Religion und Gesellschaft - Richard van Dülmen - E-Book

Religion und Gesellschaft E-Book

Richard van Dülmen

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Richard van Dülmen untersucht die gesamte Spannbreite der sozialen, politischen und kulturellen Dimension von Religiosität. Sein Interesse gilt der Volksreligion, die jenseits kirchlicher Institutionen und religiöser Dogmen und Lehren die gesellschaftliche Wirklichkeit der Menschen prägte, der reichen religiösen Kultur, ihren Riten und Symbolen. In exemplarischen Untersuchungen, die von der sozialreligiösen Täuferbewegung über die Volksfrömmigkeit des 17. Jahrhunderts bis zum Katholizismus im ersten Weltkrieg reichen, entwirft van Dülmen ein ebenso spannendes wie lehrreiches Panorama der religiösen Lebensformen vergangener Gesellschaften. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 443

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Richard van Dülmen

Religion und Gesellschaft

Beiträge zu einer Religionsgeschichte der Neuzeit

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Alexander [...]Vorwort1. Reformation und NeuzeitI.II.III.2. Das Täufertum als sozialreligiöse BewegungI.II.III.IV.3. Volksfrömmigkeit und konfessionelles Christentum im 16. und 17. JahrhundertI.II.III.IV.V.VI.4. Reformationsutopie und Sozietätsprojekte bei Johann Valentin AndreaeI.II.III.IV.5. Die Gesellschaft Jesu und der bayerische SpäthumanismusI.II.III.IV.V.VI.VII.6. Phasen der Aufklärung im katholischen BayernI.II.III.7. Antijesuitismus und katholische Aufklärung in Deutschland8. Der deutsche Katholizismus und der erste WeltkriegI.II.III.IV.V.VI.9. Entzauberung der Welt: Christentum, Aufklärung und MagieI.II.10. Religionsgeschichte in der historischen SozialforschungI.IIIII

Für Alexander

Vorwort

»Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände. Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen.«

M.Weber

Bis vor kurzem waren Fragen nach der Rolle der Religion im öffentlichen Leben, insbesondere Fragen nach der religiösen Alltagskultur und dem religiösen Bewußtsein einer Gruppe oder einer Zeit kein besonderes Thema historischer Forschung und Geschichtsschreibung. Die Geschichtswissenschaft beschränkte sich im allgemeinen darauf, Religion, Religiosität im Rahmen der Beschäftigung mit dem Mittelalter, der Reformation und der Säkularisierung zu behandeln, ansonsten verwies man auf die Kirchengeschichte bzw. Religionsphänomenologie, als deren Aufgabe es galt, sich besonders der Geschichte, den historischen Formen von Religion und Religiosität zu widmen. Daß man sich mit dieser Ausklammerung den Blick auch für eine umfassende Analyse moderner Gesellschaften verstellte, wurde spätestens im Zusammenhang mit der Entstehung neuer religiöser Ausdrucksformen im eigenen Land und der Revitalisierung des Islams deutlich, die unser Selbstverständnis als aufklärerische Europäer trafen. Zwar kann man auch in der historischen Forschung der Gegenwart, die sich kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen öffnet, eine Sensibilisierung für religiöse und religionsgeschichtliche Problemstellungen beobachten, aber eine systematische Berücksichtigung der religiösen Dimension des Lebens bzw. des religiösen Faktors der sozialen Wirklichkeit, vor allem Fragen nach der Rolle von Religion in Alltag, Gesellschaft und Staat finden sich selbst in modernen Zivilisations- und Gesellschaftsgeschichten deshalb doch kaum, jedenfalls wenn diese die Neuzeit betreffen.

Das Fehlen einer religionsgeschichtlichen Fragestellung innerhalb der neueren Geschichtswissenschaft hat seinen Grund aber nicht nur in einem intellektuellen Desinteresse an einem Phänomen, das angeblich mit der Entstehung der modernen Welt keine soziale, d.h. historische Rolle mehr spielen dürfte, sondern auch in der Schwierigkeit, Religion und Religiosität jenseits konfessioneller und institutioneller Schranken, d.h. über die Eingrenzung auf Christentum und Kirche hinaus, zu beschreiben und zu analysieren. Es fehlt ein operationabeler Begriff von Religion. Solange freilich eine Religionsforschung mit einem kirchlich fixierten Begriff operiert, vermindern sich zwar die Schwierigkeiten. Dafür werden aber viele Probleme und Phänomene nicht erfaßt, die selbst für die europäische Geschichte nicht ohne Belang sind, so alle nicht spezifisch christlichen Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken. Ebenso problematisch ist es, sich an der letztlich ahistorisch verfahrenden Religionsphänomenologie zu orientieren, die Religion als »Erfahrung des Heiligen« oder als »erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit«, also als ein metaphysisch gleiches Phänomen begreift, womit gerade das ausgeblendet wird, worauf es einer historischen Religionsforschung im wesentlichen ankommt: Religion als ein soziales Phänomen zu erfassen, das in sozialem Handeln von Menschen, Gruppen und Gesellschaften gegründet ist und einem Wandel unterliegt. Die meisten religionshistorischen Definitionsversuche sind entweder so unterschiedlich, daß sie sich gegenseitig aufheben, oder so allgemein und formal, daß sie sich für eine Erforschung konkreter religiöser Institutionen, Verhaltensweisen und Symbolsysteme in der Geschichte als unzureichend zeigen. Am hilfreichsten erweist sich unter den neueren Definitionsversuchen allein die von Luckmann gegebene Bestimmung von Religion als ein »sozial geformtes, mehr oder minder verfestigtes, mehr oder weniger obligates Symbolsystem […] das Weltorientierung, Legitimierung natürlicher und gesellschaftlicher Ordnungen und den Einzelnen transzendierende Sinngebungen mit praktischen Anleitungen zur Lebensführung und biographischen Verpflichtungen« verbindet. Die Definition ist ohne weiteres universell, d.h. für alte und neue, christliche und nicht christliche Religionen anwendbar, da sie sich nicht an äußeren Merkmalen wie bestimmten Riten, Glaubensinhalten, Institutionen orientiert, und auch nicht nur formale Kriterien angibt, die ausschließlich über Bewußtseinsinhalte etwas aussagen. Wenn wir die Aufgaben einer historischen Religionsforschung darin sehen, den historisch-sozialen ›Sinn‹ von Religion, religiöser Lehre und religiöser Symbolik zu erkunden, ihre Funktionen in der Gesellschaft zu untersuchen wie umgekehrt danach zu fragen, welche Rolle ihnen in der Geschichte, in historischen und sozialen Prozessen zukommt, so bietet noch immer das Lebenswerk Max Webers entscheidende Anknüpfungspunkte. In seiner ›Gesellschaftsgeschichte‹ kommt der Religion, religiöser Formation und dem religiösen Bewußtsein eine ›Geschichte‹ besonders mitgestaltende Kraft zu, die sich bis ins Alltagsverhalten erstreckt.

Auf diese Problemstellung einer historischen Religionsforschung im allgemeinen erneut hinzuweisen, setzt sich diese Aufsatzsammlung zur Hauptaufgabe. Im wesentlichen kreist sie um drei größere Themenkomplexe, die den Verfasser allesamt seit seiner Studienzeit, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, konstant beschäftigt haben: Einmal galt das Interesse lange vergessenen religiösen Außenseitern, die in Opposition zu ihrer Gesellschaft aus christlichem Bewußtsein die Welt neu gestalten wollten. An ihre christlich-sozialen Utopien als Antwort auf Krisen der Gesellschaft sollte erinnert werden. Dann konzentrierten sich die Forschungen auf Probleme der gesellschaftlichen Gebundenheit von Religion wie umgekehrt auf die Rolle von religiösem Denken und Handeln im gesellschaftlichen Prozeß vor allem im Zusammenhang mit der Entstehung der neuzeitlichen Gesellschaft. Schließlich galt das Interesse der Rekonstruktion der praktischen Religiosität, wie sie jenseits kirchlicher Institutionen und religiöser Ideen und Lehren die gesellschaftliche Wirklichkeit und den Alltag der Menschen prägte. Lange vergessen blieb nämlich eine reiche, weit in die Neuzeit reichende, religiöse Kultur, die aufzuschlüsseln eine besondere Aufgabe für Historiker darstellt, die Ernst machen mit der Erschließung der alltäglichen Lebenswelt von Menschen und Gruppen. Probleme einer Religionsgeschichte, wie sie sich für den Historiker stellen, thematisiert der letzte Beitrag über »Religionsgeschichte in der historischen Sozialforschung« von 1980.

1. Reformation und Neuzeit

Eine universalhistorische Bedeutung wird der Reformation seit je zugesprochen.[1] Darüber besteht in der Forschung keine Meinungsverschiedenheit, lediglich die Akzente werden bei den einzelnen Historikern, Kirchenhistorikern und Religionssoziologen unterschiedlich gesetzt.[2] Oft bleibt es bei mehr oder weniger lapidaren Feststellungen. Welchen näher zu bestimmenden Beitrag zum Entstehungsprozeß der Moderne die Reformation geleistet hat, wird trotz der vielseitigen Beschäftigung mit der Reformation vor allem in den letzten Jubiläumsjahren kaum untersucht.[3] Nach den großen Entwürfen von E. Troeltsch[4] und auch M. Weber[5] wurde jedenfalls bisher nicht mit entsprechender Energie ein neuer Synthese- bzw. Interpretationsversuch unternommen, obwohl es zu den zentralen Aufgaben der Geschichtswissenschaft gehören müßte, niemals das Ganze der Reformation und ihre Rolle im historischen Prozeß aus dem Auge zu verlieren; ja es zählt zu den eigentlichen Fragestellungen der Frühneuzeitforschung, speziell die Wirkungen der Reformation im Zusammenhang der Genese der modernen Welt zu thematisieren.[6]

Dies kann freilich nicht mehr mit den Methoden und Fragestellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts beantwortet werden, so wenig man zugleich leugnen kann, daß eine Reformulierung der Moderne-Diskussion, wie sie Troeltsch und Weber geführt hatten, immer noch einen intellektuellen Ansporn bietet. Wenn im folgenden an die ›alte‹ Diskussion angeknüpft wird, so wird nicht übersehen, daß mittlerweile andere Problemstellungen erschlossen wurden, die manche ›Härte‹ oder ›Kürze‹ der alten Frage nicht mehr zulassen.[7] Es geht also nicht um eine Wiederaufnahme der bekannten Diskussion, so als hätte sich seither unser Bewußtsein nicht geändert, sondern um eine Neuformulierung der Problemstellung. Zum anderen, das muß ebenfalls eigens hervorgehoben werden, wird mit der Frage nach dem Zusammenhang von Reformation und Entstehung der Moderne in der Reformation weder der ›eigentliche‹ Wendepunkt vom Mittelalter zur Neuzeit gesehen, noch in ihr bereits der Aufstieg einer modernen Freiheit, Vernunft oder Moral gefeiert. Mit der Reformation entstanden durchaus neue Freiheitsräume, aber nicht minder auch neue Unterdrückungsstrategien. Auch stellt die Reformation, wobei wir das Ganze der Reformation, d.h. sowohl die lutherische als auch die calvinistische und andere Bewegungen im Auge behalten[8], nur eine Kraft unter anderen im Entstehungsprozeß der Moderne dar. Dabei muß die Frage offen bleiben, in welchem jeweiligen Verhältnis die Reformation zu den gleichzeitigen staatlich-politischen und sozial-ökonomischen Kräften steht.[9] Es geht auf jeden Fall nicht darum, die Entstehung der Moderne erneut dominant auf die Reformation zurückzuführen und kausale Verknüpfungen zu thematisieren, aber auch nicht darum, an ihrer Stelle politische oder ökonomische Prozesse zu den eigentlich dynamisierenden Kräften der Geschichte zu erheben.[10]

Die Reformation ist als ›universales Phänomen‹ aus dem Entstehungsprozeß der Moderne nicht wegzudenken. Leider können in diesem Rahmen bei allem Wunsch, ausreichend zu informieren, nicht alle Impulse, Anstöße und Entwicklungen berücksichtigt werden. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine Problemanalyse der wichtigsten Einflüsse und Wirkungen, die wir aus der Perspektive frühneuzeitlicher Entwicklung mehr oder weniger eindeutig der Reformation zuschreiben können, wobei drei Komplexe miteinander verbunden werden: 1. Welche Bedeutung kommt der Reformation bei der Entwicklung des religiös-christlichen Bewußtseins der neuzeitlichen Kirchen als den zentralen Sozialisationsinstanzen der neuzeitlichen Gesellschaft zu? 2. Welche Rolle spielt die Reformation bei der Formierung des neuzeitlichen Staates, der Schule, aber auch der Familie und der Arbeitswelt? 3. Wie wirkte sich die Reformation aus auf das alltägliche Bewußtsein und Verhalten der Menschen in der neuzeitlichen Gesellschaft?

I.

Die Reformation war ein sozio-kulturelles Phänomen, das nicht nur der Existenz und Universalität der mittelalterlichen Kirche ein Ende setzte, sondern im Zuge der Konzentration auf die religiöse Subjektivität und der Formierung neuer Konfessionskirchen auch das Verhältnis von Religion und Gesellschaft sowie von Religion und Alltagswelt, Inhalt und Grenzen der religiös-geistigen, politisch-sozialen und auch sittlich-moralischen Ordnung neu bestimmte. Als ein von weltlicher Ordnung abgehobenes ›geistiges‹ Phänomen entsteht die nun allerdings auch unterschiedlich bestimmbare ›Religion‹ erst in der Reformation.

1. Mit der Reformation verbindet sich für uns die Entstehung eines bis dahin nicht gekannten und nicht vorstellbaren Kirchenpluralismus; aus einer Universalkirche, die lange unterschiedlichste religiöse Bewegungen integrieren konnte, differenzierten sich mehrere alternative, sich ausgrenzende Kirchensysteme aus.[11] Von Kirchenspaltungen ist eigentlich nicht die Rede, so sehr vor allem aus katholischer Perspektive lange die reformatorischen Kirchen als Abspaltungen gesehen und bewertet wurden. Denn unter dem Druck des reformatorischen Aufbruchs und seiner tiefgreifenden Wirkungen wandelte sich auch die katholische Kirche selbst seit dem Tridentinum zu einer der protestantischen vergleichbaren Konfessionskirche.[12] Die Universalität der allgemeinen katholischen Kirche als einer das ganze soziale Leben umfassenden Kultgemeinschaft wurde in Frage gestellt, und an ihre Stelle trat eine Vielzahl unterschiedlichster Kirchensysteme und Glaubensgemeinschaften mit verschiedenen Glaubensvorstellungen und sozial-religiösen Ansprüchen an die Menschen. Obwohl ursprünglich nicht intendiert – wir wissen, daß sowohl Luther wie Zwingli als auch Calvin keine neue Kirche gründen wollten, im Gegenteil lange an der Einheit des Christentums festhielten –, hatte sich unter dem Druck der staatlich-politischen Interessen, der sozialen Kräfte und Verhältnisse und nicht zuletzt aufgrund der erstaunlichen Kompromißlosigkeit der altgläubigen römischen Kirche ein kirchlicher Pluralismus entwickelt, der nicht nur zur Herausbildung der eigenständigen großen lutherischen, reformierten und anglikanischen Kirchen führte, sondern auch zugleich eine große Zahl mehr oder weniger stark organisierter Glaubensgemeinschaften des religiösen Dissidententums in der Reformationszeit entstehen ließ.[13]

So unterschiedlich die neuen Kirchen strukturiert waren, kennzeichnen sie alle doch drei Grundmerkmale. Anstelle einer hierarchischen, von einer ›geweihten‹ Priesterkaste beherrschten Kirche trat eine Laienkirche, in der es zwar bald auch wieder eine abgehobene, sich aber primär durch Wissen legitimierende Klerikerschicht gab, in der aber der Laie – als solcher allerdings auch der Landesherr – eine neue, das kirchliche Leben und die Kirchenorganisation mitbestimmende Rolle spielte.[14] Daß dies stärker bei den calvinistischen Kirchen realisiert wurde als im Luthertum, widerspricht der Grundstruktur nicht. Die neuen Kirchen verstanden sich nicht mehr als religiöse Kultgemeinschaften. Anstelle religiöser Zeremonien und Rituale, deren Inhalte von der alten Kirche nur locker definiert waren bzw. werden konnten, trat nun die Hl. Schrift in den Mittelpunkt des religiös-kirchlichen Lebens.[15] Zu ihr hatte jeder Gläubige im Prinzip Zugang, was freilich nicht ausschloß, daß unter dem Druck alternativer Auslegungsmöglichkeiten die neuen, theologisch gebildeten Kleriker ihre Interpretation monopolisieren wollten. Schriftorientiertheit machte erneute Ritualisierung nicht unmöglich, aber das Schriftprinzip blieb konstitutiv. Anstelle der das ganze Leben mit dem breiten Spektrum menschlicher Interessen einbindenden Kirche trat schließlich ein Kirchensystem, das sich nur noch bzw. vorrangig zuständig fühlte für unmittelbar religiös-kirchliche und moralisch-sittliche Belange[16], so sehr auch manche neue Glaubensgemeinschaft wieder umfassenden Anspruch erheben bzw. ja sogar theokratischen Charakter annehmen konnte. Von einer Trennung von Staat und Kirche war zwar nie die Rede; doch das, was unter Religion und Kirche verstanden und praktiziert wurde, war erstmals deutlich abgehoben von der Sphäre des rein sozial-politischen Lebens.[17] Das zeigt sich u.a. im Rückzug kirchlicher Vertreter aus der politischen Öffentlichkeit.

2. Der Entstehung des neuen Kirchensystems korrespondiert eine umfassende Konfessionalisierung der Religion.[18] Zwar hatte jede neue Kirche ein anderes Verständnis von sich und verlangte von ihren Mitgliedern unterschiedlichsten Einsatz; aber der Druck, der von den neuen Kirchen und Glaubensgemeinschaften, auch von dem neuen tridentinischen Katholizismus ausgeübt wurde, war überall erstaunlich ähnlich, allenfalls unterschiedlich intensiv. Konfessionalisierung heißt vor allem, daß der Glaube einer Kirche zusehends nach einem schriftlich fixierten und zunehmend von theologisch ausgebildeten Klerikern kontrollierten Bekenntnis ausgelegt wurde. Es gab kaum eine Kirche, die im 16. Jahrhundert nicht ausführliche Glaubens- und Kirchenordnungen drucken ließ. Sie galten als Norm für die Klerikerausbildung, aber auch für die Volkserziehung. Das, was von nun an vor allem das einzelne Mitglied einer Kirche auszeichnete, war ein explizites Glaubensbekenntnis, obwohl dies bei manchen Theologen Bedenken auslöste. Dies bewirkte zwar bei dem geringeren Bildungsstand auch in religiösen Dingen eine erhebliche Ausweitung schulischer Institutionen und Verbreitung kirchlich-biblischen Wissens selbst im einfachen Volk, zugleich aber auch eine Reinigung der Gesellschaft von den verschiedensten magisch-abergläubischen Vorstellungen und abweichenden alternativen Lehrmeinungen, d.h. eine scharfe Abgrenzung und Ausgrenzung von Irrlehren.[19] Der Kampf um die reine Lehre, an dem fast alle Geistlichen mit Wort und Schrift teilnahmen, definierte erstmals für breite Bevölkerungskreise so etwas wie die Zugehörigkeit zu einer Kirche, diskriminierte aber zugleich auch jeden Abweichler als Feind der Gesellschaft. Das traf vor allem die Täuferbewegung wie andere evangelische Separatistengruppen, aber auch den Kryptocalvinismus im lutherischen Raum sowie den Protestantismus in katholischen Territorien.[20]

Die Konfessionalisierung fixierte darüber hinaus auch das Leben des einzelnen auf christlich-moralische Normen, die an der Hl. Schrift und den neuen Glaubensbekenntnissen ausgerichtet waren. Die Kirchen begannen nicht nur erstmals öffentlich zu definieren, was zu glauben sei, sondern auch, was ein dem Glauben entsprechendes Leben, was ein frommes, gottwohlgefälliges Leben heiße.[21] Freilich artikulierte sich dieser Prozeß in den verschiedenen Kirchen und Glaubensgemeinschaften unterschiedlich, unabhängig davon, daß die großen Glaubensgemeinschaften, deren Existenz gesichert war, in der Regel laxer waren als die kleinen, zumal wenn diese unter sozialem und Verfolgungsdruck standen: so griffen natürlich die Lutheraner am wenigsten regulierend ein, während der Calvinismus den Menschen fast grundlegend ändern wollte.[22] Im Prinzip war es auch dem neuen Katholizismus nicht mehr gleichgültig, wie ein Christ lebte. Das betraf nicht nur den Kirchgang oder die Erfüllung der kirchlichen Anforderungen, sondern auch das mitmenschliche Verhalten und sittlich-moralische Leben in der Öffentlichkeit. Eine Unterwerfung unter radikal christliche Maximen hatte es auch früher gegeben, doch war sie auf jene Menschen beschränkt, die sich dem monastischen Leben widmeten. Nun aber wurden mit der Reformation die christlichen Lebensnormen zur Richtschnur aller Christen, ohne daß allerdings damit besondere Verdienste zu erreichen waren bzw. eine Anrechnung auf ewiges Heil erfolgte. Der definierte Glaube machte das Mitglied einer Kirche erstmals zum Gläubigen. Sowohl die Beichte als auch die Kirchenzucht, die Predigt und der Unterricht standen in dessen Dienst. Nicht religiöse Praktiken definierten also primär die Zugehörigkeit zu einer Kirche, sondern ein Wortbekenntnis, das, was selbst dem Katholizismus nun wichtig wird, die Verpflichtung zum moralischen Leben einschloß.[23] Daß Lutheraner den moralischen Rigorismus der Täufer oder der Jesuiten bewunderten oder die Katholiken die Protestanten nach ihrer Moral bewerteten, schloß die Orientierung an der Lehre nicht aus.

3. Mit der Reformation tritt trotz der rigiden Einbindung in die neuen Glaubensgemeinschaften zugleich erstmals der subjektive Glaube des Menschen, die religiöse ›innere‹ Gesinnung, in den Mittelpunkt religiösen und kirchlichen Lebens.[24] So unterschiedlich radikal diese Vorstellung vertreten wurde – hier gingen das freikirchliche religiöse Dissidententum, aber z.T. auch der Calvinismus einen konsequenteren Weg als das kirchlich bzw. staatskirchlich organisierte Luthertum –, so befreiten doch alle neuen evangelischen Gemeinschaften die einzelnen Christen sowohl von geistlich-klerikaler Vermittlung wie rituell-sakramentaler Praxis, um allen Gläubigen die Wege einer unmittelbaren Kommunikation mit Gott zu ermöglichen. Nur der Katholizismus verblieb bei aller gleichzeitigen Beteuerung der Subjektivität bei der alten Vermittlerfunktion der Kirche, ihrer Sakramente und ihrer Heiligen. Seit der Reformation ist der Christ radikal auf Gott verwiesen, dem allein er Glaube, Gnade und Rechtfertigung verdankt. Diese Glaubensgewißheit ist unabhängig vom sozialen Stand und dem Grad der religiösen Erleuchtung, obwohl den Gebildeten und Klerikern ein gewisser Vorsprung zugestanden wurde. Damit gewannen alle Christen im Prinzip gleiche religiöse Chancen und zugleich innerhalb der religiös-kirchlichen Ordnung eine Unabhängigkeit und ein Maß an Selbstbestimmung, die zwar eine kirchliche Einbindung keineswegs ausschlossen – gewisserweise wurde die Kirchenzugehörigkeit als Voraussetzung und Bedingung von freier Entscheidung verstanden –, aber den Glauben des einzelnen nicht mehr primär von der Kirchenzugehörigkeit her definieren lassen. Damit entstand zwar noch kein ›frühbürgerliches‹ autonomes Subjekt im Sinne der aufklärerischen Gesellschaft; auch ein Umschwung in politische Autonomie bzw. politische Selbstbestimmung fand in der Reformationszeit nirgendwo statt, auch nicht in der Reformation Müntzers[25], vielleicht in Ansätzen in englischen Sekten des 17. Jahrhunderts.[26] Doch war erstmals eine Verselbständigung, eine Selbstbestimmung des Menschen thematisiert, die sich nicht nur von der religiös-kirchlichen, sondern auch von der sozialpolitischen Tradition freimachte.[27] Die Idee von der religiös-politischen ›Unmittelbarkeit‹ implizierte ein für die damalige Gesellschaft beträchtliches Maß an Freiheit und Autonomie von der gegebenen Ordnung. Das bedeutete im Prinzip zwar eine soziale Chance, führte aber auch zu einer Überforderung des Menschen, weil in der Begegnung mit dem übermächtigen Gott keine religiösen Praktiken und Leistungen mehr zwischengeschaltet werden konnten. Für eine unabhängige Elite war dies leichter zu leisten als für das abhängige einfache Volk, für sozial desorientierte Gruppen leichter als für ›normale‹ Mitglieder einer Stadt- oder Dorfgemeinschaft. Da es zudem keine Heilsgewißheit gab, religiöse Autonomie ein psychisches Risiko in sich barg, konnte die entstehende Angst vor der Verdammnis auch wieder in eine neue Unfreiheit führen.

Jeder mußte ja mit sich allein fertig werden. Daß als soziale bzw. geistige Hilfe das Institut der Kirchenzucht verstärkten Anklang fand, hat hier seine Wurzeln. Auch wenn die Mündigmachung und -werdung des gläubigen Christen in der Reformation durch die Konfessionalisierung und die erneute Anbindung an den Staat oder die politische Gemeinde nochmals unterbrochen wurde, so waren doch auf jeden Fall mit der Reformation im Prinzip die Unerschütterlichkeit, Selbstverständlichkeit und die traditionelle Einbindung der alten religiösen Ordnung aufgebrochen, und eine Selbstbestimmung, ja Selbstreflexion konnte sich entfalten, die auch bald den religiösen, zumindest kirchlichen Rahmen sprengen sollte. Das zeigt vor allem das englische Beispiel. Politische Revolution und religiöse Selbstbestimmung waren hier aufs engste verbunden.[28]

4. Die Orientierung auf den schriftlich fixierbaren Glauben bzw. die Konzentration auf den ›inneren‹ Glauben des einzelnen schuf schließlich erste Voraussetzungen für eine religiöse Toleranz.[29] Wenngleich die Reformation mit einem Totalanspruch auftrat, der zu Gewaltaktionen gegen Andersdenkende Anlaß gab, und einzelne Reformatoren konkurrierende Lehrmeinungen und Lebensvorstellungen sogar aktiv unterdrückten, so mußte doch bald der sich durchsetzende Protestantismus aufgrund seiner Ausrichtung auf die Glaubensgesinnung einen anderen Umgang mit Andersgläubigen pflegen als der römische Katholizismus. Es gehörte durchaus zum neuen Verständnis eines evangelischen Glaubens, im religiösen Bereich keine weltliche Gewalt anzuerkennen, geistlich-religiöse Angelegenheiten nicht der weltlichen Macht zu unterstellen. Das schloß gegenläufige Tendenzen nicht aus. Zu den frühesten Verfechtern religiöser Toleranz zählten jedenfalls vor allem protestantische Autoren. Aber nicht nur die Trennung von geistlicher und weltlicher Ordnung schuf wichtige Voraussetzungen für die Toleranzidee, langfristig verbot gerade die Vorstellung der ›freien‹, unerzwungenen Glaubensentscheidung die Unterdrückung Andersdenkender, ohne daß damit allerdings eine Partei den Absolutheitscharakter ihres Bekenntnisses aufgegeben hätte. Und kaum eine durch eine Konfession vereinigte Gemeinde schloß Andersgläubige nicht aus. Dem Gebot der politischen Vernunft, die konfessionelle Welt zu befrieden, was mit dem Augsburger Religionsfrieden begann und im Westfälischen Frieden einen Höhepunkt erreichte, ging das Gebot eines auf der Schrift und der christlichen Freiheit basierenden Glaubensverständnisses voraus, den Glauben des einzelnen ernstzunehmen. Eine religiöse Meinungsfreiheit wurde damit allerdings ebensowenig geschaffen wie eine überkonfessionelle christliche Kirche propagiert. Es ging primär um Ausschaltung von Gewalt in den Auseinandersetzungen um den konfessionellen Glauben. Die religiösen Randgruppen zunächst in Deutschland, dann in Holland und schließlich in England gingen hier natürlich entschiedener voran als der Calvinismus und vor allem das Luthertum. Toleranz war den kleinen Dissidentengruppen ein Grundsatz des Überlebens. Sie artikulierten als Voraussetzung dazu eine Trennung von Staat und Kirche. Ganz allgemein aber verbreitete sich eine ›religiöse‹ Toleranz im Protestantismus eher als im katholischen Raum, so daß schließlich auch eine politische Meinungsfreiheit sich zuerst in protestantischen Ländern verwirklichen konnte.

Die Entstehung eines kirchlichen Pluralismus, die Konfessionalisierung der Religion, der Aufbruch eines religiösen Subjektivismus und die Herausbildung der Toleranzidee waren für die frühneuzeitliche Gesellschaft entscheidend prägende Wirkungen der Reformation. Daß sie reale Gegebenheit und konstitutive Momente des Entstehungsprozesses der modernen Welt wurden, daran wirkten nicht minder auch andere politische wie soziale Kräfte mit.

II.

Die Reformation vollzog sich in einer Zeit politisch-sozialen Umbruchs, dessen Ausdruck sie zum Teil war und auf dessen Folgen und Ausgang sie ihrerseits stark einwirkte. Die spezifische Ausformung des Staates, die Entwickung des Bildungswesens, die Formierung der Familienstruktur und die Aufwertung der Arbeitswelt in der frühen Neuzeit sind ohne die Reformation und den frühen Protestantismus nicht zu verstehen.

1. Der frühmoderne Staat ist kein Produkt der Reformation, weder in seiner obrigkeitlich-absolutistischen noch ständisch-libertären Form, aber sie gab seiner Ausformung ein besonderes Gepräge. Das gilt nicht nur für Holland oder England. Drei Komplexe sind dabei anzusprechen: Zwar hat es immer wieder in den evangelischen Kirchen – wie im Katholizismus – theoretische Bestrebungen gegeben, die staatlich-obrigkeitliche Macht für ihre Interessen zu instrumentalisieren, ja sie als Mittel zur Ausweitung kirchlicher Ansprüche zu benutzen, doch die meisten reformatorischen Kräfte haben aus der Erfahrung weltlicher Eingriffe in die kirchliche Praxis heraus die Trennung von religiöser und weltlicher Ordnung unterstützt. Um von weltlichen Eingriffen frei zu sein, sollten sich die Kirchen aus allen weltlichen Bereichen zurückziehen – dies reichte von der eigentlich politischen Sphäre bis zur Armenfürsorge –, wie umgekehrt die Staaten, um auch unabhängig von kirchlichen Einsprüchen zu sein, sich aus allen eigentlich religiösen Dingen wie der Gottesdienstpraxis und der Lehrverkündigung heraushalten sollten. Einer Entpolitisierung, ja Spiritualisierung der protestantischen Kirche war damit ebenso Vorschub geleistet wie der Entsakralisierung und Säkularisierung des Staates.[30] Die Reformation stärkte auf jeden Fall die Machtkompetenz des Staates. Deutsche Territorien, aber auch Schweden und England bieten klassische Beispiele. Obwohl die protestantischen Kirchen von staatlicher Bevormundung frei sein wollten, waren sie zum anderen doch alle aufgrund der fehlenden hierarchischen Struktur – das gilt gleicherweise von der lutherischen wie der calvinistischen Kirche – auf den Schutz der weltlichen Obrigkeit angewiesen. Da dies mit dem Bestreben des Staates korrespondierte, einerseits neben sich keine zweite autonome Ordnung mehr zu tolerieren, andererseits auf die Kirchen als auf die nationale bzw. territoriale Einheit stabilisierenden Kräfte nicht zu verzichten, mußten sich die Kirchen den obrigkeitlich-staatlichen Interessen so unterordnen, daß die Kirchen quasi zu einer staatlichen Institution bzw. zu einer Institution unter anderen in einem staatlichen Verbund wurden.[31]

Das entstehende Staatskirchentum war damit nicht nur ein Produkt der Machtinteressen des weltlichen Staates, sondern gleicherweise gingen auch viele Impulse der Reformation in diesen ein; sie unterstützten in beachtlichem Maße die staatlichen Integrationsbemühungen. Vor allem das Luthertum, aber auch der Calvinismus und nicht zuletzt der Anglikanismus mußten diese Unterordnung zur Stärkung ihrer eigenen Interessen hinnehmen. Nur die freikirchlichen Glaubensgemeinschaften entzogen sich – selbst unter Gefahr ihrer Unterdrückung oder Vertreibung – jeder Integrationspolitik. Schließlich beeinflußten reformatorische Kräfte den Formierungsprozeß des frühmodernen Staates derart, daß sie mit darüber entschieden, ob der spätmittelalterliche Territorialstaat sich zu einem absolutistischen oder libertär-ständestaatlichen Staat entwickelte.[32] In den für die künftige staatliche Struktur Europas maßgeblichen Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts zwischen Ständen und Fürsten blieben die Kirchen und Konfessionen keineswegs neutral. Zwar waren alle evangelischen Kirchen für klare obrigkeitliche Machtverhältnisse, denn ohne sie war ihr Bestand leicht gefährdet. Aber aufschlußreich ist doch, daß die reformatorische Bewegung insgesamt letztlich stärker libertäre, sogar republikanische, antiabsolutistische Kräfte bereitstellte als der römische Katholizismus, der selten den Ständen mehr Unterstützung gewährte als den Fürsten. Deutliche Beispiele kennen wir aus Österreich und Frankreich. Antiabsolutistisch-ständische Kräfte arbeiteten hier aufs engste mit den reformatorischen Kirchen, speziell dem Calvinismus zusammen. Und weder der niederländische Befreiungskampf noch die englische Revolution sind ohne religiös-konfessionelle Auseinandersetzungen zu verstehen. Es ist deswegen auch nicht von ungefähr, wenn die ersten libertärdemokratischen Staaten auf protestantischem Boden auf der Basis einer Trennung von Staat und Kirche und einer naturrechtlich begründeten staatlichen Macht entstanden.

2. Zweifellos hatten das frühneuzeitliche Stadtbürgertum wie auch der frühmoderne Staat eigene Interessen am Ausbau eines mittleren und höheren Schulwesens; in sie mündeten die humanistischen Bestrebungen; aber das Schulwesen hätte im 16. Jahrhundert nicht die uns bekannte Blüte erlebt, wäre es nicht von der gesamten reformatorischen Bewegung unterstützt worden.[33] Dies zwang selbst den Katholizismus, ein eigenes Bildungssystem zu forcieren und bald in Konkurrenz zum protestantischen Schulwesen treten zu lassen.[34] Die volkspädagogische Bewegung des frühen 17. Jahrhunderts verbreitete sich allerdings nur in Deutschland und England.[35] Die katholische Kirche konzentrierte sich vor allem auf das höhere Schulsystem. Die meisten Schulen im protestantischen Bereich wurden zwar seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bald von obrigkeitlich-staatlichen Institutionen oder zumindest von staatlichen Kräften kontrolliert, was den entstehenden Verweltlichungstendenzen im Protestantismus entsprach; jedoch war der Ausbau des unteren Schulwesens insofern ein nicht unwesentliches Anliegen der reformatorischen Kräfte, als zunächst einmal mit der allgemeinen Konzentration auf die Hl. Schrift die Alphabetisierung auch der unteren Schichten vordringlich wurde. Sollte der neue Glaube Wirklichkeit werden, reichte nicht die biblische Predigt, der einzelne Christ sollte die Bibel selbst lesen können. Die Lesebefähigung wurde geradezu ein Kennzeichen der Protestanten, und gerade England zeigte hier die deutlichsten Erfolge. Aber den Protestanten ging es bald nicht mehr allein darum, daß das Volk lesen und schreiben konnte, die Kinder sollten auch zu christlichem Leben erzogen werden.

Der Prozeß der Verchristlichung der Welt, zu dem sich der ganze Protestantismus trotz seiner Enthaltsamkeit in der weltlichen Ordnung bekannte, war für ihn wesentlich eine Aufgabe der Erziehung. Erziehung spielte auch in der katholischen Kirche bald eine verstärkte Rolle, war dort aber niemals Teil oder Mittel der Glaubensverkündigung speziell für untere Volksschichten. So konnte jedenfalls ein überzeugter Protestant nur der sein, der die Bibel lesen, vor allem die Lehre der Kirche auch verstandesmäßig begreifen konnte, was freilich eines langen Aneignungsprozesses bedurfte. So unergründlich Gott für den Protestantismus war und so stark alle neuen Verkündigungsformen zwischen Glauben und Wissen unterschieden, den Glauben abhoben von jeder Form des Wissens – die alte Skepsis gegenüber den metaphysischen Spekulationen blieb stets erhalten –, wurde der Glaube in der Praxis doch wesentlich eine Sache des Kopfes, der Reflexion. Das fand trotz der Rezeption auch mancher mystischer Ideen seinen Rückhalt in einer letztlich nüchternen Gottesdienstordnung, in der das Wort nie mehr aus dem Mittelpunkt verdrängt wurde.[36] Das Wort Gottes sollte die geistig-religiöse Flexibilität des Gläubigen fördern, und dieser Anspruch kam der Intensivierung des Schulwesens zugute. Einer deutlichen Verweltlichung des Schul- und Bildungswesens in Lehrinhalt wie in der Institutionalisierung war damit noch kein Vorschub geleistet, so wichtige Voraussetzung der Protestantismus dazu schuf – so wichtig sie nun auch für den Laien wurde –, Wissen und Bildung blieben in protestantischen Kreisen, hier zeigte sich der Calvinismus nicht weniger rigide als das Luthertum, wesentlich Dienerinnen des Glaubens und der christlichen Tugend.

3. Das Ehe- und Familienleben war dem Protestantismus weitgehend zu einem ›weltlichen‹ Wesen geworden.[37] Der sakramentale Charakter wurde der Ehe abgesprochen; damit aber überließ man die Gestaltung des Familienlebens noch keineswegs den Haushalten selbst oder der obrigkeitlichen Gewalt. Zur Keimzelle der christlichen Gemeinde stilisiert, in der christliches Leben verwirklicht werden und der Hausvater als Stellvertreter Christi agieren sollte, rückte die Familie sogar in den Mittelpunkt der sozialen Interessen aller protestantischen Kirchen, vor allem im Puritanismus. Setzten die Kirchen auf die Verchristlichung der Welt durch Erziehung zu christlichem Glauben und Leben, mußten sie bei den Familien beginnen. Vorbild sollte der protestantische Haushalt sein.

Die Entstehung der bürgerlichen Familie geht zwar nicht auf die Reformation zurück, aber bestimmte moderne Entwicklungstrends wurden vom Protestantismus, vor allem in seiner puritanischen Form erheblich unterstützt.[38] Durch die Predigt in der Kirche, durch Unterricht und soziale Kontrolle im Zusammenhang der Kirchenzucht versuchte man auf die familiären Beziehungen moralisch Einfluß zu nehmen. Drei Bereiche standen dabei im Zentrum der Bemühungen. Alle protestantischen Richtungen stärkten die traditionelle, patriarchalische Hausherrengewalt, wonach der Hausvater nicht nur als das rechtliche, sondern darüber hinaus auch als das geistlich-religiöse Oberhaupt angesehen wurde, so daß fortan Ungehorsam der Kinder und auch der Hausfrau dem Hausherrn gegenüber nicht nur als ›Verletzung‹ der Hausordnung galt, sondern gewisserweise zur ›Sünde‹ wider Gott wurde. Dies verlangte nicht nur von den Mitgliedern ein neues ehrerbietiges Verhalten gegenüber dem Hausvater, sondern auch von ihm selbst vorbildhaften Umgang mit seinen Untergebenen. Obwohl damit der Frau keine Eigenständigkeit zukam, sondern sie voll in den Haushalt mit einer klar definierten Rolle eingebunden war, vollzog sich doch im evangelischen Kulturbereich insofern zugleich eine Aufwertung der Frau, als der Hausvater sie moralisch als gleichwertig, also nicht nur als Arbeitskraft behandeln sollte und dementsprechend nicht mehr gewaltsam unterdrücken durfte, ja darüber hinaus für das moralisch-sittliche Verhalten der Frau mitverantwortlich wurde. Dies galt auch umgekehrt. Ihrerseits repräsentierte die Frau die christliche Ordnung der Familie und sorgte für die christliche Erziehung der Kinder. Kirchliche Kontrollinstanzen gingen deswegen nicht nur auf die Sorgen und Probleme der Hausväter ein, sondern nicht minder auf die der Frauen, deren Anliegen sie ebenso ernstnahmen. Eine moralisch-religiöse Verantwortung aller Haushaltsmitglieder füreinander kennzeichnete erstmals die ehelich-familiären Beziehungen. Der Protestantismus legte schließlich auch die Kontrolle über die Kinder bewußt in die Hand der Eltern. Sie wuchsen nicht mehr ›frei‹ auf, bzw. wurden sich nicht mehr selbst überlassen.[39] Häusliche Erziehung wurde zu einer verantwortungsvollen Aufgabe der Eltern, wobei einerseits die Kinder zu strengem Gehorsam angehalten wurden, nicht nur um die Ordnung der Hausgemeinschaft zu garantieren, sondern um in ihr die auf Gehorsam gegenüber Obrigkeit und Gott aufgebaute christliche Ordnung überhaupt zu würdigen, andererseits aber auch die Eltern verpflichtet waren, sowohl das leibliche als auch das seelische Heil der Kinder im Auge zu behalten und deren individuelle Wünsche gebührend zu berücksichtigen, wie dies vor allem bei der Heiratspolitik sichtbar wird. Wollte man die elterliche Autorität wahren, mußte die Individualität des Kindes ernstgenommen werden.

Indem die protestantische Kirche eine Moralisierung der Familie, der familiären Beziehungen einleitete und die Familie zum zentralen Ort religiös-geistiger Unterweisung erhob, wertete die Reformation das Familienleben beträchtlich auf, freilich nicht selten auf Kosten eines freizügigselbstbestimmten Lebens.

4. Eine moralisch-soziale Aufwertung erfuhr vor allem die menschliche Arbeit, auch die körperlichen Tätigkeiten. Zwar galt Müßiggang schon lange in der christlichen Ethik als verwerflich und Arbeit als die eigentliche Aufgabe des Menschen, aber erst durch die Reformation wurde die Arbeit vom Makel der Minderwertigkeit befreit und zur Hauptaufgabe aller Menschen in der Welt erhoben.[40] Ein modernes Berufsethos und eine profitorientierte kapitalistische Gesinnung waren damit aber selbst im asketischen Protestantismus noch nicht gegeben, so sehr rastlose weltliche Tätigkeit gerade in besonders religiösen Kreisen anzutreffen war. Weltliche Tätigkeit um ihrer selbst willen, die also nicht der Bekämpfung von Laster oder dem Aufbau einer christlichen Ordnung diente, sanktionierte die protestantische Moral damit nicht. Doch dadurch, daß mit der positiven Bewertung der weltlichen Ordnung neben dem geistlich-religiösen Handeln die weltlich-praktischen Tätigkeiten gleichwertig wurden und darüber hinaus Arbeit und Berufsausübung Teil christlichen Handelns und Lebens für alle in der Welt wurden, d.h. zur Ehre Gottes beitragen konnten, wurde der konkreten weltlichen Arbeit eine Rolle zugeschrieben, die das alte Christentum nicht kannte. Ein kontemplatives Leben war dort immer höher bewertet worden.[41] Arbeit wurde damit zum ›weltlichen‹ Signum des christlichen Menschen, wohingegen Müßiggang und Betteln – selbst oder gerade aus religiösen Gründen – nicht nur als unwürdig, sondern als unmoralisch und unchristlich diskreditiert wurden.

Damit setzte eine bedeutsame Entwicklung ein, die das soziale Bewußtsein der frühneuzeitlichen Gesellschaft entscheidend prägte. Man begann, die Menschen nach der Arbeitsqualität zu messen und Armut und Müßiggang als Hindernisse zur Verwirklichung eines christlichen Lebens zu betrachten.[42] Sicherlich teilten städtische und staatliche Obrigkeiten diese Einschätzung von Armut und Müßiggang aus pragmatischen Gründen, aber ohne das Engagement der Kirchen und ihren religiös-moralischen Kampf ist die neue moralische Welt nicht zu verstehen.

Langfristig bedeutete dies jedenfalls eine zunehmende Diskriminierung sozialer Randgruppen, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts begann, d.h. solcher Menschen, die arm oder nicht integriert waren; zugleich aber verstärkte dies für die Kirchen und protestantischen Staaten den Zwang, die Ursachen von Bettel und Armut zu beseitigen – und zwar nicht mehr durch das Institut der milden Gaben, sondern durch eine Institutionalisierung des Armenwesens, die letztlich nur noch von der weltlichen Obrigkeit getragen werden konnte. Die ersten Arbeitshäuser waren protestantische Institutionen.[43]

Mit der Aufwertung von Arbeit und weltlicher Tätigkeit hat die Reformation insgesamt wichtige Voraussetzungen für ein modernes Berufsethos geschaffen, überhaupt der Idee einer Selbstverwirklichung durch Arbeit den Weg geebnet, wenn dabei auch das Problem der Armut kaum beseitigt wurde. Dadurch aber, daß nur den tätigen, arbeitsamen Menschen gesellschaftliche Anerkennung und positive Jenseitserwartungen zugebilligt wurden, leitete der Protestantismus zwar eine intensive Armutsbekämpfung ein und unterstützte neue ›Industrien‹, andererseits brachte er aber auch eine Diskriminierung von Armut mit sich, die der Katholizismus, der allerdings selbst bald ähnliche Lebensmaximen propagierte, an sich nicht kannte. Arbeit und Armut wurden etwa in England und Spanien grundsätzlich anders erfahren.

III.

Die Reformation war keineswegs ein Phänomen, das nur den subjektiven Glauben und die Frömmigkeit der einzelnen Menschen betraf oder nur eine Angelegenheit der kirchlich- und weltlich-öffentlichen Institutionen war. Ohne sprunghaft revolutionäre Änderungen im menschlichen Verhalten und Zusammenleben bewirkt zu haben, hat die Reformation doch langfristig auch die alltäglichen Bewußtseins- und Verhaltensstrukturen der Menschen maßgeblich beeinflußt und vor allem mit der Förderung ›rationaler‹ Kommunikation im öffentlichen Leben, moralischen Verantwortungsbewußtseins, nüchtern praktischer Frömmigkeit und ›zivilisierten‹ Alltagsverhaltens die Entfaltung moderner Verhaltensformen und Kommunikationsstrukturen begünstigt. Von der aufklärerischen Öffentlichkeit und Kultur unterscheidet sich die reformatorische allerdings durch ihren durchgängig religiösen Charakter.

1. Die Reformation räumte relativ rigoros mit rituell-sakramentalen Frömmigkeitsformen auf und setzte anstelle der katholischen Kultfeier den evangelischen Wortgottesdienst, der die Lesung der Schrift und die erklärende Predigt in den Mittelpunkt religiöser Andacht stellte. Damit wurden zwar nicht alle religiös-rituellen Praktiken aufgegeben, doch mit der Konzentration auf Christus als den zentralen und einzigen Vermittler von Gnade und Rechtfertigung wurde das Wort Gottes sukzessive zur ausschließlichen Richtschnur menschlichen Glaubens und Lebens. Mit dieser Konzentration auf das Wort, auf eine letztlich verbale, unsinnliche Kommunikation, trat ein neues Moment in die religiös-soziale Erfahrungswelt der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Der Glaube implizierte bei aller konstatierten Unbegreiflichkeit Gottes ein Begreifen, ein geistiges Ringen und eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der ›reinen‹ Lehre.[44] Der philosophische Rationalismus des 17. Jahrhunderts war zwar kein Produkt der Reformation, selbst nicht in seinen christlichen Formen, doch ein ›verständiges‹ Reden über Glaubensprobleme, die ›vernünftige‹ Einsicht in die Glaubenswahrheiten, darüber auch zugleich in ›weltliche‹ Zusammenhänge, wurden durch die Reformation – allerdings mehr durch den Calvinismus als durch das Luthertum – stark gefördert, und das nicht nur in einer intellektuellen Elite. Im Prinzip bedurfte dagegen ein Katholik für sein Heil auch nach dem Tridentinum und den intellektuell-konfessionellen Auseinandersetzungen mit der Reformation keines religiösen Wissens, keiner geistigen Anstrengung, brauchte letztlich die Bibel nicht zu kennen und die Predigt nicht zu verstehen. Auch der einfache evangelische Mann verstand oft die Worte seines Pfarrers nicht, aber er mußte und sollte sich anstrengen.[45]

Mit der Reformation wurde jedenfalls das Verstehen des Evangeliums, nicht mehr das bloße Hinnehmen und die symbolisch-rituelle Aneignung der Heilswahrheiten, sondern ihre intellektuelle Aufnahme geradezu zur Voraussetzung, zum Bestandteil des Glaubens. Wenn damit der Mensch über die Wortverkündigung in eine verbale Kommunikation mit Gott trat, schloß dies die Versammlung aller Christen, d.h. ein kirchliches Gemeindeleben nicht aus. Im Gegenteil: So wenig der Pfarrer selbst Heilsvermittler war, so sehr private Andachten gefördert wurden und so sehr die religiöse Reflexion und das Gebet im außerkirchlichen Bereich zur religiösen Praxis der Protestanten werden sollten, also an sich die Kirchengemeinde für das religiöse Leben nicht konstitutiv war, blieb der Gemeindegottesdienst praktisch doch der Mittelpunkt der religiös-kirchlichen Praxis; allerdings – und darauf kam es an – nicht mehr als von einem Geistlichen zelebrierter Akt, sondern als eine religiöse Gedenkfeier der versammelten Gemeinde, in der der einzelne sich als Glied einer Christengemeinde begriff.[46] Konnte ein Gläubiger in der vorreformatorischen Kirche je nach seinen unterschiedlichen Bedürfnissen Heilsgüter erwerben, für jedes Problem in der Kirche ein Hilfsmittel finden, reduzierte sich das religiöse Angebot in der evangelischen Gemeinde allein auf das zentrale Ziel der religiösen Belehrung und der moralischen Erbauung durch die Schrift, was einen hohen Einsatz des Pfarrers voraussetzte und ihm ein bewußtes Eingehen auf die Gemeindemitglieder abverlangte. Dies waren wichtige Voraussetzungen zu einer allein durch das Wort gestifteten Gemeinschaft. Sicherlich war die Reduzierung auf verbale Kommunikation in freikirchlichen und puritanischen Kreisen stärker ausgebildet als im Luthertum, wenn wir etwa an das religiöse Leben in Holland und England denken.[47] Doch im Prinzip rückte überall im Vergleich zum Katholizismus die religiös-verbale Kommunikation auf Kosten einer rituell-symbolischen in den Vordergrund. Anstelle einer vielseitig interpretierbaren, alle möglichen religiösen Bedürfnisse befriedigenden Kultfeier trat jedenfalls ein alle Gemeindemitglieder gleicherweise verbindender Wortgottesdienst. Geistige Flexibilität und intellektuelle Interessen wurden dadurch auch außerhalb der Eliten derart gefördert, daß frühaufklärerische Ansprüche weit mehr mit protestantischen als mit katholischen Interessen konform gehen konnten.

2. Die Reformation stärkte die verbale, alltagsabgehobene Kommunikation. Nicht weniger förderte sie ein subjektives Verantwortungsbewußtsein und damit ein moralisches Handeln, das sich an einem Gewissen orientierte, das nicht länger von der Kirche verwaltet wurde, sondern vom einzelnen Menschen ausgebildet werden mußte.[48] Die Idee der Eigenverantwortlichkeit gab es zwar schon lange, aber als Pflicht eines jeden Menschen, sich bewußt den Situationen zu stellen, gibt es sie erst mit der protestantischen Ethik. Es waren gerade die Ausschaltung aller vermittelnden Instanzen zwischen Gott und dem Menschen und das Sich-Nicht-Mehr-Berufenkönnen auf besondere erwerbbare Gnaden wie angebotene religiöse Praktiken, die alle einzelnen Christen zwangen, mit sich und ihrem Gott zurechtzukommen. Zwar sollte der Christ Vertrauen auf Gott setzen und im Namen Gottes handeln, doch erstmals die Verantwortung für das eigene Handeln selbst zu tragen hieß sich der Welt in voller Verantwortung zu stellen.[49] Dies war letztlich der eigentliche Sinn der Aufforderung, die Welt zu verchristlichen, sie bewußt im Sinne des Christentums zu gestalten. Dies wird wiederum am deutlichsten im puritanischen Protestantismus, aber auch im Pietismus.

Der neue religiöse Subjektivismus, die Besinnung auf sich selbst und das eigene Vermögen, schlossen eine Verantwortlichkeit für das Geschehen in der Öffentlichkeit, in der Familie und in der Arbeit nicht aus. Im Gegenteil, im öffentlichen Engagement, in bewußt aktiver Zukehr zur Welt, legte der Protestant Zeugnis ab von der Wahrheit des christlichen Glaubens. Die Kirchen gaben den Gläubigen zwar Rückhalt, ermutigten sie zur Aktivität, schrieben sogar ins Einzelne gehende Verhaltensmuster vor, aber die letzte Entscheidung für den Glauben und das sozial-politische Verhalten mußte jeder Christ selbst treffen. Die alte Geborgenheit und Entlastung durch eine Fülle kirchlicher und nichtkirchlicher Rituale gab es nicht mehr. Sicherlich war diese Verpflichtung auf das eigene Gewissen eine Anforderung, der letztlich nur ein dazu Befähigter genügen konnte, der die Voraussetzungen für eine freie Selbstentscheidung besaß. Sie sprach insgesamt mehr die neuen Eliten an als das einfache Volk, und es wurde geradezu zum Signum der neuen Elite, sich durch öffentliches Verantwortungsbewußtsein in der ständischen Gesellschaft hervorzutun. Aber wenn Verantwortung und Gewissen als subjektive Leistungen trotz aller Sachzwänge zusehends Orientierungspunkte sozial-politischen Handelns wurden, so hat die Reformation erstmals einen breitenwirksamen Anstoß, einen an alle Menschen gerichteten Appell zu einer weltimmanenten Verantwortung für moralisch-praktisches Handeln gegeben. Den Lauf der Welt im Prinzip nicht mehr traditionellen Regeln und Institutionen zu überlassen, sondern ihn mit moralisch-sachlichem Handeln zu lenken, wurde ein Gebot gerade des asketischen Protestantismus. Das ständische Selbstbewußtsein der Zeit wurde hierdurch am stärksten bedroht; frühbürgerliches Verhalten legitimierte sich zum Teil aus der protestantischen Ethik.[50]

3. Während vor der Reformation für unser Bewußtsein religiöse Praktiken und weltliche Tätigkeiten kaum trennbar waren, wurde durch die Reformation erstmals der weltliche Bereich vom religiös-kirchlichen abgelöst, wie umgekehrt die ›Religion‹ von jeder ›Weltlichkeit‹ gereinigt und befreit wurde. Die Trennung, die eine Neudefinition von Religion und Welt beinhaltete – übrigens auch von geistlicher und weltlicher Ordnung, von Glauben und Vernunft –, war von beträchtlicher Bedeutung nicht nur für das eigentlich kirchliche Zusammenleben, sondern sowohl für die Herrscherwelt als auch für das Alltagsleben einfacher Leute, die Beerdigungsrituale wie die Arbeitsvorgänge. Zwei Bereiche, in denen dies besonders relevant wurde, seien besonders hervorgehoben. Einmal wurden Religion und Arbeit, d.h. religiöse Interessen und Aktivitäten und weltliche Anschauungen und Geschäfte derart getrennt, daß einerseits Religion zu einem weltfremden Bereich ohne weltliche Niederungen, zu einer reinen Gesinnungsangelegenheit wurde, und andererseits die Arbeitswelt frei von religiösen Sinngebungen und Normen zu einem rein ökonomisch-sozialen Aktionsfeld wurde, das nicht mehr des Segens der Kirche bedurfte.[51] Konkret zeigt sich dies in vielen Arbeitsbrauchtümern, die zwar nicht abgeschafft wurden, aber keine kirchliche Einbindung mehr kannten. Das schloß allerdings nicht aus, daß in dieser ›weltlichen‹ Arbeit sogar der eigentliche Sinn des religiösen Lebens gesehen wurde. Aber das war eine neue Sinngebung. Zum anderen wurden christliche Religion und ›heidnischer‹ Aberglaube in der Weise getrennt, daß die ehemals mit katholischen Frömmigkeitsformen verbundenen magischen Praktiken als weltlich zwar außerhalb der Kirche noch toleriert, oft allerdings auch als antichristlich diffamiert wurden, aber im religiösen Bereich auf jeden Fall – wie der Aberglaube in den Kirchen konkrete Gestalt fand – verworfen und ausgelöscht wurden.[52] Religion und ›Magie‹ – dazu gehörte für den Protestantismus auch der katholische Sakramentenkult – schlossen sich aus, so wenig geleugnet werden kann, daß im Protestantismus das ›Wort‹ oft Ersatz für rituelle Handlungen war.[53]

Damit zerschnitt die Reformation die lang währende Verquickung christlich-magisch-heidnischer Heilspraktiken, wie sie im vorreformatorischen Katholizismus bestanden und das ganze religiöse und soziale Leben durchwirkt und geregelt hatten, und leitete eine Entzauberung der Welt ein, der eine Zunahme rationaler Erklärungsbedürfnisse für weltliche Vorgänge korrespondierte. Zu einer rigiden Trennung von Magie und Religion, d.h. zu einer Reinigung des christlichen Glaubens von allen magischen Praktiken, kam es freilich im Calvinismus und Puritanismus entschiedener als im Luthertum – die Diskussion um die Sakramente zwischen den Konfessionen zeigt dies eindeutig –, aber im Prinzip zählte der Kampf gegen die Magie zum Kernbestand aller reformatorischen Richtungen.[54] Das traf letztlich das traditionelle Glaubensverständnis mehr noch als die Beseitigung des Heiligenkultes, des Fürbittenwesens und der Praxis kirchlicher Segnungen, denn es setzte ein neues Gottes- und auch Weltverständnis voraus. So konstitutiv diese Trennung für die Entstehung der Moderne war, so produzierte sie jene Entsakralisierung der Welt, die den zunehmenden Gegensatz von weltabgewandter religiöser Gesinnung und weltzugewandter Arbeitsversessenheit bedingte.

4. Es bleibt zum Schluß noch ein Punkt zu nennen, der zwar auch aus der scharfen Trennung von religiöser und weltlicher Ordnung resultiert, sich aber vor allem aus der moralischen Weltverantwortung des Protestanten ergab. Seinen Glauben in der Welt selbstbewußt und radikal zu verwirklichen, d.h. das weltliche Handeln unter christliche Normen zu stellen, bedeutete nicht nur mitverantwortlich zu werden, sondern auch sich einer Moral zu unterwerfen, die nicht von weltlichen Maximen geleitet wurde. Ohne der Welt zu entfliehen, suchte man sich im Kampf gegen Leidenschaften, Körperlichkeit und Müßiggang zu bewähren. Zwar war die von der Reformation eingeleitete Moralisierung der Gesellschaft eingebunden in eine auch von anderen Kräften getragene Disziplinierung, doch in der Frühzeit war der Protestantismus die treibende Kraft. Er zielte auf vier Bereiche: Der Kampf galt vor allem der Unmäßigkeit im alltäglichen Verhalten beim Essen, Trinken, Kleiden, Feiern und in der Sexualität. Leidenschaften und Unbeherrschtheiten durften nicht mehr gezeigt werden, körperlich-sinnliche Bedürfnisse und Wünsche wurden der christlichen Vernunft unterworfen.[55] Ferner ging es darum, die Menschen zu regelmäßiger Arbeit, zu Fleiß und Ordnung notfalls mit Gewalt zu erziehen, nicht nur um Müßiggang und Bettel und damit das Laster abzuwehren, sondern um dadurch das Christsein zu verwirklichen. Weiterhin galt es, eine ›saubere‹ Umwelt zu schaffen, nicht nur als Bedingung und Voraussetzung eines Lebens ohne Krankheit und Seuchen, sondern um ein würdiges Leben zu ermöglichen. Reinheit der Seele schloß Reinheit des Körpers ein.[56] Damit war die Hygiene noch kein Problem der Reformation, diese schuf aber wichtige Voraussetzungen für ihre Entwicklung. Schließlich sollte jeder Christ eine Bildung erhalten, zumindest Lesen und Schreiben lernen, nicht nur um die Schrift zu lesen, sondern um sich in der Welt als ein der wichtigsten Lehren kundiger Christ zu behaupten. So wenig durch diese lebensgestaltenden Bemühungen Heil oder Gnade erworben werden konnten, so wenig sie also für den Glauben konstitutiv wurden, wurde es doch zunehmend nicht nur für die Theologen und Pfarrer unvorstellbar, daß etwa ein der Trunkenheit verfallener, fauler, dreckiger und ungebildeter Mensch ein gläubiger Protestant sein könne. Ein wahrer Christ, der Zeugnis abgab vom Christentum und seiner Kirche, war ein züchtiger, fleißiger, sauberer und gebildeter Mensch. Daß dies sich letztlich weitgehend nur in oberen sozialen Schichten realisieren ließ, somit der asketische Protestantismus auch keine breiten Schichten erfassen konnte, haben die Kirchen lange nicht gesehen.[57] Dieses Bild des ›vernünftigen‹ evangelischen Christen war zwar noch lange nicht identisch mit dem eines ›aufklärerischen‹ Bürgers, doch an der Entstehung des ›zivilisierten Menschen‹, der sich mehr nach der Vernunft ausrichtet als an den Traditionen und dessen Leidenschaften einem zweckhaften Handeln unterworfen sind, hatten die Reformation und ihre evangelischen Kirchen nicht minder mitgewirkt als die ›höfische‹ Gesellschaft.

Die Reformation insgesamt hat tiefgreifende Spuren hinterlassen, die sowohl die Alltagswelt betrafen als auch die religiöse Ordnung und die politisch-öffentliche Welt. Ihre Wirkungen waren höchst verschieden und ambivalent, sie zerstörten alte Lebensverhältnisse und begründeten neue, sie unterstützten freiheitliche Ordnungen und schufen neue Abhängigkeiten. Die Reformation förderte rationale Lebensformen, unterdrückte aber auch vitale Lebensinteressen. Sie bildete zwar nicht den Wendepunkt vom Mittelalter zur Neuzeit, soweit sich von einem solchen überhaupt sprechen läßt, doch ohne die Reformation und den Protestantismus sind entscheidende neuzeitliche Entwicklungen nicht zu verstehen. Zwar war im Calvinismus und Puritanismus aufgrund unterschiedlichster Umstände das Rationalisierungspotential stärker ausgeprägt als im gemäßigten Luthertum, doch auch dieses löste sich von der Tradition. Ein einheitliches Bild vom Protestantismus gibt es zwar nicht, aber im Unterschied zum vorreformatorischen und zum Teil auch zum nachtridentinischen Katholizismus forcierten alle neuen evangelischen Glaubensgemeinschaften bewußt oder unbewußt – was die Reformation mit ihren Aktivitäten intendierte, ist oft von dem unterschieden, was Realität wurde –, allein oder in Verbindung mit weltlichen Kräften: 1. die Trennung von Religion und weltlicher Ordnung, eine ›Entweltlichung‹ der Religion trotz aller Neuentstehung eines Staatskirchentums, 2. die Aufwertung der weltlichen Ordnung, damit auch der Arbeitswelt, – ihre Entsakralisierung schloß allerdings lange theokratische bzw. Resakralisierungstendenzen nicht aus –, 3. die Stärkung freiheitlicher politischer Organisationen bei gleichzeitig starkem Bekenntnis zu patriarchalischen Ordnungen, 4. die Moralisierung aller sozialen Beziehungen bei aller Betonung der religiösen Verantwortung des einzelnen. Damit waren wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung der Moderne gegeben. Daß sie zugleich gesellschaftsrelevant wurden, konkret und gesellschaftsändernd wirkten, war allerdings nicht allein der Reformation bzw. dem Protestantismus zu verdanken. Die Wirkungsgeschichte der Reformation war eingebunden in den Formierungsprozeß der neuzeitlichen Gesellschaft, sie gab der ›Modernisierung‹ Europas kräftige Impulse.

2. Das Täufertum als sozialreligiöse Bewegung

Der gemeine Mann hatte 1525 auf seine Weise Konsequenzen aus der reformatorischen Bewegung gezogen. Dem religiösen Aufbruch der Frühreformation schien zeitweise eine soziale Revolution unmittelbar folgen, ja mit ihm verschmelzen zu wollen, als Thomas Müntzer die allgemeinen religiösen wie sozialen Reformationshoffnungen zu einer chiliastischen Rebellion radikalisierte und mit Hilfe der Bauern gewaltsam eine »christliche Reformation« auf dem Boden einer ›urchristlich‹ sozial-egalitären Gesellschaftsvorstellung durchzuführen strebte.

Sollte man annehmen, daß mit dem Untergang des ›Bundes der Auserwählten‹ von Müntzer und der Niederwerfung der ›christlichen Vereinigung‹ der Bauern, die auf je ihre Weise gewaltsam eine christliche Reformation verwirklichen wollten, jeder weiteren Protestbewegung der Boden entzogen war, so erstand dennoch unmittelbar nach der Katastrophe von 1525 eine sich rasch ausbreitende religiös-soziale Bewegung, die Kirche und Obrigkeit nicht weniger als die Bauern zuvor herausforderte. Im Protest gegen die ›steckengebliebene‹ Reformation, im Entsetzen über die brutale Niederschlagung der Bauern und in der Verurteilung altgläubig-katholischer Reaktion suchte sie im Einklang mit der frühreformatorischen Forderung nach religiöser Selbstbestimmung die kompromißlose Restitution der ›Gemeinde der Heiligen‹ als religiös-politisches Ziel. Ohne damit einen unmittelbar politischen Anspruch zu artikulieren, stellte das Täufertum insgesamt doch die Gesellschaftsordnung noch stärker und radikaler in Frage als die letztlich traditionalistisch denkenden und handelnden Bauern.[58]

I.

Dem Täufertum wird heute unbestritten eine eigenständige, innovatorische Bedeutung sowohl im Prozeß der Konstituierung der Neuzeit im allgemeinen, wie in der Ausbildung der Reformation und ihrer kirchlichen Organisationen im besonderen zugesprochen. Doch die Interessen der Analysen, damit auch der Interpretation, differieren beträchtlich. Drei Erklärungsverfahren sind bekannt: das kirchengeschichtliche, das marxistische und das der millenarischen Forschung. Der kirchengeschichtlichen Forschung geht es weitgehend um eine Aufwertung des Täufertums, einmal als dritter, gleichrangiger Kraft neben Luther und Zwingli, dann vor allem als Anfang der modernen, vom Staat unabhängigen, freikirchlichen Bewegung. Ihr wesentlicher Zug ist die Differenzierung verschiedener Gruppen nach den jeweiligen Theologien der Täuferführer, wobei gegen die apokalyptisch-chiliastische Ausformung als eine letztlich nicht repräsentative ›Entgleisung‹ die biblizistische, friedliche Richtung als das eigentliche, weil ursprüngliche Täufertum hervorgehoben wird. So wird das Täufertum als eine apolitische religiöse Bewegung sui generis verstanden, die zwar soziale Auswirkungen zeitigte, deren letzte Erklärung und Verankerung aber nicht im Sozialen, sondern im Psychologischen, d.h. im Glauben der einzelnen Täufer bzw. ihrer Führer liegen.[59] Dagegen vermittelt die sich marxistisch verstehende Historiographie eine völlig andere Interpretation des Täufertums, die geleitet ist von seiner Funktionsbestimmung als »Resignations- und Trotzgestalt« in der Schlußphase der »frühbürgerlichen Revolution«.[60] Die religiöse Absonderung wird verstanden als Ausdruck eines unzeitgemäßen Sozialverhaltens. Die radikale Richtung des Täufertums repräsentiert das Fortschrittliche, wenn auch im Gewand eines Sektenfanatismus, während die biblizistischfriedliche Richtung lediglich einer jede Opposition aufgebenden Resignation entspringt.[61] Schließlich analysiert die millenarische Forschung das Täufertum, vor allem seine enthusiastisch-chiliastische Ausformung im Lichte der ›Heilsbewegung‹ der Dritten Welt bzw. totalitärer Bewegungen der jungen Vergangenheit in Europa als ein universales Problem, dessen charakteristische Merkmale, Motivationen wie Zielvorstellungen überall gleich strukturiert sind, zumindest ungeachtet aller unterschiedlichen Entstehungsbedingungen als vergleichbar beurteilt werden. Entsprechend der unterschiedlichen politischen Interessen differiert daher die Bewertung des radikalen Täufertums als Protestbewegung gegen feudale oder koloniale Unterdrückung oder als »wahres Urbild einer heutigen totalitären Partei«[62], als Praefiguration bzw. Anfänge totalitärer politischer Bewegungen. Die millenarische Forschung bewertet das Täufertum als eine typische sozial-religiöse Bewegung, ohne aber die Differenz zwischen feudaler und kolonialer Situation[63] bzw. religiös-chiliastischer und säkularisierter, totalitärer Bewegung zu sehen.[64]

Wenn hier nun das Täufertum als eine sozialreligiöse Bewegung thematisiert wird, so versteht sich der vorliegende Strukturierungsversuch nicht als eine vierte Möglichkeit der Interpretation. Indem versucht wird, das Täufertum unter der Bedingung seiner gesellschaftlichen Situation und Entwicklung nach 1525 und unter der Problemstellung der sozialen Gebundenheit der täuferischen Bewegung zu begreifen, will der Beitrag eine Dimension in den Vordergrund rücken, die in allen Erklärungsmustern bisher letztlich unberücksichtigt bleibt. Es geht um die Entstehung und Entwicklung des Täufertums, die nicht einem inneren Gesetz religiöser Artikulation von Minderheiten folgen, sondern an ein gesellschaftliches Interesse gekoppelt sind und sich in einem vorgegebenen Rahmen vollziehen, der sich bis auf die Lehre und das Verhalten der organisierten Gruppen auswirkte. Waren es doch gerade die in Reformwillen, Protest wie Anpassung herausgebildeten Denkstrukturen und Verhaltensweisen einer gesellschaftlichen Minorität, die die evolutionäre Bedeutung des Täufertums in der Moderne ausmachten.[65]

II.

Das Täufertum war seinem Selbstverständnis und seiner religionsgeschichtlichen Stellung nach eine genuin reformatorische, aber anfangs keineswegs einheitliche, über eine allgemeine Grundstimmung hinausreichende, theologisch fixierbare Bewegung.[66] Das sich allenthalben im Reich, insbesondere im Raum starker sozialer Mobilität und der intensiven Auseinandersetzung um Reformation, Humanismus und bäuerliche Rechte in kleinen Gruppen ›herrschaftsfrei‹ konstituierende Täufertum geht ideologisch und sozial auf verschiedene Ursprünge zurück; neben dem Kreis um den Zwingli-Schüler und Patriziersohn Konrad Grebel in der Schweiz[67], sind der um den Müntzer-Anhänger und Buchführer Hans Hut aus Franken[68] und die unter dem Einfluß des Apokalyptikers Melchior Hofmann, eines schwäbischen Kürschners, stehenden Niederländer zu nennen.[69] Das Täufertum unterlag damit unterschiedlichen Entstehungsbedingungen, wie sie durch die religiöse, kirchliche und soziale Situation in der Schweiz, in Thüringen, Franken und Holland gegeben waren, und wurde von heterogenen Erfahrungen geprägt; neben die soziale wie religiöse Desorientierung, die durch den reformatorischen Umbruch gegeben und vor allem in den städtischen Unruhen von 1525 spürbar war, traten die Erfahrungen des gescheiterten Bauernkriegs, die fortan jede spontane politische Artikulation sozialer und religiöser Wünsche des gemeinen Mannes auf dem Lande wie in der stadtbürgerlichen Gesellschaft unmöglich machten, sowie die der ersten gegenreformatorischen Tendenzen in Österreich, Bayern und den Niederlanden und nicht zuletzt die Enttäuschung über die lutherische bzw. zwinglische Reformation, die sich unter dem Eindruck des Bauernkriegs zur Fürsten- bzw. Obrigkeitsreformation verändert hatte und jede religiöse Abweichung kriminalisierte. Diese Erfahrungen jedenfalls zeitigten in mittelständischen Kreisen einen dreifachen Protest: 1. gegen das Versagen oder Ausbleiben einer auch in weltliche Bereiche eingreifenden, sozial sich auswirkenden Reformation, wie sie den sozialen und religiösen Bedürfnissen des gemeinen Mannes entsprochen hätte, 2. gegen die Institutionalisierung einer neuen Herrschaftskirche, die Hierarchisierung der neuen Religionsgemeinschaften, welche die konkrete Idee des allgemeinen Priestertums verdrängte und der weltlichen Obrigkeit erneuten Einfluß auf die geistliche Gemeinde gestattete, und schließlich 3. gegen die anhaltende ›Weltlichkeit‹ der Gesellschaft und insbesondere der Obrigkeit, wie sie vor allem im Bauernkrieg sichtbar geworden war. Die Obrigkeit hatte keine sittlichmoralischen Konsequenzen aus der Reformation gezogen.