Die Elefanten meines Bruders - XXL-Leseprobe - Helmut Pöll - kostenlos E-Book

Die Elefanten meines Bruders - XXL-Leseprobe E-Book

Helmut Pöll

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Beschreibung

XXL-Leseprobe: Lesen Sie 50 Prozent des Buches kostenlos. Billy Hoffmann ist elf und findet es doof, dass zwischen seinem Vor- und Nachnamen kein „Tiee“ steht wie bei einem Amerikaner. „Tiee“ stünde für Trevor oder Timothy, was ziemlich cool wäre. Sein größter Wunsch ist es, mit seinem großen Bruder Phillipp in den Zirkus zu den Elefanten zu gehen. Das kann er aber nicht, weil der Bruder am Vorabend der Vorstellung überfahren wird. Mit seinen zehn Jahren leider er an ADHS. Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom. „Das habe ich aber gar nicht“, sagt er. „Ich habe nur viel Energie“. Deshalb rennt er auch zwanzigmal um die Säule vor der Tiefgarageneinfahrt, bis seine Mutter das Auto geholt hat - und muß zwanzigmal in anderer Richtung zurückrennen, bevor er einsteigen kann. Die Welt der Erwachsenen erlebt er als willkürlich und zutiefst verstörend. Auf keinen Fall erstrebenswert. "Erwachsene haben ja oft Migräne. Das kommt, wenn das Hirn nicht mehr so leistungsfähig ist wie bei einem Kind. Dann warten die Erwachsenen auf schlechtes Wetter und bekommen Migräne." Von Beruf will er später mal Spaziergänger werden, vielleicht auch Raumkreuzerkommandant. Sein Rüstzeug für den Umgang mit der Realität bezieht Billy haupsächlich aus Filmen. Er ist eine wandelnde Filmdatenbank und antwortet auf Fragen, wenn möglich, mit Filmzitaten seiner Helden. Das gibt ihm Sicherheit. Aber so verschwimmen Fiktion und Wirklichkeit immer mehr miteinander. Die Elefanten meines Bruders - Ein Roman über einen Zirkusbesuch, der nie stattgefunden hat.

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Inhaltsverzeichnis

123456789101112Impressum

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Nennt mich Billy Hoffmann. So würde es Käpt’n Ahab sagen, bevor er raus segelt, um Moby Dick zu fangen. Billy ist ein völlig bescheuerter Name für einen elfjährigen Jungen, außer man ist Engländer oder Amerikaner oder so. Dann hätte man nämlich noch einen zweiten Namen dazwischen, also so was wie „Billy Tiee Hoffmann“. T. steht dann für Trevor oder Timothy oder so. Ich heiße nur Billy Hoffmann, ohne T. Meine Eltern fanden das scheinbar lustig. Oder hatten keine Fantasie. Aber Erwachsene merken sowieso nie, was sie einem Kind antun.

Immer, wenn ich an einer großen Straße vorbeikomme, dann denke ich an meinen Bruder. Mein Bruder Phillipp ist nämlich tot. Ich stelle mir immer vor, wie er bei dem ganzen Verkehr als Engel über die Straße geht.

Was ist eigentlich, wenn ein Reisebus mit 50 Tonnen daherkommt? So schwer sind Busse nämlich. Das meine ich natürlich mit den Fahrgästen, also Leuten mit einem durchschnittlichen Gewicht. Wenn ein paar Schwere dabei sind, dann sind es vielleicht sogar noch mehr. Oder wenn der Bus überfüllt ist wie in Indien. Dann kommt man sogar auf 60 Tonnen. Ich habe ein Quartett, bei dem der schwerste Bus leer sogar 35 Tonnen wiegt. Aber das ist ein Greyhound. Und Greyhounds zählen nicht, weil wir nicht in Amerika sind. Außerdem ist es auch total egal, ob der Bus 50 oder 60 Tonnen wiegt.

Ich frage mich oft, was passiert, wenn ein Bus mit 50 Tonnen mit hundert Sachen heranbrettert. Der Engel reagiert natürlich auf das Hupen gar nicht. Deshalb erwischt ihn der Bus voll. Fliegt der Engel dann wie mein Bruder Phillipp in hohem Bogen über die Böschung?

Ich war damals erst sechs und dachte, dass mein Bruder vielleicht wirklich fliegen kann. Vielleicht segelt er nur davon, um dem blöden Autofahrer und uns allen einen Schrecken einzujagen. Mein Bruder Phillipp konnte ja nicht ganz verschwinden, weil wir doch die Zirkuskarten hatten und am Abend zu den Elefanten gehen wollten.

Aber dann kam er nicht mehr hinter der Böschung hoch, um uns alle auszulachen und wir rannten über die Straße. Als ich am Fuß des Damms ankam, kniete meine Mutter in ihrem schönen Kleid und ihrem neuen Mantel in der schlammigen Wiese. Sie machte ihre Sachen ganz schmutzig, obwohl sie sonst immer schimpfte, wenn unsere Sachen schmutzig wurden. Sie hielt meinen Bruder im Arm und rüttelte ihn. Dann fing meine Mutter zu weinen an. Das weiß ich noch ganz genau. Sie weinte immer mehr und ließ Phillipp nicht mehr los. Mein Bruder schlief ganz friedlich, obwohl er noch gar nicht müde sein konnte, weil wir spät aufgestanden waren. Aber heute weiß ich es besser, und heute weiß ich, dass mein großer Bruder nicht fliegen konnte und an diesem Tag gestorben ist.

Wenn ich ein Engel wäre, dann hätte ich den Autofahrer, der meinen Bruder totgefahren hat, bevor wir am Abend in den Zirkus zu den Elefanten gehen konnten, mit meiner goldenen Lanze aufgespießt. Meine Mutter sagt immer, das darf man nicht sagen, nicht einmal denken, da wäre der liebe Gott böse.

Ich habe sie gefragt, woher sie das weiß. Sie kennt ihn ja gar nicht. Weil der liebe Gott arbeitet ja nicht bei uns ums Eck am Kiosk, wo ich immer die Fernsehzeitung holen muss, wenn sie meine Eltern beim Einkauf vergessen haben. „Guten Tag, ich bin der liebe Gott, machen Sie dies, machen Sie das. Das macht dann zwei fuffzig.“

„Das weiß man eben“, sagte meine Mutter.

Ich meine aber schon, dass man mit dem Überfahrer seines Bruders nicht zimperlich sein braucht. Wer weiß, wie viele kleine Brüder er seitdem noch überfahren hat.

Ich sagte meiner Mutter auch, wie gemein ich das alles finde. Phillipp liebte Elefanten. Er war ziemlich mutig und hatte sich irgendwo im Urlaub sogar einmal auf einem fotografieren lassen. Ich habe beide Zirkuskarten, seine und meine, aufgehoben. Wir wollten nämlich an dem Tag, als mein Bruder überfahren worden ist, abends miteinander in den Zirkus zu den Elefanten gehen. Aber das habe ich schon gesagt. Manchmal, bevor ich einschlafe, hole ich die Zirkuskarten aus meiner Geheimtruhe, drücke sie an mein Herz und sage Phillipp, dass ich auch nie zu den Elefanten bin, weil es mir ohne ihn keinen Spaß gemacht hätte. Ich will, dass er das weiß. Manchmal muss ich dann sogar weinen, obwohl ich bald zwölf werde und fast zwölfjährige Jungs eigentlich nicht mehr weinen.

Manchmal bin ich aber total durcheinander, wenn mir einfällt, dass mittlerweile Phillipp mein kleiner Bruder geworden ist. Dabei war ich doch viel jünger als er. Aber dann habe ich ihn eines Tages überholt. Ich weiß noch, dass an meinem Geburtstag meine Tante sagte:

„Jetzt bist du älter als Phillipp“, und dann die anderen zum Heulen in die Küche gingen, damit ich es an meinem Geburtstag nicht sehen muss. Aber ich habe es natürlich gemerkt, weil alle mit rotgeweinten Augen aus der Küche zurückgekommen sind und sich meine Mutter dann auch noch dauernd geschnäuzt hat.

Mit dem Engel und dem blöden Autofahrer werde ich aber nicht klein beigeben, solange ich lebe. Das bin ich Phillipp schuldig. Vielleicht würde ich ja Amok laufen, wenn ich ein Engel wäre und mich jemand total aufregen würde oder ganz gemein zu mir wäre.

Meine Tante Erika hat mich darauf gebracht. Sie sagte, dass jeder Amok laufen könnte. Auch die ganz Guten. Und besonders die, von denen man es überhaupt nie denken würde. Das sind nämlich die, die alles in sich hineinfressen.

„Das musst du dir so vorstellen wie den Dampfkochtopf deiner Mutter, wenn das Ventil klemmt“, sagte sie.

„Plötzlich fliegt einem alles um die Ohren.“

Solche Sprüche von Tante Erika machen mich irre. Ich kann das einfach nicht vergessen. Das macht mir Angst. Ich stehe in der U-Bahn und schaue mich ängstlich nach diesen Kochtopf-Menschen um. Ist der einer? Oder die? Die grimmige alte Henne vielleicht am Blumenstand? Oder der schlaffe alte Opa, der ganz vornübergebeugt auf den Zug wartet? Vielleicht tut er auch nur so und wartet, und kurz bevor der Zug anhält und die Türen aufgehen, zieht er seine Pistole und – Paffpaffpaff – streckt er fünf in seinem Umkreis nieder, bevor er sich mit der sechsten Kugel in den Kopf schießt.

Da kann ich mich ziemlich hineinsteigern. Vor allem wenn die U-Bahn nicht kommt. Ich sage dann „Kommkommkommkommkommkomm KOMM“. Immer lauter, damit ich dem Mann mit dem Revolver entkomme. Manchmal merke ich nicht, dass ich das „Kommkomm“ nicht nur laut denke, sondern schon laut hinausschreie und ganz nervös auf der Stelle herumeiere. Der alte Revolvermann sieht dann zu mir herüber und man sieht ihm an, dass ihm mein Geschrei total auf den Keks geht und ich der erste wäre, den er erledigen würde, wenn er seinen Revolver zieht.

Er fährt immer am Donnerstag, der alte Revolvermann, und steigt in den vierten Wagen in den Zug der Linie 2, der die Stadt in nördlicher Richtung verlässt. Das finde ich seltsam. Deshalb beschatte ich ihn meistens, wenn ich nach der Schule ein wenig Zeit habe. Meine Schülerkarte ist nicht so weit gültig, aber das macht nichts, weil Schüler nicht kontrolliert werden, und wenn sie in der falschen Linie sitzen, hält man sie für bekloppt und setzt sie einfach in die Linie der entgegengesetzten Richtung, in der Hoffnung, dass sie dann einfach nach Hause gehen.

Der alte Mann wohnt in einer Mietskaserne im achten Stock. Er heißt entweder Serrano, ist also Spanier, oder Matisse, so wie der Maler, wo mich meine Tante mal in eine Ausstellung mitgeschleift hat, weil sie in irgendeinem blöden Preisausschreiben Freikarten gewonnen hat und sonst keiner mitgehen wollte.

Nur diese beiden Parteien wohnen im achten Stock, wo er ausgestiegen ist. Das habe ich am Aufzuglicht gesehen. Er hätte natürlich auch ein Spion sein und bis zum achten Stock hochfahren können, während er eigentlich im sechsten wohnt, um seine Spuren zu verwischen. Aber das glaube ich nicht. Für einen Spion ist er zu alt.

Ich nenne ihn für mich einfach Serrano, obwohl ich nicht weiß, ob das stimmt. Aber das ist egal, es ist für mich die beste Lösung. Weil wenn ich mir jetzt hunderttausendmal überlege, „er heißt Serrano, nein, er heißt Matisse, nein, er heißt Serrano oder doch Matisse“, dann drehe ich irgendwann total durch und meine Medikamente wirken nicht mehr.

Während ich Serrano beschatte, komme ich mir ganz wichtig vor. Ich werde nämlich die Polizei informieren, bevor Serrano mit seinem Trolley eine Bombe ins Schließfach des Hauptbahnhofs bringen kann, die er jetzt gerade in seiner Küche aus Kunstdünger und anderen harmlosen Zutaten baut. Vielleicht erschießt er ja gar niemanden in der U-Bahn, sondern sprengt alles in die Luft mit seinem Kunstdünger-Trolley.

Ich habe Serrano eine Woche beschattet, während ich meiner Mutter erzählte, ich bekäme kostenlos Englisch-Nachhilfe. Sie war ganz froh, weil ich nämlich ziemlich schlecht in Englisch bin. In den anderen Fächern bin ich auch keine Leuchte, aber so schlecht wie in Englisch bin ich nicht einmal in Mathe. Das kommt daher, weil ich mit meinem Kopf immer woanders bin und dann nichts weiß, wenn ich aufgerufen werde und eine schlechte Note bekomme. Ich kann mir auch nur wichtige Sachen merken. Zum Beispiel die Namen und Abmessungen von imperialen Schlachtkreuzern, aber eben keine Englischvokabeln.

Nach einer Woche Spionieren war es genug. Ich finde, ein Held muss auch handeln. Er kann nicht warten, bis ihm alles um die Ohren fliegt, bis er im Schutt liegt und dann sagen kann:

„Hey, ich hatte recht, Serrano war wirklich ein Schuft.“

Deshalb habe ich die Polizei angerufen. Aber ich bin ein Kind. Und Kindern glaubt man nichts. Miss Marple hätte mir geglaubt. Ich war plötzlich in einer Filmsituation. Ich sah das Verbrechen kommen und konnte nichts tun, während Serrano bald seine Bombe zum Hauptbahnhof schleppte und dann eine ganze Schulklasse auslöschte. Und dann gab es noch irgendwo einen Jungen, der nicht mehr mit seinem kleinen Bruder in den Zirkus zu den Elefanten gehen konnte.

Ich habe ein Taschentuch über die Muschel gelegt und meine Stimme verstellt, ganz tief eben, damit man nicht gleich merkt, dass ein Kind spricht. Ich habe gesagt, dass eine Bombe für den Hauptbahnhof gebaut wird. Von Serrano in der W** Straße im achten Stock. Vielleicht doch auch Matisse. Aber sie sollten sich beeilen, weil er schon eine Woche an seinem Kunstdünger-Sprengsatz herumschraubt.

„Wer ist denn da?“, fragte einer Stimme. Ich hab’s gewusst. Sie glauben einem Kind nicht. Deshalb habe ich sofort aufgelegt.

Ich habe mich aufgeregt. Die Ungewissheit ließ mich schreien, ich habe mir die Hände und die Unterarme wund gekratzt und bin vor Aufregung auf der Stelle gesprungen wie eine Wildkatze. Gleich geht alles hoch und keiner verhindert es. Bummbummbumm. Aber nach einer halben Stunde rasten drei Transporter um die Ecke, ohne Blaulicht, ohne alles. Sie sahen aus wie Möbelwagen, nur dass die Möbelpacker Wollmasken trugen und keinen Bierbauch hatten. Sie machten die Haustüre auf, einfach so. Aber was hatte ich erwartet? Dass sie solange klingeln wie der UPS-Fahrer, bis jemand freundlicherweise den Summer drückt? Schlimmstenfalls bei Serrano, der dann gesagt hätte:

„Nö, ich lasse euch nicht rein. Ich muss meine Bombe fertig bauen.“

Ich weiß nicht, wie es ausging, denn dann bin ich gegangen, weil ich aufs Klo musste. Außerdem hatte ich Hunger und um 19 Uhr lief der Wachsblumenstrauß im Fernsehen. Ich mag Schwarz-Weiß-Filme, weil ich mir dann vorstellen kann, wie alles bunt aussieht. Ich mag auch das Rauschen, das manchmal wie Regen ist. Bunte Filme regen mich oft auf. Vor allem wenn sie schnell geschnitten sind. Dann werde ich zappelig, muss von meinem Stuhl aufspringen und renne wie irre in meinem Zimmer herum, bis meine Mutter hereinschießt und den Fernseher abstellt.

Den Wachsblumenstrauß konnte ich nicht mal zu Ende sehen, weil in einer Szene meine Mutter ins Zimmer kam und „kommst du mal“ rief. Sie hatte den genervten Unterton in ihrer Stimme eingeschaltet. Ich stelle mir manchmal vor, dass meine Mutter hinten am Hals, wenn man ihre Nackenhaare hochhebt, ein Batteriefach hat und einen kleinen versenkten Schalter daneben, den man mit einer Kugelschreiberspitze auf „genervt“ schieben kann.

Ich rief „ich komme gleich“.

„Sofort“, bellte sie. „Sofort! Hörst du?“

Wuff. Wuffwuffwuff. Wie Adrian, der Hund von Frau Buselik aus Stock drei, der schlafend mit den Pfoten zuckt und wuffelt, wenn er im Traum erschrickt. Na gut, dann verpasse ich eben wieder alles.

Sie hatten sich im Wohnzimmer aufgebaut, alle drei. Meine Mutter hatte die Arme verschränkt. Außerdem rauchte sie. Mein System ging sofort auf Alarmstufe Rot. Meine Mutter regt sich nämlich immer wahnsinnig auf, wenn jemand in unserer Wohnung raucht, weil sich der Zigarettenrauch in den Gardinen festsetzt und dann alles tausend Jahre nach Rauch stinkt. Deshalb scheucht meine Mutter immer alle Raucher auf den Balkon. Wenn meine Mutter nicht an ihre Gardinen denkt und in der Wohnung raucht, gibt es immer Ärger. Denn dann hatte ich meistens etwas ausgefressen und wurde zur Rede gestellt. Aber diesmal hatte ich nichts Schlimmes getan. Dachte ich jedenfalls.

Die anderen beiden Männer waren Bullen. Das sieht jemand, der so viel fernsieht wie ich, sofort. Sie waren ganz wach und schauten ständig so im Wohnzimmer herum, ob sie irgendwo ein gestohlenes Bild an der Wand finden. Aber meine Eltern stehlen keine Bilder.

Ich gab dem Größeren die Hand und sagte:

„Freut mich, Lieutenant.“