Die Enkel des 20. Juli 1944 - Felicitas von Aretin - E-Book

Die Enkel des 20. Juli 1944 E-Book

Felicitas von Aretin

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Beschreibung

Traumata können sich bis in die Enkel und Urenkelgeneration auswirken. In den achtziger Jahren beschäftigen sich Romane und Forschung mit den Folgen der NS Zeit auf die Nachkommen von Tätern und Opfern. In Widerstandsfamilien bleibt es hingegen lange ein Tabu, seelische Auswirkungen zu thematisieren. Um die "Spirale des Schweigens" in diesen Familien besser zu verstehen, führte die Autorin zahlreiche Gespräche mit Enkeln und Enkelinnen und stellte die Doppelporträts von Enkel/in und Großvater in den zeithistorischen Kontext. Sie erzählt, wie die Nationalsozialisten nach dem Attentat Rache an den Nachkommen nehmen und zeichnet den Umgang beider deutschen Gesellschaften mit einem ambivalenten Datum nach. Außerdem analysiert sie die verschiedenen Rezeptionsphasen politischer Instrumentalisierung – vom Widerständler zum Staatshelden.

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Felicitas von Aretin

Die Enkel des 20. Juli 1944

© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2021

ISBN 978-3-947373-64-2

eISBN 978-3-947373-73-4

Covergestaltung: Helmi Schwarz-Seibt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Die Not der Erinnerung > Von Landesverrätern zu unbequemen Helden

Die Vielfalt des Diskurses > Vom Hilfswerk zur Forschungsgemeinschaft

Das Pathos des Redens > Von der familiären Gedenkfeier zum politischen Staatsakt

Die Spirale des Schweigens > Vom Umgang der Generationen mit einem schwierigen Tag

Der wieder entdeckte Großvater > Beatrix Heintze und der Industrielle Walter Cramer

Der Verlust der Mitte > Constanze Kuntze und der Gewerkschaftler Hermann Maaß

Europäische Visionen und ein afrikanischer Traum > Corrado Pirzio-Biroli und der Botschafter Ulrich v. Hassell

Verteufelung und Sakralisierung > Maria-Theresia Rupf-Bolz und Staatspräsident Eugen Bolz

Eine Ohrfeige als Befreiungsschlag > David Heinemann und der Sozialdemokrat Julius Leber

Gegen die Republik der Blockwart-Enkel > Jens Jessen und der Volkswirt Jens Peter Jessen

Von der Wichtigkeit der Großmütter > Clemens Schaeffer und Oberstleutnant Carl-Ernst Rahtgens

Zwischen Kiez und Forschungsgemeinschaft > Christian Lindemann und General Friedrich Lindemann

Der 20. Juli – ein Randthema > Hermann Pünder und der CDU-Mitbegründer Hermann Pünder

Wüste, Weite, Einsamkeit und der 20. Juli als Kraftquelle > Sascha Hendrikoff, Michael v. Hofacker und Oberstleutnant Cäsar v. Hofacker

Dank

Vorwort

Das hier veröffentlichte Buch gibt den Stand seines Erscheinens aus dem Jahr 2004 wieder, damals jährte sich das Attentat auf Adolf Hitler zum 60. Mal.

Zehn Jahre zuvor, also 1994, hatte ich während eines Volontariats beim Berliner Tagesspiegel einen Artikel über den 20. Juli 1944 schreiben müssen. Ich erinnere mich an einen schwülen Sonntag, an dem ich eine Kolumne über meine Rolle als Enkelin zweier Widerstandskämpfer, Generaloberst Henning von Tresckow und des Journalisten Erwein von Aretin schreiben sollte. Meine Leichtigkeit verflüchtigte sich mit der ersten Zeile. Eine Schreibhemmung hatte mich über Tage im Griff. Danach schrieb ich verklausuliert über die schwierige Situation, Enkelin eines Familienhelden zu sein, der damals bei einigen jungen Historikern für angebliche Untaten in der Sowjetunion scharf in die Kritik geraten war. Schließlich gab ich den Artikel mit der Überschrift: »Der fremde Großvater« ab. Später machte ich mich auf die Suche nach »anderen« Enkelinnen und Enkel. Damals verfügte die Stiftung 20. Juli 1944 noch über keine Adressdatei, weshalb ich die Adressen der Enkelgeneration aus dem militärischen bis hin zum sozialdemokratischen Widerstand nach dem Schneeballsystem fand. Die Gespräche mit »anderen« Enkeln waren sehr berührend und zeigten mir, dass es in allen Familien eine geheime Spur des Schweigens gab, der ich auf die Spur kommen wollte. Manches erinnerte mich an die psychologische Lektüre von Nachkommen von Opfern und Nachkommen von Tätern. Auch, war ich mir beim Schreiben meiner Doppelrolle als Enkelin und Historikerin bewusst.

Ich danke Andreas von Stedman für die Wiederauflage des Buchs.

Die Not der Erinnerung >Von Landesverrätern zu unbequemen Helden1

Am 20. Juli 1944 schlug der Bombenanschlag auf Adolf Hitler im Hauptquartier »Wolfsschanze« in Rastenburg fehl. Schon in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli ließ Generaloberst Friedrich Fromm den Attentäter Claus Schenk Graf v. Stauffenberg, sowie seine Mitverschwörer Werner von Haeften, Friedrich Olbricht und Albrecht Ritter Mertz v. Quirnheim im Hof des Bendlerblocks in Berlin standrechtlich erschießen. Den Berufsoffizier Ludwig Beck, entscheidend im militärisch-bürgerlichen Widerstand, forderte Fromm zum Selbstmord auf und ließ ihm nach zwei missglückten Versuchen von einem Feldwebel den »Gnadenschuss« geben. Zahlreiche andere Mitverschwörer wurden verhaftet; einige entzogen sich den drohenden Folterungen und der Haft durch Selbstmord. In einer nächtlichen Rundfunkansprache wandte sich Hitler an das Volk und verkündete: »Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtsführung auszurotten.«2

Bereits am 21. Juli bildete der Diktator im Amt IV des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) die so genannte »Sonderkommission 20. Juli«, deren Chef Reichskriminaldirektor und SS-Gruppenführer Heinrich Müller wurde.3 Die Sonderkommission arbeitete in elf Fachabteilungen und wuchs bald auf 400 Mann an.4 Gleichzeitig arbeiteten alle Stellen der Polizei der Sonderkommission zu. Unter Einsatz aller Mittel suchte die Sonderkommission nach weiteren Verdächtigen, wobei sich der Kreis immer weiter ausdehnte, auf Diplomaten, Gewerkschaftler, Sozialdemokraten, Männer der Kirche, bürgerliche Intellektuelle und Wirtschaftsführer.5

Am 30. Juli 1944 fand im »Führerhauptquartier Wolfsschanze« eine Besprechung zwischen Reichsführer-SS Heinrich Himmler und dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, vor Hitler statt, in der das weitere Vorgehen gegen die Männer des 20. Juli und ihrer Angehörigen beschlossen wurde. Danach galt die besondere Rache Hitlers den Familien Stauffenberg und den Nachkommen des seit 1943 in sowjetischer Gefangenschaft lebenden Generals Walter v. Seydlitz-Kurzbach. Der General war bereits im Frühjahr 1944 in Abwesenheit vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt worden. Außerdem ließ Hitler Anfang August einen so genannten »Ehrenhof«6 einrichten, ein neues militärisches Gremium aus Feldmarschällen und Generalen des Heeres unter Wilhelm Keitel. Diese hatten zu prüfen, wer an dem Attentat beteiligt war und wer deshalb aus dem Heer ausgeschlossen oder entlassen werden sollte. Bis Mitte September stieß der »Ehrenhof« 55 Offiziere aus der Wehrmacht aus, weitere 29 wurden auf Vorschlag des »Ehrenhofs« entlassen. Mit der Ausstoßung aus der Wehrmacht änderte sich der gerichtliche Zuständigkeitsbereich. Zuständig war für alle politischen Strafsachen, auch für Soldaten, der Volksgerichtshof, der zuvor Fälle von Landes- und Hochverrat behandelt hatte. In mehr als 50 Prozessen wurden schließlich etwa 200 Männer und Frauen angeklagt.7 An den Vorgaben bei der rachsüchtigen Verfolgung seiner Gegner ließ es Hitler an Deutlichkeit nicht fehlen: »Diesmal werde ich kurzen Prozess machen. Diese Verbrecher (...) sollen nicht die ehrliche Kugel bekommen, sie sollen hängen wie gemeine Verräter! Ein Ehrengericht soll sie aus der Wehrmacht ausstoßen, dann kann ihnen als Zivilisten der Prozess gemacht werden (...) und innerhalb von zwei Stunden nach der Verkündung des Urteils muss es vollstreckt werden. Die müssen sofort hängen ohne jedes Erbarmen.«8 In Folge des 20. Juli wurden rund 600 bis 700 Personen9 – darunter auch die Sippenhäftlinge – verhaftet.

Am 7. und 8. August fand der erste große Prozess gegen Generalfeldmarschall Erwin v. Witzleben, Oberleutnant Peter Graf Yorck von Wartenburg, Generaloberst Erich Hoepner, Generalleutnant Paul v. Hase, Generalmajor Helmuth Stieff, Hauptmann Friedrich Karl Klausing, Oberstleutnant Robert Bernardis und Oberleutnant Albrecht v. Hagen statt, der das Todesurteil für alle Angeklagten zur Folge hatte. Den Vorsitz führte bis zu seinem Tode am 3. Februar 1945 meist Präsident Roland Freisler, der für seine menschenverachtende Brutalität und seine Hasstiraden bekannt war. In der Regel ließ Freisler in keinem der darauf folgenden Prozesse die Angeklagten länger zu Wort kommen; dennoch gelang es einigen Verschwörern, das Gebrüll des Volksgerichtspräsidenten für Sekunden zu unterbrechen. Legationsrat Hans-Bernd v. Haeften nannte Hitler beispielsweise »einen großen Vollstrecker des Bösen«,10 Hauptmann d. R. Ulrich Wilhelm Graf Schwerin erwähnte als Motiv für seinen Widerstand die »vielen Morde«.11 Während über den ersten Prozess noch ausführlich in der gelenkten Presse berichtet wurde, wurde in den kommenden über 50 Prozessen – die mit mehr als 110 Todesurteilen endeten – weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Hitler hatte zunächst verlangt, dass sowohl die Prozesse als auch die Hinrichtung in Plötzensee zu filmen seien. Tatsächlich endeten die letzten Aufnahmen mit dem Prozess gegen Rittmeister Friedrich Scholz-Babisch am 10. Oktober 1944. Da die Kameramänner sich weigerten, die sich lange hinziehenden Exekutionen zu filmen, sind nur die Hinrichtungen vom 7. August 1944 filmisch festgehalten. Der Film gilt allerdings seit Jahrzehnten als verschollen.12 Der letzte Prozess vor dem Volksgerichtshof gegen die Männer des 20. Juli fand am 19. April 1945 statt. Die meisten Männer wurden mit Ausnahmen, wie Carl Goerdeler und Finanzminister Johannes Popitz, wenige Stunden nach dem verhängten Todesurteil in der Hinrichtungsstätte Plötzensee gehenkt oder enthauptet. Die Witwen durften nicht Schwarz tragen, mussten die Rechnungen für die Hinrichtung bezahlen. Außerdem waren Todesanzeigen mit entsprechenden Hinweisen verboten.

Entscheidende Hinweise auf weitere Kontakte der Verschwörer hatte die Sonderkommission erhalten, als es am 10. August 1944 gelang, den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler13 gefangen zu nehmen. Goerdeler hatte sich auf abenteuerliche Weise drei Wochen versteckt gehalten und wurde von einer Luftwaffenhelferin erkannt und denunziert. Einen weiteren »Erfolg« konnte das Reichssicherheitshauptamt Ende September 1944 verzeichnen, als den Ermittlungsbeamten in einem Panzerschrank in Zossen Aufzeichnungen von Oberregierungsrat Hans v. Dohnanyi über frühere Widerstandspläne aus dem Kreise des militärisch-bürgerlichen Widerstands um Generaloberst Ludwig Beck, Generalmajor Hans Oster und Generaloberst Franz Halder in die Hände fielen. Anfang April 1945 entdeckte die Sonderkommission schließlich die legendären Tagebuchaufzeichnungen des Admirals Wilhelm Canaris,14 der bis 1944 das Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) leitete. Angesichts des nahenden Zusammenbruchs entwickelten die Nationalsozialisten eine große Hektik, um die noch lebenden Regimegegner nicht den Alliierten in die Hände fallen zu lassen. Abwehrchef Canaris, sein Mitarbeiter Oster und der Theologe Dietrich Bonhoeffer wurden im Februar 1945 in das Konzentrationslager Flossenbürg gebracht und dort nach dem Urteil eines SS-Standgerichts am 9. April 1945 gemeinsam mit anderen Haftungen gehenkt. Zwischen dem 22. und 24. April ermordete die SS 18 Häftlinge auf einem Ruinengrundstück in der Nähe der Berliner Lehrter Straße, unter ihnen den Syndikus Klaus Bonhoeffer, Ministerialrat Rüdiger Schleicher und Professor Albrecht Haushofer.

Viele Frauen der Regimegegner hatten von dem Misslingen des Attentats erst aus dem Radio gehört und mussten ihre Angst und Sorge um ihre Männer im Sommer 1944 vor den Kindern, der Familie, Freunden und dem Personal geheim halten. Im Vergleich zu Frauen im kommunistischen Widerstand waren die Frauen des 20. Juli nur in wenigen Fällen politisch aktiv.15 Alle teilten mit ihren Männern jedoch die Verachtung für den Nationalsozialismus, der gegen jede Form von christlichen und ethischen Normen verstieß. So schrieb beispielsweise Clarita v. Trott zu Solz, rückblickend über ihre Ehe mit Adam v. Trott: »Aber die nie versiegende Freude aneinander wurde aus vielen Quellen gespeist. So gab es vor allem einen gemeinsamen Fundus ähnlicher Überzeugungen, Vorstellungen und Motivationen, die unsere Familien vermittelt hatten. Auch ich war überzeugt, dass das Leben in den Dienst überindividueller Verpflichtungen zu stellen sei.«16

Die Mehrzahl der Regimegegner führten ungewöhnlich glückliche Ehen. »Ja, ich kann sagen, meine Mutter wird wohl der wichtigste Mensch für meinen Vater gewesen sein. Ich habe als Kind immer das ganze Glück der Ehe meiner Eltern von vorneherein gespürt, aber in dieser politischen Situation glaube ich, war die Bindung meines Vaters an meine Mutter ganz entscheidend.«17 Das Wissen, von den Ehefrauen unterstützt zu werden, dürfte es für die meisten Verschwörer erst möglich gemacht haben, sich trotz der Konsequenzen für die Familien für den Widerstand zu entscheiden. In die konkreten Attentatspläne hatten viele Verschwörer ihre Frauen nicht eingeweiht, um sie und ihre (zahlreichen) Kinder im Falle eines Scheiterns des Attentats zu schützen. Einige Frauen wussten überhaupt nicht, dass ihr Mann in Staatsstreichplane verwickelt war. Relativ gut informiert waren die Frauen des Kreisauer Kreises, wie Freya Gräfin v. Moltke, Annedore Leber, Rosemarie Reichwein oder Marion Gräfin Yorck. Auch meine Großmutter Erika,18 die Frau Henning v. Tresckows, beriet ihren Mann politisch und war zudem mit ihrer besten Freundin Margarete v. Oven in das Geschehen eingebunden. Die spätere Gräfin Hardenberg hatte die Umsturzpläne geschrieben, da sie seit 1943 in Berlin als Sekretärin für die Heeresgruppe Mitte arbeitete. In der Regel wurde in den Familien der Regimegegner über Politik sehr wenig gesprochen; die Eltern waren vielmehr bemüht, den Kindern eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. »Mein Vater war ein guter Kamerad und hat viel mit uns gespielt«, erinnert sich Uta v. Aretin in dem Film Die Kinder des 20. Juli.19 Eine andere Situation bestand bei der Familie Goerdeler, die mit ihren bereits größeren Kindern offen über Politik – wenngleich natürlich nicht über Attentatspläne sprachen.

Nach der Verhaftung ihrer Männer begannen für die betroffenen Ehefrauen Tage flirrender Nervosität und Angst, da die Sonderkommission die Angehörigen nicht über den Verbleib ihrer Nächsten unterrichtete. Besonders schwer wog, dass die Frauen mit kaum jemandem sprechen konnten, auf sich gestellt waren und bisweilen nicht wussten, ob ihre Männer an dem Staatsstreich beteiligt waren. Einige Frauen wie Clarita v. Trott oder Charlotte Gräfin v. der Schulenburg reisten nach Berlin in der Hoffnung, dort mehr über das Schicksal ihrer verschwundenen Männer zu erfahren, sie noch einmal zu sehen oder zumindest bei ihrem Prozess dabei zu sein. So beschrieb beispielsweise Marion Yorck v. Wartenburg in dem Film Die Frauen des 20. Juli, wie sie es schaffte, am Tag des Prozesses gegen ihren Mann, Peter Graf Yorck v. Wartenburg, in das Gerichtsgebäude zu gelangen: »Und ich ging zu einem Wachtmeister und fragte, ob ich wohl als Zuhörer in den Saal dürfte. Und er sagte: ›Nein, da kommen nur geladene Menschen rein, ich kann keinen anderen rein lassen. Aber Sie können in unserer Wachtmeisterstube sitzen.‹ Ich habe den Prozess selbst natürlich nicht dort verfolgt, sondern habe nur die gellende Stimme von Freisler gehört. Die allerdings ausgiebig. Ein wahres Gebrüll, und wenn er böse war, schrie er. Hörte ich ihn so ohne Zusammenhang, tobte er los.«20

Die Zeit des langen Wartens, um etwas über ihren Mann Eugen zu erfahren, schilderte Brigitte Gerstenmaier: »Die meiste Zeit verbrachte man freilich damit, zu hoffen, auch wenn man völlig ins Leere hinein hoffte. Ich weiß noch, wie ich mich einmal an den Küchenschrank lehnte und dachte: Also gut, man muss das eben hinnehmen; aber am nächsten Tag versuchte man schon wieder irgendetwas und hoffte, gegen alle Vernunft. Als ich nach langen Wochen des Harrens meinem Mann zum ersten Mal Essen bringen durfte – er saß im Gefängnis Lehrter Straße –, nahm ich belegte Brötchen mit und steckte unter die Wurst ein Stück Seidenpapier, das ich mit winzigen Buchstaben eng beschrieben hatte. Ich packte es so in Cellophan ein, dass man sehen konnte, wie das Brötchen aussah. Ich habe furchtbar viel gebetet, dass der lange Knuth – das war der Leiter – das Brötchen nicht durchschnitt.«21 Wie Brigitte Gerstenmaier handelten viele Angehörige, aber auch Freunde und Bekannte, die Akten verschwinden ließen, Kassiber ins Gefängnis schmuggelten oder verschlüsselte Nachrichten darüber ins Gefängnis brachten, wer bereits hingerichtet worden sei. Andere Frauen, wie die Frau des Anwalts Josef Wirmer, erreichten, dass sie von ihrem Mann wenigstens im Konzentrationslager Ravensbrück Abschied nehmen konnten.

Die Rache der Nationalsozialisten erstreckte sich indessen nicht auf die Regimegegner. Ende August 1944 hatte die Gestapo in der so genannten »Aktion Gewitter«22 mehrere Tausende ehemalige SPD-, KPD-, oder Zentrumspolitiker und Politiker der Bayerischen Volkspartei festgenommen, die in der Regel nach zwei bis vier Wochen freigelassen wurden, wenn sich kein Zusammenhang zum 20. Juli feststellen ließ. Insgesamt erwies sich die »Aktion Gewitter« in den Augen der Nationalsozialisten als Fehlschlag, zumal die Verhaftungswelle in der Bevölkerung Unruhe und Unverständnis hervorrief. »Die Neubildung jeder demokratischen Struktur im Nachkriegsdeutschland sollte mit der ›Aktion Gewitter‹ und den Morden an prominenten Regimegegnern noch kurz vor Kriegsende verhindert werden«,23 resümieren Ulrike Hett und Johannes Tuchel.

Außerdem richtete sich der Hass der Nationalsozialisten gegen die Angehörigen der Regimegegner. Nach den Anweisungen Himmlers wurden im Juli/August 1944 140 der insgesamt mehr als 180 Sippenhäftlinge in Gewahrsam genommen.24 Von der Sippenhaft waren die oft betagten Eltern der Attentäter ebenso betroffen wie Schwäger, Tanten, Onkel und Geschwister. Vor allem aber richtete sich der Hass der Nationalsozialisten gegen die Kernfamilien der Verschwörer und damit gegen die Ehefrauen, Kinder und selbst gegen Enkel. »Sie brauchen bloß die germanischen Sagas nachzulesen. Wenn sie eine Familie in die Acht taten und für vogelfrei erklärten oder wenn eine Blutrache in einer Familie war, dann war man maßlos konsequent. Wenn die Familie vogelfrei erklärt wird und in Acht und Bann getan wird, sagten sie: Dieser Mann hat Verrat geübt, das Blut ist schlecht, da ist Verräterblut drin, das wird ausgerottet. Und bei der Blutrache wurde ausgerottet bis zum letzten Glied in der ganzen Sippe. Die Familie Graf Stauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied«,25 hatte SS-Reichsführer Heinrich Himmler auf einer Gauleitertagung am 3. August 1944 in Posen erklärt. Der Chef der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, richtete seinen Hass vor allem gegen den Adel: »Degeneriert bis in die Knochen, blaublütig bis zur Idiotie, bestechlich bis zur Widerwärtigkeit und feige wie alle gemeinen Kreaturen, das ist die Adelsclique, die der Jude gegen den Nationalsozialismus vorschickt … Es genügt nicht, die Täter allein zu fassen und unbarmherzig zur Rechenschaft zu ziehen, man muss auch die ganze Brut ausrotten.«26

Zwar machten die Nationalsozialisten diese Drohung nicht wahr; dennoch wurden im Laufe des Juli und August 1944 zahlreiche Ehefrauen von ihren Kindern getrennt und in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert oder zunehmend häufiger in Frauenkonzentrationslager gebracht. Die Inhaftierten erhielten keinen Haftbefehl. Die Gestapo nahm vielmehr die Frauen der Regimegegner fest, verhörte sie stundenlang, um sie anschließend in Einzelhaft im Gefängnis zu nehmen. Manche erfuhren erst dort, ob und wann ihr Mann hingerichtet worden war. So beschreibt beispielsweise die Tochter Goerdelers, Marianne Meyer-Krahmer, wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter im Gefängnis vom Tod des Vaters erfuhr: »Und eines Morgens wurde von der Wärterin die Tür geöffnet und mir wurde eine Zeitung hineingeworfen und dick unterstrichen: ›Todesurteil: Goerdeler wird gehenkt‹. Meine Mutter war mit mir damals in der Zelle zusammen, und wir waren so erstarrt vor Schreck, dass ich wie wild an die Gefängnistür schlug und klingelte, was man eigentlich nicht machen durfte.«27Zu dem Schock über den Tod und die Angst um das eigene Leben kam vielfach die Sorge, was mit ihren verschleppten Kindern geschehen sei. So schildert Elisabeth Freytag v. Loringhoven, wie sie Mika Gräfin Schenk v. Stauffenberg im Moabiter Gefängnis im Bad traf und diese sie fragte: »Glaubst du auch, dass man die Kinder zu medizinischen Zwecken gebrauchen wird?«28

Dennoch bot das Gefängnis, der Kontakt mit anderen Frauen in ähnlichen Situationen, so etwas wie einen geschützten Raum, in dem es Zeit gab, sich mit dem Geschehenen zu arrangieren, die oktroyierte Stille zur Einkehr und Besinnung zu nutzen. So beschrieb beispielsweise Margarete v. Oven, die Mitarbeiterin Henning v. Tresckows, ihre Eindrücke, als sie in das Gefängnis eingeliefert wurde: »Ich war glücklich, als ich im Gefängnis saß und die Tür hinter mir zu war. Da war die Spannung vorbei; nun ist es passiert, dachte ich, und wurde ruhig. Im Gefängnis sitzt man da und wartet, was kommen mag. Da kannst du nichts machen, musst nicht überlegen, ob du nun dieses oder jenes tust. Draußen bei jedem Schritt beobachtet und überall bespitzelt zu werden, das war viel anstrengender, viel schlimmer, als in einer Zelle zu sitzen. Das ist so wie ein Stafettenlauf: Man hat seinen Stab abgegeben, nun trägt ihn ein anderer, und man selbst braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen.«29 Das deutliche Gefühl, dass ihre Männer im Einklang mit sich gehandelt hatten, sowie ein großes Gottvertrauen verwandelte Verzweiflung, Depression und Angst in Gelassenheit. Eindrucksvoll schildert auch Marion Gräfin Yorck kurz nach ihrer Haftentlassung, wie sehr ihr die Zeit in der Zelle geholfen habe, um positiv mit dem alten Leben abzuschließen und ein neues, anderes beginnen zu können.30

Erst im November 1944 hatten die Nationalsozialisten ein neues Referat IV a 6c »Sippenhaft« eingerichtet. Über die »Sippenhaft« konnte Himmler oder der Chef der Gestapo Heinrich Müller entscheiden.31 Unerwartet hatten die Nationalsozialisten zuvor die meisten Ehefrauen Ende September/Anfang Oktober aus der Haft entlassen, deren Männer häufig bereits hingerichtet worden waren. Andere Frauen blieben bis zum Kriegsende in Konzentrationslagern oder Gefängnissen. Mit der Regelung von November 1944 hatte Himmler bestimmt, dass besonders Nachkommen der Familien Hoepner, Lindemann und Wagner wegen ihrer »reaktionären Einstellung« mit Härte zu begegnen sei. So verurteilte der Volksgerichtshof in zwei abgetrennten Verfahren beispielsweise auch die beiden Söhne von General Fritz Lindemann am 14. November 1944 und am 22. Januar 1945 zu fünf beziehungsweise sieben Jahren Zuchthaus. Die besondere Rache Hitlers galt ferner der Familie des ehemaligen Panzergenerals Erich Hoepner, der als General des XX. Korps Hitlers Befehl in der Winterkrise um Moskau nicht befolgt und seine Truppen zurückgezogen hatte. Hitler hatte darauf den Panzergeneral im Januar 1942 aus der Armee verstoßen.32 »Gegen meine Familie gingen die Nationalsozialisten mit einer ganz besonderen Grausamkeit vor«, erzählt der Enkel von Erich Hoepner, Harald Patente, der als Zahnarzt in Berlin arbeitet. Seine Frau hat für die Familie ein Album zusammengestellt, das die tragische Familiengeschichte nach dem gescheiterten Putsch erzählt. Insgesamt verhafteten die Nationalsozialisten sieben Angehörige der Familie, darunter auch die Geschwister des Generals. Hoepners Ehefrau Irma war bis Ende April 1945 im KZ Ravensbrück interniert, wo sie nach Schilderungen ihres Enkels Patente furchtbar gequält wurde. Auch die Tochter von Erich Hoepner, Ingrid Potente, und ihr Ehemann Hilmar gerieten in Haft. Sogar die kaum zweijährige Tochter, die Enkelin von Erich Hoepner, Marietta Potente, wurde der Mutter fortgenommen und tagsüber im Heim, abends von einer Pflegefamilie versorgt. Auch andere Familien behandelten die Nationalsozialisten mit besonderer Härte wie beispielsweise die Angehörigen von Friedrich Olbricht. »Meine Großmutter und meine Mutter wurden wochenlang in den feuchten Räumen der berüchtigten Prinz-Albrecht-Straße festgehalten«, erzählt der Enkel Rudolf Georgi.33 Als Spätfolgen dieser furchtbaren Behandlung litt seine Mutter bis zu ihrem frühen Tod unter schmerzhaftem Gelenkrheumatismus.

Besonders scharf verhörte die Gestapo auch die Frau Claus v. Stauffenbergs, Nina, die mit ihrem fünften Kind schwanger war. Nach fünfmonatiger Einzelhaft kam die Witwe Stauffenberg über das Konzentrationslager Ravensbrück im Januar 1945 in eine NS-Frauenentbindungsstation, wo sie unter dem Namen »Schank« eine Tochter namens Konstanze bekam. Auf Grund verschiedener Erkrankungen lag sie bis April 1945 in einem Potsdamer Krankenhaus, von wo sie nach Kriegsende nach Süddeutschland floh.34 Von dort aus versuchte Nina Gräfin Stauffenberg neuere Nachricht von ihren anderen vier Kindern zu erhalten, da sie im Juni 1945 von ihrer inzwischen verstorbenen Schwägerin Melitta nur wusste, dass ihre drei Söhne und ihre Tochter nicht mehr im nationalsozialistischen Kinderheim in Bad Sachsa35 waren.

Dorthin hatte die Gestapo im August 1944 insgesamt 46 Kinder gebracht, ohne dass ihre Famüien den Aufenthaltsort kannten. »Ich komme im Auftrag von Berlin und soll die drei Kinder holen«,36 hatte ein Gestapomann eine Tante der Kinder Hofackers aufgefordert, ihm die drei jüngeren Kinder Christa, Liselotte und Alfred mitzugeben, die älteren Geschwister waren schon gemeinsam mit der Mutter verhaftet worden. Eine NS-Schwester kümmerte sich seither um die jüngeren Geschwister. »Die Fahrt von München nach Bad Sachsa kam mir unendlich vor«, erinnert sich Alfred v. Hofacker.37

Kurz nach ihrer Rückkehr aus Bad Sachsa verfasste die damals 13-Jährige Christa v. Hofacker einen beeindruckenden Bericht, in dem sie ihren fast zehn Monate dauernden Aufenthalt im Südharz schilderte.38 Interessant ist dieses Dokument vor allem auch deshalb, weil es die tiefe Verunsicherung, die Ängste und die Verzweiflung der Kinder schilderte, die nicht wussten, was aus ihren Eltern geworden war und von der Außenwelt abgeschnitten mit ihren Konflikten alleine gelassen wurden. Neben den drei Hofacker-Kindern brachte die Gestapo unter anderem auch Kinder der Familien v. Stauffenberg, v. Schwerin-Schwanenfeld, v. Trott, die Söhne von Elisabeth Freytag v. Loringhoven und zwei Töchter Henning v. Tresckows nach Bad Sachsa. Dort gab es – abgelegen von dem Kurort – zehn in der Zeit um 1935 im Schweizer Stil errichtete Häuser. Die in einer waldigen Hügellandschaft gelegenen Gebäude gehörten der Stadt Bremen, die hier ein von der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt betriebenes Kinderheim unterhielt. Ende Juli 1944 hatten alle Kurkinder das Heim plötzlich verlassen müssen. Mehrere Gestapo-Beamte hatten die größtenteils aus Bremen stammenden Kindergärtnerinnen von der »Sonderbelegung« informiert und sie verpflichtet, mit niemandem über die Kinder zu sprechen.

Im Heim erhielten die verschüchterten Kinder im Alter von mehreren Monaten bis zu vierzehn Jahren neue Namen. Christa v. Hofacker sollte künftig ebenso wie ihre kleine Schwester Liselotte, »Franke« heißen. Die beiden Tresckow-Töchter nannten die Nationalsozialisten »Wartenberg«, den sechs Söhnen und Töchtern von Claus und Berthold Schenk Graf v. Stauffenberg gaben die Nationalsozialisten den Namen »Meister«. »Nach einiger Zeit wurde uns eröffnet, dass wir nun andere Namen hätten – unserer war Meister –, aber ich selbst hatte nie Gelegenheit, diesen zu gebrauchen«,39 erinnert sich der damals zehn Jahre alte Berthold Graf Schenk v. Stauffenberg. Gestapo-Beamte erklärten den Kindern, sie würden ihre Eltern nie mehr wiedersehen. Die Kindergärtnerinnen trennten die Namensschilder aus den Kleidern. »Mit kurzem Heil Hitler wurden wir im Büro begrüßt, dann kamen drei Kindergärtnerinnen und jede nahm einen von uns mit. Wir wurden getrennt«, schrieb Christa v. Hofacker über ihre Ankunft im Borntal. Im Haus 1 waren Jungen ab zehn Jahre, im Haus 2 Jungen von sechs bis neun, in zwei weiteren Häusern die Mädchen, in einem anderen die Kleinkinder untergebracht. Auch Fotos von Eltern und Verwandten und andere Erinnerungsstücke mussten die Kinder abgeben. Nichts sollte mehr an die ursprüngliche Identität der Kinder erinnern, die ihre Eltern schnellstmöglich vergessen sollten, um zu guten Nationalsozialisten erzogen zu werden. »Wir waren praktisch zu Unpersonen geworden«,40 erinnert sich Uta v. Aretin. Doch der Plan der Nationalsozialisten ging nicht auf. »In der kommenden Nacht kam mein Bruder in unseren Schlafsaal und meinte, wir sollten uns nun alle unsere Namen sagen. Jeder nannte seinen Familiennamen – Hofacker, Hansen, Hagen – nur Berthold Stauffenberg wagte nicht, den seinen zu nennen: Er wusste, dass sein Vater die Bombe gelegt hatte, er hatte vor der Verhaftung der Familie alles erfahren und war verängstigt«,41 erinnerte sich später der Journalist Christoph Graf v. Schwerin. Ähnliche Szenen spielten sich auch in dem Haus der größeren Mädchen ab. »Nachdem wir wussten, dass wir größtenteils miteinander verwandt waren, ging es in Bad Sachsa besser, da tiefe Freundschaften entstanden«,42 erzählt Alfred v. Hofacker. »Längst wussten Uta und ich, dass das Heim nur für Kinder vom 20. Juli freigehalten wurde«, ergänzte seine Schwester Christa v. Hofacker.

Wenige Monate nach der Internierung wurden die ersten Kinder im Oktober wieder entlassen und zu ihren ebenfalls aus der Gefangenschaft freigelassenen Müttern gebracht. Anfang Oktober zogen die »Übriggebliebenen« – wie Christa v. Hofacker sie bezeichnete – in ein Haus. Von den ursprünglich 46 Kindern lebten damals noch zwölf in einer ehemaligen Villa, die Geschwister Stauffenberg und Hofacker sowie die drei Mädchen Lore Bernardis, Renate Henke und Marie-Luise Lindemann. Im Januar 1945 wurden noch zwei kleine Jungen nach Bad Sachsa gebracht, die auf einem Flüchtlingstransport verloren gegangen waren. Tatsächlich handelte es sich um die zwei Enkel Rainer und Carl Goerdeler, damals vier und eindreiviertel Jahre alt. »An einem anderen Tag nahm ich mir den Rainer vor und fragte ihn, ob er denn nicht wisse, wie er hieße. Doch, sagte er, dös weiß i scho. I hoiß Rainer Goerdeler, Johannes, Christian«, erinnerte sich Christa v. Hofacker und ergänzte: »Nachdem ich mir dies einige Male wiederholen ließ, verstand ich endlich den Namen; gleichzeitig tauchte ein Bild aus einer Illustrierten vor mir auf: es war eine Wirtsstube, in der Fräulein Schwarz Goerdeler, der auf dem Sofa saß, an die SS-Leute verriet. Und da war mir klar: das mussten Goerdelers Enkelkinder sein!« In der Rückblende kann sich Rainer Goerdeler nicht mehr an die Zeit in Bad Sachsa erinnern. »An die Zeit von Juli 1944 bis Juli 1945 habe ich keinerlei aktive Erinnerung mehr, bis auf die Ankunft meiner Mutter in Bad Sachsa in der zweiten Julihälfte 1945«, erzählt Rainer Goerdeler und fügt hinzu, dass dies »ein guter Reaktionsmechanismus der Unterdrückung« sei.43

Ursprünglich hatten die Nationalsozialisten geplant, die Eltern umzubringen und die älteren Kinder in so genannte Napolas,44 nationalpolitische Erziehungsanstalten, zu geben; die Kleineren sollten bei stramm nationalsozialistisch gesinnten Familien aufwachsen. Als die ersten Kinder wieder nach Hause durften, brach eine Kindergärtnerin gegenüber Christa v. Hofacker und Uta v. Tresckow ihr Schweigen und erzählte den beiden Mädchen von den eigentlichen Plänen der Nationalsozialisten. »Jetzt, nachdem Fräulein Köhne uns all’ das Grauenhafte gesagt hatte, quälte mich so manche Nacht der Gedanke, ob wir wohl jemals nach Hause kommen würden. Ich konnte mit niemandem darüber reden«, schrieb Christa v. Hofacker.

Für die übrigen Kinder hielten die Erzieherinnen die Fassade aufrecht: Die Kinder spielten, gingen spazieren, rodelten und lasen die wenigen vorhandenen Bücher. »Die Verpflegung war wie in der damaligen Zeit üblich. Allerdings gab es keinerlei Kontakte zur Außenwelt, auch kein Radio, keine Zeitung, so dass ich etwa die Ardennenoffensive erst nach dem Krieg erfahren habe. Auch gab es keine Schule und natürlich keine Kirche«, erinnert sich Berthold Graf Stauffenberg an seinen Aufenthalt. Mitte November brach im Kinderheim eine Windpocken-Epidemie aus; fast jeden Tag gab es Fliegeralarm. Unter den Erzieherinnen herrschte Ratlosigkeit, was mit den verbleibenden Kindern geschehen solle, weshalb zu Weihnachten die strengen Regeln gelockert wurden. Am 24. Dezember bekamen die sechs Stauffenberg-Kinder überraschenden Besuch von ihrer Tante Melitta Gräfin Stauffenberg, der Frau des Historikers Alexander Schenk Graf v. Stauffenberg, die im Dritten Reich als erprobte Ingenieurin und Pilotin arbeitete. Am Abend veranstalteten die Kindergärtnerinnen gar eine Bescherung mit kleinen Geschenken. Christa v. Hofacker bekam einen Hund. Die trostlose Stimmung konnte dies indessen nicht vertreiben. »In der einen Ecke des Raumes stand ein Baum mit elektrischen Kerzen. Das wirkte so kalt und abstoßend, verwirrend waren die vielen Drähte, die über das Tännchen geleitet waren. Der Gesang und der ganze Hauch des Heiligen Abends stimmten wehmütig. Alfred neben mir brach fassungslos in Tränen aus – ich konnte ihm nicht helfen« – so die Erinnerungen von Christa v. Hofacker.

Mit dem Frühling hofften die Kinder auf Rückkehr zu den Eltern. Christa v. Hofacker hatte im Januar sogar ein Päckchen mit Fotos ihrer Familie erhalten. Die Wehrmacht hatte das Kinderheim inzwischen beschlagnahmt. Alles Anzeichen für die Kinder, dass nun auch sie bald nach Hause dürften. Ostern erzählten die Erzieherinnen den Kindern, sie kämen in ein neues Heim, in dem sie ihre Familien wieder treffen würden. Tatsächlich handelte es sich bei dem Heim jedoch um das Konzentrationslager Buchenwald, wo die Kinder vermutlich getötet werden sollten. Osterdienstag brachte ein LKW die Kinder zum Bahnhof, als ein halbstündiger Bombenhagel ausbrach. »Es brummte wie toll, und plötzlich hub ein ohrenbetäubendes Krachen und Pfeifen an. Die Kleinen fingen an zu schreien. Zu einem Knäuel ineinander verschlungen, lagen wir 14 am Boden, die drei Erwachsenen, die uns begleiteten, schauten einander stumm an. Eine halbe Stunde dauerte der Bombenhagel. Den Zug noch erreichen zu wollen, war sinnlos. Außerdem berichteten vorübereilende Leute, dass der Bahnhofsbunker total zugeschüttet sei«,45 schildert Christa v. Hofacker ihre Eindrücke. Zurück in Bad Sachsa gingen die Ungewissheit und das Warten weiter. »Während der Kämpfe um Bad Sachsa in den letzten Kriegstagen haben die Angestellten unter Infanterie-Beschuss und Tieffliegerangriffen die Verpflegung aus der Küche, die im Schussbereich lag, geholt, damit die Kinder genug zu essen hatten. Diese waren nämlich in einem geschützt liegenden Keller untergebracht. Nach Kriegsende haben wir die letzten Lebensmittel vor den freigelassenen, plündernden Polen verteidigt, sind mit den Kindern aufs Land zu Bauern gegangen und haben selbst Gemüse nach Hause geschleppt, damit die Kinder keine Not zu leiden brauchten«,46 erinnerte sich Ende der fünfziger Jahre eine ehemalige Kindergärtnerin, die von den Kindern als herzliche und nette Erzieherin beschrieben wurde. Weniger Mitleid mit den Kindern scheint hingegen die Heimleiterin gehabt zu haben, die von den meisten Kindern gefürchtet wurde.

Am 12. April 1945 rückten die Amerikaner in Bad Sachsa ein.47 Sie ernannten den sozialdemokratischen Postbeamten Willy Müller zum Bürgermeister, den die Bad Sachsaer Nationalsozialisten mit besonderer Brutalität verfolgt und nach dem 20. Juli in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht hatten. Der spätere Stadtdirektor von Bad Sachsa, der eine der Kindergärtnerinnen heiratete, hatte über einen Genossen erfahren, dass es sich bei den inhaftierten Kindern um Angehörige des 20. Juli handelte. Zu einer der ersten Amtshandlungen des Bürgermeisters gehörte es, sich im Kinderheim persönlich einen Eindruck von der Situation zu verschaffen. Der gestandene Sozialdemokrat ließ die Kinder zu sich rufen, stellte sich auf einen Stuhl oder Tisch und hielt nach den Erinnerungen von Alfred v. Hofacker eine flammende Rede, die mit dem Satz endete: »Jetzt dürft ihr eure richtigen Namen wieder tragen. Ihr braucht euch eurer Namen und Väter nicht zu schämen, denn eure Väter waren Helden.«48 Am Tag der Kapitulation stellte Müller die Kinder unter seinen persönlichen Schutz und gab ihnen auch amtlich ihre alten Namen zurück. Mitte Juni konnten die Kinder nach Hause zurückkehren. Eine Tante der Familie Stauffenberg, die Rotkreuzoberin Gräfin ÜxküIl-Gyllenband, organisierte gemeinsam mit den amerikanischen und französischen Behörden die Heimkehr. Der französische Oberkommandant im Heimatort der Stauffenbergs, in Lautlingen, stellte ein Militärauto zur Verfügung, nachdem die entsprechenden Stellen der französischen und amerikanischen Militärregierung erklärt hatten, sie seien nicht für deutsche Kinder zuständig.49

Nach dem ursprünglichen Plan der Nationalsozialisten hatten die Kinder aus Bad Sachsa Ostern 1945 in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht werden sollen. Dort war eine Reihe anderer Sippenhäftlinge – nach einer Odyssee durch ganz Deutschland – für kurze Zeit im Lager, darunter viele Ehefrauen von Verschwörern mit ihren über fünfzehn Jahre alten Kindern. Unter den Sippenhäftlingen befanden sich zahlreiche Mitglieder der Familien Stauffenberg und Goerdeler. Neben vielen Vettern und Cousinen, die nur wegen des Namens Stauffenberg inhaftiert worden waren, hatten die Nationalsozialisten auch die Schwiegermutter Claus v. Stauffenbergs, Anni v. Lerchenfeld, und seinen Bruder Alexander v. Stauffenberg, der in Griechenland verhaftet worden war, in Haft genommen. Zu Himmlers »Ehrenhäftlingen« gehörten ferner die Tochter des Botschafters Ulrich v. Hassell, Fey Pirzio-BiroIi, die in Italien von ihren kleinen Söhnen getrennt und ebenfalls nach Deutschland verschleppt wurde, sowie die Frau Cäsar von Hofackers, Ilselotte, mit ihren beiden älteren Kindern und die Frau Carl Goerdelers, Anneliese, mit ihren Töchtern Marianne und Benigna. In dem Film Die Kinder des 20. Juli bezeichnete der älteste Sohn von Cäsar v. Hofacker, Eberhard, diese Zeit als die schlimmste seines Lebens.50

Nach dem Krieg schilderte die in Italien verheiratete Fey Pirzio-Biroli ihre Irrfahrt durch verschiedene Konzentrationslager.51 Im Oktober 1944 hatte Heinrich Himmler beschlossen, die »Sippenhäftlinge« an zentralen Haftorten zu sammeln. Die Gefangenen, die sich aus Angehörigen des 20. Juli und Verwandten von Mitgliedern des Nationalkomitees Freies Deutschland zusammensetzten, wurden in die Schierbach-Baude bei Bad Reinerz verlegt, andere in der benachbart gelegenen Hindenburg-Baude untergebracht. Von dort ging es für die Gefangenen der Hindenburg-Baude im November 1944 in das Konzentrationslager Stutthof, wo die Sippenhäftlinge erfuhren, dass Himmler sie nicht töten wollte, sondern sie als »prominente Geiseln« betrachtete. »Trotz mangelhafter Verpflegung, durch die wir täglich schwächer und anfälliger wurden, waren erstaunlicherweise alle noch wohlauf (…).«52 Das änderte sich wenig später, als zunächst die Ruhr und später Typhus unter den Sonderhäftlingen ausbrach, viele Sippenhäftlinge mit dem Tode rangen und die Schwiegermutter Stauffenbergs schließlich verstarb. Vor der herannahenden Roten Armee verbrachte die SS die zum großen Teil kranken Gefangenen Mitte Januar 1945 in Gewaltmärschen bei eisiger Kälte in das Konzentrationslager Buchenwald. Dort trafen sie auf andere Sippenhäftlinge des 20. Juli, wie die Söhne Carl Goerdelers, Ulrich und Reinhard. Erneut wurde die immer größer werdende Gruppe von Sippenhäftlingen in einer isolierten Baracke untergebracht. Besonders quälte Fey Pirzio-Biroli die Sorge um ihre beiden kleinen Söhne, die die Gestapo offensichtlich nicht nach Bad Sachsa, sondern an einen unbekannten dritten Ort gebracht hatte. »Ich meinte, in meiner Verzweiflung zu versinken. Wie sollten wir denn die Kinder je wiederfinden in diesem Chaos, das nach dem Zusammenbruch noch totaler werden würde?«,53 fragt sich die 26-Jährige in ihrem Tagebuch. Da die Front immer näher rückte, transportierten die Nationalsozialisten die Sippenhäftlinge im April 1945 mit Bussen und Lastwagen Richtung Dachau und Voralpen. Inzwischen waren auch die Sippenhäftlinge aus der Schierach-Baude verlegt, so dass die Zahl von Himmlers »Ehrenhäftlingen« auf rund 200 Personen angeschwollen war. Der frühere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht befand sich ebenso unter den Häftlingen wie Prinz Philipp von Hessen, der frühere französische Premierminister Leon Blum und Kurt v. Schuschnigg, der ehemalige österreichische Bundeskanzler. »Wir waren Gefangene aus 22 Nationen«, erinnert sich Isa Vermehren.54

Kurz vor Kriegsende entkamen die Sippenhäftlinge auf fast wundersame Weise ihrem von Himmler für den 29. April festgelegten Tod. Zwei mitgefangene Offiziere hatten im Bus ein Gespräch der beiden SS-Männer gelauscht, die für die Sippenhäftlinge verantwortlich waren. Danach wollte die SS am 29. April Bomben unter den Bussen anbringen und die Häftlinge in die Luft sprengen. Den beiden gefangenen Offizieren Bogislav v. Bonin und v. Flügge gelang es, dass die SS von der Wehrmacht entmachtet und die Sippenhäftlinge unter die Aufsicht eines Generals der Heeresgruppe Süd gestellt wurden, der den Sippenhäftlingen wohlgesonnen war. Eine größere Gruppe von 139 Menschen wurde über das Durchgangslager Reichenau bis nach Tirol gebracht. Nach der Befreiung durch die Amerikaner am 4. Mai 1945 brachten diese die Sippenhäftlinge nach Neapel und von dort nach Capri, wo sie sich von den Strapazen des einjährigen Zugs durch verschiedene Konzentrationslager erholen sollten. Doch die ehemaligen Sippenhäftlinge der Achsenmächte konnten den Aufenthalt nicht genießen, zumal sie das Hotel in Capri nicht verlassen durften und die Männer täglich von den Alliierten verhört wurden. »Uns begann die Sorge um unsere Familien sehr zu beschäftigen, von denen wir monatelang nichts gehört hatten«, erzählt die spätere Ordensschwester Isa Vermehren.55

Die Stunde Null > Die Angehörigen zwischen öffentlicher Verachtung und Anerkennung

Als die deutschen Streitkräfte am 8. Mai 1945 kapitulierten, war die deutsche Niederlage total. Deutschlands Kampf um die Hegemonie in der Welt hatte über sechzig Millionen Menschen das Leben gekostet; allein auf sowjetischer Seite starben über zwanzig Millionen Menschen. Von den Toten waren rund sechs Millionen jüdischen Glaubens. Bei allen Differenzen der vier Alliierten in der Deutschlandpolitik bestand nach der Kapitulation 1945 Einigkeit, Deutschland komplett abzurüsten, das Volk einer strengen Entnazifizierung zu unterwerfen und eine zentrale Regierung zunächst zu verhindern, um den Prozess einer dauerhaften Demokratisierung einzuleiten. Die komplette Niederlage wirkte auf das deutsche Volk wie ein Schock. Aus einem Volk, das sich angeschickt hatte, die ganze Welt zu erobern, und das begeistert seinem Führer Adolf Hitler zugejubelt hatte, war ein Volk von Verlierern geworden, das sich von der eigenen Regierung missbraucht und über Jahre verraten fühlte und schließlich von den Alliierten in vier verschiedenen Besatzungszonen verwaltet wurde.

Die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten, die Bombardierung und Zerstörung vieler Städte, die Vergewaltigung unzähliger Frauen, der Verlust von Angehörigen und Freunden sowie des Vermögens und der Heimat ließ die Deutschen nach Kriegsende traumatisiert und versteinert im eigenen Leiden zurück, unfähig zu begreifen, dass der aggressive Angriffskrieg von deutschem Boden ausgegangen war. Dabei stand 1945 zunächst das unmittelbare Überleben im Vordergrund. Ein Viertel der Wohnfläche wurden im Krieg zerstört. In den Großstädten hatten die alliierten Bomber sogar mehr als die Hälfte der Wohnungen und Häuser in Ruinen gelegt. Trümmerfrauen, Kinder und alte Menschen befreiten die Städte bis zur physischen Erschöpfung von Schutt, Geröll und Asche. Söhne, Ehemänner, Väter und Geliebte waren vermisst, verstümmelt, in Kriegsgefangenschaft oder tot. Auf Grund der zerstörten Transportwege und des Zusammenbruchs der deutschen Wirtschaft fehlten allerorts Nahrungsmittel.Der Schwarzmarkt mit Zigaretten blühte. Da es kaum Gas und Elektrizität gab, untergruben Kälte und Dunkelheit den Lebensmut der Menschen, die überall hungerten und froren. Eine hohe Säuglingssterblichkeit, Hungerödeme, Unterernährung und damit eine große Anfälligkeit für Krankheiten waren die Folge.

Der in Heidelberg lehrende Philosoph Karl Jaspers befasste sich in einer Vorlesung mit der Abgestumpftheit der Deutschen im Hungerwinter 1945/46: »Wir leben in Not, ein großer Teil unserer Bevölkerung ist in so großer, so unmittelbarer Not, dass er unempfindlich geworden zu sein scheint für solche Erörterungen. Ihn interessiert, was die Not steuert, was Arbeit und Brot, Wohnung und Wärme bringt. Der Horizont ist eng geworden. Man mag nichts hören von Schuld, von Vergangenheit, man ist nicht betroffen von der Weltgeschichte. Man will einfach aufhören zu leiden, will heraus aus dem Elend, will leben und nicht nachdenken. Es ist eher eine Stimmung, als ob man auch nach so furchtbarem Leid gleichsam belohnt, jedenfalls getröstet werden müsste, aber nicht noch mit Schuld beladen werden dürfte.«56

Folgerichtig fühlten sich die meisten ausgebombten, vertriebenen und ihrer Liebsten beraubten Deutschen als Opfer Hitlers dunkler Schicksalsmächte. Den verlorenen Weltkrieg empfanden viele als moralische Niederlage, für den sie umsonst so hart gekämpft und so viele Entbehrungen auf sich genommen hatten. Von den zahlreichen Gewaltverbrechen, besonders an den jüdischen Mitbürgern, wollte kaum jemand gewusst haben oder gar dafür die Verantwortung übernehmen. Die meisten Deutschen wollten so schnell wie möglich die eigene Schuld verdrängen und an die Brutalitäten des von den meisten mitgetragenen Regimes nicht mehr erinnert werden. Erneut bildete sich unter den Deutschen eine Schicksalsgemeinschaft, die sich gegenseitig deckte und gegenseitig »Persilscheine« ausschrieb, um nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. In dieser Situation kam den Deutschen der Beginn des Kalten Krieges sogar entgegen. Denn die einsetzenden politischen Spannungen der Alliierten führten dazu, dass der Prozess der Entnazifizierung weit weniger rigoros verlief, als ursprünglich geplant. Am konsequentesten und schnellsten arbeiteten die Sowjets, die in der inneren Verwaltung und im Justizdienst der sowjetischen Zone 90 Prozent des Personals entließen und später auch nicht mehr einstellten – wobei die Umgestaltung zur sozialistischen Gesellschaft im Vordergrund stand. In den drei westlichen Zonen blieben dagegen gerade im öffentlichen Dienst zahlreiche ehemalige Nationalsozialisten als Lehrer, Juristen, Staatsanwälte, aber auch in der Industrie und der Ärzteschaft auf ihren Posten. Insgesamt verurteilten die westlichen Besatzungsmächte im Zuge der Nürnberger Prozesse rund 5 000 Angeklagte als Kriegsverbrecher. Spätestens seit 1946 zeichnete sich für die Amerikaner ab, dass die eigentliche Gefahr nicht von den Deutschen, sondern von den kriegsverbündeten Sowjets ausging, die hofften, über eine Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft, Deutschland unter kommunistischen Einfluss zu bringen. Mit der Einrichtung der englisch-amerikanischen Bizone am 1. Januar 1947 einerseits und der SBZ andererseits war der Weg für zwei deutsche Staaten bereits beschritten, der mit der Währungsreform von 1948 von den Engländern, Amerikanern und Franzosen konsequent weiter verfolgt wurde. Nur vier Jahre nach Kriegsende gründeten die Westalliierten 1949 die Bundesrepublik Deutschland, die sie zunehmend mehr als Bündnispartner in ihrem Kampf gegen den Kommunismus in der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik dringend benötigten.

Das Ende der Gegnerschaft hatte sich auch an dem bald nach der Kapitulation einsetzenden »Gnadenfieber«, der Amnestie zahlreicher Nationalsozialisten, gezeigt, die von den Westalliierten mitgetragen wurde, um fähige Fachleute und Beamte für den Neuaufbau der Bundes- und Länderverwaltungen zu gewinnen. In dieser labilen Situation hatten weder die Alliierten57 noch die deutsche Bevölkerung ein Interesse daran. an die weit verzweigte Opposition gegen Hitler zu erinnern.58 Um das eigene Gesicht zu wahren, machte sich die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung weis, es habe unter der Diktatur Hitlers keinerlei Möglichkeiten des Widerstandes oder auch nur der Resistenz gegeben. Das Wachhalten der Erinnerung an den 20. Juli hätte diesen bequemen Verdrängungsmechanismus bedroht. Die meisten Deutschen haben deshalb in den Nachkriegsjahren einen aktiven Widerstand gegen Hitler, vor allem aber die Breite der Opposition, geleugnet. Stattdessen hatte sich Hitlers Ausspruch über die kleine »Clique ehrgeiziger Offiziere« in den Köpfen der Menschen festgesetzt, wonach die Attentäter als Hoch- und Landesverräter galten.59

»Einiges spricht denn auch dafür, dass in der Abwertung des Widerstands, zumindest in den frühen Nachkriegsjahren, der Affekt einer Generation von Mitläufern und deren Nachkommen zum Vorschein kam, die sich die eigenen Versäumnisse nicht ausgerechnet von der noch einmal groß ins Blickfeld rückenden, zum Untergang verurteilten Schicht von Militär und Aristokratie ins Bewusstsein rufen lassen wollten«,60 urteilt Joachim Fest. In ähnlicher Weise argumentiert auch der Politologe Peter Steinbach, der von einer »doppelten Unfähigkeit der Deutschen zu trauern« spricht und in der Ablehnung des Widerstands im Nachkriegsdeutschland auch das Versagen einer Generation widergespiegelt sieht, die »mitmachten, wo sich andere aus politischen, ethischen oder religiösen Gründen versagt hatten.« In einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach von 1956, wie das Attentat vom 20. Juli zu beurteilen sei, antworteten folgerichtig 34 Prozent, der Staatsstreich sei zu verurteilen, 27 Prozent waren in ihrer Meinung schwankend. Bis in die fünfziger Jahre hinein weigerte sich die Mehrzahl der Deutschen beispielsweise, eine Schule nach Claus Schenk Graf v. Stauffenberg zu benennen.61

Für einen kurzen historischen Moment sah es hingegen so aus, als wären die sowjetischen Machthaber in der SBZ dem Widerstand gegenüber aufgeschlossener begegnet. »denn das Ansehen des neuen Deutschlands in der Welt wird sich danach richten, was die Welt über die deutsche Widerstandsbewegung erfährt«, formulierte Günther Weisenborn am 11. Mai 1946 im Berliner Hebbeltheater vor ehemaligen politisch Verfolgten des KZ Sachsenhausen in einer Rede, die wegen ihres programmatischen Charakters in gleichen Jahr im Aufbau erschien.62 Unmittelbar nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern und dem Ende der Kampfhandlungen empfanden es politische Verfolgte in der SBZ als ihre Pflicht, über ihre Leidenszeit zu berichten. Die Dokumentation der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stand dabei im Vordergrund.63 In der SBZ setzte sich der Stalinismus allmählich durch, unter dem der konservative Widerstand in Misskredit gebracht wurde. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bestand gegenüber dem 20. Juli eine ambivalente Haltung: Noch wurden die Attentäter in den antifaschistischen Gründungsmythos der späteren DDR integriert, wie sich auch an den gemeinsamen Gedenkveranstaltungen zeigt.64 So nahmen am 9. September 1945 rund 60 000 Menschen in der Berliner Werner-Seelenbinder-Kampfbahn an einer Großkundgebung für die Widerstandskämpfer teil. 1946 versammelten sich Tausende im Berliner Lustgarten im gemeinsamen Gedenken an alle Widerstandskämpfer. Dort sprach auch Marion Gräfin Yorck v. Wartenburg als Angehörige des Kreisauer-Kreises und als Repräsentantin des 20. Juli. Auch Straßen, wie beispielsweise in Leipzig, wurden nach prominenten Attentätern aus dem konservativen Widerstand, wie nach Beck, Goerdeler, Hoepner oder v. Witzleben benannt, bis sie 1952 ausgetauscht wurden. Vor allem ehemalige Widerstandskämpfer65 wie die Mitbegründer der CDUD Jakob Kaiser und Andreas Hermes oder der Sozialist Gustav Dahrendorf66 bemühten sich darum, die Erinnerung an den 20. Juli in der SBZ wach zu halten. Enttäuscht über die Entwicklung in der späteren DDR, zog sich Dahrendorf 1946 als SPD-Parlamentarier nach Hamburg zurück; Andreas Hermes geriet unter anderem wegen der radikalen Bodenreform im Osten in Opposition mit der sowjetischen Militärbehörde und verließ ebenfalls die SBZ. Sein Nachfolger als Vorsitzender der CDUD wurde der christliche Gewerkschaftler Jakob Kaiser, der sich der Idee eines demokratischen Sozialismus auf christlicher Grundlage verschrieben hatte. Er wurde im Dezember 1947 von der Sowjetischen Militär-Administration (SMAD) abgesetzt und spielte später in der CDU in Westdeutschland eine wichtige Rolle.

Die Sowjetunion hatte das Attentat vom 20. Juli bereits 1945 als eine imperialistisch-restaurative Verschwörung ohne Verbindung zum Volk verurteilt. Damit war es eine Frage der Zeit, wann sich die SMAD und die SED diesem Geschichtsbild anpassen würden. Dazu passte es, dass die Geschichte des Widerstandes an den neu eröffneten Universitäten der SBZ nicht gelehrt wurde und es im Gegensatz zu Westdeutschland keine nennenswerte wissenschaftliche Auseinandersetzung über den widerstand gab.

Vor allem die 1947 gegründete Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus (VVN) widmete sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Aufgabe, die Erinnerung an Widerstand und Verfolgung wach zu halten und umfängliches Material zu sammeln, wobei die Arbeit von Verfolgten und nicht von Historikern gestaltet wurde. Bis 1948 bemühte sich der VVN, den Widerstand in seiner ganzen Breite, das heißt vom kommunistischen, bürgerlichen bis hin zum militärischen Widerstand zu erforschen. In der Zeitschrift Unser Appell äußerte sich beispielsweise der Journalist Rudolf Pechel über den 20. Juli, Walter Janka würdigte die Emigration als Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, und Probst Grüber schrieb über den Kampf der Kirchen.67 Noch im September 1948 organisierte der Verband der Verfolgten eine große Ausstellung unter dem Thema: »Das andere Deutschland. Eine Schau der Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime«, die im ehemaligen Reichspräsidentenpalais gezeigt wurde. Dabei gelang es dem Verband, ohne politische Propaganda, sowohl den kommunistischen als auch den militärischen Widerstand zu zeigen. Ziel der Schau war es, das Publikum über die Breite des Widerstands in Deutschland aufzuklären. Allein in Berlin sahen sich rund 55 000 Besucher die Ausstellung an.

Der zunächst pluralistische Ansatz des VVN vertrug sich auf Dauer nicht mit dem Machtanspruch und der Geschichtspolitik der SED, die zur zentralen Partei in der SBZ geworden war. Der Verfolgtenverband passte sich dem offiziellen, von Moskau diktierten Geschichtsbild der SED insofern an, als er den kommunistischen Widerstand in den Mittelpunkt stellte und gegen andere Widerstandsbewegungen, besonders den des 20. Juli, und Sozialdemokraten wie Julius Leber, zu polemisieren begann. So schrieb Anton Ackermann schon 1947 in der Einheit: »Zunächst ist erstaunlich, wer nicht alles dabei gewesen sein will. Ein ganzer Rattenschwanz hängt sich an den 20. Juli an, wobei es sich nicht seIten um direkte politische Hochstapelei handelt. Dunkle Elemente, die ihre ganzen Kenntnisse der Vorgänge aus der Zeitungslektüre schöpfen, prahlen mit einer Mitbeteiligung an der Bewegung, wobei der Zweck allerdings sehr durchsichtig ist, nämlich der Versuch einer Reinwaschung von ihrer recht braunen Vergangenheit.«68 Nach 1948 machte sich der Verfolgtenverband die kommunistische Faschismusinterpretation zu eigen, was zu einer Einteilung des Widerstands in »gut« und »schlecht«, das heißt in »antifaschistisch« und »reaktionär« führte. 1949 trat Marion Gräfin Yorck v. Wartenburg aus dem VVN aus, der in der Bundesrepublik bis in die neunziger Jahre weiter bestand.69 Gleichzeitig ging der Verfolgtenverband jedoch auf Konfrontationskurs mit der SED, indem er betonte, dass sowohl die Kommunisten im deutschen Untergrund als auch in den Konzentrationslagern nach 1938 Widerstand geleistet hätten, ohne von der KPD-Führung im Moskauer Exil abhängig zu sein. Unter dem Vorwand, dass der VVN nicht in der Lage sei, die Geschichte des Widerstands angemessen zu dokumentieren, veranlasste die SED schließlich 1953 die Zwangsauflösung in der DDR. Die Widerstandsforschung wurde dem Marx-Engels-Lenin-Institut übertragen, dem späteren Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Seit 1947 verdächtigte die SED auch die Sozialdemokraten innerhalb der Widerstandsbewegung 20. Juli der »antisowjetischen« Überlegungen. Die Polemik gipfelte darin, dass Julius Leber von dem Kommunisten Otto Winzer als Agent des amerikanischen Imperialismus beschimpft wurde. Gezielt versuchte die SED, sich mit derartigen Verdächtigungen der SPD innerhalb der SBZ/DDR zu entledigen. Nach Auffassung der dominierenden SED stand es nur ihren Parteimitgliedern zu, die einheitliche Arbeiterklasse zu vertreten. Dabei ging es den kommunistischen Funktionalen der späteren DDR darum, ihren deutschen Teilstaat als Antwort auf die sich abzeichnende Gründung der Bundesrepublik zu legitimieren.

Der Widerstandsgeschichtsschreibung kam die Aufgabe zu, die Gründung der DDR als Folge eines erfolgreichen Kampfes antifaschistischer Kräfte zu definieren. In den Mittelpunkt rückte deshalb der kommunistische Widerstand,70 der gegenüber allen anderen Widerstandsformen eine Monopolstellung einnahm. Dabei bestimmte in der DDR das nach Moskau emigrierte Funktionärskorps das Bild des kommunistischen Widerstandshelden.71

Schon bald setzte im Sinne des herrschenden Marxismus-Leninismus eine Mythenbildung des antifaschistischen Widerstands ein, der die Opfer auf eine merkwürdige Weise entindividualisierte und damit das Erinnern an den Widerstand zu einem typisierten Gedenken werden ließ. Der anonyme kommunistische Held, der für den Anbeginn einer neuen gerechteren Weltordnung stand, machte es den DDR-Bürgern leichter, ihre eigene Täterschaft, ihr eigenes Mitläufertum im Dritten Reich zu kaschieren und nicht aufzuarbeiten. Denn ähnlich wie die Westalliierten waren auch die Russen, und später die DDR-Führung unter Ministerpräsident Walter Ulbricht, daran interessiert, die Mehrheit der Mitläufer und kleinen Parteimitglieder zu integrieren, statt sie auszugrenzen.

Zunehmend definierten SED-Funktionäre während der Phase des strengen Stalinismus den Widerstand als Klassenkampf. In erster Linie zählte die Einstellung zur Sowjetunion und zur KPD und damit zum »Nationalkomitee Freies Deutschland«. Den militärisch-konservativen Widerstand wertete die SED als »reaktionär« ab. Vor allem die beiden ZK-Beschlüsse der SED über »Die wichtigsten ideologischen Aufgaben der Partei« (1951) und »Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der DDR« (1955) begünstigten die schon vorhandene Tendenz, nur den kommunistischen Widerstand in Konzentrationslagern, in Betrieben und bestimmten Regionen zu untersuchen. Alle anderen Widerstandsformen wurden in der DDR als nicht konform mit dem Marxismus-Leninismus fallen gelassen, »der kommunistische Widerstand zum Maßstab des Widerstandskampfs insgesamt«.72

Auch in den drei westlichen Zonen gab es unmittelbar nach dem Krieg Bemühungen, Gedanken des Widerstands für die neue politische Ordnung zu nutzen. Vor allem in den Landesverwaltungen griffen die Alliierten auf unbelastete Personen, die während der Nazi-Zeit zu den Regimegegnern zählten, zurück. So wurde Theodor Steltzer, Mitglied des Kreisauer Kreises, 1946 zum ersten Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein ernannt. Unter anderen wirkten Josef Müller in Bayern, Werner Hilpert in Hessen, Karl Arnold in Düsseldorf und Andreas Hermes politisch in der Verwaltungsarbeit mit. Jakob Kaiser73 war von 1949 bis 1957 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Eugen Gerstenmaier74 wurde 1954 als Bundestagspräsident gewählt.

Unter den Nationalsozialisten verfolgte Intellektuelle hofften nach dem Naziterror, Deutschlands Wandel, hin zu einer Synthese von Christenturn und Sozialismus, durch eine tiefe Katharsis aus eigener Kraft zu bewerkstelligen.75 In der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden deshalb eine Reihe von politisch-literarischen Magazinen, in denen sich das »andere Deutschland« repräsentierte und die von den Alliierten mit dem Ziel der »Reeducation« genehmigt wurden. Die einflussreichste Zeitschrift, die seit Frühjahr 1946 erschien und sich dem Dialog von Marxismus und Christentum verschrieb, waren die von Walter Dirks und Eugen Kogon herausgegebenen Frankfurter Hefte. Als überzeugten katholischen Pazifisten hatten die Nationalsozialisten Eugen Kogon von 1938 bis 1945 im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Nach der Befreiung durch die Amerikaner schrieb Kogon 1946 sein Buch Der SS-Staat,76 das den Nationalsozialismus dechiffrierte und im In- und Ausland große Beachtung fand. Um Kogon und Dirks bildete sich der so genannte Frankfurter Kreis, der für ein starkes Europa statt für einen »amerikanischen Mammutfaschismus« oder einen russischen Bolschewismus eintrat. In eine ähnliche Richtung argumentierte auch der Ruf. Blätter der jungen Generation, der von 1946 bis 1947 von den Schriftstellern Alfred Andersch und Hans-Werner Richter herausgegeben wurde und dessen Ideen in der Gruppe 47 gründeten. Mit der Währungsreform gingen die meisten Zeitschriften und Magazine ein. Daneben gründeten sich in der Nachkriegszeit einzelne Zirkel, die sich um einen radikalen Neuanfang Deutschlands bemühten, und die sich andeutende Teilung des Landes mit großer Sorge betrachteten. Eine der wichtigsten Gesellschaften, in denen sich Wissenschaftler, Publizisten und Politiker aus beiden Einflussbereichen Deutschlands trafen, war die Gesellschaft Imshausen.77 Auf Einladung des Journalisten und Bruders von Adam v. Trott, Werner, trafen sich in den Jahren 1947/48 auf dem Landsitz der Familie Trott im nordhessischen Imshausen überlebende Sozialisten, Kommunisten, Adelige, Intellektuelle, Gewerkschaftler und Politiker. Dabei luden die beiden Brüder Trott, Werner und Heinrich sowie der Journalist Eugen Kogon Überlebende aller politischen Richtungen ein, wie Walter Dirks, Alfred Kantorowicz, Ernst Niekisch, Carl Spicker (Mitbegründer der Zentrumspartei), Walter Markov, Carlo Schmid, Carl Friedrich von Weizsäcker und Alfred Andersch. Dreimal kam man für mehrere Tage in Imshausen zusammen, um über die künftige Ausrichtung der deutschen Politik zu diskutieren und um die geistige Erneuerung Deutschlands zu ringen. Die letzte Sitzung im Mai 1948 endete mit einem Eklat: Die Positionen des Kalten Krieges hatten auch die Mitglieder der Gesellschaft erfasst, die sich nicht mehr auf eine gemeinsame Position einigen konnten.

Das Leben der Witwen und Nachkommen in den Nachkriegsjahren

Das »Odium des Landesverräters« wurde in den Nachkriegsjahren auf die Witwen des 20. Juli und ihre Familien übertragen, die statt Hilfe und Anerkennung zu bekommen, vielfach Unverständnis und Gehässigkeiten ausgesetzt waren. Verachtung schlug beispielsweise Erica v. Hagen nach ihrem Gefängnisaufenthalt in der Haftanstalt Köslin entgegen. Als sie von dort zurück auf das Hagensche Gut in Langen kam und den Kutscher begrüßen wollte, spielte sich eine bedrückende Szene ab: »Als der Kutscher mich erkannte, erschrak er, wendete sich ab, richtete den Blick zu Boden und ohne aufzusehen, machte er sich weiter mit der Forke beim Ausmisten des Stalls zu schaffen. Das traf mich sehr. Für ihn war ich die Frau des jungen Herrn Albrecht, der versucht hatte, den Führer zu ermorden.«78 In seinem Buch über die »Junge Generation des Widerstands« schildert Detlef Graf v. Schwerin eine typische Szene der Nachkriegszeit: »Die Atmosphäre unter den Deutschen war auch nach der Befreiung so feindselig gegenüber dem Widerstand, dass etwa die kirchliche Trauerfeier für Schwerin, an seinem ersten Todestag, als ein Gottesdienst für ›einen Gefallenen‹ bezeichnet werden musste.«79

Verständnis oder Zuspruch bekamen die oft jungen Witwen nur von politisch gleichgesinnten Verwandten und von nahen Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen ihrer Männer, die sich bisweilen finanziell um die Witwen kümmerten. Viele Familien waren indessen in Anhänger und Gegner des Dritten Reiches gespalten. Häufig mussten die Frauen ihre Trauer, Verzweiflung und ihre Erlebnisse nach dem Attentat für sich behalten, was sie erneut in ihrer näheren Umgebung isolierte. Aus der ablehnenden Haltung ihrer Mitmenschen heraus wird verständlich, dass viele Witwen auch in späteren Jahren nicht über ihr Erleben und ihre tief sitzenden Ängste und ihre Verzweiflung sprechen konnten. So beschrieb beispielsweise Uta v. Aretin in einem Interview, wie wenig sich ihre Mutter nach 1945 über das Vorgefallene äußern konnte: »Meine Mutter konnte überhaupt nicht reden. Sie arbeitete in Göttingen bei der Eheberatung und der Telefonseelsorge. Aber über jene Zeit konnte sie sich nicht mitteilen. (…) Sie stellte sich wohl immer wieder die Frage nach Schuld und Vergebung. Seltsam, dass jene, die das Äußerste im Kampf gegen Hitler gewagt hatten, sich ununterbrochen mit dem Problem von eigener Schuld und Sühne und Vergebung auseinandergesetzt haben, während die anderen, die nichts unternommen haben, die Schuld entweder nicht wahrgenommen oder fleißig verdrängt haben.«80

Die meisten Witwen teilten ihre Erlebnisse mit niemanden und bewahrten die Briefe als Zeugnisse einer tiefen und innig empfundenen Liebe im Angesicht des nahenden Todes auf. »Die Briefe treiben mir noch heute die Tränen in die Augen«, erzählt ein Enkel von Fritz-Dietlof Graf v. der Schulenburg.81 Es verwundert nicht, dass in dieser Seelenlage die Witwen auch mit ihren Kindern kaum über den Vater sprechen und damit den Söhnen und Töchtern, in der Verarbeitung ihrer eigenen traumatisierenden Erlebnisse, nur wenig Stütze sein konnten. Im Vordergrund stand zunächst, den eigenen Kindern eine gute und sinnvolle Erziehung zu geben, ein neues Zuhause aufzubauen und finanziell wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Denn in den Nachkriegsjahren lebten viele Widerstandsfamilien in finanziell bedrängten Verhältnissen, zumal wenn sie das Schicksal von Millionen Deutschen teilten und aus ihrer alten Heimat geflohen waren. »Meine Mutter erhielt erst 1953 eine Rente«, erinnert sich Uta v. Aretin, zuvor habe sie zahlreiche Bittgänge zu Behörden gemacht. »Ich weiß nicht, wie sie das alles ausgehalten hat, nachdem sie ihren Mann und ihren Sohn im Krieg verlor, selbst im Gefängnis saß, ihre beiden Töchter verschleppt worden waren und sie aus ihrer Heimat vertrieben war.«82

Bis Anfang der fünfziger Jahre erhielten die Witwen – je nachdem in welcher Zone sie wohnten – allenfalls eine geringe Überbrückungsrente. Am einfühlsamsten verhielt sich die Verwaltung in der französischen Zone, so dass die Witwe Stauffenbergs relativ früh eine angemessene Pension erhielt. In einer Reportage für die Süddeutsche Zeitung beschrieb die Journalistin Ursula v. Kardorff, wie schlecht viele Witwen in den Nachkriegsjahren versorgt waren. Im Sommer 1950 war Kardorff durch ganz Deutschland gereist, um verschiedene Witwen über ihre näheren Lebensumstände zu interviewen, für die sich bislang von offizieller Seite niemand interessierte.83 Danach kochte die Witwe Cäsar v. Hofackers in Tübingen für Studenten, um ihre fünf Kinder durchzubringen; die Witwe des christlichen Gewerkschaftlers Max Habermann schlug sich in Berlin mehr schlecht als recht mit einem Papiergeschäft durch; die Witwe des Rechtsanwalts Josef Wirmer machte eine Buchhandlung im Deutschen Bundestag in Bonn auf, die Witwe von Adam v. Trott arbeitete bis zu ihrem Studienbeginn bei dem ehemaligen Gefängnispfarrer Harald Poelchau.84 »Die ersten Jahre waren doch sehr hart. Nichts zu essen, kein Geld. Die rührende Kinderschwester, die immer noch bei uns war, die kriegte kein Gehalt. Und Wilhelm, der Älteste, kam dann als Knecht auf einen Hof und hat da gearbeitet, weil es noch keine Schule gab«,85 erinnerte sich Marianne Gräfin Schwerin v. Schwanenfeld an die unmittelbare Nachkriegszeit. Viele Frauen waren bei Verwandten untergekommen, da sie keine Miete zahlen konnten. Schlecht ging es auch den sechs Kindern von Hermann Maass, deren Mutter kurz nach der Hinrichtung des Vaters gestorben war. »Auch nach dem Krieg weigerten sich die Behörden, uns die Lebensversicherung unseres Vaters auszuzahlen«, erzählt Michael Maass.86

Charlotte Gräfin v. der Schulenburg fand bei einem Verwandten auf der Burg Hehlen Quartier, der ihr – obgleich sie sich nicht kannten – geschrieben hatte: »Liebe Cousine, habe gehört, dass es dir dreckig geht. Du kannst nach Hehlen kommen, die Engländer haben mein Haus freigegeben.«87 Finanziell hielt sich die Mutter von sechs Kindern mit einer geringen Überbrückungshilfe und dem Verkauf von Schmuckstücken auf dem Schwarzmarkt über Wasser. In den fünfziger Jahren arbeitete sie als Pädagogin in dem Reformgymnasium Birklehof. Nach ihrer Flucht im Mai 1946 bewirtschaftete Erica v. Hagen einen kleinen Pachthof eines Verwandten in Niedersachsen, der so wenig Geld einbrachte, dass sie als Vertreterin für Unterwäsche mit dem Fahrrad über Land fuhr, um sich und ihre beiden Kinder durchzubringen.88

Andere – wie beispielsweise Rosemarie Reichwein – wurden von den politischen Freunden ihres Mannes unterstützt. »Ich war durchaus abhängig von Hilfe. Und das muss ich heute deutlich sagen: Die Freunde meines Mannes haben mir über den Berg geholfen«,89 erzählte die damals 94-Jährige ihrem Biographen. An anderer Stelle ergänzt sie: »Ich musste sehr intensiv arbeiten, weil ich also meine Unterstützung, das heißt die Anerkennung der Pension meines Mannes und die Entschädigung für Schaden am Leben erst nach zehn Jahren bekam. Die Kriegerwitwen gingen vor. Es ging nach dem Alphabet. Und da waren einfach Kriegerwitwen schon eher versorgt als wir vom Widerstand.«90 Im November 1946 verließ Rosemarie Reichwein mit ihren vier Kindern Deutschland, um ihre Kenntnisse der Krankengymnastik aufzufrischen, Abstand von den Erlebnissen zu gewinnen und von der besseren Versorgungslage in Schweden für ihre vier Kinder zu profitieren. Die Kinder wurden dabei in Schweden verteilt. »Ein richtiges Familienleben fand nach dem Tod des Vaters zunächst nicht mehr statt«,91 erinnert sich Sabine Reichwein.