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Richard van Dülmen

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Beschreibung

Aus dem Inhalt: I. Reformation und soziale Bewegung II. Thomas Müntzer und die radikale Reformation III. Das Täufertum und das Königreich Sion in Münster (1534/35) (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Richard van Dülmen

Reformation als Revolution

Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation

FISCHER E-Books

Inhalt

Die in den Fußnoten [...]Für Andrea [...]VorwortI. Reformation und soziale Bewegung1. Krise und Reform im Spätmittelaltera)b)c)d)2. Luther und die Reformationa)b)c)d)e)f)3. Bauernkrieg und Reformationa)b)c)d)e)f)4. Reformation zwischen Protest und Emanzipationa)b)II. Thomas Müntzer und die radikale ReformationVorbemerkung5. Der Knecht Gottes: Zum Selbstverständnis Müntzersa) Theologe oder politischer Revolutionärb) Selbstverständnis und Geschichtsbewußtsein6. Thomas Müntzer und die Zwickauer Prophetena) Müntzer als Anhänger Luthersb) Die Zwickauer Prophetenc) Das ›Prager Manifest‹7. Allstedt und der Bund der Auserwähltena) Liturgische Reform und deutsches Kirchenamtb) Der Bund der Auserwähltenc) Der Bund und die ›Fürstenpredigt‹d) ›Ausgedrückte Entblößung‹8. Müntzer und der Thüringer Aufstanda) Mühlhausen und der Ewige Bund Gottesb) Müntzer in Nürnberg und Südwestdeutschlandc) Mühlhausen und der Ewige Ratd) Bauernaufstand in Thüringen und die revolutionäre Propaganda Müntzers9. Zusammenfassung: Müntzers chiliastische RevolutionIII. Das Täufertum und das Königreich Sion in Münster 1534/35VorbemerkungA. Entstehung des Täufertums in Oberdeutschland10. Ursprünge, Verbreitung und Zentren11. Protest und Aufbruch12. Konsequenz oder RanderscheinungB. Das Königreich Sion zu Münster 1534/35Vorbemerkung13. Melchior Hofmann und das niederländische Täufertum14. Soziale Bewegung und Reformation in Münster (1525–1533)15. Anfänge des Täufertums und Errichtung des Neuen Jerusalem16. Das Königreich Sion unter Jan van Leiden17. Wirkung und Ende des radikalen TäufertumsZusammenfassung: Täufertum zwischen Separation und RevolutionSchlußQuellen und LiteraturI. QuellenII. LiteraturAllgemeinZum Teil 1Zum Teil IIZum Teil IIIAbkürzungen

Die in den Fußnoten benutzten Abkürzungen für die Quellen sind im Kapitel Abkürzungen erklärt. Die zitierte Literatur findet sich ausführlicher und zusammengefaßt in der Bibliographie, im Kapitel Quellen und Literatur.

Für Andrea

Vorwort

»Eine Revolution ist ein Unglück, aber ein noch größeres Unglück ist eine verunglückte Revolution«

Heinrich Heine

Ziel der erstmals 1977 publizierten Untersuchung ist es, die Verflechtung von religiöser Radikalisierung und sozialer Bewegung in der deutschen Reformation aufzuzeigen. Thomas Müntzer und das Täufertum in Münster stehen im Mittelpunkt der Darstellung. Weit stärker als bei Luther und den Bauern wird dieser Zusammenhang von religiöser Motivierung und politisch-sozialer Aktion bei ihnen greifbar. Die Reformation Luthers verblieb ausschließlich bei der religiösen Verkündigung der inneren Befreiung des Menschen, und die Bauern propagierten nur die politische Wiederherstellung alter Freiheiten auf der Grundlage des göttlichen Rechts. Allein in Müntzers radikaler Reformation und im Chiliasmus des Münsteraner Täufertums kam es zur Deckung von sozialer Hoffnung und religiösem Änderungswillen, zur Verbindung von religiöser und sozialer Selbstbestimmung, die durch die Errichtung eines Reiches Gottes, das die innere Befreiung durch eine äußere vervollkommnen wollte, zur Aufkündigung der feudalen Gesellschaftsordnung führte, ohne allerdings eine neue Ordnung aufzurichten. Die soziale Sprengkraft der Idee des ›Reiches Gottes‹ ist zwar nur aus dem reformatorischen Aufbruch zu verstehen, seine geistigen Wurzeln gründen aber im religiösen und sozialen Erneuerungswillen der spätmittelalterlichen Gesellschaft.

Die Problemstellung der Analyse erwuchs aus einem Diskussionszusammenhang der frühen 70er Jahre. Es ging darum, einerseits den sogenannten ›linken Flügel‹ der Reformation aufzuarbeiten und die ›radikale Reformation‹ als gleichwertiges alternatives Programm neben dem Luthers bzw. Zwinglis aufzuwerten, andererseits eine revolutionäre Tradition in der deutschen Reformation aufzuspüren, die von der Kirchengeschichtsschreibung verdrängt wurde. Herausgefordert von der marxistischen These von der Reformation als frühbürgerlicher Revolution wie von der kirchengeschichtlichen Interpretation der Reformation als eines rein geistig-religiösen Prozesses – beide Interpretationsmuster standen einander schroff gegenüber –, wurde mit der vorliegenden Untersuchung ein neuer, zwischen beiden Positionen vermittelnder Weg zu einer sozialgeschichtlichen Analyse der radikalen Reformation als einem Gesamtphänomen beschritten. Angeregt wurde dieser Versuch durch die Beschäftigung mit anthropologischen Erklärungen millennarischer Bewegungen in der Geschichte. Es geht dabei zum einen um die Interpretation der radikalen Reformation, so wie sie im Werk Müntzers wie der Täufer zum Ausdruck kam, und zwar aus dem sozialen Kontext der Reformationszeit heraus, der nicht nur einen beliebigen Hintergrund abgab, sondern die reformatorische Programmatik entscheidend strukturierte. Damit sollte zugleich auf die Fruchtbarkeit, ja Notwendigkeit einer wechselseitigen Ergänzung von religions- und sozialgeschichtlicher Verfahrensweise aufmerksam gemacht werden. Zum anderen thematisiert die Untersuchung das eigentlich revolutionäre Moment in der Reformation, das aus religiösem Bewußtsein allein die feudale ständische Ordnung aufhob, das allerdings, statt eine realistische, die bestehende Sozialordnung überwindende Alternative anzubieten, letztlich nur den Ausbruch aus der Geschichte empfahl. So ›modern‹ und ›fortschrittlich‹ Müntzers revolutionäre Theologie und der Millennarismus des Täufertums mit ihrem Streben nach Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung erschienen, weil sie eine gänzliche Vernichtung aller institutionellen Zwischeninstanzen zwischen Gott und den Menschen auch in der weltlichen Ordnung propagierten, so vermochten sie doch insgesamt auf der Grundlage derselben Erfahrung nicht eine eigentlich emanzipatorische Lösung der reformatorischen Krise anzubieten. Denn Transformation in eine sozialpolitische Bewegung erlaubten weder die letztlich kaum erschütterbare Feudalordnung der Zeit, noch die müntzerische bzw. Münsteraner Idee einer religiösen Überwindung aller sozial-politischen Gegensätze, was allerdings nicht ausschloß, daß die Vernichtung der radikalen Reformation dennoch eine Verarmung der reformatorischen Neuordnung brachte und allgemein eine Wende der reformatorischen Bewegung hin zur Obrigkeit forcierte.

Die reformationsgeschichtlichen Problemstellungen haben sich seit den 70er Jahren durchaus verschoben. Das Interesse am ›linken Flügel‹ der Reformation hat etwas nachgelassen. Statt dessen wurde die sozial- und regionalgeschichtliche Forschung der Reformation insgesamt, die ja gerade bei der Aufarbeitung der radikalen Reformation erstmals an Profil gewonnen hatte, intensiviert. Verwiesen sei auf die Ergebnisse speziell der Untersuchungen über städtische Reformationen. Im einzelnen setzen wir heute dank neuerer Arbeiten in der Abschätzung der radikalen Reformation und chiliastischen Revolution andere Akzente; sie berühren aber die Interpretation der vorliegenden Untersuchung, die zugleich auch eine Gesamtdarstellung sein wollte, wenig.

I. Reformation und soziale Bewegung

1. Krise und Reform im Spätmittelalter

a)

Die Reformation ist Produkt der allgemeinen Krise des Feudalismus und Antwort auf den tiefgreifenden Strukturwandel der spätmittelalterlichen Gesellschaft, der bereits zu Ende des 14. Jahrhunderts einsetzte und im 16. Jahrhundert zu einer neuen gesellschaftlichen Formation führte.

Das Aufkommen der Geld-Ware-Beziehung, die spätmittelalterliche Agrarkrise – forciert durch die verheerende Pest des 14. Jahrhunderts und ihre demographisch nachweisbaren Folgen – sowie der langsame, aber konstante Aufstieg neuer sozialer Kräfte erschütterten die mittelalterliche Sozialordnung in einer bisher nicht gekannten Weise. Während Kaiser, Reich und Kirche trotz aller Reformversuche zusehends ihre integrative Funktion einbüßten, gewannen das aufkommende Bürgertum und das neue Territorialfürstentum mit der ihnen eigenen Rationalität an politischer und sozialer Bedeutung. Der vom Bürgertum initiierte Frühkapitalismus und die vom Territorialstaat geförderte Verdinglichung der Herrschaft, das neue bürgerliche Bewußtsein und das aufkommende »Macht«-denken transformierten feudale und personale Strukturen der mittelalterlichen Ordnung und stellten die archaische Einheit von Gesellschaft, Herrschaft und Religion völlig in Frage.

Aber nicht nur der Zerfall des mittelalterlichen Feudalismus und der Aufstieg neuer sozialer Kräfte bestimmten die spätmittelalterliche Gesellschaft. Als Reflex hierauf ist sie zugleich durch ein ausgeprägtes Krisenbewußtsein und eine intensive Heilserwartung charakterisiert. Die steigende Anfälligkeit der Gesellschaft, der die feudale Kirche als Orientierungshilfe nicht mehr genügte, für Apokalyptik und Prophetie sowie das wachsende Bedürfnis nach Gnade, Rechtfertigung und Erlösung, dem neue Frömmigkeitsformen wie Ablaß und Wallfahrt entsprachen, dokumentieren das in eklatanter Weise. Die Diskrepanz zwischen Herrschaftswirklichkeit in Reich und Kirche und dem durch die Tradition vermittelten Ideal politisch-herrschaftlicher Gerechtigkeit und kirchlichchristlicher Lebensführung einerseits, zwischen ausbeuterischen Finanzpraktiken der heilversprechenden Kirche und der Heilssehnsucht der Menschen andererseits wurde immer stärker empfunden. Ihre Verunsicherung führte zu immer heftigerer Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und zu unüberhörbaren Reformwünschen, die mit den herkömmlichen Mitteln in dieser Zeit politischer Orientierungslosigkeit nicht mehr zu befriedigen waren. Da jedoch das Kultur- und Religionssystem, wie es das in der Kirche institutionalisierte Christentum vermittelte, die Hauptartikulationsmöglichkeit vor allem auch politischer und sozialer Wünsche bildete, konnte eine Lösung der Probleme auch nur in diesem religiösen Rahmen erfolgen.

Die Reformation war mit diesen beiden spätmittelalterlichen Kräften und Bewegungen – dem aufkommenden Bürgertum und dem Territorialstaat wie der steigenden Sehnsucht nach Heil und religiöser wie sozialer Reform – aufs engste verbunden. Indem die Reformation auf die allgemeine Heilssehnsucht mit einer Theologie der Rechtfertigung im Glauben und mit der Zerstörung der Herrschaftskirche reagierte, kam sie dem radikalkritischen Reformverlangen des Spätmittelalters entgegen. Initiiert vom sich emanzipierenden Bewußtsein des Bürgertums wurde die Reformation allerdings bald vom fürstlichen Territorialstaat als Mittel zur Intensivierung der Herrschaft und Disziplinierung der Gesellschaft umfunktioniert. Die vielfältige Verflochtenheit der Reformation mit der spätmittelalterlichen Gesellschaft bedingte ihre Komplexität. Weil die herrschende Ideologie und ihre Institutionen nicht mehr die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen vermochten und der durch die Krise des Feudalismus entzündete Protest sich religiös artikulierte, konnte sich die Reformation als soziale und religiöse Bewegung durchsetzen.

b)

Die spätmittelalterliche Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine Reihe von Krisen und Konflikten. Sie zeigten sich in verschiedenen Bereichen, im sozial-ökonomischen, kirchlich-religiösen und im herrschaftlich-politischen Bereich und weisen in unterschiedlicher Weise auf eine Krise des Feudalismus hin. Von einer »nationalen« Gesamtkrise, die die Reformation notwendig zur Folge hatte, kann allerdings nicht gesprochen werden[1].

Mit dem Emanzipationsstreben der Territorialherren einerseits und der Veräußerung der Reichsregalien wie dem Rückzug des Kaisers auf eine eigene Hausmacht andererseits zeichnete sich seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, vollends im 15. Jahrhundert, der Verfall des Reiches ab[2]. Das Reich wandelte sich von einem Lehnsstaat zu einem Ständestaat, von einem Personalverband zu einer Fürstenaristokratie. Zwar wurden Idee und Anspruch des Reichs und des Kaisertums nie aufgegeben, Reichsidee und Reichswirklichkeit klafften aber immer weiter auseinander. Alle Versuche, eine neue Reichsverfassung zu schaffen, scheiterten, sowohl die reichsständisch orientierten wie die insbesondere von Kaiser Maximilian initiierten Bemühungen. Die publizistischen Appelle taten keine Wirkung, förderten zwar das Reichsbewußtsein selbst über den intellektuellen Stand hinaus, aber auch die Enttäuschung über das Scheitern dieser Versuche. Das Ausscheiden der Eidgenossenschaft aus dem Verband machte erstmals offenkundig, wie machtlos das Reich geworden war. Die Politik Karls V. repräsentierte zwar noch einmal die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit, aber auch deren Ende.

Zwar traten an die Stelle des Reichs die Territorialstaaten, aber noch war ihr Erfolg im Reich vor der Reformation ungewiß und ihr System keineswegs ausgebaut. Je mehr sich aber die einzelnen Territorialstaaten konsolidierten und die Landesfürsten ihre Macht zu zentrieren suchten, um so fester etablierten sich der Adel sowie Städte und Prälatenklöster, die nicht die Reichsunmittelbarkeit erlangten, zu Landständen, die auf Grund ihrer Privilegien und ihrer finanziellen Potenz als gleichwertige Partner neben, ja auch gegen den Landesherrn, das Land mitzuregieren beanspruchten[3]. Vor der Reformation, als noch nicht entschieden war, wer das Reich und die Länder repräsentierte, der Kaiser oder die Reichsstände, der Landesfürst oder die Landstände, bildete das Reich letztlich eine Anarchie in Gestalt einer Monarchie.

Noch stärker als im Politischen traten die Krisen und Konflikte im kirchlich-religiösen Bereich in das allgemeine Bewußtsein[4], berührten den einzelnen viel intensiver. Der Gegensatz von geistlicher Heilsanstalt und weltlicher Macht innerhalb der Kirche, institutionalisiert im Kirchenstaat und in kirchlichen Grundherrschaften und Territorien, wurde immer stärker empfunden, Anspruch und Wirklichkeit, christliche Lehre und weltliche Praxis differierten allzu offensichtlich. Seit den großen Konzilien des frühen 15. Jahrhunderts war der Ruf nach Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern nicht mehr verklungen. Die Einheit der Kirche war zwar wiederhergestellt und die meisten sektiererischen Herausforderungen überwunden, doch die Mißstände stiegen in dem Maße, wie die Kurie es verstand, durch ein modernes Finanz- und Steuersystem ihren wachsenden Finanzbedarf zu decken und neben den weltlichen Herrschaften als eigene politische Macht aufzutreten. Die Verquickung von geistlicher und weltlicher Macht, der Verkauf von Gnadengütern jeder Art und die Bestrafung weltlicher Straftaten mit dem Kirchenbann auf der einen Seite, der Lebenswandel höherer wie niederer Geistlichkeit, der Verfall der Klosterzucht und des mönchischen Armutsideals auf der anderen, minderten die Glaubwürdigkeit der Kirche als Verwalterin und Vermittlerin göttlichen Heils und erschütterten das Glaubensbewußtsein, ohne daß die Kirche allerdings als Heilsinstitution prinzipiell in Frage gestellt wurde. Kritik, ja Haß und Widerstand gegen die Kirche und ihre Träger waren oft gepaart mit einer Heilserwartung, die noch ausschließlich in der traditionellen Kirche Erfüllung suchte. Nicht weniger destruktiv wirkten sich die ideologischen Streitigkeiten und der soziale Gegensatz innerhalb der Kirche selbst aus. Neben und gegen die veraltete scholastische Theologie, die weder dem Bedürfnis der Geistlichkeit noch dem der aktiven Laien länger entsprach, trat eine neue Frömmigkeitsbewegung, die die Kirche und ihre Theologie an dem Ideal ihrer Ursprünge maß. So systemimmanent diese emanzipatorische Bewegung sich auch entwickelte, so schnell konnte sie doch andererseits zu einem antikirchlichen Instrument werden. Wie im weltlichen Bereich der Mensch die politische Orientierung verlor, so schwand im geistlichen die Gewißheit des Heils.

Das allgemeine Krisenbewußtsein wurde schließlich noch verstärkt durch Krisen im sozial-ökonomischen Sektor[5]. Obwohl hier die Ursachen und Auswirkungen weniger klar auszumachen sind und in jeder Landschaft unterschiedlich waren, so ist doch sicher, daß die mit der sich durchsetzenden Geld-Ware-Beziehung entstandenen neuen Produktionsinstrumente und Produktionsweisen, die Agrarkrise und die von beiden bedingte »Preisrevolution« eine bedeutende Rolle spielten. Zwar kann man nicht von einer generellen Verarmung aller Unterschichten sprechen, aber es kam zu einer stärkeren sozialen Differenzierung, wobei sich neben den reicher werdenden Bauern und Handwerkern die unteren, am Rande des Existenzminimums lebenden Schichten vergrößerten. Die letztlich schwer fixierbaren ökonomischen Krisen traten stets in Verbindung mit rechtlich-sozialen Problemen ins Bewußtsein. Wenn man absieht von der generellen Abhängigkeit einer Agrargesellschaft von Mißernten und Seuchen und deren Wirkungen auf die Volksmentalität, so trugen vor allem die Versuche einer Neuregelung des Verhältnisses von Grundherren und Bauern, von Meistern und Gesellen zu einer Verunsicherung bei, die noch durch allgemeine Rechtsungleichheit und herrschaftliche Willkür verstärkt wurde und zu den bekannten Protesten führte. Neben die zahlreichen Adelsfehden traten vor allem die Protestbewegungen der Bauern und Handwerker, vom Auftreten des Pfeiffers von Niklashausen (1476) über die Bundschuhbewegung (1493, 1502, 1513) bis zum Armen Konrad (1517), und die frühen Zunftunruhen in den Städten, die bis in die Zeit der Reformation virulent blieben[6].

Im 15. Jahrhundert zerfiel das Reich in ein Bündel von Einzelgewalten, das System des Feudalismus verlor von seiner ursprünglichen Schutz- und Rechtsfunktion, und das Kultur- und Religionssystem entfremdete sich immer mehr den realen Lebensbedürfnissen. Die vielfältigen Krisen und Konflikte in der spätmittelalterlichen Gesellschaft begannen sich erst seit dem späten 15. Jahrhundert auf den Protest gegen die Kirche zu konzentrieren, gegen ihre Frömmigkeitspraxis, ihre Lehren und ihr Finanzsystem. Am Antiklerikalismus partizipierten sowohl Adel und Bauern wie Bürger und Lohnarbeiter, insbesondere die lautstarken städtischen Publizisten. Dieser gemeinsame Protest gegen die Herrschaftskirche war vor der Reformation so stark geworden, daß es nur noch eines geringen Anlasses bedurfte, um ihn in offene Rebellion gegen die Kirche umschlagen zu lassen.

c)

Als Ausdruck und Folge des allgemeinen sozialen Wandels im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit werden neben der sinkenden Macht der Kirche und des Reiches und der wachsenden sozialen Unzufriedenheit in Stadt und Land vor allem die Entstehung und Herausbildung des Territorialstaates sowie der Aufstieg und die Emanzipation des Bürgertums betrachtet[7].

Da das Kaisertum des Mittelalters es nicht verstanden hatte, eine zentrale Verwaltung mit einem wirksamen Steuersystem zu schaffen, also das Reich zu einem neuzeitlichen Staat umzuwandeln, konnten sich innerhalb dieses Machtvakuums die Reichsfürsten gleichsam zu selbständigen Landesherren erheben, ohne allerdings den Reichsverband als übergeordnete Friedensorganisation aufzugeben oder aufgeben zu wollen[8]. Durch die Usurpation kaiserlicher Regalien, den Aufbau einer landesherrlichen Gerichtsbarkeit, die Entwicklung einer eigenen Kirchenhoheit und vor allem durch die Förderung einer Bürokratie mit funktionierender Verwaltung und einem Beamtenapparat, der immer mehr mit Bürgerlichen besetzt wurde, entwickelte sich in den einzelnen Territorien erstmals die Idee der Staatlichkeit, so daß der Territorialstaat bald die eigentliche Rechts- und Machtwirklichkeit im alten Reich ausmachte. Erbschaft, Kauf, Tausch und Einziehung von Lehen ermöglichten Abrundungen und Vergrößerungen der zunächst kleinen und höchst zersplitterten Landesstaaten. Die Rezipierung des römischen Rechts führte zur Vereinheitlichung des Landrechts und zur stärkeren Eingliederung selbst des Bauernstandes. Die Entstehung dieses jüngeren Landesfürstentums war jedoch keinesfalls ein Werk der Landesherren allein, die Territorien bildeten wie das Reich einen Ständestaat, in dem sich dem Landesherrn gegenüber privilegierte Adelige, Städte und Klöster zu Ständeversammlungen organisierten.

So unterschiedlich sich das Verhältnis zwischen Landesherrn und Ständen in den einzelnen Ländern auch gestaltete, so bestanden doch alle Stände auf politischer Mitsprache im Land. Sie verhinderten damit zwar die rasche Entwicklung zum modernen Staat, garantierten aber dafür den Bestand des Territoriums und trugen als integrierte Teile des Landes zu dessen innerer Konsolidierung bei[9]. Die Herausbildung der Territorialstaaten war ein höchst komplexer Vorgang, der zur Zeit der Reformation noch keinesfalls abgeschlossen war, aber auf den hin trotz des starken Reichsbewußtseins die deutsche Gesellschaft sich sozial-politisch orientierte.

Parallel dazu bildete sich das gerade für das Spätmittelalter spezifische Städtewesen und Bürgertum aus, ohne die die Reformation ebenfalls nicht zu verstehen ist[10]. Neben dem Territorialstaat leistete die Stadt den größten Beitrag zur Zerstörung des Feudalismus. Um die gesellschaftliche Funktion der Stadt zu verstehen, müssen zwei Aspekte ihrer Entwicklung beachtet werden. Mit der Emanzipation der größeren und reicheren Städte vom feudalen Stadtherrn bildeten sich durch Ausbau einer eigenen Verwaltung in Rat und Gemeindeausschuß, durch Stadtgericht und Marktrecht, durch Zollfreiheit, Münz- und Befestigungsrecht inmitten des Reiches und der Territorien gleich diesen geschlossene, quasi autonome Kommunen. Durch monopolisierten Handel und Handwerk reich geworden, stieg ihre Macht ständig, so daß sie – zum Teil im Bund mit anderen Städten – sich der Eifersucht des in eine Krise geratenen Adels wie der Einflußnahme der Territorialherren erfolgreich erwehren konnten. Diese politisch wie sozial erstarkte Stellung innerhalb des Reichs aber kennzeichnet nur die eine Seite ihrer Geschichte. Die spätmittelalterliche Stadt unterlag einem einschneidenden Strukturwandel, der sich vornehmlich in den Zunftkämpfen ausdrückte. Die sozialen Spannungen zwischen Patriziat und Zünften wie auch den nicht privilegierten Mittel- und Unterschichten nahmen in dem Maße zu, wie das Kapital der Städte anwuchs und der emanzipatorische Wille der Zünfte auf Mitsprache und Beteiligung am Stadtregiment drängte. Nicht selten entluden sich die sozialen Spannungen in Aufruhr, ohne daß sich aber die politische Verfassung je auf Dauer grundsätzlich änderte. An die Stelle des alten Patriziats trat zumeist nur eine Stadtoligarchie. Das Problem der starken Verarmung unterer Schichten wie das der Verkrustung der Zünfte konnten nicht gelöst werden[11]. Die spätmittelalterliche Stadt wurde auf Grund ihrer starken wirtschaftlichen und politischen Stellung Hauptträger des kulturellen Lebens und verdrängte in der feudalen Gesellschaft damit das Kulturmonopol der Kirche wie des Adels. Die Städte wurden erstmals Zentren religiöser Bewegungen, hier fanden der Humanismus stärkste Resonanz und Kunst und Literatur den fruchtbarsten Boden. Diese städtische laizistische, patrizisch-bürgerliche Kultur bildete für die mittelalterliche Welt ein Novum – eine Herausforderung für den Adel wie den Klerus. Sie war mit ihrer schöpferischen und kritischen Potenz nicht nur allgemeiner Ausdruck des Selbstbewußtseins eines neuen Standes zwischen Adel, Geistlichkeit und Bauern, sie schuf auch mit der Förderung frühkapitalistischer Produktionsweisen, Arbeitsteilung und kritischer Bewußtseinsbildung die Anfänge neuzeitlicher Zivilisation[12].

d)

Die spätmittelalterliche Gesellschaft reagierte auf die Krise des Feudalismus mit scharfer Kritik und hohen Reformerwartungen. Sie begriff ihre Lage als Verfall der alten Ordnung sowie als Depravation göttlicher Gerechtigkeit.

Reformbewegungen kannte das ganze Mittelalter, in vielfältiger Form wird von reformare, renovare, restituere, regenerare, reviviscere, resuscitare, renascire gesprochen[13]. Aber im 15. Jahrhundert erreichte das allgemeine Reformationsbewußtsein einen bisher nicht gekannten Höhepunkt. Es umfaßte sowohl den sozialpolitischen wie religiös-geistigen Bereich. Zwar war die gewaltsame Lösung in Form der Fehde zur Wiederherstellung verletzten Rechts als legitimes Mittel in der adeligen Welt bekannt, aber ein gewaltsamer Umsturz lag nicht im Bereich der Möglichkeit, wie auch jeder revolutionäre Wille und jeder bewußte Versuch der Verwirklichung einer neuen weltlichen Ordnung fehlte. Erst die Aufklärung sollte hierfür Voraussetzungen liefern. Im Spätmittelalter bildete die »Reformation« die einzige Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung. Daß der Änderungswille revolutionsähnlichen Charakter annehmen konnte, war so wenig ausgeschlossen wie die Bildung neuer gesellschaftlicher Formationen durch eine Reformation[14].

Das Spätmittelalter kannte zwei verschiedene Grundmuster von Reformation. Einmal wird unter Reformation ein rechtlich-obrigkeitlicher Akt der Wiederherstellung alter Ordnung verstanden, wie wir es aus den bekannten Reichsordnungen, Stadtrechten und Landrechtskodifikationen einzelner Territorien kennen, die das »alt herkommen und gut gewonheiten erneüweret, reformiret« wissen wollten. Beispielhaft ist ›Keyser Fridrichs gemein Reformacion und Ordnung‹ von 1442[15]. Zum anderen schloß der mittelalterliche Reformationsbegriff einen allgemeinen Erneuerungswillen ein, der die ganze Gesellschaft erfaßte und z.T. utopisch-schwärmerischen Charakter annahm. Hier ging es nicht nur um Wiederherstellung alten Rechts und alter Ordnung, sondern um Rückkehr zu einem letztlich dem biblischen Paradies bzw. der Urgemeinde ähnlichen Zustand. Joachimsche Gedankengänge und Kaiserträume, apokalyptische und chiliastische Vorstellungen verbanden sich nicht selten. Reformationserwartungen, die zumeist an den Kaiser sich knüpften, mündeten oft ein in das Warten auf einen heilbringenden Reformator[16].

Auf diesem Boden allgemeiner Reformationshoffnung entstanden zahlreiche Schriften sowohl kirchlicher wie humanistischer Provenienz. Am aufschlußreichsten sind die, die den gemeinen Mann ansprachen und aus seiner Perspektive argumentierten. Die bekannte ›Reformatio Sigismundi‹, die seit 1439 in zahlreichen Abschriften und seit 1476 in mehreren aufwendigen Drucken bis in die Reformationszeit starke Verbreitung fand[17], schloß mit ihrer Kritik an die Bemühungen des Baseler Konzils um eine Reformation im Kirchenwesen an. »Gehorsamkeyt ist tod, gerechtigkeyt leyt not, nichts stet in rechter ordenung«[18]. Wurde ihre Wirkung früher allgemein überschätzt, so versucht man ihr heute wegen ihres konservativen Gesellschaftskonzeptes zu Unrecht eine revolutionäre Bedeutung abzusprechen. Sicherlich ruft sie den gemeinen Mann nicht zum Aufstand auf, doch ihre höchst radikalen Forderungen, die weit über den bekannten mittelalterlichen Kanon von Kritik und Reformwünschen hinausgingen, vermochten durchaus revolutionäres Bewußtsein zu wecken. Den Mißständen in der verweltlichten Kirche und der von Geld und Machtpolitik korrumpierten weltlichen Herrschaft stellt der unbekannte Verfasser eine »rechte« Ordnung des geistlichen und weltlichen Standes entgegen. Maßstab ist ihm sowohl die Ordnung des ersten christlichen Kaisers Konstantin wie auch das »göttliche Recht«. Sein Haß richtet sich besonders gegen die Geistlichkeit und die Gelehrten als Verderber und Verdreher des christlichen Wortes. Zu seinen konkreten Forderungen zählen zwar Säkularisierung der geistlichen Besitztümer, Aufhebung der Leibeigenschaft und Entlastung der Bürger und Bauern, also höchst aktuelle Postulate, aber eine Abschaffung der bestehenden Herrschaftsordnung ist nicht das Ziel, sondern nur deren Reform nach einem gerechten und göttlichen Ideal[19]. Mittel der Reformation ist nicht Gewalt[20], sondern die Bekehrung der Christenheit und die Wiedergeburt des einzelnen Menschen. Als Träger bietet sich der »Haufe« an, der der Gerechtigkeit anhängt, sie verteidigt und verbreitet. Gemeint ist damit nicht der gemeine Mann, sondern der echte Christ. Wenn die Schrift schließlich in die Vision eines von Gott gesandten Retters einmündet, so wird doch keine Beziehung zu einem Kampf mit dem Antichristen hergestellt. Der kommende Priesterkönig wird messiasgleich unter dem Zeichen des Reichsadlers und des Kreuzes mit den »Gerechten« eine »Hl. Ordnung«, ein »Hl. Reich« des Friedens und der Gerechtigkeit aufrichten[21].

Einen Schritt weiter, aber aus derselben Tradition kommend, geht Joh. Lichtenberger (gest. 1503) mit seinen vielbeachteten und weit verbreiteten Weissagungen, in denen sich biblische Prophezeiungen mit astrologischen Vorhersagen verbinden[22]. Lichtenberger prophezeit, das Chaos der Zeit reflektierend, eine Erneuerung der Kirche wie der Gesellschaft, wobei ein Prophet im Mönchsgewand die zentrale Rolle spielt. »Es wird eine newe Reformation, ein new gesetz, ein newes reich, und ein newer wandel geschehen, beyde unter den geistlichen und unter dem gemeinen volcke«[23].

Die radikalste, aber auch verworrenste Reformschrift ›Das Buch der 100 Kapitel‹ schließlich stammt von einem unbekannten »Oberrheinischen Revolutionär«[24]. »Die welt hat sich verkert, die warheit ist vertilget, daß boß furtringet das gut, die unrecht uberflussigkeit ist zu stark geworden, das sy das recht hat getodet und alle truw vertilget, die liebe verloschen«[25]. Nationalistische Ideen und astrologische Konstruktionen verbinden sich mit massiver Kritik an der Kirche und Erwartung an den Kaiser. Der verheißene Messias, der neue König wird zur Errettung der verkehrten Welt eine »Reformation« zusammen mit frommen Christen durchführen und den Antichristen erschlagen. Zwar dürfte diese Schrift wenig Verbreitung gefunden haben, da sie nur handschriftlich überliefert ist, aber der Entwurf trägt mit seinem ebenfalls konservativ-retrospektiven Charakter durchaus bei zu dem Bild von der Wirklichkeit der Reformationswünsche des ausgehenden 15. Jahrhunderts.

Die Idee der Reformation war zunächst weit gespannt: Wiederherstellung alter Rechte und Sitten, moralisch-religiöse Reform der Klöster und der Geistlichkeit, politisch die Wiederherstellung der von Kaiser und Fürsten getragenen Reichsgewalt, schließlich nach apokalyptisch-schwärmerischen Vorstellungen eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft nach dem Kommen des Antichristen. Das Reformverlangen war in der ganzen Gesellschaft stark verwurzelt, die einzelnen Vorstellungen waren aber nur schwer voneinander zu unterscheiden.

Zwar forderte man keine gewaltsame Revolution, orientierte sich stets an traditionellen Modellen, die Reformziele jedoch waren in ihrer Konsequenz durchaus umstürzlerisch. Wie rasch dem retrospektiven Reformwillen der offene Protest mit radikalen Forderungen folgen konnte, zeigen die spätmittelalterlichen Aufstände, unter denen die hussitische Revolution am bekanntesten ist[26]. Was das engere Reich betrifft, begannen die sozialen Unruhen, wenn wir von den zahlreichen Ritterfehden absehen, mit den Bürgerkämpfen, deren Höhepunkt noch ins 15. Jahrhundert fiel, die aber seit 1511 wieder an Schärfe zunahmen[27]. Im allgemeinen Bewußtsein viel wirksamer und für das feudale System viel bedrohlicher gelten das Auftreten des Pfeiffers von Niklashausen und die verschwörerischen Umtriebe des Jöß Fritz als Vorboten der Bauernkriege. Beide Bewegungen führten zwar zu keinem Erfolg, sie wurden, bevor es überhaupt zur Aktion kam, niedergeschlagen, machen aber offenkundig, wie Krisen damals zu revolutionärem Handeln von Bauern und Kleinbürgern führen konnten.

Einen besonderen Fall stellt das Auftreten des Pfeiffers von Niklashausen dar[28]. 1476 begann im Marienwallfahrtsort Niklashausen in Franken ein Hirte namens Hans Böheim mit viel Erfolg von Marienerscheinungen und eigenen Offenbarungen zu predigen. Bald ging er jedoch dazu über, mit Leidenschaft gegen die Pfaffen zu hetzen, Papst und Geistlichkeit zu verurteilen und »kommunistische« Forderungen aufzustellen: Papst und Kaiser, Fürsten und Grafen, Ritter und Knechte, Bürger und Bauern müßten mit dem gemeinen Mann teilen, alle miteinander gleich, alle Steuern aufgehoben und das Gemeineigentum wiederhergestellt werden[29]. Da Hans Böheims Predigten ungeheuren Widerhall unter Wallfahrern aus Bayern, Schwaben, Hessen, Thüringen, Sachsen und dem Rheinland fanden, deren Zahl man auf 34000 schätzte, ließ der Würzburger Bischof ihn verhaften. Während der größte Teil der Wallfahrer wieder heimkehrte, zogen mehrere tausend nach Würzburg, um ihren Prediger zu befreien. Nach ihrer Niederlage wurde Böheim verbrannt, die Kapelle von Niklashausen völlig zerstört. Obwohl diese Bewegung keine Nachahmung fand, wirkte sie im Bewußtsein der Zeit neben dem Bundschuh als Zeichen höchster Unruhe in den untersten Schichten.

Einen anderen Herd sozialer Unruhe bildete im Südwesten des Reiches die Bundschuhbewegung, die dann unmittelbar in den Bauernkrieg einmündete[30]. Sie begann 1493 im elsässischen Schlettstadt, als ein Schultheiß den Unwillen gegen Eingriffe des geistlichen Gerichts, gegen das Hofgericht in Rottweil und gegen Juden, Geistliche und Bürger schürte. Die Verschwörung wurde bald aufgedeckt. Wirksamer wurden die Agitationen des ehemaligen Leibeigenen Jöß Fritz, der unter demselben Bundschuhzeichen antrat. Dreimal versuchte er mit großem Geschick einen organisierten Aufstand: 1502 im Bistum Speyer, 1513 zu Lehen im Breisgau und 1517 am Oberrhein. Wenn alle drei Verschwörungen auch kurz vor dem Losschlagen verraten wurden, so offenbarten sie jedenfalls ein beachtenswertes revolutionäres Potential unter den Bauern am Oberrhein. Fritz gehörte zu den begabtesten Bauernführern, besaß Organisations- und Führungstalente und verstand es unter den verschiedensten Bedingungen, die soziale Unzufriedenheit und politische Enttäuschung von Bauern und Bürgern zu aktivieren und für sein revolutionäres Programm zu nutzen. Ein amtlicher Bericht schildert ihn als einen »Führer und Verführer des Volkes durch und durch, mit süßer Rede angetan, wohl wissend, wo den armen Mann der Schuh drückt, und wo selbiger von Juden und anderen Wucherern, von Advokaten und Beutelschneidern, von Fürsten, von adeligen und geistlichen Herren allzusehr mit Lasten und Fronden beschwert worden«[31]. Jeder Aufstand Fritzens trug einen eigenen Charakter und reflektierte jeweils die Erfahrung der früheren. Seine erste Verschwörung impliziert das radikalste Programm, das bisher von einer Bauernbewegung aufgenommen worden war: Abschaffung aller Obrigkeit und Leibeigenschaft, Aufteilung der geistlichen Güter und Verweigerung aller Steuern. Rund 20000 Anhänger soll Fritz gewonnen haben. Nach »Schweizerart« wollte er die »Freiheit« mit Waffen erkämpfen, nur jene schonen, die aus »Liebe zur Freiheit ihrer Gemeinschaft freiwillig« sich anschlössen und mit »starkem Haufen« gegen den Markgrafen von Baden und Bischof von Speyer sowie Mönche und Geistliche stritten. Wer sich widersetzte, sollte ohne Erbarmen getötet werden als »ein ungehorsamer und aufrührerischer Feind der göttlichen Gerechtigkeit«[32]. Der Bundschuh wollte damit nicht nur gegen die Neuerungen das alte Recht wiederherstellen, sondern einen völligen Umsturz und Neubau der Gesellschaft nach dem Ideal der göttlichen Gerechtigkeit[33].

Bei den Aktionen von Hans Böheim und Jöß Fritz zeigen sich bedeutende Unterschiede. Berief sich der Pfeiffer von Niklashausen auf endzeitliche Vorstellungen, die zur Verwirklichung drängten, so zeichnet sich beim oberrheinischen Leibeigenen erstmals ein bewußter Umsturzwille ab. Ein aus sozialer Unzufriedenheit entstandenes Reformationsbedürfnis schlug hier – vermittelt oder unvermittelt – um in revolutionäre Aktion. Noch fehlte allerdings ein klares Aktionsprogramm. Erst später, unter den neuen Bedingungen der Reformation und des Bauernkrieges, verwirklichten sich diese Ansätze einer revolutionären Theorie und Praxis bei Thomas Müntzer, Michael Gaismair und bei den melchioritischen, dann Münsteraner Täufern. Deren »christliche Reformation« wurde zum Programm einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Alle Erwartungen orientierten sich zunächst an der durch Luther initiierten Reformationsbewegung. Seine Reformation wurde dadurch zum Katalysator der gesellschaftlichen Bedürfnisse.

2. Luther und die Reformation

a)

Fragen wir nach den unmittelbaren gesellschaftlichen Bedingungen der lutherischen Reformation, so genügt keineswegs der allgemeine Hinweis auf die Gesamtkrise des Spätmittelalters. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren neue Entwicklungen virulent geworden, die den Ausschlag gaben. Zwar hatten der rasche Aufstieg des Frühkapitalismus sowie die Preisrevolution partiell zur Verschärfung sozialer Konflikte geführt und damit günstige Bedingungen für den Erfolg der Reformation geschaffen, insgesamt aber tangiert dies Luthers Protest nur am Rande. Von einer allgemeinen Verarmung, die zur spontanen Reaktion von Volksmassen auf Luthers Angriff gegen die Herrschaftskirche im Jahre 1517 geführt habe, kann nicht die Rede sein. Entscheidender für den Erfolg der Reformation wirkte sich die Intensivierung des öffentlich-religiösen Bewußtseins aus. Neue verinnerlichte Frömmigkeitsformen, humanistische Kritik und eschatologische Erwartungshaltung, von denen dank wachsender Verbreitung durch Buchdruck und Holzschnitt erstmals breiteste Volksschichten erfaßt wurden, förderten ein kritisches Bewußtsein, ungewöhnliche Diskussionsbereitschaft und intensiven Reformwillen, die sich zusehends auf die römische Kirche, ihre Finanz-, Herrschafts- und Frömmigkeitspraxis richteten. Über die ursprünglich kleine Schicht gelehrter Theologen und Humanisten wurden immer weitere Laienkreise, Bürger und auch Bauern, erfaßt, die die traditionelle Bevormundung und Beherrschung durch die hierarchische Kirche nicht mehr ohne weiteres akzeptierten und eindeutige Forderungen im Sinne ihrer Bedürfnisse aufstellten. Daß Luthers Protest gegen den Ablaß große Massen in Bewegung brachte und die Reformation in die Wege leitete, versteht sich aus der Funktion des Ablasses innerhalb der traditionellen Kirche. Nirgendwo offenbarte sich der Mißbrauch der Kirche an der Heilssehnsucht der Menschen und ihre ausbeuterische Finanz- und Herrschaftspraxis so sehr wie im Ablaßhandel.

Der Erfolg von Luthers Ablaßagitation ist nicht primär in ihrem theologischen Inhalt, in dem neuen Glaubensbewußtsein, von dem ja noch so gut wie nichts bekannt war, zu suchen: was die Massen für Luther einnahm und ihn zum Helden werden ließ, war seine totale Herausforderung der römischen Kirche in ihrer gesellschaftlichen Legitimation und spezifischen Lehr- und Heilsverkündigung. Wirkungsvoll an Luthers Predigt war zunächst die Artikulierung und Bewußtmachung des allgemeinen religiös-sozialen Mißstandes, dann erst die Verkündigung seines Evangeliums, die neue Interpretation des Verhältnisses von Gott und den Menschen, ohne die natürlich sein Protest der Fundierung entbehrt hätte. Selbst die Forderung nach der reinen Lehre, der Wiederherstellung der ursprünglichen Quellen christlichen Lebens reflektierten die meisten seiner Anhänger nicht als nur religiöses Problem, sondern als Ausgangspunkt und Basis einer gesellschaftlichen Erneuerung, die »Staat« und Kirche zugleich umfassen sollte. Daß Luthers Verkündigung nur eine Teilantwort auf die Reformwünsche der verschiedenen Stände darstellte, war den meisten vor 1522/1523 nicht bewußt.

b)

Allerdings war die Reformation als eine die ganze Gesellschaft erfassende religiös-soziale Bewegung damit keinesfalls identisch mit dem Denken und Handeln Martin Luthers, wie so manche Darstellungen es vermuten lassen, so entscheidende Bedeutung auch seinem Engagement und seiner Theologie zukommt[34]. Ohne die Vielzahl seiner Freunde und Schüler, die jeweils eigenen Bedingungen unterstanden und in die Reformation ihre eigenen Anschauungen und Überzeugungen einbrachten, hätte Luther keinen Erfolg gehabt. Vor allem aber kann die Reformation nicht verstanden werden, wenn man die Interessen und Bedürfnisse der sich zu ihr bekennenden Fürsten und Bürger, Adeligen wie Bauern außer acht läßt. Die Theologen und Humanisten fungierten oft lediglich als deren Interpreten und Sprecher. Ihr Erfolg und ihre Grenze bemaßen sich weitgehend daran, wie weit sie die allgemeinen Wünsche anzusprechen, auszuformen und zu aktivieren vermochten. Nicht als eine gelehrt-akademische Angelegenheit machte die Reformation Geschichte, sondern erst durch die Sehnsucht des Volkes nach Erneuerung von Kirche und Gesellschaft wurde die bald zur sozialen Bewegung sich wandelnde Heilsbewegung der Reformation zur gesellschaftspolitischen Macht[35].

Abb. 1: Der reformatorische Kampf um die Wahrheit

Das Besondere an Luthers »Verkündigung« war, daß er es weit stärker und intensiver als andere verstand, diese Bewegung zu forcieren, zu interpretieren und die divergierenden Kräfte wenigstens zeitweise auf ein Programm zu einen. Er schuf erstmals die Verbindung zwischen Bildungs- und Frömmigkeitsbewegung, zwischen elitären Humanisten und ungebildeten Bauern und Bürgern. Daß er nicht alle Bedürfnisse ansprechen und befriedigen konnte und die quasi-revolutionäre Bewegung schließlich in obrigkeitliche Bahnen zurücklenkte, hat zwar zur Radikalisierung einiger seiner Anhänger geführt, überhaupt Bedingungen einer radikalen Reformation verschärft, zugleich aber auch die Durchführung wichtiger reformatorischer Anliegen wie vor allem den Bruch mit der mittelalterlichen Kirche und Kultur in der immer noch herrschaftlich und religiös-kirchlich denkenden wie handelnden Gesellschaft erst ermöglicht.

Die Reformation läßt sich also nicht reduzieren auf das Problem Luther, sie ist ein Kollektivphänomen. Der reformatorischen Bewegung ging es damit schließlich ebensowenig nur um rein geistig-religiöse Interessen im heutigen Sinne. So sehr sie sich weitgehend theologisch und religiös äußerte, es standen doch die Religion als soziales Problem, die soziale Selbstbestimmung des Christen wie die Verwirklichung einer christlichen Gesellschaft im Mittelpunkt. Religion als das allgemein verbindliche Kultur- und Heilssystem des Mittelalters hatte noch eine ganz andere Funktion als in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Einen religionsfreien Raum gab es nicht. Indem sie Herrschaften legitimierte und ein allgemein verpflichtendes Weltbild vermittelte, ja der mittelalterlichen Gesellschaft ihre eigentliche Integrationskraft gab, übte die Religion eine entscheidende soziale Funktion aus. Sie erfaßte den Adel wie den Bauern, den Gelehrten und den Ungebildeten. Solange die Herrschaftsstruktur des Feudalismus den sozialen Entwicklungen entsprach und die Bedürfnisse zu befriedigen vermochte, wurde das System akzeptiert. Divergierten jedoch gesellschaftliche Entwicklung und Herrschaftsstruktur, dann konnte das traditionelle Kultursystem seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen, konnte auch gesellschaftliche Änderungen nicht mehr begreiflich machen, dann äußerte sich die Unzufriedenheit vorwiegend im religiös-ideologischen Bereich[36]. Religion wirkte je nach Situation herrschaftsstabilisierend oder revolutionierend, zumal sich jeder Änderungswille religiös legitimieren mußte. Als Antwort auf die Gesellschaftskrise des späten Mittelalters signalisierte, beschleunigte und aktivierte also die Reformation den Zusammenbruch der Allgemeingültigkeit des mittelalterlichen Kultursystems und artikulierte sich als religiöser Protest gegen dessen Hauptträger, die Kirche, nicht nur gegen den Grundbestand ihrer Heilslehre, sondern gegen ihre soziale Wirklichkeit in Herrschaft und Frömmigkeitspraxis.

c)

Luthers Auftreten zwischen 1517 und 1521, zwischen Thesenanschlag und der Verteidigung vor Kaiser und Reich in Worms, hat die allgemeinen Reformationshoffnungen auf seinen Protest und seine religiöse Verkündigung konzentriert[37]. Luther forderte das Evangelium, griff Kirche und auch Obrigkeit in einer bisher nicht gekannten Weise an, protestierte gegen den Mißbrauch religiöser Heilsgüter und gegen die Ausbeutung der Untertanen und den allgemeinen Sittenverfall, verlangte Wiederherstellung des Reiches und ein starkes Kaisertum[38]. Sein nationaler Aufruf und der ungeschminkte volkstümliche Duktus seiner für alle verstehbaren und lesbaren, schnell und weit verbreiteten Schriften vermochten in Kürze weiteste Kreise zu aktivieren[39]. Sein Glaubensbekenntnis, sein unüberhörbarer Protest und seine Verweigerung eines Widerrufs machten ihn zum Helden der Nation.

Luther ging von bestimmten Dispositionen des späten Mittelalters aus, auf die er reagierte. Das gilt sowohl für seine Theologie wie sein politisches Verhalten, seine persönlichen Heilserwartungen wie die Rückkehr zu den Quellen des Christentums, seine moralischen Erneuerungswünsche wie das Verbleiben in der mittelalterlichen Sozialordnung. Ganz mittelalterlich war sein theologisches Fragen ausschließlich auf die Suche nach einem gnädigen Gott gerichtet. Nach enttäuschter Heilserwartung als Mönch der Kirche entdeckte er im Wort Gottes in der Bibel die wahre Erkenntnisquelle. Statt sich jedoch wie viele andere zurückzuziehen oder wie die Mystiker in der »Stille« Gott zu suchen, wurde er zunächst öffentlicher Kritiker der kirchlichen Praxis, dann Kritiker der Kirche selbst, ihrer Institutionen und ihrer Moral, die er nach der Hl. Schrift als widerchristlich betrachten mußte. Mit seiner radikalen Ausrichtung auf das Wort des Evangeliums und seiner Aufwertung des Laien zum aktiven Mitglied der christlichen Gemeinde stellte er die kirchliche Autorität und Hierarchie total in Frage; seine ausschließliche Orientierung auf Gnade und Rechtfertigung als einziges Ziel des Christen negiert das System der Werkfrömmigkeit und damit die alte Kirche als allgültige Heilsanstalt. Luthers theologische Fragen, so modern sie anmuten mögen, waren bestimmt von der Sehnsucht nach dem persönlichen Heil, sie waren nicht getragen vom Wunsche nach Änderung der Welt, von der Suche nach einer kirchlichen wie sozialen Neuordnung. Darin unterscheidet Luther sich grundlegend von anderen Reformatoren, er war dadurch leichter als sie in der Lage, auch Kompromisse mit der gegebenen Sozialordnung einzugehen. Wenn Luther mit seinem Protest und seiner Reaktion selbst ein Produkt der spätmittelalterlichen Welt war, so lagen gerade hierin seine Möglichkeiten für eine Aktivierung des Volkes, aber auch die Grenzen seiner rebellischen, ja revolutionären Haltung, die die mittelalterliche Ordnung nur zum Teil durchbrach. Sein religiös-revolutionäres Programm verband sich mit der Verteidigung der gegebenen weltlichen Ordnung als gottgewollt und damit der alten Herrschaftsstruktur, so daß sein religiöser Radikalismus, der nur die Individuen vor Augen hatte, letztlich einem politischen und sozialen Konservativismus dienen konnte.

Luther begann seinen offenen, religiös motivierten Kampf gegen die Kirche mit einem scharfen Angriff auf den Ablaß, also auf jene Institution, an der für jedermann die verderbte Heils- und Finanzpraxis der Kirche offenkundig gemacht werden konnte[40]. Zunächst dachte Luther dabei keineswegs an die Aufhebung der Kirche als Institution, wie andere hoffte er auf Reformen, auf Abstellung der Mißstände und Erneuerung der Kirche, allerdings nicht mehr durch diese selbst, sondern durch die weltliche Obrigkeit. Das war durchaus mittelalterlich gedacht. In dem Maße aber, wie er die Wahrheit des Evangeliums und deren Verkehrung in der Kirche entdeckte, verließ er seine gemäßigt reformerische Position und griff die Kirche als Heilsinstitution wie als Herrschaftsanstalt an.

Der Papst sei, wie es in der Schrift ›Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche‹ (1520) heißt, niemand anderes als der Antichrist, denn er habe seine Macht erschlichen und die Wahrheit des Evangeliums verraten[41]. Nicht diejenigen seien Ketzer, die die päpstliche Tyrannei mißbilligen und beklagen, sondern »ihr Römer seid die Ketzer und die gottlosen Rottengeister, die ihr allein mit euren Fündlein euch aufblähet wider die deutliche Schrift Gottes«[42]. Als größten Mißbrauch bezeichnet Luther die Einführung der Messe. Sie hat »dann unzählige andere Mißbräuche erzeugt, bis daß der Glaube des Sakraments gänzlich erloschen ist und man aus dem göttlichen Sakramente die reinen Jahrmärkte, Schankhäuser und Geldgeschäfte gemacht hat. Daher werden Teilhaberschaften, Bruderschaften, Fürbitten, Verdienste, Jahrestage, Gedenktage und dergleichen Handels mehr in der Kirche verkauft, gekauft, abgeschlossen, reguliert und an diesen Dingen hängt die ganze Nahrung der Priester und Mönche«[43]. Diese erniedrigten die Sakramente zu »Hauptwerkstätten des Gewinns und der Gewalt«[44]. »Ja, damit die Gottlosigkeit ihrer verkehrten Gedanken noch mehr an den Tag käme, behalten sie das, was gegen die Anbetung Gottes, den Glauben und die Gebote der ersten Tafel geschieht, nicht nur nicht vor, sondern sie lehren und billigen sogar dergleichen, wie z.B. jenes Wallfahrtsgelaufe, die verkehrte Weise die Heiligen zu verehren, die erlogenen Heiligenlegenden, das mannigfaltige Vertrauen auf Werke und Zeremonien und die Ausübung dieser Dinge; doch wird durch dieses alles der Glaube an Gott ausgelöscht und Abgötterei gehegt, wie es denn heutzutage so steht, daß wir jetzt (als) Bischöfe … Diener goldener Kälber, Leute (haben), welche Gottes Gesetze, den Glauben und alles, was dazu gehört, Christi Schafe zu weiden, nicht wissen, und nur ihre Erfindungen den Gemeinden mit Furcht und Gewalt einbläuen«[45]. Statt die Botschaft Christi zu verkünden, führt die römische Kirche die Menschen in die »babylonische Gefangenschaft«.

Aber nicht nur die Heilseinrichtungen der Kirche enthüllt Luther als Teufelswerk, sondern auch deren weltlichen Herrschaftsanspruch und ihre hierarchische Ordnung. Es sei geradezu grotesk, wie sich Papst, Bischöfe, Priester und Mönche zum geistlichen Stand zählten und als die eigentlichen Herren aufspielten, während Fürsten, Herren, Handwerker und Bauern zum weltlichen Stand gerechnet als Menschen zweiter Gattung betrachtet würden, die jenen in allen Dingen zu gehorchen hätten[46]. Da aber nach der Botschaft Christi alle Christen geistlichen Standes seien, sei diese Zweistände-Theorie nur ein trickreiches Herrschaftsinstrument der Kirche. Zur völligen Unterjochung der Menschen monopolisiere sie außerdem die Auslegung der Bibel, an deren Stelle sie als verbindliche Rechtsordnung die ketzerischen, unchristlichen und unnatürlichen Gesetze des kanonischen Rechts setze[47].

Schließlich entzieht sich laut Luther die Kirche jeder Obrigkeit, der allein das Recht weltlicher Macht und Gewalt zusteht, ja wirft sich selbst zur Obrigkeit über alle anderen auf und mißbraucht damit das Evangelium. »Dieweil denn solches teuflisches Regiment nicht allein eine öffentliche Räuberei, Trügerei und Tyrannei der höllischen Pforte ist, sondern auch die Christenheit an Leib und Seele verdirbt, sind wir hier schuldig, allen Fleiß anzuwenden, solchem Jammer und Zerstörung der Christenheit zu wehren. Wollen wir wider die Türken streiten, so lasset uns hier anheben, da sie am allerärgsten sind. Henken wir mit Recht die Diebe und köpfen die Räuber, warum sollten wir den römischen Geiz freilassen, der der größte Dieb und Räuber ist, der auf Erden gekommen ist oder kommen mag?«[48].

Doch Luther hätte sicherlich nicht den durchschlagenden Erfolg gehabt, wäre sein Engagement auf derartige Angriffe gegen die Kirche beschränkt geblieben. Das Entscheidende – auch als Grundlage seiner Kirchenkritik – war seine kompromißlose Ausrichtung auf das Evangelium als die Quelle des wahren Christentums, in dem die meisten Menschen das einzig mögliche Richtmaß einer Neuorientierung sahen. Luther verkündete einen Glauben, der den Bedürfnissen sowohl reicher wie armer Menschen entgegenkam und als Ausdruck der Freiheitsbewegung des Spätmittelalters genommen werden kann. »Die Seele hat kein ander Ding, weder im Himmel noch auf Erden, darinn sie lebe, fromm, frei und christlich sei, denn das hl. Evangelium, das Wort Gottes, von Christus gepredigt«[49]. Heil bringen also nicht gute Werke, Ablaß, Stiftungen oder Wallfahrten, d.h. die von der Kirche verkauften Heilsmittel, sondern allein das Wort, das niemand monopolisieren kann und für jedermann in der Bibel zugänglich ist. »Nun sind diese und alle Gottesworte heilig, wahrhaftig, gerecht, friedsam, frei und aller Güte voll; darum, wer ihnen mit einem rechten Glauben anhangt, dessen Seele wird mit ihnen vereinigt so ganz und gar, daß alle Tugenden des Wortes auch der Seele eigen werden und also durch den Glauben die Seele von dem Gotteswort heilig, gerecht, wahrhaftig, friedsam, frei und aller Güte voll, ein wahrhaftig Kind Gottes wird«[50].

Wenn Luther selbst dabei nicht an die Grundlegung einer neuen Kirche dachte, geschweige eine Reformation der Gesellschaft erhoffte, sondern nur dem Wort Gottes wieder Geltung verschaffen wollte, so hatte sein Engagement doch Kräfte und Bewegungen geweckt, die sein Interesse weit überschritten und ihn als Interpreten und Erfüller ihrer Wünsche und als Befreier von gesellschaftlichen Zwängen sahen[51].

d)

Die eigentliche Intention von Luthers »Reformation« erschließt sich bei aller Vielschichtigkeit seines Denkens am deutlichsten von seinem reformatorischen Selbstbewußtsein und seinem Verhalten zur weltlichen Ordnung her.

Luthers Werk wurde später mit dem Begriff Reformation identifiziert, er selbst wandte das Wort Reformation aber nie auf sein Wirken an[52]. Es hätte dies weder seinem Selbstverständnis noch seiner Worttheologie entsprochen. Gemäß seiner pessimistischen Geschichtsphilosophie, nach der der Mensch in der Geschichte nichts, Gott aber alles bewirken kann, und die Welt ein Chaos darstellt[53], dessen Sinn der Mensch nicht erfassen kann, wies Luther jede Vorstellung einer »neuen Zeit«, die Idee einer Vervollkommnung der Welt und jeden Versuch einer »Welt«-Reformation von sich. Eine Reformation der weltlichen Ordnung lag jenseits seiner Interessen und seiner Vorstellungen. So wünschenswert sie auch sein mochte, schien sie ihm völlig unmöglich, wenn nicht sogar gegen den göttlichen Weltplan gerichtet, daher selbst widerchristlich. In gewissem Sinne bestimmte dieser Pessimismus, die Überzeugung von der allgemeinen Ohnmächtigkeit des Menschen, auch die Idee der Kirchenreform. Zwar hielt er sie für notwendig, doch sah er in ihr nicht die »Sache eines Menschen, des Papstes, auch nicht vieler Kardinäle«, wie er einmal 1518 formuliert, sondern »der ganzen christlichen Welt, ja Sache Gottes allein«[54]. Wenn überhaupt, kann diese Reformation also wirksam nur von Gott selbst in Gang gesetzt werden, der sich dabei zwar der Menschen bedienen mag, auf ihre Aktivität aber nicht angewiesen ist. »Alle creaturen sind Gottes larven und mumereyen, die er will lassen mit yhm wircken und helffen allerley schaffen, das er doch sonst on yhr mitwircken thun kan und auch thut. Auff das wyr blos an seynem wort alleyne hangen«[55].

In diesen Rahmen stellt nun Luther auch sein Lebenswerk. Er sah seine Aufgabe nicht in der »aktiven« Veränderung der Welt oder der Kirchenzustände, sondern in der »passiven« Verkündigung des göttlichen Wortes, das aber in seiner Mächtigkeit ausreicht, alles zu wirken. So heißt es einmal: »Ich habe allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst habe ich nichts getan. Das hat … also viel getan, daß das Bapsttum also schwach worden ist, daß ihm noch nie kein Fürst noch Kaiser so viel abgebrochen hat. Ich habe nichts getan, das Wort hat es alles gehandelt und ausgericht … Ich hab das Wort lassen handeln«[56]. So sehr hier auch eine Entschuldigung über den Verlauf der Reformation anklingen mag, für den er nicht haftbar gemacht werden will, so ist doch ein anderes entscheidender: der Ohnmacht des Menschen steht die Kraft des Wortes entgegen. Wenn Luther »Schwärmer« und Bauern verurteilt, so wirft er ihnen nicht nur widerchristliche Vermischung weltlicher und geistlicher Dinge vor, sondern mangelnde Überzeugtheit von der Wirkkraft des Wortes. Das Wort habe letztlich zur Genüge gezeigt, wie durch seine Offenbarung und Verkündigung Lüge und Verführung der alten Kirche zerstört werden. »Aus diesen Sprüchen lernen wir, daß des Papstes antichristliches Regiment mit ihm wird dieser Maßen verstört werden, nämlich daß durch das Wort Christi, welches ist der Geist, Stange und Schwert seines Mundes, wird seine Büberei, Trügerei, Schalkheit, Tyrannei, Verführerei aufgedeckt und vor aller Welt bloß zu Schanden werden«[57]. Sollte aber die Verkündigung des Wortes nicht gehört werden, so geziemt es sich, nicht Gewalt zu üben, sondern das Leid zu tragen. »Man lasse die Geister aufeinander platzen und treffen … Denn wir, die das Wort Gottes führen, sollen nicht mit der Faust streiten … Predigen und Leiden ist unser Amt, nicht aber mit Fäusten schlagen und sich wehren«[58]. Selbst in die Weltgeschichte einzugreifen, war für Luther ein Werk des Teufels; die »Reformation« durchführen durfte mit legitimer Gewalt nur die weltliche Obrigkeit als die von Gott eingesetzte Ordnung. So richtete sich auch sein Aufruf zur Zerstörung der alten Kirche an den »christlichen Adel deutscher Nation«, d.h. ausschließlich an die Obrigkeit[59].

Diese passive, allein auf Wortverkündigung beschränkte »reformatorische« Haltung Luthers mußte nicht nur zur Ablehnung der Versuche radikaler Schwärmer und Bauern führen, das Evangelium selbst gegen die alte Ordnung durchzusetzen, sondern auch ihn selbst davon abhalten, die »eigene« Sache in die Hand zu nehmen. Trotz seines Rebellentums und seiner Aggressivität gegen die alte Kirche war er unerschütterlich davon überzeugt, daß das Wort von alleine alles regeln und daß die alte Kirche durch den neuen Glauben ihrer Mitglieder, ihrer Funktionäre und der Obrigkeit allein zusammenbrechen bzw. reformiert werde. Darüber hinaus werde die Obrigkeit schon alles in die richtigen Bahnen lenken und dem Wort Verwirklichung schaffen. Luther ist damit nicht weniger unrealistisch als Müntzer. Erst als Luther bewußt wurde, welche Folgen sein Nichthandeln hatte, als andere Konsequenzen aus seiner Lehre zogen, wandte er sich selbst mehr dem Aufbau einer reformierten Kirche zu. Die Angriffe der Altgläubigen und »Schwärmer« ließen ihm keine andere Wahl, wenn er nicht sein Werk ganz aufgeben wollte. Aber auch jetzt blieb ihm ein so starkes Desinteresse an der äußeren Realisierung zu eigen, daß er nicht nur lange die alte Religionswirklichkeit tolerierte, sondern selbst, obwohl er theologisch grundsätzlich mit der Kirche brach, noch lange Mönch blieb und in vielen Punkten die alte Tradition zumindest äußerlich aufrechterhielt. Als er energisch gegen einige seiner Anhänger einschritt, weil sie in seinem Geiste die alten Institutionen und Gebräuche sofort abzuschaffen begannen, da leitete ihn dabei neben der Meinung, dies sei nur Aufgabe der Obrigkeit und ein langsamer Abbau verringere die Schwierigkeiten einer Durchführung der Reformation, auch seine Theologie: Da die Äußerlichkeiten ohnedies ohne Wirkung auf das Heil blieben, könnten sie so lange beibehalten werden, wie es die Menschen jeweils wollten[60].

Bei allem sozialen Protest, trotz aller politischen Aufrufe war Luther kein homo politicus, weder im Sinne der Schaffung einer neuen Kirchengemeinschaft an Stelle der alten, noch im Versuch, die Gesellschaft auf der Grundlage des Evangeliums zu ändern und zu reformieren, also eine neue christliche Sozialordnung zu schaffen, wie sie allgemein verlangt wurde. Seine »Reformation« beschränkte sich auf die reine Wortverkündigung, die innere Befreiung des Menschen von der alten Kirche, die zwar äußere Verwirklichung nicht ausschloß, diese aber, soweit überhaupt nötig und möglich, allein der weltlichen Ordnung übertrug. Religion wurde damit auf den inneren Bereich verwiesen, jede Möglichkeit einer Veränderung der Gesellschaft im Geiste des Evangeliums als der geistlichen Wortverkündigung widersprechend erklärt. Damit schuf Luthers Theologie wichtige Voraussetzungen für eine Verweltlichung der Welt, zugleich aber auch Möglichkeiten einer freilich religiösen Selbstbestimmung des Menschen, die schließlich in der »radikalen Reformation« zum Durchbruch kam; so ist sie bei aller Eigenständigkeit doch ohne Luther nicht zu denken.

So folgerichtig seine Worttheologie mit der Trennung von Glaube und Werken, von Evangelium und Gesetz zur Auflösung der alten Kirchenordnung führen mußte, begünstigte, ja vermittelte sie doch zugleich eine Trennung bzw. Neuregelung von weltlicher und geistlicher Ordnung. Da Luthers Theologie den einzelnen Menschen aus der »heils«-notwendigen Bindung nicht nur an die alte Ordnung, sondern an Geschichte und Gesellschaft überhaupt entließ, und nicht zugleich auch Möglichkeiten einer neuen Gemeinschaftsform schuf, übernahm die weltliche Ordnung die nun freigewordenen Funktionen, die Luther ihr auch ausdrücklich zubilligte. Die Freiheit des Christenmenschen wurde so mit einer neuen Hörigkeit gegenüber dem weltlichen Staat erkauft.

Das Problem des Verhältnisses von weltlicher und geistlicher Ordnung, das sich bei Luther keinesfalls auf seine persönliche Stellung zur weltlichen Obrigkeit beschränkt, artikulierte er in seiner Zwei-Reiche-Lehre[61]. Sie ist unmittelbare Konsequenz seiner politisch-unpolitischen Worttheologie und Antwort auf seine Anhänger, die soziale Konsequenzen aus seinen Lehren zogen. Gesellschaftstheorie und politische Ethik stehen zwar nicht im Mittelpunkt seines Denkens, aber sein Schrifttum ist reich an grundlegenden Äußerungen über das Verhältnis von Christ und Welt, von weltlicher und geistlicher Ordnung. So unpolitisch sein reformatorisches Bewußtsein strukturiert war, so barg es doch Inhalte, die zu bedeutenden politischen Konsequenzen führen mußten und selbst in Gegensatz zu seiner Theologie geraten konnten.

»Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und Niemand unterthan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und Jedermann unterthan.« So heißt es 1520, das geistige wie politische Verhalten des Menschen kennzeichnend, zu Anfang von Luthers ›Freiheit eines Christenmenschen‹[62]. Luther befreit hier den Menschen von jeder Werkfrömmigkeit, jeder äußeren Bindung und unterstellt ihn allein dem Wort des Evangeliums, ohne daß er sich allerdings der guten Werke enthalten darf, da sie Ausdruck der Liebe zu Gott und wirksame Mittel zur Zucht sind. Zugleich reflektiert er damit über des Menschen Stellung in der geistlichen und weltlichen Ordnung, betont die Trennung beider Bereiche und die Aufrechterhaltung des weltlichen als eigenständiger Größe, auch wenn er nicht heilbringend ist. Erst als Herzog Georg von Sachsen in seinem Territorium die Verbreitung seiner Schriften unterband und Luther gleichzeitig durch die schwärmerischen Unruhen in Wittenberg herausgefordert wurde – jener griff in geistliche Belange ein, diese verletzten die autonomen weltlichen Rechte –, nahm er vor allem in seiner Schrift ›Von weltlicher Obrigkeit wie weit man ihr Gehorsam schuldig‹ ausdrücklich und grundsätzlich Stellung zum Problem des Verhältnisses von Mensch und Welt und entwarf ein Modell, das sich grundlegend von dem des Mittelalters wie der »Schwärmer« unterscheidet[63].

Der Mensch untersteht zwei Ordnungen, der geistlichen und der weltlichen, beide stammen unmittelbar von Gott, sind aber streng voneinander geschieden. Das weltliche Regiment hat in weltlichen Dingen die volle Verfügungsgewalt über den Menschen, nur über die Gewissen der Untertanen steht ihm kein Recht zu. Das geistliche Regiment bildet ausschließlich eine Heilsinstitution und darf sich in keiner Weise in weltliche Angelegenheiten mischen. Das weltliche Reich untersteht eigenen Gesetzen und kann nicht nach dem Evangelium regiert werden, da dieses nur zum Heil des Menschen gegeben ist und nicht weltlich verstanden werden darf. Versuche einer Änderung der Sozial- und Herrschaftsordnung nach evangelischen Grundsätzen widersprechen dem autonomen Recht der weltlichen Ordnung wie der geistlichen Funktion des Evangeliums, dem geistlichen Charakter des Reiches Christi. Während das geistliche also »fromm« macht, schafft das weltliche Frieden und wehrt den bösen Werken; jenes ist eine Heilsanstalt, dieses eine Friedens-, aber auch Moralinstitution. Wegen der radikalen Trennung beider Regimente und der göttlichen Herkunft der weltlichen Obrigkeit kennt Luther kein Widerstandsrecht. Der weltlichen Ordnung ist als Gottesordnung in jedem Fall Gehorsam zu leisten, auch wenn sie unchristlich handelt. »Denn der Obrigkeit soll man nicht widerstehen mit Gewalt, sondern nur mit Erkenntnis der Wahrheit; kehrt sie sich daran, ist es gut, wo nicht, so bist du entschuldigt und leidest Unrecht um Gottes willen«[64].

In dieser Trennung beider Ordnungen stützt sich Luther auf die Bibel und ist deswegen überzeugt, daß sich aus dem Zusammentreffen beider Ordnungen für den Menschen keine Konflikte ergeben können. »Also gehet denn beides fein miteinander, daß du zugleich Gottes Reich und der Welt Reich genug tuest, äußerlich und innerlich, zugleich Übel und Unrecht leidest und doch Übel und Unrecht strafest, zugleich dem Übel nicht widerstehst und doch widerstehst. Denn mit dem einen siehest du auf dich und auf das Deine, mit dem andern auf den Nächsten und auf das Seine. An dir und dem Deinen hältst du dich nach dem Evangelio und leidest Unrecht als ein rechter Christ für dich, an dem Andern und an dem Seinen hältst du dich nach der Liebe und leidest kein Unrecht für deinen Nächsten; welches Evangelium nicht verbietet, ja vielmehr gebietet an anderem Ort«[65].

Mit dieser Darstellung hat sich Luther nicht von ungefähr den Vorwurf doppelter Moral zugezogen. Entscheidend ist aber vor allem: Da seine Theologie als einzig legitimes Verhalten zur Obrigkeit das Leiden und den Gehorsam erlaubt, fungierte sie zugleich als Rechtfertigungsinstrument des neuen Untertanenverbandes und der Duldung allen sozialen Unrechts. Das Recht des allein zugestandenen Protestes bot keinen wirksamen Ersatz.

In engem Zusammenhang mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre steht die Ausbildung seiner Drei-Stände-Lehre. Auch diese war nicht zuletzt als Antwort auf die Auseinandersetzung mit jenen Leuten entstanden, die Luthers Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen wörtlich nahmen[66]. Während er mit der Zwei-Reiche-Lehre die mittelalterliche Herrschaftsordnung der Einheit von Politik und Religion in Frage stellt, hebt er mit der Drei-Stände-Lehre die Hierarchie der Kirche, die Teilung in Klerus und Laien auf. Da alle Christen geistlichen Standes sind und alle gleicherweise der Obrigkeit unterstehen, gibt es, was den Menschen als Menschen betrifft, keine Unterschiede mehr zwischen Gott näher und Gott ferner Stehenden, alle sind gleichwertige Glieder und Priester der unsichtbaren christlichen Gemeinde. Nur was ihr Amt, ihre weltliche Tätigkeit betrifft, gibt es Unterschiede. »Ein Schuster, ein Schmied, ein Bauer, ein jeglicher hat seines Handwerks Amt und Werk und doch sind alle gleich geweihte Priester und Bischöfe und ein jeglicher soll mit seinem Amt oder Werk den anderen nützlich und dienstlich sein, daß also vielerlei Werke alle für eine Gemeinde gerichtet sind. Leib und Seele zu fördern, gleich wie die Gliedmaßen des Körpers alle eins dem anderen dienen«[67]. Jedes Amt ist also vor Gott gleich und repräsentiert eine göttliche Ordnung, die vom Menschen weder geändert noch aufgehoben werden darf. Geistliche, Fürsten, Bürger und Bauern sollen bei ihren Aufgaben und Ämtern bleiben, hier erfüllen sie ihren von Gott gegebenen Auftrag[68]. So wie das geistliche Reich Christi nicht zu einem weltlichen äußerlichen Reich gemacht werden kann, so kann die weltliche Ordnung nicht ohne Ungleichheit existieren, auch wenn »in Christus Herr und Knecht ein Ding« ist. Es gehört demnach zu ihr, daß »etliche frei sein, etliche gefangen, etliche Herren, etliche untertan«[69]. Bleibe deshalb »jeder in seinem Beruf (vocatio), achte jeder auf seinen Ort und halte sich in den Grenzen seiner Obliegenheiten (functio), überspringe nicht sein Ziel, jede Lebensweise und jeder Stand (status) werde auf seine Grenzen, seine Ziele beschränkt«[70]. Wollte Luther damit auch ausschließlich den geistlichen Charakter des Evangeliums gewahrt wissen, so intendierte seine Haltung – bei aller Gegensätzlichkeit zur hierarchischen Ordnung – doch wieder ein Bekenntnis zur mittelalterlichen Ständeordnung. Befreit von dem überlagernden hierarchischen Ordnungsprinzip erhielt sie durch die Amtsvorstellung sogar einen noch unantastbareren Charakter als zuvor. Anstelle des alten feudalen Vertragsverhältnisses trat nun jedenfalls eine göttlich sanktionierte Amtsordnung, wie an Stelle des mittelalterlichen Sacrum imperium das Gegenüber von weltlichem und geistlichem Regiment.

Luthers Konservativismus, wie er in seiner Gesellschaftstheologie sich äußert, war keinesfalls nur Ergebnis seiner Konflikte mit Gegnern noch Folge einer fürstenhörigen Haltung, sondern entsprach seiner Theologie.

e)

So konsequent zur Wahrung des Evangeliums als alleiniger Heilsquelle die strikte Trennung des geistlichen und weltlichen Bereiches war, so brachte Luthers Lehre doch für die Praxis große Probleme und setzte eine folgenschwere Entwicklung in Gang, die er weder überblickte noch so wollte. Er erhoffte vollkommene Freiheit der Religion, der Frömmigkeit und des Glaubens von allen äußeren weltlichen Zwängen. Indem er öffentlich das Evangelium verkündete, an das Gewissen appellierte, die Menschen zur Selbstbesinnung aufrief und auf die ungeheure Diskrepanz zwischen Evangelium und Kirchenwirklichkeit wies, schuf er die Voraussetzungen für den Zusammenbruch der alten Kirche, ihrer Herrschaft und Frömmigkeitspraxis, für die Aufhebung des unchristlichen wie unnatürlichen Unterschieds zwischen Klerus und Laien. Doch indem er zugleich das Evangelium als ein rein geistliches Reformprogramm verkündete, nahm er jeder politischen Ethik die evangelische Begründung, jedem politischen Handeln die Notwendigkeit christlicher bzw. biblischer Legitimation und säkularisierte die weltliche Ordnung, so sehr er sie gleichzeitig als göttliche Ordnung anerkannte, ja überhöhte. Anstelle der Ständeordnung von Klerus und Laien trat die neue Amtsordnung, nach der jeder seinen Stand gleicherweise als von Gott begründet, aber unveränderbar erkennen muß. Das neue Berufs- und Amtsverständnis korrespondiert mit einer Sanktionierung und Verfestigung der mittelalterlichen Sozialordnung. Anstelle des Nebeneinanders von weltlichem und geistlichem Stand trat nun unter der Bedingung der gesellschaftlichen Entwicklung eine Unterordnung des geistlichen Regiments unter die weltliche Obrigkeit als der alleinigen Inhaberin von Herrschaft und Gewalt. Damit entsprach seine Theologie weitgehend dem Interesse des neuen Territorialstaates.

Luther vermittelte dem Menschen zwar eine neue geistige Freiheit und ein neues Amtsverständnis, das auf der christlichen Gleichheit vor Gott gründet, überantwortete ihn – da diese Ordnung nicht auf die Welt ausgedehnt werden konnte – damit aber zugleich der Verfügungsgewalt der weltlichen Ordnung und band ihn in einer Ausschließlichkeit an die bestehende Sozialordnung, wie sie das Mittelalter nicht gekannt hatte. Die weltliche Obrigkeit und die feudale Sozialordnung wurden als göttliche Verfügungen für unantastbar erklärt, so daß jeder Widerstand und der Versuch der Veränderung durch die nicht von Gott mit weltlicher Gewalt Beauftragten zur Sünde wird.

Souverän der ordentlichen Gewalt ist allein die Obrigkeit. »Gott wird sie wohl finden und ihnen geben, (je) nachdem sie ihre Gewalt und Obrigkeit zu Rettung oder Verderben ihrer Untertanen an Leib, Gut und Seele gebraucht haben. Aber dem gemeinen Mann ist sein Gemüt zu stillen und zu sagen, daß er sich enthalte auch der Begierden und Worte, so zum Aufruhr sich lenken, und zur Sache nichts vornehme, ohne Befehl der Obrigkeit oder zu tun der Gewalt.«[71] Jeder Versuch, das Evangelium zur Grundlage der weltlichen Ordnung zu erheben, ein Reich Christi auf Erden zu errichten und die Ungleichheit unter den Menschen aufzuheben, wie es in den Augen Luthers sowohl die Bauern wie die »Schwärmer« anstrebten, ist ihm nicht nur unrealistisch, sondern unchristlich. Weltliche Ordnung darf nicht am Evangelium gemessen werden und der Glaube nicht an der Praxis. Da die Rebellion der Bauern gegen die ungerechte Obrigkeit für Luther Aufruhr, also ein Werk des Teufels war, sah er in ihrer blutigen Niederwerfung durch die Obrigkeit die Erfüllung der Gottesordnung[72]. Auch wenn er durchaus bereit war, die Rechte der Obrigkeit biblisch zu legitimieren, so verwehrte er den Untertanen eben dieses Recht, ihre Interessen biblisch zu begründen und durchzusetzen.