augenblick ruckte es unter meiner Berührung. Ich umklammerte es, doch der Wagen bockte um so heftiger. Nackte Panik schoß mir von der Kehle in den Magen, blitzartig, wie die Erkenntnis, daß irgend etwas ganz furchtbar falsch gelaufen ist. Im Rückspiegel sah ich den Pick-up bedrohlich näher kommen, hörte das wütende Hupen, während mein Auto mit einem letzten Stottern mitten auf der dicht befahrenen Schnellstraße stehenblieb. Ich schloß die Augen, wartete auf den Aufprall, der nicht kam.

Dreißig Minuten später zitterte ich noch immer. Ich stand neben Bob, dem Namensgeber von Bob’s Auto Service, und er versuchte mir zu erklären, was mit meinem Wagen passiert war. »Der ist praktisch geschmolzen«, sagte er und wischte sich die Hände an seinem Overall ab. »Die Ölwanne hat ein Leck, der Motor hat sich festgefressen, und die ganzen Innereien sind zusammengepappt.«

»Und wie kriegt man die wieder auseinander?«

»Überhaupt nicht. Man kauft ’nen neuen Motor. Sie müssen mit fünf- bis sechstausend rechnen.«

»Fünf- bis sechs…« Der Mechaniker wandte sich ab. »He! Und bis dahin?« Bob ließ den Blick über mein Kostüm, meine Aktentasche, meine Pumps wandern. »Besorgen Sie sich ein paar Joggingschuhe.«

Ein Telefon begann zu klingeln. »Wollen Sie nicht rangehen?« fragte der Mechaniker, und ich begriff, daß das Geräusch aus den Tiefen meiner Aktentasche kam. Stöhnend erinnerte ich mich an meinen Termin in der Kanzlei. Ich war fünfzehn Minuten zu spät. »Wo zum Teufel steckst du?« bellte Stephen, als ich mich meldete.

»Mein Wagen hat den Geist aufgegeben. Mitten auf dem Highway. Im dichtesten Verkehr.«

»Himmelherrgott, Ellie, für so was gibt’s doch Taxis!«

Es verschlug mir die Sprache. Kein »Mein Gott, ist dir was passiert?«. Kein »Soll ich kommen und dir helfen?«. Ich warf einen Blick auf die verbogenen Innereien, die einmal der Motor meines Autos gewesen waren, und empfand plötzlich einen seltsamen Frieden. »Ich werd es heute wohl nicht mehr schaffen«, sagte ich. Stephen seufzte. »Tja, vielleicht kann ich John und Stanley ja überreden, einen neuen Termin festzusetzen. Ich ruf dich gleich zurück.«

Die Leitung wurde unterbrochen, und ich ging wieder zu meinem Wagen.

Plötzlich sah ich in Gedanken noch einmal den Pick-up, der auf dem Highway hinter mir gewesen war, hupend und schlingernd; die anderen Autos, die sich um meinen Wagen herumschlängelten, wie Wasser um einen Stein. Ich roch den heißen, welligen Asphalt, weich unter meinen spitzen Absätzen, als ich zittrig über den Highway stöckelte. Ich glaubte nicht unbedingt an Schicksal, aber das war so knapp gewesen, ein deutliches Zeichen; als hätte ich im wahrsten Sinne des Wortes gebremst werden müssen, bevor mir klar wurde, daß ich in die falsche Richtung unterwegs war. Nachdem mein Wagen liegengeblieben war, hatte ich die Polizei und etliche Werkstätten angerufen, aber mir war nicht der Gedanke gekommen, Stephen anzurufen. Irgendwie hatte ich gewußt, daß ich selbst etwas unternehmen mußte, wenn ich gerettet werden sollte.

Das Telefon klingelte erneut. »Gute Nachrichten«, sagte Stephen, bevor ich mich gemeldet hatte. »Die hohen Herren sind bereit, sich heute abend um sechs mit dir zu treffen.«

Im selben Augenblick wußte ich, daß ich fortgehen würde.

Stephen half mir, meine Sachen im Kofferraum zu verstauen. »Ich verstehe das vollkommen«, sagte er, obwohl es nicht stimmte. »Du willst etwas Zeit für dich haben, bevor du dich entscheidest, welchen Fall du als nächsten annimmst.«

Ich wollte ein bißchen Zeit für mich haben, bevor ich mich entschied, ob ich überhaupt wieder einen Fall übernehmen wollte, aber das lag jenseits von Stephens Vorstellungswelt. Man studierte nicht Jura, machte ein gutes Examen, arbeitete wie verrückt und gewann einen großen Fall, nur um schließlich seine Berufswahl in Zweifel zu ziehen. Aber da war noch etwas anderes: Stephen konnte nicht akzeptieren, daß ich vielleicht für immer fortging. In unseren acht gemeinsamen Jahren hatten wir zwar nicht geheiratet, aber wir hatten uns auch nie getrennt.

»Rufst du mich an, wenn du angekommen bist?« fragte Stephen, doch bevor ich antworten konnte, küßte er mich. Unsere Lippen trennten sich, als würde eine Naht aufgerissen. Dann stieg ich in den Wagen und fuhr los.

Mag sein, daß andere Frauen in meiner Situation – unglücklich, uneins mit sich selbst und kürzlich in den Besitz einer größeren Geldsumme gelangt – sich für ein anderes Ziel entschieden hätten. Karibik, Paris, vielleicht sogar eine der Selbstfindung dienende Wanderung durch die Rocky Mountains. Für mich jedoch war klar, wohin ich mich zurückziehen wollte: Ich würde in Paradise, Pennsylvania, Zuflucht suchen. Als Kind hatte ich jeden Sommer dort eine Woche auf der Farm meines Großonkels verbracht, der nach und nach große Teile seines Landes verkauft hatte, bis er schließlich starb. Dann zog sein Sohn Frank in das Haupthaus, pflanzte auf den ehemaligen Maisfeldern Gras an und machte eine Tischlereiwerkstatt auf. Frank war so alt wie mein Vater und hatte lange vor meiner Geburt Leda geheiratet.

Ich könnte gar nicht mehr genau sagen, wie ich mir die Zeit vertrieb, wenn ich im Sommer in Paradise war, aber unvergeßlich ist mir in all den Jahren geblieben, was für eine friedliche Ruhe im Haus von Leda und Frank herrschte und mit welcher Selbstverständlichkeit Dinge erledigt wurden. Zuerst dachte ich, es läge daran, daß Leda und Frank keine eigenen Kinder hatten. Später erkannte ich dann, daß es mit Leda selbst zu tun hatte: Sie war als Amische aufgewachsen.

Man konnte nicht den Sommer in Paradise verbringen, ohne mit den Amischen der Alten Ordnung in Kontakt zu kommen. Sie waren ein fester Bestandteil von Lancaster County. Die schlichten Menschen, wie sie sich selbst nannten, fuhren mit ihren Kutschen durch den dichtesten Autoverkehr; sie standen in ihrer altertümlichen Kleidung im Lebensmittelladen Schlange; sie lächelten schüchtern hinter ihren Ständen, wenn wir frisches Obst und Gemüse bei ihnen kauften. Und so erfuhr ich eines Tages von Ledas Vergangenheit. Wir wollten frischen Mais kaufen, und Leda fing mit der Frau am Stand ein Gespräch an – auf Pennsylvaniadeutsch. Ich war elf und völlig verdutzt, als Leda – ebenso amerikanisch wie ich – in diese eigentümliche Sprache verfiel. Doch dann reichte Leda mir einen Zehn-Dollar-Schein. »Ellie, gib das bitte der Lady«, sagte sie, obwohl sie direkt vor ihr stand.

Auf der Heimfahrt erklärte Leda, daß sie schlicht gewesen war, bis sie Frank heiratete, der nicht schlicht war. Gemäß den Regeln ihres Glaubens wurde sie unter Bann gestellt, also von gewissen sozialen Kontakten mit Amischen ausgeschlossen. Sie konnte mit amischen Freunden und Verwandten sprechen, durfte aber nicht am selben Tisch mit ihnen essen. Sie konnte mit ihnen im Bus sitzen, durfte sie aber nicht in ihrem Auto mitnehmen. Sie konnte bei ihnen einkaufen, brauchte aber eine dritte Person – mich – zum Bezahlen.

Ihre Eltern und Geschwister lebten keine zehn Meilen entfernt.

»Darfst du sie besuchen?« fragte ich.

»Ja, aber das mache ich fast nie«, sagte Leda. »Eines Tages wirst du das verstehen, Ellie. Ich halte mich von ihnen fern, nicht, weil es mir unangenehm ist. Ich halte mich von ihnen fern, weil es ihnen unangenehm ist.«

Leda erwartete mich, als der Zug in den Bahnhof von Strasburg einlief. Ich stieg aus, und sie streckte mir die Arme entgegen. »Ellie, Ellie«, rief sie. Sie roch nach Orangen und Fensterputzmittel; ihre runde Schulter war ideal, um meinen Kopf darauf zu betten. Ich war neununddreißig Jahre alt, aber in Ledas Armen war ich wieder elf.

Sie führte mich zu dem kleinen Parkplatz. »Willst du mir erzählen, was los ist?«

»Nichts ist los. Ich wollte dich bloß mal besuchen.«

Leda schnaubte. »Du kommst immer nur zu Besuch, wenn du kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehst. Ist irgendwas mit Stephen?« Als ich nicht antwortete, kniff sie die Augen zusammen. »Oder ist vielleicht nichts mit Stephen – und das ist das Problem?«

Ich seufzte. »Es hat nichts mit Stephen zu tun. Ich habe einen sehr anstrengenden Fall hinter mir und … na ja, ich brauch ein bißchen Ruhe.«

»Aber du hast den Fall gewonnen. Ich hab’s in den Nachrichten gesehen.«

»Ja, aber Gewinnen ist nicht alles.«

Zu meiner Verwunderung erwiderte sie nichts darauf. Ich schlief ein, sobald Leda auf den Highway auffuhr, und wurde mit einem Ruck wieder wach, als sie in ihre Einfahrt einbog. »Tut mir leid«, sagte ich verlegen, »ich wollte nicht einfach einnicken.«

Leda lächelte und tätschelte meine Hand. »Entspann dich mal schön bei mir. Solange du willst.«

»Ach, allzulang soll es gar nicht sein.« Ich nahm die Koffer vom Rücksitz und eilte hinter Leda die Verandastufen hinauf.

»Jedenfalls schön, daß du da bist, ob nun für zwei Nächte oder ein Dutzend.« Sie legte den Kopf schief. »Das Telefon klingelt«, sagte sie, stieß die Tür auf und griff hastig zum Hörer. »Hallo?«

Ich stellte meine Koffer ab und streckte mich. Ledas Küche war blitzsauber und sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte: das Sticktuch an der Wand, die Keksdose in Form eines Schweins, die schwarzweißen Linoleumquadrate. Wenn ich die Augen schloß, war mir, als wäre ich nie fort gewesen, als wäre die schwerste Entscheidung, die ich an diesem Tag zu treffen hatte, die, ob ich es mir in dem gemütlichen Sessel hinterm Haus oder auf der quietschenden Hollywoodschaukel auf der Veranda bequem machen sollte. Leda war offensichtlich verblüfft, die Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören. »Sarah, schschsch«, sagte sie beruhigend. »Was iss letz?« Ich konnte nur Bruchstücke verstehen: en Kind … er hot en Kind g’funne … es Kind waar doot. Ich sank auf einen Hocker und wartete, bis Leda das Gespräch beendet hatte.

Als sie auflegte, blieb ihre Hand einen langen Augenblick auf dem Hörer liegen. Dann drehte sie sich zu mir um, bleich und mitgenommen. »Ellie, es tut mir so leid, aber ich muß weg.«

»Kann ich dir irgendwie –«

»Du bleibst hier«, sagte Leda mit Nachdruck. »Du bist hier, damit du dich ausruhst.«

Ich sah ihrem Wagen nach. Was auch immer das Problem war, Leda würde es schon in Ordnung bringen. Wie immer. Ich legte die Füße auf einen zweiten Stuhl und lächelte. Seit fünfzehn Minuten war ich in Paradise, und schon fühlte ich mich besser.

3

Nee!« kreischte Katie und trat nach dem Sanitäter, der sie in den Rettungswagen schob. »Ich will net geh!«

Lizzie sah, wie das Mädchen sich wehrte. Der untere Teil ihres grünen Kleides war inzwischen schwarz von Blut. Die Fishers, Samuel und Levi sahen entsetzt zu. Der große, blonde Mann trat vor. »Lassen Sie sie herunter«, sagte er.

Der Sanitäter wandte sich um. »Hör mal, Kumpel, ich will ihr helfen.« Es gelang ihm, Katie in den Rettungswagen zu bugsieren. »Mr. und Mrs. Fisher, Sie können gerne mitfahren.«

Sarah Fisher schluchzte, hielt ihren Mann am Hemd fest und flehte ihn in einer Sprache an, die Lizzie nicht verstand. Er schüttelte den Kopf, wandte sich dann ab. Sarah kletterte in den Rettungswagen, nahm die Hand ihrer Tochter und flüsterte ihr beruhigende Worte zu, bis sie still wurde. Die Sanitäter schlossen die Türen, und der Wagen rollte die lange Einfahrt hinunter, Staub und Steinchen aufwirbelnd.

Lizzie wußte, daß sie zum Krankenhaus fahren und mit den Ärzten sprechen mußte, die Katie untersuchen würden, aber sie blieb, wo sie war. Sie beobachtete Samuel, der Aaron Fisher nicht gefolgt war, sondern wie angewurzelt dastand und dem Rettungswagen nachschaute, bis er verschwunden war.

Die Welt jagte vorbei. Die Neonlampe an der Decke sah aus wie die Streifen auf der Straße, die schnell dahinflogen, wenn man sie von hinten aus einer Kutsche heraus betrachtete. Der Wagen hielt unvermittelt an, und eine Stimme neben ihrem Kopf rief: »Auf drei – eins, zwei, drei!« Dann wurde Katie wie von Zauberhand in die Luft gehoben und schwebte nach unten auf einen kalten, glänzenden Tisch.

Der Sanitäter nannte den anderen ihren Namen und sagte, daß sie da unten geblutet hatte. Das Gesicht einer Frau schwebte über ihr, prüfend. »Katie? Sprechen Sie Englisch?«

»Ja«, murmelte sie.

»Katie, sind Sie schwanger?«

»Nein!«

»Können Sie uns sagen, wann Ihre letzte Periode war?«

Katies Wangen liefen scharlachrot an, und sie wandte sich schweigend ab. Unwillkürlich registrierte sie die Lichter und Geräusche dieses eigenartigen Krankenhauses. Auf leuchtenden Bildschirmen schlängelten sich Wellenlinien; von allen Seiten hörte sie Piepen und Surren; vereinzelt ertönten Stimmen, deren Rhythmus sie an Kirchenlieder erinnerte: »Blutdruck achtzig zu vierzig«, sagte eine Krankenschwester.

»Puls hundertdreißig.«

»Atmung?«

»Achtundzwanzig.«

Der Arzt wandte sich Katies Mutter zu. »Mrs. Fisher? War Ihre Tochter schwanger?« Benommen von dem Aufruhr, starrte Sarah den Mann nur stumm an. »Himmel«, sagte der Arzt leise. »Zieht ihr schnell den Rock aus.«

Katie spürte, wie Hände an ihrer Kleidung zogen, aufdringlich an ihr herumzerrten. »Es ist ein Kleid, und ich kann die Knöpfe nicht finden«, beklagte sich eine Schwester.

»Da sind auch keine. Nur Häkchen. Was zum –«

»Dann schneidet es auf, wenn’s sein muß. Ich brauche eine Blutsenkung, ein Blutbild, einen Urintest, und schickt eine Probe zur Blutbank, und zwar alles so schnell wie möglich.« Wieder schwebte das Gesicht des Doktors über Katie. »Katie, ich werde jetzt Ihre Gebärmutter untersuchen. Verstehen Sie mich? Bitte entspannen Sie sich –«

Bei der ersten sanft tastenden Berührung trat Katie wild aus. »Haltet Sie fest«, befahl der Arzt, und zwei Schwestern drückten Katies Fußgelenke in die Halterungen. »Bitte entspannen Sie sich. Ich tu Ihnen nicht weh.« Tränen rannen über Katies Wangen, während der Arzt diktierte und eine Krankenschwester alles aufschrieb: »Vermutlich blutiger Wochenfluß, außerdem ein schwammiger, nicht kontrahierter Uterus, Größe etwa vierundzwanzigste Woche. Geöffneter Gebärmuttermund. Wir sehen uns das gleich mal auf dem Ultraschall genauer an. Wie steht’s mit der Blutung?«

»Hält an.«

»Wir brauchen sofort einen Gynäkologen.«

Eine Schwester wickelte Eis in ein Tuch und legte Katie die Packung zwischen die Beine. »Das wird dir guttun, Kleines«.

Katie versuchte, sich auf das Gesicht der Schwester zu konzentrieren, doch mittlerweile zitterte ihr Blick ebenso heftig wie ihre Arme und Beine. Die Schwester sah das und legte noch eine Decke über sie. Katie wünschte, sie hätte die Worte, um ihr zu danken, wünschte, sie hätte die Worte, um ihr zu sagen, daß sie jetzt wirklich einen Menschen brauchte, der sie festhielt, bevor sie hier auf dem Tisch auseinanderbrach, doch ihre Gedanken kannten nur die Sprache, mit der sie aufgewachsen war.

»Alles wird wieder gut«, sagte die Schwester tröstend.

Nach einem kurzen Seitenblick auf ihre Mutter glaubte Katie schon fast daran, schloß die Augen und wurde ohnmächtig.

Auf dem Bahnsteig drückte ihre Mutter ihr einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Hand. »Weißt du noch, wo du umsteigen mußt?« Katie nickte. »Und wenn er nicht da ist, um dich abzuholen, rufst du ihn an.« Ihre Mutter strich Katie über die Wange. »Du darfst ein Telefon benutzen, wenn du mußt.«

Natürlich würde die Benutzung eines Telefons noch die kleinste ihrer Sünden sein. Zum erstenmal, seit Jacob ausgezogen war, würde Katie – erst zwölf Jahre alt – ihn besuchen. Weit weg, in State College, wo er studierte.

Ihre Mutter ließ den Blick nervös über die anderen wartenden Fahrgäste wandern. Sie hoffte, daß keine anderen schlichten Menschen sie sahen, die dann vielleicht Aaron berichteten, daß seine Frau und seine Tochter ihn angelogen hatten.

Der lange, schnittige Amtrak-Zug fuhr ein, und Katie schlang die Arme fest um ihre Mutter. »Du könntest doch mitkommen«, flüsterte sie aufgeregt.

»Du brauchst mich nicht. Du bist ein großes Mädchen.«

Das hatte Katie nicht gemeint, und sie wußten es beide. Wenn Sarah mit ihrer Tochter nach State College fuhr, wäre sie ihrem Mann ungehorsam, und das war undenkbar. Katie als Gesandte ihrer Liebe zu schicken, schon das bedeutete einen Balanceakt zwischen Gehorsam und Auflehnung. Außerdem war Katie noch nicht durch die Taufe in ihre Glaubensgemeinschaft aufgenommen worden. Die Ordnung schrieb vor, daß Sarah nicht im selben Wagen mit ihrem exkommunizierten Sohn fahren durfte, nicht mit ihm am selben Tisch essen durfte. »Du fährst«, sagte sie und lächelte angestrengt. »Und wenn du zurückkommst, erzählst du mir alles von ihm.«

Im Zug saß Katie allein, schloß die Augen vor den neugierigen Blicken der Menschen, die auf ihre Kleidung und Kopfbedeckung zeigten. Sie faltete die Hände im Schoß und dachte an das letzte Mal, als sie Jacob gesehen hatte, die Sonne war wie ein leuchtender Heiligenschein auf seinem kupferroten Haar gewesen, als er sein Elternhaus für immer verlassen hatte.

Der Zug fuhr in State College ein, und Katie drückte das Gesicht an die Scheibe, suchte das Meer von englischen Gesichtern nach ihrem Bruder ab. Sie war den Anblick von nichtamischen Menschen natürlich gewohnt, aber selbst auf den belebtesten Hauptstraßen in East Paradise sah sie zumindest immer ein paar andere, die wie sie gekleidet waren und ihre Sprache sprachen. Die Menschen auf dem Bahnsteig waren schwindelerregend bunt gekleidet. Manche Frauen trugen winzige Tops und Shorts, so daß fast ihr ganzer Körper unbedeckt war. Entsetzt bemerkte sie einen jungen Mann, der einen Ring in der Nase und einen im Ohr trug und eine Kette, die beide miteinander verband. Jacob war nirgends zu sehen.

Nachdem sie ausgestiegen war, drehte sie sich langsam auf der Stelle, voller Angst, von soviel Bewegung um sie herum verschluckt zu werden. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. »Katie?«

Sie wandte sich um, sah ihren Bruder und lief rot an. Natürlich hatte sie ihn übersehen. Sie hatte erwartet, daß Jacob seinen breiten Strohhut trug, seine schwarze Hose mit den Hosenträgern. Der Jacob vor ihr war glatt rasiert, trug ein kurzärmeliges kariertes Hemd und eine Khakihose.

Dann lag sie in seinen Armen, drückte ihn fest und spürte zum erstenmal richtig, wie einsam sie ohne ihn zu Hause gewesen war. »Mam vermißt dich«, sagte Katie atemlos. »Sie hat gesagt, ich soll ihr alles ganz genau erzählen.«

»Ich vermisse sie auch.« Jacob legte ihr einen Arm um die Schultern und dirigierte Katie durch die Menge. »Du bist ja mindestens dreißig Zentimeter gewachsen.« Er führte seine Schwester zu einem kleinen blauen Auto. Katie blieb stehen und sah den Wagen verblüfft an. »Der gehört mir«, sagte Jacob sanft. »Katie, was hast du denn erwartet?«

In Wahrheit hatte sie gar nichts erwartet. Nur, daß der Bruder, den sie geliebt hatte, der sich von seinem Glauben abgewandt hatte, damit er aufs College gehen konnte, daß dieser Bruder noch immer das Leben lebte, das er hinter sich gelassen hatte … bloß eben nicht in East Paradise. Das alles – die seltsame Kleidung, das kleine Automobil – ließ sie plötzlich zweifeln, und sie fragte sich, ob ihr Vater nicht doch recht mit seiner Forderung gehabt hatte, daß Jacob nicht studieren und weiterhin schlicht im Herzen bleiben sollte.

Jacob machte ihr die Autotür auf und stieg dann selbst ein. »Was glaubt Dad, wo du heute bist?«

An dem Tag, an dem die amische Gemeinde ihn exkommuniziert hatte, war Jacob in den unversöhnlichen Augen seines Vaters gestorben. Aaron Fisher hätte es genauso wenig geduldet, daß Kate Jacob besuchte, wie er es gutgeheißen hätte, daß ihre Mutter Jacob Briefe schrieb, die Katie heimlich zur Post brachte. »Bei Tante Leda.«

»Sehr clever. Er würde niemals lange genug mit ihr reden, um herauszufinden, daß das eine Lüge ist.« Jacob lächelte gequält. »Wir Geächteten müssen eben zusammenhalten.«

Katie faltete die Hände im Schoß. »Ist es das wert?« fragte sie leise. »Ist das College alles, was du dir gewünscht hast?«

Jacob betrachtete sie lange. »Es ist nicht alles, weil ihr nicht hier bei mir seid.«

»Du könntest zurückkommen, das weißt du. Du könntest jederzeit zurückkommen und ein Bekenntnis ablegen.«

»Ich könnte, aber das werde ich nicht.« Als Katie die Stirn runzelte, streckte Jacob den Arm aus und zupfte an den langen Bändern ihrer Kapp. »He. Ich bin noch immer derselbe freche Kerl, der dich in den Teich geschubst hat, als wir geangelt haben. Der dir einen Frosch ins Bett gelegt hat.«

Katie lächelte. »Ich glaub, ich fänd’s doch nicht so schlimm, wenn du dich ein bißchen verändern würdest.«

»So kenn ich meine Katie«, lachte Jacob. »Ich hab was für dich.« Er griff auf die Rückbank und holte ein Päckchen hervor, das in Wachspapier eingepackt und mit einer roten Schleife verziert war. »Versteh das bitte nicht falsch, aber ich möchte, daß es wie Urlaub für dich ist, wenn du herkommst. Eine Art Flucht. Damit du vielleicht nicht irgendwann mal diese Entscheidung treffen mußt, die ich getroffen habe.« Er sah zu, wie ihre Finger die Schleife lösten und das Päckchen öffneten. Darin waren eine Leggings, ein gelbes T-shirt und ein Pullover, der mit fröhlichen Blumen bestickt war.

»Oh«, sagte Katie begeistert. Ihre Finger glitten über die Maschen am Kragen des Pullovers. »Aber ich –«

»Du bist eine Weile hier. Wenn du in deinen Sachen herumläufst, macht das die Sache für dich nur noch schwerer. Wenn du das da anziehst – ich meine, es wird niemand erfahren, Katie. Ich dachte, vielleicht könntest du mal eine Weile so tun als ob, wenn du zu Besuch bist. So sein wie ich. Hier.« Er klappte vor Katie die Sonnenblende herunter, hinter der sich ein kleiner Spiegel verbarg, und hielt den Pullover hoch, damit Katie sich sehen konnte.

Sie wurde rot. »Jacob, das sieht wunderschön aus.«

Selbst Jacob war erstaunt, wie sehr dieses eine furchtsame Zugeständnis seine Schwester veränderte. Sie sah plötzlich wie die Menschen aus, von denen er sich seine gesamte Kindheit und Jugend hindurch hatte fernhalten müssen. »Ja«, sagte er. »Du bist wunderschön.«

Auf dem Weg zum Krankenhaus rief Lizzie von ihrem Wagen aus im Büro der Bezirksstaatsanwaltschaft an. »George Callahan«, meldete sich eine schroffe Stimme am anderen Ende.

»Nicht zu fassen. Der Oberboß persönlich. Wo steckt denn deine Sekretärin?«

George lachte, als er ihre Stimme erkannte. »Keine Ahnung, Lizzie. Wahrscheinlich getürmt. Interesse an ihrem Job?«

»Geht nicht. Ich muß Leute verhaften, damit der Staatsanwalt gegen sie Anklage erheben kann.«

»Ach ja, dafür bin ich dir wirklich dankbar. Was wäre ich ohne meine Nachschublieferantin, die mir den Job sichert?«

»Also, dein Job ist dir sicher: Wir haben hier in einem Stall der Amischen ein totes Baby gefunden, und alles ist reichlich ungereimt. Ich bin auf dem Weg zum Krankenhaus, um mit einer möglichen Verdächtigen zu sprechen – aber ich wollte nur Bescheid geben, daß dir demnächst vielleicht eine Anklageeröffnung ins Haus steht.«

»Wie alt, und wo wurde es gefunden?« fragte George, jetzt ganz sachlich.

»Ein paar Stunden alt. Es lag unter einem Stapel Decken«, sagte Lizzie. »Und alle, die wir am Fundort befragt haben, sagen, daß niemand, den sie kennen, kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hat.«

»War das Baby eine Totgeburt?«

»Der Gerichtsmediziner meint nein.«

»Dann vermute ich, die Mutter hat das Kind einfach liegengelassen«, folgerte George. »Du hast eine Spur?«

Lizzie stockte. »Das klingt jetzt vielleicht verrückt, George, aber das achtzehnjährige Amisch-Mädchen, das auf der Farm lebt und hoch und heilig geschworen hat, nicht schwanger gewesen zu sein, ist mit Unterleibsblutungen ins Krankenhaus gebracht worden.«

Verblüfftes Schweigen am anderen Ende. Dann: »Lizzie, wann konntest du das letzte Mal jemandem von den Amischen ein Verbrechen nachweisen?«

»Ich weiß, aber die Indizien sprechen gegen das Mädchen.«

»Und, hast du Beweise?«

»Nein, hab ich nicht, aber –«

»Dann finde welche«, sagte George knapp. »Und ruf mich dann wieder an.«

Der Arzt stand neben dem Schreibtisch und erklärte der soeben eingetroffenen Gynäkologin, was sie in der Notaufnahme erwartete. »Klingt ganz nach einer Uterusatonie und Schwangerschaftsrückständen«, sagte die Frauenärztin nach einem kurzen Blick auf die Patientenkarte. »Ich mache noch eine Untersuchung, und dann müßte sie nach oben in den OP zur Ausschabung. Wie geht’s dem Baby?«

Der Notarzt senkte die Stimme. »Es hat nicht überlebt.«

Die Gynäkologin nickte und verschwand dann hinter dem Vorhang, wo Katie Fisher noch immer lag.

Lizzie, die von einer Reihe abgewetzter Plastikstühle aus zugeschaut hatte, stand auf und trat näher. Wenn George Beweise wollte, dann würde sie welche finden. Sie dankte Gott dafür, daß sie Zivil trug – eine uniformierte Beamtin hätte auch nicht die geringste Chance gehabt, ohne richterliche Anordnung irgendwelche vertraulichen Informationen von einem Arzt zu bekommen –, und sprach den Notarzt an. »Verzeihen Sie«, sagte sie und zupfte unruhig an ihrer Bluse herum. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie es Katie Fisher geht?«

Der Arzt blickte auf. »Und wer sind Sie?«

»Ich war bei ihr zu Hause, als sie anfing zu bluten.« Das war nicht mal gelogen. »Ich wollte bloß wissen, ob sie wieder in Ordnung kommt.«

Der Arzt nickte und zog die Stirn kraus. »Ich denke, sie wird wieder gesund – aber es wäre sehr viel besser gewesen, wenn sie ihr Baby im Krankenhaus zur Welt gebracht hätte.«

»Doktor«, sagte Lizzie mit einem Lächeln. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, das von Ihnen zu hören.«

Leda stieß die Tür zum Krankenhauszimmer ihrer Nichte auf. Katie lag schlafend auf dem hohen Bett. In einer Ecke saß Sarah, reglos und leise. Als sie ihre Schwester hereinkommen sah, warf sie sich in Ledas Arme. »Gott sei Dank, daß du da bist«, schluchzte sie.

Leda blickte auf Sarahs Kopf. In all den Jahren, in denen ihre Schwester sich das Haar gescheitelt, es straff gezogen und die Kapp mit einer Hutnadel festgesteckt hatte, war eine Stelle entstanden, die sich mit jedem Jahr weiter ausbreitete, eine Furche, so rosa wie die Kopfhaut eines Neugeborenen. Leda küßte die kleine kahle Stelle, dann trat sie zurück.

Sarah sprach schnell, als hätten sich die Worte in ihr aufgestaut. »Die Ärztin meint, Katie hat ein Kind bekommen. Sie haben ihr Medikamente gegeben, damit die Blutung aufhört. Sie haben sie operiert.«

Leda legte eine Hand auf den Mund. »Genau wie bei dir, nachdem du Hannah bekommen hattest.«

»Ja, aber Katie hatte erstaunliches Glück. Sie wird trotzdem noch Kinder bekommen können. Anders als ich.«

»Hast du der Ärztin von deiner Hysterektomie erzählt?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Ich kann die Frau nicht leiden. Sie wollte Katie nicht glauben, als sie gesagt hat, daß sie kein Kind bekommen hat.«

»Sarah, diese englischen Ärzte … die können Schwangerschaften mit Hilfe wissenschaftlicher Untersuchungen feststellen. Solche Untersuchungen lügen nicht – aber vielleicht Katie.« Leda zögerte, wagte sich behutsam weiter. »Ist dir nicht aufgefallen, daß ihre Figur sich verändert hat?«

»Nein!«

Aber Leda wußte, daß das nicht viel zu sagen hatte. Manche Frauen, vor allem großgewachsene wie Katie, konnten eine Schwangerschaft monatelang verbergen. Beim Ausziehen mußte Katie immer allein gewesen sein, und unter ihrer weit geschnittenen Schürze wäre ein anschwellender Bauch schwer zu sehen gewesen. Die fülligere Taille wäre nicht aufgefallen, da die Frauenkleider der Amischen mit Nadeln zusammengehalten wurden, die man leicht umstecken konnte.

»Wenn sie in Schwierigkeiten geraten wäre, hätte sie es mir gesagt«, beteuerte Sarah.

»Und was wäre passiert, sobald sie es dir gesagt hätte?«

Sarah wandte den Blick ab. »Es hätte Aaron umgebracht.«

»Glaub mir, Aaron wirft so leicht nichts um. Und er sollte sich auf einiges gefaßt machen, denn das ist erst der Anfang.«

Sarah seufzte. »Wenn Katie wieder zu Hause ist, wird der Bischof kommen.« Sie blickte Leda kurz an und fügte hinzu. »Vielleicht könntest du mit ihr reden. Über die Meinding.«

Sprachlos vor Erstaunen sank Leda auf einen Stuhl neben dem Krankenbett. »Bann? Sarah, ich rede hier nicht von Bestrafung durch die Gemeinde. Die Polizei hat heute morgen ein totes Baby gefunden, und Katie hat bereits gelogen, als sie sagte, es wäre nicht ihres. Die werden natürlich denken, sie hätte auch in anderer Hinsicht gelogen.«

»Ist es für diese Engländer etwa ein Verbrechen, ein uneheliches Kind zu bekommen?« fragte Sarah aufgebracht.

»Nur, wenn du es anschließend einfach sterben läßt. Falls die Polizei beweisen kann, daß das Kind gelebt hat, steckt Katie in Riesenschwierigkeiten.«

Sarah richtete sich auf. »Der Herr wird es richten. Und wenn Er es nicht tut, dann werden wir Seinen Willen annehmen.«

»Sprichst du von Gottes Willen oder von Aarons Willen? Wenn Katie festgenommen wird, wenn du auf Aaron hörst und auch noch die andere Wange hinhältst und dir niemanden suchst, der sie vor Gericht vertritt, dann werden sie sie ins Gefängnis stecken. Jahrelang. Vielleicht für immer.« Leda faßte ihre Schwester am Arm. »Wie viele Kinder willst du dir noch von der Welt nehmen lassen?«

Sarah setzte sich auf die Kante des Bettes. Sie nahm Katies schlaffe Hand und drückte sie. In ihrem Krankenhaushemd, die Haare offen über den Schultern, sah Katie nicht aus wie eine Amisch. Sie sah aus wie ein ganz normales junges Mädchen.

»Leda«, flüsterte Sarah, »ich kenne mich in dieser Welt nicht aus.« Leda legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Schwester. »Ich aber.«

»Detective Munro, hätten Sie einen Moment Zeit?«

Sie hatte keine, aber sie nickte dem Beamten von der Abteilung für Kapitalverbrechen der State Police zu, der mit seinen Kollegen den ganzen Nachmittag die Farm durchforstet hatte. Sobald Lizzie sich vergewissert hatte, daß Katie Fisher im Krankenhaus bleiben mußte, zumindest über Nacht, war sie zum Bezirksrichter gegangen, um sich einen Durchsuchungsbefehl für das Haus und das Grundstück sowie die Erlaubnis zu besorgen, anhand von Katies Blut einen DNA-Test machen zu lassen. Ihr schwirrten noch hunderttausend Dinge durch den Kopf, die sie zu erledigen hatte, aber sie versuchte, sich auf den Kollegen zu konzentrieren. »Was habt ihr gefunden?«

»Ehrlich gesagt, so gut wie nichts Neues.«

»Sagen Sie das nicht so verwundert«, erwiderte Lizzie. »Wir mögen ja Kleinstadt-Cops sein, aber die High-School haben wir auch alle geschafft.« Sie war nicht gerade begeistert gewesen, die Kollegen von der State Police um Amtshilfe zu bitten, weil sie dazu neigten, auf die Beamten der städtischen Polizei herabzublicken und die Ermittlungen an sich zu reißen. Dennoch, die State Police war sehr viel erfahrener als die Polizei von East Paradise, denn Morduntersuchungen waren ihr Tagesgeschäft. »Hat der Vater Schwierigkeiten gemacht?«

Der Kollege zuckte die Achseln. »Ich hab ihn nicht mal gesehen. Vor etwa zwei Stunden hat er die Maultiere raus auf die Weide gebracht.« Er reichte Lizzie einen versiegelten Beweismittelbeutel aus Plastik mit einem weißen Baumwollnachthemd darin. Es war blutbefleckt. »Das lag zusammengeknüllt unter dem Bett des Mädchens. Außerdem haben wir am Teich hinter dem Haus Blutspuren gefunden.«

»Sie hat das Baby geboren, sich im Teich gewaschen, das Nachthemd versteckt und ist wieder ins Bett gegangen.«

»Donnerwetter, ihr seid ja wirklich ganz schön clever hier auf dem Lande. Kommen Sie mal mit, ich möchte Ihnen was zeigen.« Er führte Lizzie in die Sattelkammer, wo die kleine Leiche gefunden worden war. Er deutete auf etwas, das wie eine feine Erhebung im Boden aussah, sich jedoch als Umriß eines Schuhabdrucks entpuppte. »Das ist frischer Dung, der Abdruck kann also noch nicht alt sein.«

»Kann man rausfinden, von wem der ist, so, wie man das mit Fingerabdrücken macht?«

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir können die Größe des Schuhs bestimmen. Das hier war ein Frauenschuh, Größe neununddreißig, extrabreit.« Er winkte einem Kollegen, der ihnen einen weiteren Beweismittelbeutel reichte. »Größe neununddreißig, Frauenschuh, extrabreit«, sagte er. »Gefunden im Schrank von Katie Fisher.«

Levi schwieg während der Kutschfahrt nach Hause. Als das Pferd stehenblieb, wandte er sich Samuel zu. »Was meinst du, was jetzt passiert?«

Samuel zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«

»Ich hoffe, sie wird wieder gesund«, sagte Levi ernst, dann sprang er aus der Kutsche und rannte ins Haus.