Die Entdeckung des Individuums - Richard van Dülmen - E-Book

Die Entdeckung des Individuums E-Book

Richard van Dülmen

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Beschreibung

Selbsterfahrung, Selbstreflexion und Selbstbestimmung sind zentrale Bezugspunkte für menschliches Denken und Handeln in der heutigen Zeit. Richard van Dülmen spürt der allmählichen Herausbildung dieses modernen Bewußtseins vom Menschen als Individuum nach – von der Reformation/Renaissance bis ins Zeitalter der Aufklärung. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Richard van Dülmen

Die Entdeckung des Individuums

1500–1800

FISCHER Digital

Inhalt

Europäische GeschichteFür Michael MitterauerEinleitungDie Entdeckung des Individuums im 16. JahrhundertDas Individuum im christlichen MittelalterReligiöser Individualismus und ReformationDie Ich-Entdeckung in der RenaissancePorträtkunst: Das Selbstbildnis im 16. JahrhundertBekenntnis und KontrolleSünde und BeichteGewissensbildung im ProtestantismusInquisition und gerichtliches VerhörErziehung und SchuleDisziplinierung und IndividualisierungDie Wissenschaft vom MenschenDie Entdeckung des MenschenDas Interesse am Menschen im 16. JahrhundertDie Entdeckung der individuellen Körperlichkeit: PhysiognomieDie Entdeckung der Seele: Anfänge der PsychologieVon der Wissenschaft des Menschen zur AnthropologieDie Inszenierung des SelbstDie AutobiographieDas TagebuchDer BriefwechselZum Prozeß der IndividualisierungVom Gemeinwohl zum EigennutzDie Auffassung von der EheDie bürgerliche KernfamilieIndividualisierung der LebensstileDie Entstehung des frühneuzeitlichen IndividualismusIndividuum und AufklärungSelbstdenken – Selbstbildung – SelbstbestimmungDas Individuum im Roman des 18. JahrhundertsDer Kampf um MenschenrechteSozialhistorische Hintergründe des frühmodernen IndividualismusAnhangAnmerkungenZeittafelAuswahlbibliographieAbbildungsnachweisNamenregister

Europäische Geschichte

 

Herausgegeben von Wolfgang Benz

 

Konzeption: Wolfgang Benz, Rebekka Habermas und Walter H. Pehle

 

Wissenschaftlicher Beirat:

 

Natalie Zemon Davis, Princeton/Toronto

Richard van Dülmen, Saarbrücken

Richard J. Evans, London

Bronisław Geremek, Warschau

Hermann Graml, München

Eric J. Hobsbawm, London

Lásló Kontler, Budapest

Arno J. Mayer, Princeton

Wilfried Nippel, Berlin

Jean-Claude Schmitt, Paris

Für Michael Mitterauer

Einleitung

Erst die moderne Gesellschaft hat sich die Idee der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung als Lebensziel zu eigen gemacht, und erst die moderne Gesellschaft ist – zumindest ihrem Selbstverständnis nach – bestrebt, die sozialen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen für das Erreichen dieses Zieles zu schaffen und zu garantieren.[1] Dennoch bildet die Erforschung des Prozesses, in dessen Verlauf sich die Thematisierung des individuellen Bewußtseins und der individuellen Selbstfindung etablierte, bisher noch keine zentrale Fragestellung innerhalb der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft. Wir wissen relativ viel über die allgemeinen Entstehungsbedingungen der modernen Welt, über die Ausbildung staatlicher Strukturen, die Ausweitung der Marktbeziehungen und die gesellschaftliche Differenzierung sozialer Gruppen. Doch wir wissen sehr wenig darüber, wie das ›moderne‹ Individuum sich herausbildete, wie die Individuen mit ihren persönlichen Zielen und Wünschen umgingen, wie sie eigene Wege zu finden versuchten und dabei womöglich aus den traditionellen Zusammenhängen ausbrachen.

 

Alle großen Theoretiker der Moderne haben in der Entdeckung des Individuums, in der Entstehung des Individualismus und im Prozeß der Individualisierung einen entscheidenden Grundzug der entstehenden Moderne gesehen, ohne daß es aber zu einer großen, empirisch abgesicherten Untersuchung mit eindeutigen Antworten gekommen wäre.[2] Die dem idealistischen Geist des 19. Jahrhunderts verpflichteten Analysen von Jakob Burckhardt und Wilhelm Dilthey blieben unhinterfragt bis in die Gegenwart gültig, als wären sie längst bewiesen. Jakob Burckhardt schrieb 1860: »Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.«[3] Diese Interpretation hat die europäische Sichtweise lange zumindest unterschwellig geprägt.

Wenn wir heute danach fragen, wann die Menschen anfingen, bewußt über sich nachzudenken, sich als Individuen zu definieren, die ihr Leben und sogar ihre Gesellschaft eigenständig nach ihren Maßstäben gestalten wollten, dann reicht der mehr oder weniger pauschale Hinweis auf die Renaissance, auf die großen bahnbrechenden Persönlichkeiten sowie auf die säkularisierende Kraft der Wissenschaft nicht mehr aus. Generell müssen fünf Problemzusammenhänge bedacht werden:

1. Wenngleich in der Renaissance die Selbstreflexion einen beachtenswerten Aufschwung erfahren hat, heißt dies nicht, daß es im Mittelalter keine Bemühungen um Selbstfindung gegeben hätte und das Ich in einem allgemeinen Universalismus untergegangen wäre. Ebensowenig handelt es sich beim Individuum der Renaissance um ein »bürgerliches« Individuum, wie dies das 19. Jahrhundert konstruierte. Eine ausgeprägte moderne Individualität im Sinne aufklärerischen, bürgerlichen Denkens hat es wohl kaum vor dem Ende des 18. Jahrhunderts gegeben.

2. Ansätze zur modernen Individualität können bereits in der europäischen intellektuellen Elite des 15./16. Jahrhunderts aufgedeckt werden. Diese Gruppe konnte sich besser artikulieren als andere Schichten, doch wäre es verfehlt, nur dieser männlichen Elite die Befähigung zur Selbstreflexion zuzusprechen. Angehörige des »einfachen« Volkes hinterließen ebenso Zeugnisse eigenständigen Denkens und Handelns wie Frauen, deren Bedeutung im Selbstfindungsprozeß der Neuzeit bisher kaum thematisiert worden ist.

3. Die moderne Vorstellung vom Individuum, vom »bürgerlichen« autonomen Subjekt, wird den Bedingungen des frühneuzeitlichen Europa nicht gerecht – unabhängig davon, daß es dieses Subjekt wohl kaum je gegeben hat. Es bleibt problematisch, unsere Vorstellung in die Vergangenheit zu projizieren, das Individuum außerhalb seines gesellschaftlichen Beziehungssystems zu thematisieren und Selbstzeugnisse isoliert zu betrachten.

4. So wenig, wie es einen unmittelbaren Zusammenhang gab zwischen der Entstehung moderner Individualität und dem Zerfall einer traditionellen Lebensordnung, so selten war eine Parallelität von individuellem Handeln und hoher Selbstreflexion gegeben. Es ist das Besondere der frühneuzeitlichen Entwicklung, daß diejenigen, die immer wieder über sich selbst nachdachten, intellektuell eigene Wege gingen und sich nicht von der Gesellschaft vereinnahmen ließen, sich dennoch nicht von der traditionellen Lebenswelt lösen wollten und konnten. Viele »Individualisten« der frühen Neuzeit konnten ihr Leben sogar nur in einer Welt von Konventionen und im Schutz der Tradition bewältigen.

5. Schließlich handelt es sich bei der »Entdeckung des Individuums« nicht um einen rein intellektuell-geistigen Akt; gerade an seinem Beginn war der Individualisierungsprozeß eingebunden in soziale Entwicklungen, politische Konstellationen und ökonomische Expansionen. Die Entdeckung des Selbst entfaltete eine soziale Dynamik, die bislang verkannt wurde; es ging nicht um die Durchsetzung einer einzelnen neuen Idee, sondern um die einer neuen Einstellung, die alle Bereiche des Alltagslebens berührte und sich auch auf die Lebenspraxis auswirkte.

Um dieser Problemstellung gerecht zu werden, müssen wir drei komplexe Charakteristika des Lebens in der frühen Neuzeit berücksichtigen und aufeinander beziehen:

Zunächst gilt es allgemein, die soziokulturelle Stellung des Individuums in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft als in mehr oder weniger feste Strukturen eingebettet zu betrachten. Die Stellung des einzelnen wurde im wesentlichen geprägt von klar strukturierten Haushaltspositionen, von geschlossenen Religionsgemeinschaften und traditionellen Lebensformen, die das soziale Leben des einfachen Volkes ebenso wie der gesellschaftlichen Elite zu sichern suchten. Das Leben vollzog sich für die meisten weitgehend nach vorgegebenen Normen, die niemand verletzen durfte, ohne die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu gefährden. Dennoch fehlte es keineswegs an individuellen Handlungsmöglichkeiten, doch kamen diese nur so weit zur Geltung, als das Gemeinwohl gesichert blieb. Zwar begann bereits im 16. Jahrhundert eine erste Erosion der gesellschaftlichen Strukturen, doch erst seit dem späten 18. Jahrhundert wurde die traditionelle Ordnung unwiderruflich erschüttert und der Weg frei für neue Formationen.

Zum anderen gilt es, in diesem sozial-kulturellen Umfeld das seit dem späten 16. Jahrhundert vermehrte Auftreten von Selbstzeugnissen, von Autobiographien, Tagebüchern und privaten Briefwechseln zu untersuchen und als Prozeß der Selbstversicherung eines entstehenden »Bürgertums« zu interpretieren, der freilich mit der sprunghaften Zunahme der Literalisierung der Gesellschaft zu tun hatte. Das Nachdenken über sich selbst, die eigene Ortsbestimmung, die wir nicht nur bei Männern oder in der Ober- und Mittelschicht beobachten, die Tatsache, daß die Kirchen und Obrigkeiten auf einem klaren und bewußten Selbstbekenntnis bestanden und dazu aufforderten, Rechenschaft abzulegen – diese Umstände zeugen nicht nur von einer Ausweitung der Privaträume, sondern gelten zugleich als Ausdruck beginnender Individualisierung, die im späten 18. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erlebte. Das beredte Nachdenken über sich selbst wird zum Signum der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Der Prozeß der Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung weitet sich aus zu einem allgemeinen Prozeß der Absicherung von Glaubensfreiheit und Menschenrechten.

Schließlich gilt es, die eigentliche Entstehung des modernen Individuums zu erklären, eines Individuums, das auf sich bezogen eigene Wege im Denken wie im Handeln gehen wollte, soweit es die Gesellschaft erlaubte, und das den Prozeß der Individualisierung des gesellschaftlichen Lebens auslöste. Wir begegnen den ersten Spuren in der Lebenswelt des städtischen Bürgertums im 16. Jahrhundert, aber auch in anderen sozialen Schichten begann man, über die eigene Befindlichkeit und Stellung nachzudenken und neue Handlungsmöglichkeiten zu entwerfen, die über den traditionellen gesellschaftlichen Rahmen hinausgingen. Die vor allem im 17. Jahrhundert verstärkte Integration des einzelnen Individuums in kirchliche Verbände und staatliche Institutionen hinderte diesen Prozeß nicht, im Gegenteil, die »Disziplinierung« konditionierte die Entwicklung individuellen Handelns und Denkens, das schließlich zum Gebot der aufklärerischen Gesellschaft wurde.

Der vorliegende Essay hat zwar das Ganze unserer Fragestellung im Auge, muß sich aber in der konkreten Ausführung auf einige zentrale Problemstränge beschränken. Dies ergibt sich vor allem aus der allgemeinen Forschungslage. Es gibt zwar kaum SoziologInnen, PhilosophInnen und HistorikerInnen, die nicht auf die Bedeutung der Entdeckung des modernen Individuums eingehen und sich mehr oder weniger überzeugend über die Entstehung der modernen Individualität und den Prozeß der Individualisierung äußern, aber eine geschlossene Darstellung oder größere Untersuchung fehlt sowohl in Deutschland wie in England und Frankreich. Am besten untersucht sind die zahlreichen Autobiographien, die allgemein als Zeugnisse subjektiver Befindlichkeiten und subjektiven Bewußtseins gelten. Ein zweites generelles Problem der Darstellung schließt sich an. Obwohl die Entdeckung des »modernen« Individuums im Kontext des Prozesses der Selbstfindung und Selbsterkenntnis ein gesamteuropäisches Phänomen darstellte, zumindest für ganz Europa von Bedeutung wurde, können die verschiedenen nationalen und regionalen Entwicklungen nicht gleicherweise Berücksichtigung finden. Im Vordergrund stehen die Befindlichkeiten, Bewegungen und Prozesse vor allem in Deutschland, England und Frankreich. Schließlich bleibt noch ein Verweis auf die Problematik der begrifflichen Präzision. Denn eine allgemein verbindliche Definition des »Individuums« gibt es in der frühen Neuzeit nicht, und es bleibt, wie gesagt, fragwürdig, von modernen Begriffen des Individuums und der Individualität auszugehen.[4] Verabschieden müssen wir uns jedenfalls von der Vorstellung, das »moderne« Individuum entstünde erst mit der bürgerlichen Gesellschaft. »Individualistisches« Verhalten gab es in der frühen Neuzeit ebenso wie umgekehrt traditionalistisches Verhalten noch die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert prägte. Die Übergänge sind nicht einfach zu erkennen. Was Individuum heißt, bestimmt sich aus dem Lebens- und Handlungskontext eines einzelnen Menschen im Wandel der Zeit. Weil zudem die Entwicklung der modernen Individualität im Zusammenhang zunehmender Privatisierung, Säkularisierung und Zivilisierung sich entfaltet hat, sind diese Prozesse schwer voneinander zu trennen. Im Vordergrund der Untersuchung stehen die Ich-Entdeckung, ihre Entfaltung im gesellschaftlichen Prozeß und die Entwicklung individueller Denk- und Handlungsräume. Eine starke Konzentration auf die intellektuelle Elite ergibt sich aus der Quellenlage, allein sie hat uns unmittelbare Zeugnisse von sich hinterlassen.

 

Saarbrücken, Sommer 1996

Die Entdeckung des Individuums im 16. Jahrhundert

Lange hatte man mit Jakob Burckhardt – für das 19. Jahrhundert durchaus überzeugend – die Entdeckung des Individuums als Produkt der italienischen Renaissance gesehen. Doch bereits vor dem 1. Weltkrieg hatte Ernst Troeltsch diese These zurückgewiesen. Er schrieb 1913: »Der Geist der Renaissance ist […] mit dem Ausdruck ›Entdeckung des modernen Individualismus‹ für den Gesamtumfang der Bewegung nicht richtig und für den hierbei gemeinten Höhepunkt, die Hochrenaissance, nicht erschöpfend. Denn einerseits ist dieser Individualismus bereits von der Spätantike und dem Christentum her dem europäischen Leben eingeflößt und ist er gerade in den Vorstufen der Renaissance, den mystischreformatorischen Bewegungen und Umwälzungen des Spätmittelalters, in einer Mischung augustinischer, neuplatonischer, sektenhafter und politisch-sozialer Motive bereits außerordentlich stark ausgeprägt. Andererseits hat der spezifisch moderne Individualismus mit seiner rationalistischen und ethischen Autonomie, seinem Naturrecht und Konkurrenzprinzip ganz andere Voraussetzungen und Ziele der Schaffung eines geschlossenen rationellen und organisierten Kulturganzen.«[5] In der Tat wird heute der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit nicht mehr als scharfe Zäsur gesehen, ebensowenig wie überhaupt die Geburt der Moderne in die Renaissance zurückdatiert. Zum anderen gab es im Mittelalter bereits zahlreiche Zeugnisse der Selbstreflexion.[6] Augustinus’ »Confessiones« hatten starke Spuren hinterlassen. Schließlich war der Personenkult der Renaissance durchaus kein Ausdruck moderner Individualität.

Mit der Relativierung der These Burckhardts wird die Beobachtung allerdings nicht hinfällig, daß die »Entdeckung« des Individuums und des individuellen Lebens ein großes Thema des 16. Jahrhunderts, des Zeitalters der Renaissance und der Reformation war. Aus keiner frühen Zeit sind derart viele Selbstzeugnisse und Autobiographien bekannt wie aus dem 16. Jahrhundert. Zugleich ist eine Vielzahl von Personen zu benennen, die ein mehr oder weniger individuell greifbares und beschreibbares Leben führten. Sicher hat alles mit der Zunahme von Schriftlichkeit zu tun, aber Schriftlichkeit wird zum Zeichen individueller Aussagekraft. Die Einmaligkeit des Selbst wird erstmals von Theologen und Philosophen anerkannt und subjektiv beschrieben. Die meisten Menschen verstanden sich zwar noch lange vorrangig als Christen oder als Mitglieder einer Familie oder eines Standes, doch mehrten sich die Bemühungen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Selbstzeugnisse, aber auch Registrierungen kirchlicher und obrigkeitlicher Instanzen, lassen erstmals individuelles Handeln und Denken sichtbar werden.

Das Individuum im christlichen Mittelalter

»Nichtchristliche« und »christliche« Traditionen lassen sich im Mittelalter nur schwer voneinander trennen, und das Christentum hat sich vom Frühmittelalter bis zum Spätmittelalter zu sehr geändert, als daß man von einem einheitlichen Christentum reden könnte; dennoch bildet »das« Christentum einen allgemeinen Rahmen der mittelalterlichen Gesellschaft. Es war eine starke Kraft, die die Einmaligkeit und Individualität des Menschen in den Vordergrund stellte und zugleich bestrebt war, die einzelnen Christen in Gemeinden zusammenzufassen und die kirchliche Hierarchie zu festigen. Das Christentum hat von Anfang an den Einzelnen angesprochen – Hörige und Unterdrückte ebenso wie Herrschende und Adlige, losgelöst aus den bestehenden Familienverbänden und Herrschaftsverbänden, in die sie integriert waren –, indem es das persönliche Heil thematisierte. Christus ist nach der christlichen Theologie für jeden Einzelnen gestorben. Und jeder Einzelne kann sich im Prinzip – trotz der Mittlerposition der Priester – unmittelbar an Gott wenden. Wenngleich durch die Verkirchlichung, die bereits im Spätmittelalter einen Höhepunkt erreichte, viele subjektive Elemente und Formen unterdrückt oder ausgegrenzt wurden – immerhin hatte sich im Christentum eine Herrschaftskirche mit rigider Trennung von Geistlichkeit und Laien herausgebildet –, erzwang das verkündete Christentum von jedem Gläubigen eine mehr oder weniger individuelle Entscheidung: Er sollte sich für die Kirche und ihre Heilsangebote, ihre Lehre und Riten entscheiden. Es ging nicht nur darum, die Obrigkeiten zu gewinnen, sondern die Kirche bemühte sich um jeden Einzelnen, ohne jemanden aufgrund von Geschlecht, Stand oder Herkunft auszuschließen. Die Kirche dachte und handelte universalistisch. Diese Ambivalenz, jedem Einzelnen das Heil und den Glauben vorzuschreiben, neben sich nichts zu dulden, zugleich aber die Seele des Einzelnen zu gewinnen und ihm Freiräume zuzugestehen, kennzeichnet das Christentum bis weit in die Neuzeit hinein.[7]

Welche Bedeutung dabei das Christentum für eine erste Individualisierung des Menschen besaß, läßt sich an fünf Komplexen zeigen:

1. Jeder Einzelne mußte sich in seinem Leben bewußt zumindest äußerlich als Christ erweisen, um das ewige Heil zu erlangen. Die klare Alternative von dem erstrebten Himmel als Heilsziel und der grausamen Hölle machte die Entscheidung leicht; wer wollte schon sein Heil verwirken? Aber was der Einzelne dachte und empfand, entzog sich dem Urteil und der Kontrolle der Kirche, unabhängig davon, daß sich die Kirche lange auch wenig darum kümmerte.

2. Dazu, daß die Entscheidung für die Kirche und ihre Lehre auch innerlich angenommen wurde und zu einer Umwandlung des Menschen führte, trug die Lehre von der Sündhaftigkeit des Menschen bei; Sündhaftigkeit bemaß sich nicht nur an der äußeren Befolgung der Gebote der Kirche und Gottes, sondern auch an dem Grad der inneren Annahme der christlichen Botschaft; zum anderen waren Schuld und Sühne immer an eine Einzelperson gebunden. Wenngleich Christus für alle mit seinem Tod die Schuld der kollektiven Erbsünde auf sich genommen hatte, war der Christ nicht der Pflicht enthoben, seine persönliche Schuld einzugestehen und sie zu sühnen. Die Erbsündenlehre führte zu keiner fatalistischen Prädestinationslehre, die die willentliche Entscheidung für Gut und Böse ausgeschlossen hätte. Wie individuell man Gottes Urteil und Strafe erwartete, zeigt sich an der Lehre des Fegefeuers. Es bedurfte persönlicher Anstrengung, um den höllischen Strafen zu entgehen, und daß dies möglich war, wurde an der Vielzahl von Heiligen demonstriert. Überdies bot die Kirche zahlreiche Hilfsmittel zur Erlangung des Heils.

3. Jeder Mensch erhielt in der Taufe einen individuellen Namen, womit die Kirche den einzelnen Menschen als Geschöpf Gottes würdigte. Wenngleich – wie die praktische Namengebung zeigt – mit dem Namen des Einzelnen bis in die Neuzeit hinein Familieninteressen verfolgt wurden, meist um den Träger als Mitglied der Familie auszuweisen, deren Tradition er weitergeben sollte, war er doch durch den christlichen Namen zugleich Mitglied einer universalen Kirche. Getauft wurden alle, unabhängig von Geschlecht und Stand, also auch Frauen und Hörige.

4. Der individuellen Position und potentiellen Ausgliederung aus den Familienverbänden diente die Durchsetzung einer kirchlichen Eheschließung, wenngleich sich die Trauung als verpflichtender Ritus erst spät durchsetzte; vor allem stärkte das kanonische Recht die Rechte der Frauen. Die Gültigkeit der Eheschließung war nicht nur von der Zustimmung der Familie, d.h. der Väter, abhängig, sondern von der ausdrücklichen Einwilligung der Partner. Damit konnten die Väter (vor allem für die Töchter) nicht mehr allein bestimmen; die Ehe war so nicht nur Instrument zur Erweiterung des Familienbesitzes, die Frau nicht nur ein Objekt der Heiratspolitik, sondern ansatzweise entstand hier eine Gemeinschaft gleicher und individueller Partner.

5. Jeder Mann und jede Frau besaß im Christentum die Möglichkeit, die Familien- und sogar Ehebande aufzukündigen, wenn der Wunsch nach persönlicher Heiligkeit so stark wurde, daß sie sich in ein Kloster zurückziehen wollten. Sicherlich waren die mittelalterlichen Klöster weitgehend Versorgungsanstalten, zugleich aber waren sie Stätten, in denen ein selbstbestimmtes religiöses Leben auch für Frauen möglich war. Gott wohlgefällig werden die Menschen nicht allein durch äußere Anpassung an kirchliche Gebote, sondern Einkehr, Besinnung und Selbsterkenntnis werden Maximen des Lebens spätmittelalterlicher Mönche und Nonnen. Tauler schrieb: »Wer ein Ding tief erkennen will, wendet alle seine Sinne darauf und faßt sie alle in der Seele zusammen, aus der sie entsprossen sind; so wie alle Zweige eines Baumes aus dem Stamm herausgehen, so werden alle Kräfte der Seele, die der Sinne, des Gefühls, des Entschlusses in dem höchsten zusammengefaßt, in den Seelengrund, und dies ist die Einkehr.«[8]

Jedenfalls gab das mittelalterliche Christentum durchaus Anstöße, den Menschen in seiner Individualität zu stärken, ja es kam sogar zu einem starken religiösen Individualismus, an dem Männer und Frauen partizipierten. Er führte konsequent in die Reformationszeit.

Religiöser Individualismus und Reformation

Während der Reformation radikalisierte sich der christliche Individualismus beträchtlich. Besonders deutlich artikulierte er sich in den Dissidentengruppen[9], in denen er eine größere Rolle spielte als im späteren »orthodoxen« Protestantismus.

Die Reformation brachte, in allen Varianten und in ganz Europa, eine Absage an die alte Autorität der Papstkirche. Das Heil des Einzelnen ist nicht mehr abhängig von der Mittlerschaft der Priester und der Sakramente, sondern jeder Mensch steht in einem »unmittelbaren« Verhältnis zu Gott und kann direkt der Gnade teilhaftig werden. Dies impliziert zwar nicht die Auflösung der Kirchengemeinde, aber es bedeutet, daß die Autorität der Geistlichkeit, die die Bibel und die kirchliche Tradition interpretiert, relativiert wird. Jeder steht für sich selbst vor Gott, soll und kann sich die Hl. Schrift selbst aneignen und die schriftgetreue Wahrheit der kirchlichen Lehre überprüfen, auch selbst Trost finden, denn schließlich ist jeder nur Gott und seinem Gewissen verantwortlich. Zwar wird mit der Etablierung der protestantischen Kirche durch die neue Unterordnung unter ihre Orthodoxie vieles wieder zurückgenommen. Doch die Idee der Eigenverantwortlichkeit, die Idee der Gewissensfreiheit und der Selbstkontrolle bleiben Prinzipien der religiösen Bewegung, die in ungewöhnlich kurzer Zeit weite Teile Europas erfaßt hat. Sie artikulieren sich auf unterschiedliche Weise und sind etwa im westlichen Calvinismus ausgeprägter als im mitteleuropäischen Luthertum, begünstigen aber alle, wenn auch unterschiedliche, Formen eines religiösen Individualismus.

Zugleich bedeutete die Reformation für ihre vielen Anhänger einen ihre eigene Lebenswelt betreffenden Bruch mit der Tradition. Zwar wurden später viele durch die Entscheidung ihrer Obrigkeiten ungefragt zu Protestanten gemacht, doch für die ersten Bekenner implizierte in den Anfangsjahren der Reformation die neue Lehre eine bewußte und willentliche Abkehr von der alten Kirche, die nicht selten mit materiellen oder kulturellen Verlusten erkauft werden mußte. Vor allem betraf dies die Kleriker und Prediger, aber auch Handwerker und Humanisten, wobei die subjektiven Interessen unterschiedlich waren und die Entscheidung mal mehr, mal weniger dezidiert ausfiel. Aber alle frühen Bekenner, Geistliche wie Laien, Bauern wie Bürger und Adlige, fühlten sich von der Reformation persönlich angesprochen und bekannten sich öffentlich und eindeutig zur neuen Lehre, was selbst Eingriffe in ihr Privatleben nicht ausschloß. Denn das häusliche Leben wurde in dem Maße neu strukturiert, in dem es einer neuen Art von Verchristlichung und christlicher Kontrolle unterworfen wurde. Zwar änderte dies nichts am Verhältnis zu den öffentlichen Autoritäten, aber die Unterordnung wurde nun sowohl verinnerlicht als auch bewußt reflektiert. Die Diskussion um die sozialen Unruhen während der Reformationszeit hinterließ in allen europäischen Gesellschaften Spuren. Der religiöse Entscheidungsdruck für den einzelnen und die neue Botschaft der Eigenverantwortlichkeit stärkten die Stellung des Individuums vor allem in der Familie, wenn auch selbstverständlich im Rahmen der christlich patriarchalischen Ordnung, in der der Hausvater für das Seelenheil der Familienmitglieder verantwortlich war.

 

Paradigmatisch läßt sich der neue religiöse Individualismus an Martin Luther (1483–1546) selbst aufzeigen. Im Unterschied zu anderen – auch zu anderen Reformatoren – lebte Luther ungewöhnlich selbstbestimmt, ohne dabei rigoros mit der Tradition und der weltlichen Obrigkeit zu brechen, auch innerlich nicht.[10] Seine andauernde Selbstreflexion steht im Zusammenhang mit seinem Selbstverständnis als eines Werkzeuges und Sprachrohres Gottes, dessen er sich stets vergewissern mußte, und mit seinem Bewußtsein von der Sündhaftigkeit und Unvollkommenheit, auch seiner eigenen. Seine Theologie reflektierte eigene Erfahrungen, wobei die Einsicht in die Brüchigkeit des Menschen groß war. Luther brach nicht nur mit der katholischen Kirchenlehre, sondern ging bereits früh einen selbstbestimmten Weg. Er studierte nicht das, was der Vater wünschte, sondern wurde bewußt Kleriker, brach dann nach langen inneren Anfechtungen mit seinen Gelübden, heiratete sogar und gründete eine Familie, die für ihn von großer Bedeutung war. Nichts verdeutlicht die neue Verantwortlichkeit seines Handelns mehr, als sein Auftreten auf dem Reichstag in Worms. Anstatt des erwarteten Widerrufs erklärte er öffentlich vor Reich und Kaiser: »Wenn ich nicht durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder durch vernünftige Gründe überwunden werde […] so halte ich mich überwunden durch die Schrift, auf die ich mich gestützt habe, so ist mein Gewissen in Gottes Wort gefangen. Darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist. Gott helfe mir. Amen.«[11] Luther war sich der Konsequenz seiner Worte bewußt. Gegen die alte Autorität stellte er unwiderruflich das eigene Gewissen.

Am konsequentesten war der religiöse Individualismus der Reformationszeit in den Dissidentenkreisen der Täufer und Spiritualisten ausgeprägt, nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht.[12] Viele starben für die Glaubensüberzeugung den Märtyrertod. Sie emanzipierten sich nicht nur von der institutionalisierten Kirche, sondern von jeder klerikalen Mittlerfunktion. Sie begründeten ihre Lebensregeln entweder mit dem wörtlichen Gebot der Hl. Schrift oder mit dem Geist der Offenbarung, der unmittelbar zu ihnen sprach. »Nachdem sich der Mensch nun inwendig und im Glauben in ein neues Leben ergeben hat, bezeugt er das auch äußerlich, öffentlich vor der christlichen Kirche, in deren Gemeinschaft er sich verzeichnen und einschreiben läßt nach der Ordnung und Einsetzung Christi.«[13] Was die Religion betraf, erklärten sie sich für unabhängig von jedem klerikalen Lehrmonopol; jeder Christ war ein gleichberechtigtes Mitglied seiner Gemeinde und mußte in Eigenverantwortung gottgemäß leben. Die erneuerte Taufe schloß ein bewußtes Bekenntnis zu Christus ein. Zwar kehrten später hierarchische Muster zurück, aber die freikirchlichen Elemente sicherten den religiösen Individualismus, der für das weltliche Leben weitreichende Konsequenzen hatte.

Luther vor Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms 1521.

Einmal lehnten die radikalen Christen ihre Solidarität mit einer weltlichen Gemeinde ab, was zu ihrer teilweisen Vernichtung führte. Zum anderen mußten sie ihr »privates« Leben so nach christlichen Regeln gestalten, daß in vielen Fällen sogar eine Trennung vom ehelichen Partner erfolgte, wenn dieser nicht den neuen Glauben teilte. Sicherlich handelte es sich bei diesen Gruppen um eine kleine Schicht, aber diese selbstbestimmten Christen wollte die christliche Gesellschaft nicht tolerieren. Ihr religiöses Leben konnte nur eine Autorität akzeptieren, die ihr radikal christliches Leben sicherte. Die permanente Berufung auf ihr Gewissen stärkte ihr Selbstbewußtsein. »Wann mich yetzund ein oberkeit wölte zwingen, dise artickel oder ettwas anders wider myn gewissen ze glouben und zu bekennen, so sol ich fry sagen: ich muss hierjnn gott mer gehorsamen, dann dem menschen. Gott hat mir hierjnn ein andern verstand geben«, bekannte der Pfarrer Anton Engelbrecht 1533 in Straßburg.[14]

So unterschiedliche Wege die Täufer gingen, so erfolgte der Schritt ins Täufertum doch überall freiwillig und aus Überzeugung. Leider besitzen wir nur wenige Selbstzeugnisse aus ihren Kreisen, eines der interessantesten Dokumente stammt von Menno Simons. Er hatte nach der Katastrophe von Münster 1535 das verstreute und aufgeschreckte Täufertum Norddeutschlands und der Niederlande um sich gesammelt und ihm eine Gläubigkeit vermittelt, die allen Widerwärtigkeiten bis heute standhält. In seiner Bekehrungsgeschichte (Ausgang aus dem Papsttum von 1554) wehrte er sich gegen den Verdacht, Anhänger der Münsteraner Täufer zu sein. Sein Weg ins Täufertum – so verteidigte er sich – erfolgte nicht durch äußere Anstöße, sondern durch eigene Lektüre und eigenes Nachdenken. Nach einem zweijährigen katholischen Priesteramt (1526) hatte er ernste Zweifel an der katholischen Messe bekommen, die sich nicht legten, obwohl er häufig beichtete, seufzte und betete. Er lebte weiter sehr weltlich und hatte keine »eigene Meinung«. Erst als er sich entschloß, das Neue Testament zu lesen, erkannte er den kirchlichen Betrug. Sein »Gewissen« begann ihn von seinem Kummer zu befreien. Aber er traute seinem »Verstand« noch nicht, sondern suchte Rat bei den Reformatoren Luther, Bucer und Bullinger. Als er durch das »viele Lesen und Nachdenken« vom Hl. Geist erleuchtet wurde und vom Leben der Täufer hörte, begann er, sich ihnen anzuschließen und, nach dem Fall von Münster, sie um sich zu sammeln. In diesem Bemühen hatte ihm Gott ein »neues Gemüt« gegeben und ihn »zu einem Stück selbst kennen gelehrt«[15]. Zu einem »neuen Sinn bekehrt« war er sowohl durch sein eigenes Streben wie durch Gottes Kraft.

Noch konsequenter als die Täufer vertraten die »Spiritualisten« einen religiösen Subjektivismus, der alle Kirchlichkeit abstreifte und jeden ausschließlich auf das eigene Gewissen verwies. Der Laie und Edelmann Caspar von Schwenckfeld forderte, das innerste Gewissen zu erforschen und Denken und Handeln danach auszurichten. »›Ein lauter Gewissen ist besser als alle Kunst‹, heißt summa summarum, daß man überall mehr nach Gewissen als nach menschlicher Kunst handeln und selig leben soll, und stets dies vor Augen haben: Was du willst, das tu einem andern auch, und was du verziehen haben willst, das sollst du einem andern auch verzeihen, damit die wahre Liebe und das Wissen Gottes überall die Oberhand behalten in unsern Herzen.«[16]

Völlig in Frage stellte Sebastian Franck nicht nur die alte, sondern auch die reformierten Kirchen. Er propagierte eine unsichtbare geistliche Kirche, die alle »in Einigkeit des Geistes und Glaubens versammelt, unter allen Völkern, und allein durch das ewig unsichtbar Wort von Gott, ohne ein äußerlich Mittel regiert«[17]. Konsequenterweise gab er sein kirchliches Amt auf und lebte als freier Schriftsteller, zeitweise mittels einer Seifensiederei und Druckerei. Er definierte sich als einen Unparteiischen, Ungefangenen, der in keines Menschen Wort geschworen ist »denn (in) Christi, meines Gottes und Mittlers, in des Gehorsam ich meine Vernunft allein gefangen nehme«[18]. Man müsse ihn »wohl tragen in meinen Irrtumen als ich einen jeden, sonderlich wenn er mich neben sich frei glauben läßt und bleiben läßt und mich nit gefangen nimmt«[19]. Wie wenig die Gesellschaft seine Forderung nach Glaubensfreiheit akzeptieren konnte und wollte, hat Franck allzuoft konkret erfahren und erleiden müssen.

Zweifellos waren die radikalen Christen der Reformationszeit ausgeprägte Persönlichkeiten, die nicht mehr nach traditionellen Vorgaben lebten und dachten, sondern nach ihrer Überzeugung und Einsicht handelten. Selbsterkenntnis, Selbstkontrolle und Selbstanalyse waren Bestandteil ihrer Religiosität. Ihre Lebensweise war allerdings ausschließlich von jenseitigen Vorstellungen geleitet. Nicht aus sich bezogen sie ihre Identität, sondern aus ihrer Nähe zu Gott.

Die Ich-Entdeckung in der Renaissance

Im Unterschied zur Konzentration auf den Einzelmenschen in der Reformation, die radikal religiös – auf Gott orientiert – blieb, war das Interesse in der Renaissance am Menschen wie an der eigenen Person deutlich profan, wenngleich die Renaissance eine religiöse Dimension aufwies, wie umgekehrt die Reformation sich weltlichen Interessen nicht verschloß. Das profane Bekenntnis zeigt sich in den verschiedensten Bereichen, im Interesse an der Biographie, in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Menschen, seinem Körper und seinem Charakter sowie nicht zuletzt in der Kunst, wo das Porträt in den Vordergrund tritt. In allen diesen Interessenbereichen wird zudem die akademisch-gelehrte Reflexion zusehends zurückgedrängt durch eigene Beobachtungen und Erfahrungen.[20] Am deutlichsten wird dieser »selbstbezogene« Charakter der Renaissance aber in den vielen literarischen Selbstporträts und Selbstreflexionen. Die Zahl von Selbstzeugnissen ist im 16