27,99 €
Die Entstehung der literarischen Moderne ging seit dem 18. Jahrhundert damit einher, dass die Anzahl literarischer Manuskripte ebenso wuchs wie deren Bedeutung. Der Buchdruck hatte die Handschrift keineswegs überflüssig gemacht, sondern provozierte im Gegenteil einen neuen, am Autographen ausgerichteten Literaturbegriff. Verantwortlich dafür war ein vielfältiges Zusammenspiel von ästhetischen, epistemologischen, juristischen und wissenschaftshistorischen Faktoren. In seinem grundlegenden Buch entwickelt Christian Benne eine Theorie literarischer Gegenständlichkeit und geht dabei exemplarisch auf verschiedene europäische Literaturen ein. Er zeigt, welche Folgen die »Erfindung des Manuskripts« hatte und immer noch hat – nicht zuletzt für die Debatte über die Zukunft des Buches.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1160
Veröffentlichungsjahr: 2015
Die Entstehung der literarischen Moderne ging seit dem 18. Jahrhundert damit einher, dass die Anzahl literarischer Manuskripte ebenso wuchs wie deren Bedeutung. Der Buchdruck hatte die Handschrift keineswegs überflüssig gemacht, sondern provozierte im Gegenteil einen neuen, am Autographen ausgerichteten Literaturbegriff. Verantwortlich dafür war ein vielfältiges Zusammenspiel von ästhetischen, epistemologischen, juristischen und wissenschaftshistorischen Faktoren. In seinem grundlegenden Buch entwickelt Christian Benne eine Theorie literarischer Gegenständlichkeit und geht dabei exemplarisch auf verschiedene europäische Literaturen ein. Er zeigt, welche Folgen die »Erfindung des Manuskripts« hatte und immer noch hat – nicht zuletzt für die Debatte über die Zukunft des Buches.
Christian Benne ist Professor für Europäische Literatur an der Universität Kopenhagen.
Christian Benne
Die Erfindung des Manuskripts
Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit
Suhrkamp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2147.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2015
© Christian Benne
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
eISBN 978-3-518-73998-3
www.suhrkamp.de
Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen
1. Literatur der Literatur
1.1. Urszenen: Kierkegaard, Baudelaire, Poe
1.2. Manuskript und Moderne
1.3. Die literarische Handschrift
1.4. Plädoyer für die Literaturphilosophie
2. Theorie der Gegenständlichkeit
2.1. Literaturwissenschaftliche Ontologieangst
2.2. Aporie des Materialitätsbegriffs
2.3. Gegenstand und Gegenständlichkeit
2.4. Literarische Gegenständlichkeit als Spur
3. Die Erfindung der literarischen Handschrift
3.1. Mediologische Erfindung
3.2. Institutionelle Erfindung
3.3. Epistemologische Erfindung
3.4. Ästhetisch-poetologische Erfindung
4. Literaturhistorische Zäsuren
4.1. »Show me the manuscripts!« (Ossian)
4.2. »Organisiert und organisierend« (Friedrich Schlegel)
4.3. »Kein Einfall sollte untergehen« (Jean Paul)
4.4. »Encore inachevé« (Balzac)
5. Konsequenzen
5.1. Das Ende des Linearitätsmythos
5.2. Gegenständlichkeitsszenen
5.3. Edieren im Zeitalter der literarischen Handschrift
5.4. Digitale Gnosis und Apotheose der Schrift: Eine Spekulation
Danksagung
Namenregister
Morus befahl seiner Frau, seine Schriften zu verbrennen; und doch läse sie jeder von uns.
Jean Paul
Jedes Buch, das gedruckt wurde, ist doch für den Dichter ein Grab, oder etwa nicht?
Robert Walser
In Kierkegaards frühem Hauptwerk Enten – Eller (Entweder – Oder) aus dem Jahr 1843 gibt es unter den vorgeblich in Manuskriptform überlieferten Papieren des Ästhetikers A einen Vortrag, der sich an die Symparanekromenoi richtet, die Mitverstorbenen, eine Art fiktiver Vereinigung, deren Satzung um ein ästhetisches Verhältnis zum eigenen Tod zentriert ist.[1] Die Mitglieder sollen eine ästhetische Einstellung auch zu ihrem eigenen Nachleben gewinnen. Dem entspricht nicht nur das Plädoyer für die Fragmentarizität des eigenen Schreibens, sondern ironischerweise sogar die Organisationsform des Vereins selbst, der bei jedem neuen Treffen gleichsam von vorn zu beginnen habe:
Unsere Gesellschaft verlangt bei jeder einzelnen Zusammenkunft eine Erneuerung und Wiedergeburt, und zu diesem Zweck, daß ihre innere Tätigkeit sich durch eine neue Bezeichnung ihrer Produktivität verjünge. Bezeichnen wir unsere Tendenz also als einen Versuch im fragmentarischen Streben oder in der Kunst, hinterlassene Papiere zu schreiben! Eine völlig durchgeführte Arbeit steht in keinem Verhältnis zur dichtenden Persönlichkeit; bei hinterlassenen Papieren empfindet man wegen des Abgebrochenen, Desultorischen stets ein Bedürfnis, die Persönlichkeit mitzudichten. Hinterlassene Papiere gleichen einer Ruine, und welche Behausung könnte Begrabenen wohl gemäßer sein? Die Kunst besteht nun darin, künstlerisch die gleiche Wirkung zu erzeugen, die gleiche Nachlässigkeit und Zufälligkeit, den gleichen anakoluthischen Gedankengang, die Kunst besteht darin, einen Genuß zu erzeugen, der niemals präsentisch wird, sondern stets ein Moment der Vergangenheit in sich trägt, so daß er gegenwärtig ist in der Vergangenheit. Dies kommt schon in dem Wort »hinterlassen« zum Ausdruck. In gewissem Sinne ist ja alles, was ein Dichter geschaffen hat, hinterlassen; niemals aber würde man darauf verfallen, das vollkommen Ausgeführte eine hinterlassene Arbeit zu nennen, wenn es auch die zufällige Eigenschaft hätte, daß es nicht mehr zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wäre.[2]
Diese Stelle ist die auf die Spitze getriebene Version einer Gedankenfigur, die sich schon in der Frühromantik findet und der zufolge die moderne Poesie von Natur aus fragmentarisch und unvollendbar sei – mit Friedrich Schlegel wird noch einmal darauf zurückzukommen sein.[3] Bei Kierkegaards A soll aus der Not eine Tugend werden. Kunst heißt »nun« nicht allein, das Fragmentarische in den Rang artistischer Wirkungsmittel zu erheben, sondern den Nachlass dergestalt zu ästhetisieren, dass man schon zu Lebzeiten an der eigenen Ruine dichtet. Der Umkehrschluss steht hier zwischen den Zeilen. Weil das posthum abgeschlossene Werk nicht zum Nachlass im engeren Sinne zählt, darf zum Ausgleich das zu Lebzeiten Unabgeschlossene als Werk gelten. Datum bzw. Faktum der Publikation werden zum kontingenten und fakultativen Ornament im Zusammenhang der Werkgenese. Genuss gibt es nur um den Preis der Einsicht in seine historische Dimension. Die Ästhetik kann sich nur dann auf ihre Gegenwart richten, wenn sie diese in ihrer Gewordenheit begreift, die immer wieder neu zu rekonstruieren ist. Die künstlerische Technik, die dies möglich macht, ist die Nachahmung der »Papiere«, die ursprünglich der Gegensatz aller Nachahmung im Sinne des an Mustern ausgerichteten Werkwillens sind. Die neue Kunst, nach der hier im Kontext einer Diskussion über les anciens et les modernes diskutiert wird, soll bewusst an der anakoluthischen Ästhetik von Handschriften orientiert sein. In ihnen ist der ästhetische Genuss anwesend bzw. uns nahestehend oder gar präsent, wie man Kierkegaards »nærværende« besser übersetzte (statt »gegenwärtig«), denn wenn die Kunst, den eigenen Nachlass schon zu Lebzeiten als Werk zu konzipieren und zu komponieren, einmal in der Welt ist, kann kein Nachlass mehr in den Stand ästhetischer Unschuld zurückversetzt werden. Das Schicksal der eigenen Schreibspuren wird zur Arena einer Entscheidung zwischen dem Entweder ihrer Ästhetisierung und dem Oder ihrer bewussten Vernichtung.
In seinem eigenen Schreiben hat Kierkegaard sich eindeutig positioniert. Die Arbeit an der großen Kierkegaard-Ausgabe, die seit einigen Jahren in Kopenhagen entsteht, hat diese lange übersehene Dimension seines Werks namhaft gemacht. Kierkegaards ästhetisches Spiel mit den »papirer«, mit Brouillons, Entwürfen, Pseudonymen und posthumen Tagebüchern hat eine handfeste materiale Basis. Diese hat zwar stark unter der Nachbearbeitung der ersten Nachlassverwalter und posthumen Editoren gelitten, doch ist die Anlage noch heute erkennbar. Der Nachlass ist ein pyramidales Gebäude aus verschiedenen Notizbüchern, Zetteln, ausgeschnittenen und neu verklebten Papierstreifen, Selbstkommentaren.[4] Kierkegaard hatte in seinem Schreibtisch für eine komplexe Anordnung von Manuskripten gesorgt, die nach seinem Tod in einer bestimmten Reihenfolge und von einem vorher ausgewählten Nachlassverwalter zu entdecken waren. Klaus Müller-Wille hat Kierkegaards Manuskriptwelten deshalb mit Recht als eigenständigen Teil seines Schaffens eingeordnet, »als eine dritte Form der indirekten Mitteilung« neben dem Spiel mit den pseudonymen und religiösen Schriften.[5]
Darin stand er gewiss nicht allein. Zwar navigierte Kierkegaard die Kunst der literarischen Handschrift in seltener Konsequenz auf ihren philosophischen Höhepunkt, aber er führte damit nur eine Tendenz aus, die mit der modernen Literatur gleichsam mitgeliefert wurde. Wenn Müller-Wille etwa Kierkegaards Gewohnheit schildert, seine Notizbücher am Rand zu falten, um Platz für eigene Randnotizen zu schaffen, verbirgt sich dahinter zwar in der Tat die Absicht späterer Selbstlektüre, aber das ist nichts weniger als ungewöhnlich für die Epoche.[6] Im Gegenteil. Die Marginalien, so Müller-Wille, »erlauben es ihm, die buchstäblich wiederholenden Lektüren seiner Ergüsse zu materialisieren und gegebenenfalls sogar die marginalen Autokommentare nachträglich zu kommentieren«.[7] Man könnte diese Perspektive auch umkehren. Kierkegaard praktiziert diese Art von Auto-Philologie nicht nur, um philosophisch den Schlüsselbegriff der Wiederholung zu umkreisen, vielmehr spielt die Wiederholung bei ihm womöglich eine so zentrale philosophische Rolle, weil er stark von der frühromantischen Schriftkultur der selbstkommentierenden und zirkulierenden Symphilosophie beeinflusst war.[8]
Szenenwechsel zu einem Autor, der noch unzweifelhafter als der dänische Philosoph zu den Urvätern der literarischen Moderne zählt: Charles Baudelaire. Seine Auffassung der Poesie, so unerhört und bahnbrechend sie war, zeigte sich von einem traditionellen Formwillen geprägt, der ihm Erscheinungen etwa auf dem amorphen Gebiet des Romans, dem künftigen Leitgenre, suspekt machte. Seine eigenen Prosaversuche, auch Ansätze zur Dramatik blieben zumeist Skizze, die Prosagedichte erschienen erst posthum. Dass sie auch darin nicht gescheitert, sondern moderner waren als selbst noch die Fleurs du Mal, hat Baudelaire selbst nicht mehr sehen können.[9] Hellsichtiger als auf sich selbst bezogen war er gegenüber den entscheidenden künstlerischen Innovationen seiner Zeitgenossen.
Im »Conseil aux jeunes littérateurs« (Ratschlag an junge Literaten) von 1846 warnt Baudelaire vor einer literarischen Arbeitsweise, die die Idee des in sich abgerundeten Kunstwerks bedroht:
Man sagt, Balzac überlade seine Reinschriften und Korrekturfahnen auf unerhörte und verwirrende (fantastique et désordonnée) Weise mit Zusätzen. Ein Roman durchläuft dergestalt eine Reihe von Entwicklungsstadien (une série de genèses), in der nicht nur die Einheit des Ausdrucks, sondern auch des Werks verloren geht. Zweifellos ist es diese schlechte Methode, die dem Stil oft diesen schwer zu bestimmenden Eindruck von etwas Diffusem, Gehetztem, Kladdenhaftem (de brouillon) verleiht – der einzige Fehler dieses großen Historikers.[10]
Baudelaire galt unter den Zeitgenossen eigentlich als Anhänger und Verteidiger Balzacs, den er gegen den Vorwurf, ein schlechter Stilist zu sein, durchaus in Schutz nahm. Seine Stilkritik verschiebt die Aufmerksamkeit auf Balzacs Arbeitsweise. Sie wird durch Baudelaires Ratschlag nun aber ironischerweise eher heroisiert, weil sie durch das Ergebnis offenbar gerechtfertigt ist. In Baudelaires wenigen Zeilen wird zum ersten Mal eine Praxis des Schreibens namhaft gemacht, die zur Physiognomie moderner Literatur erheblich beigetragen hat. Vollgekritzelte auratische Autorenhandschriften lassen sich aus ihr ebenso wenig wegdenken wie moderne Typographien, deren scheinbar unansehnliche, verheimlichte Verwandtschaft sie bis vor Kurzem noch waren. Die jungen Verfasser und ihre Nachfolger haben den Wink verstanden und sich nicht an Baudelaires Ratschlag gehalten. Es lohnt sich deshalb, das Baudelaire-Zitat Zeile für Zeile zu studieren.
Man sagt: Es ist ein Ondit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Offenbar ist Balzacs aus vielen Quellen und durch die Dokumente belegte Technik der ständigen und zunehmend verwirrenderen Reformulierung der Arbeitsmanuskripte, Druckvorlagen und Fahnen bereits hinreichend bekannt, allerdings aber noch nicht so allgemein üblich, dass es sich nicht darauf hinzuweisen lohnte.[11] Das Ondit spürt und vermittelt die Gefahr, die jeden Umsturz bewährter Verhältnisse begleitet. Die Epitheta Baudelaires sind fantastique und désordonnée – seit der Frühromantik keine negativen Begriffe mehr, sondern mit eigenem ästhetischen Anspruch aufgeladen, der auch Teile von Baudelaires Œuvre kennzeichnet. Der Vorwurf des Phantastischen und Ungeordneten ist modernen künstlerischen Strömungen seit jeher gemacht worden. Hält man sich an Baudelaires eigene – ursprünglich freilich unveröffentlichte – Prosaschriften, so begegnet man der phantastischen Unordnung und der ungeordneten Phantasie genauso wie in den verwickelt konstruierten Handlungssträngen Balzacs. Vergegenwärtigt man sich zumal die Journaux intimes, scheint es wenig plausibel, dass ihr Autor zu klassischen Ordnungsprinzipien aufrufen will.
Der nächste Satz des kleinen Zitats zeigt die Folgen von Balzacs angeblich mangelnder Schaffensdisziplin. Die Einheit des Werks löst sich in die Bestandteile seiner Geschichte auf; anders gesagt: Die Geschichte des Werks wird das Werk selbst; es besteht aus den genetischen Stufen seiner Entstehung. Die Scharfsinnigkeit dieser Beobachtung Baudelaires und insbesondere die Tatsache, dass sein Begriff der Genese im Plural, nicht im Singular vorkommt, ergibt sich vor allem mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der Editionsphilologie. Die Einsicht der Textgenetik und der critique génétique, dass die genetische Perspektive auf die Entstehungsprozesse literarischer Werke den starken Werkbegriff als einzigen, ungeteilten Zielpunkt aller literarischen und editorischen Bemühungen in Frage stellt, wird hier bereits erahnt.
Noch spektakulärer ist die daran anschließende Behauptung, wonach die unübersichtliche Arbeit an den verschiedenen Genesen und Entstehungsstadien im Manuskript und auf den Fahnen tatsächlich im Endresultat nachweisbar sei. Die Art und Weise der Entstehung hat Auswirkungen bis in den Stil, die einzelne Formulierung hinein. Dabei will Baudelaire gewiss nicht behaupten, dass der Dichter jede Komposition bereits perfekt auf die Welt bringt: Die Feile hat es schon immer gegeben, auch bei Baudelaire selbst. Vielmehr scheint es die konkrete Arbeit auf dem Papier zu sein, die den Rahmen normaler Überarbeitung sprengt, in der die Handschrift den Druck der Fahne oder die regelmäßige Reinschrift überdeckt und bezwingt, ehe erneut der Versuch ihrer Zähmung unternommen wird, der dann eben, so Baudelaire, nie mehr ganz erfolgreich sein kann. Balzacs Brouillon lässt sich wie ein Palimpsest im Hintergrund seiner veröffentlichten Werke noch ausmachen. Hätte Baudelaire recht, müsste man literaturwissenschaftlich nicht nur von der Form literarischer Werke auf ihre Entstehungsweise schließen können, sondern auch annehmen, dass die zunehmend verschriftlichte Kompositionsweise der Dichter – die nun nicht von ungefähr zu Schriftstellern werden – die neue Literatur zuallererst hervorgebracht hat (und nicht umgekehrt).
Im Zitat fällt zuletzt die Bezeichnung des großen Romanciers als ce grand historien auf. Das ist Balzac natürlich auch gewesen, gleich welcher historiographische Maßstab angelegt wird. Dennoch entfernt sich Baudelaire damit bewusst vom emphatischen Begriff des Dichters (poète). Hat die Literatur nach Balzac überhaupt noch etwas mit Dichtung zu tun? Der Eindruck drängt sich auf, Baudelaire warne in Wirklichkeit nicht vor Balzacs Arbeitsweise selbst, sondern vor der Konsequenz für die jungen Literaten. Balzacs Missachtung von Werkeinheit und stilistischer Geschlossenheit entfernt ihn vom Amt des Dichters und führt zum Metier des Geschichtsschreibers bzw. zum Zwitterdasein des Literaten hinab.
Die bekannte Wertschätzung Balzacs durch Baudelaire widerspricht dieser Lesart. Baudelaire entpuppt sich als Traditionalist und Modernist in einer Person, wenn er als Alternative zu Balzacs Techniken die Formulierung im Kopf empfiehlt. Heute müsse man viel, d.h. schneller schreiben, die mentale Vorformulierung spare nicht zuletzt Zeit. Die herkömmliche, letztlich aristokratische Sitte, niemandem Einblick in die Werkstatt zu gestatten – Dichtung durfte gerade nicht nach Arbeit aussehen, sondern war das Resultat des unangestrengten Zeitvertreibs in Mußestunden[12] –, wird für die Zeitökonomie des beschleunigten Zeitalters umfunktionalisiert. Dabei ist die Dichtung im Kopf eher der Komposition des Musikers verwandt; jene Methode, wie der Maler viel Leinwand zu bedecken, d.h., viel Papier erst vollzuschreiben, um dann durch Streichung das Ziel zu erreichen, lehnt Baudelaire explizit ab.[13] Das beschriebene Papier hat den Kompositionsvorgang nur zu dokumentieren. Das Material, das Resultate festhält, darf nicht am Prozess seiner Entstehung teilhaben. Baudelaire spürt sehr genau den Bruch mit der Überlieferung, denn gerade das behauptet er ja: dass die materiellen Umstände des Schreibverfahrens Auswirkungen auf Balzacs Literatur nehmen. Reinschrift und Druckfahnen sind nicht länger bloße Abbilder des Geistes, sondern seine Existenzbedingung.
Ein letztes Schlaglicht soll auf einen Autor fallen, der nicht nur Baudelaire stark beeinflusst hat, sondern dessen ästhetische Intuition der neuen Kompositionsweise sich mit philosophischer Reflexion im Sinne Kierkegaards verband (den er freilich nicht gekannt hat). Edgar Allan Poes »The Philosophy of Composition«, ein epochaler Text der literarischen Moderne, erschien wie Baudelaires »Conseil« ebenfalls im Jahr 1846 und damit auch in unmittelbarer Nähe zu Kierkegaard. Gewöhnlich gilt er als endgültige Verabschiedung romantischer Inspirationsvorstellungen hin zu einer Poetik des Machens und Herstellens. In seinem Essay will Poe den »modus operandi« seiner Werke durch Einblick in einen konkreten Kompositionsprozess exemplarisch demonstrieren, in dezidierter Abkehr von bisherigen Praktiken:
Die meisten Schriftsteller – besonders die Lyriker – geben gerne zu verstehen, dass sie aus einer Art schönen Raserei (fine frenzy) heraus schaffen – einer ekstatischen Intuition. Sie würden gewiss davor zurückschauern, dem Publikum einen Blick hinter die Kulissen zu erlauben, auf die komplizierten und schwankenden Rohzustände des Denkens – auf die wahren Absichten, die sich erst im letzten Moment ergaben – auf die zahllosen Ideenblitze, die nicht die Reife der vollen Einsicht erlangten – auf die voll gereiften Einbildungen, die aus Verzweiflung als nicht handhabbar verworfen wurden – auf die vorsichtige Wahl und Ablehnung – auf die schmerzhaften Streichungen und Einfügungen – kurz: auf das Räderwerk – den Flaschenzug der Kulissenschieber – die Trittleitern und Dämonenfallen – die Hahnenfedern, die rote Farbe und das schwarze Pergament – wie sie, in neunundneunzig von hundert Fällen, die Eigenschaften des literarischen histrio ausmachen.[14]
Poe stellt hier folgende Behauptungen auf: (I) in der konkreten Vorgehensweise des literarischen Schaffensprozesses unterscheiden sich Autoren nicht: Schreiben ist ein kaum systematisierbarer Redaktionsprozess; (II) die Vorstellung einer dichterischen Inspiration, die den Autor in einen Rausch versetzt, ist lediglich nach außen gekehrtes Spiel fürs nichtsahnende Publikum, denn in Wahrheit, und von seltenen Ausnahmen abgesehen, ist Schreiben Arbeit; (III) Autoren verwehren dem Publikum bewusst den Einblick in die Werkstatt, um diese Illusion aufrechtzuerhalten. Bemerkenswert ist ferner die Theatermetaphorik, die Heraufbeschwörung magischer Handlungen als Teil der Inszenierung, ferner die Behauptung, sie treffe in erster Linie auf Lyriker zu.
Poes buchstäblich illusionslose Offenlegung dichterischer Schreibarbeit als Herstellung, die das gutgläubige Publikum lange hinters Licht führte, sich nun aber zu ihrem Charakter bekennt, kann nicht allein auf den Einfluss Friedrich Schlegels zurückgeführt werden.[15] Sie ist vielmehr im Zusammenhang mit den Beiträgen Kierkegaards und Baudelaires zu lesen: In der Mitte des 19. Jahrhunderts wird ein neuartiger Begriff des Schreibens nicht nur erkannt, sondern bereits zum poetologischen Programm erhoben. Aus der Not der Spuren, die das Schreiben hinterlässt, machen die genannten Autoren eine Tugend, die sich als direkter oder indirekter Ratschlag formulieren lässt – bis hin zur Komposition eines Nachlasses aus den Schreibspuren noch über den biologischen Tod des Verfassers hinaus. An die Stelle des abgerundeten Kunstwerks tritt der Prozess seiner Entstehung – er wird zum eigentlichen Werk. Die Erkenntnis der neuen, selbst- und schreibreflexiven Literatur ist hier als entscheidender Schritt zur bewussten Anwendung weitergedacht. Der Ratschlag an jüngere Autoren entwickelte sich seit der Romantik nachgerade zu einem Genre, für das die werkpolitischen Aspekte der Autorenmanuskripte immer wichtiger wurden.[16] Zu vermuten steht in der Tat, dass diese Manuskripte eine zentrale Rolle für die Propagierung der an Schreibspuren (und ihrer Reflexion) ausgerichteten literarischen Moderne spielten.
Als Kennzeichen der literarischen Moderne gilt die »Einzeichnung der eigenen Schreibarbeit« in das Werk.[17] Dass Manuskripte im Heraufzug dieser Moderne eine zentrale Rolle spielen mussten, liegt – buchstäblich – auf der Hand. Was ein Manuskript ist oder generell als solches gilt, lässt sich aufgrund der phänomenalen Vielfalt seiner Erscheinungsform nicht essentialistisch bestimmen. Wichtig wird für mich allenfalls eine Klassifikation, die sich am besten mengentheoretisch darstellen lässt. Manuskripte sind keine Materialien, die mit Zeichen versehen werden, sondern jene Teilmenge typischerweise organischer, materialer Gegenstände, die durch Spuren nichttypographischer und nichtakzidentieller Schrift überhaupt erst bestimmt werden. Den Dualismus von Trägersubstanz und semiotischer Ebene möchte ich aus Gründen, die später deutlich werden, um jeden Preis vermeiden: Manuskripte sind in erster Linie Gegenstände, wenn auch spezifische, deshalb kann keine Rede von ihrem ›Text‹ sein, den sie bloß transportieren. Sie sind, was sie sind, jeweils nur aufgrund eines konkreten, einmaligen Soseins.
Eine umfassendere Definition würde damit enden, alle historischen Schreibmaterialien (von Tierhäuten und Baumrinden bis Papier und Tabletcomputer, von organischem und vielleicht sogar anorganischem Material), Beschriftungsinstrumente, Organisationsformen (z.B. Einzelblätter gegen Kodizes) relativ zu ihren Urhebern (z.B. Abschreibern, Sekretären, Autoren) und Funktionen zu registrieren. Dergleichen würde selbst einen wittgensteinschen Archetypus zu einem fruchtlosen Unterfangen machen, weil er für konkrete kulturelle Kontexte keine analytische Kraft entfalten kann: Definierbar ist nur, mit Nietzsche, was keine Geschichte hat.[18] Stattdessen versuche ich die Frage zu beantworten, wie und warum (autographe) Manuskripte, die im weitesten Sinne zu Schreibprozessen vorrangig innerhalb der europäischen Literaturgeschichte gehören und denen noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts nach der Drucklegung keinerlei Wert mehr beigemessen wurde, zu dezidiert literarischen Handschriften wurden, die die Auffassung und das Erscheinungsbild von Literatur insgesamt fundamental veränderten. Ich begreife diese Aufgabe nicht vornehmlich als medienhistorische, sondern als ästhetische und literaturphilosophische Herausforderung.
Der zeitliche Rahmen der Untersuchung erstreckt sich etwa von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis ca. Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar existieren auch einige (wenige) autographe Manuskripte aus früheren Jahrhunderten; ihre Erhaltung ist aber fast immer schlüssig aus besonderen Umständen oder dem plötzlichen Tod eines Verfassers ableitbar und bestätigt eine Regel, die u.a. das im 19. Jahrhundert neu gegründete Marbacher Literaturarchiv veranlasste, das Stichjahr für den Sammelschwerpunkt auf 1750 festzusetzen.[19]
Wichtig ist in diesem kulturen Kontext die Unterscheidung von Buch und Manuskript, die selbstredend nicht zeitunabhängig ist und auch nicht in allen Fällen mit der Gegenübersetzung von Massenanfertigung und Einmaligkeit verwechselt werden darf: Es gibt seltene Drucke (und sogar Unikate) genauso wie die Massenfertigung von abgeschriebenen Manuskripten aus Schreiberwerkstätten und Manufakturen. Universal einleuchtend und für den vorliegenden Zweck zunächst ausreichend ist nach wie vor eine pragmatische Definition, die Theodor Birt in seiner klassischen Studie zum antiken Buchwesen vorgeschlagen hat. Ein Buch ist demzufolge eine »räumliche Einheit«, die »noch nicht durch die einmalige erste Niederschrift seines Verfassers, sondern erst durch Publikation« – und das bedeutet: auch, aber nicht nur, durch »Vervielfältigung« – entsteht.[20] Diese Vervielfältigung kann verschiedene Formen annehmen: Die Drucklegung sei nicht prinzipiell verschieden von der antiken Situation, »wo ein Autor sein Manuscript seiner eignen Sclavenschaft oder der Sclavenschaft eines Unternehmers zur vielfältigen Abschrift übergab«.[21] Da auch ein Manuskript als »räumliche Einheit« gelten muss, soll also in der Tat die vervielfältigte Veröffentlichung als Unterscheidungskriterium dienen. Das Veröffentlichen ist eine Publikationsform, die sich an ein diffuses, nicht vorher bereits individuell festgelegtes Publikum richtet – es schließt damit Manuskripte aus, die nicht öffentlich erworben werden können und nur in einem geschlossenen Kreis von dem Autor persönlich bekannten Lesern zirkulieren.[22]
Einen Unterschied zwischen Buch und Manuskript gab es bereits für antike Papyrosrollen, also unabhängig von Typographie und Druck.[23] Manuskripte wurden in erster Linie zum Zwecke des Feilens und Abrundens aufbewahrt; berühmt wurde die Verfügung Vergils, im Falle seines Todes die Aeneis zu verbrennen, da er noch nicht letzte Hand an sie gelegt habe.[24] Wo sich die Praxis autographen Schreibens vor den Buchdruck datieren lässt, ging es, wie in der berühmten kritischen Petrarca-Ausgabe Federico Ubaldinis von 1642 (aufbauend auf noch älteren Kommentaren), meist darum, dem Publikum durch Einblick in die Arbeitsweise des Autors dessen Nachahmung zu erleichtern.[25]
Der Begriff der Manuskriptkultur ist traditionell jener Epoche vorbehalten, die mit der Erfindung und dem Triumph des Buchdrucks ans Ende kam. Als dieser immer erschwinglicher wurde, so das bis heute dominierende medienhistorische Narrativ, habe sich das gesamte Abendland in eine Kultur des Buchdrucks (»culture of print«) verwandelt.[26] Dieser Vorstellung zufolge wandelte sich bereits in der Spätantike eine auf mündlicher Überlieferung, mündlicher Komposition und mündlicher Performanz beruhende Kultur poetischer Formen zu einer an je bestimmte Schriftträger gebundenen Kultur der Gedächtnisentlastung und Aufzeichnungsordnungen. Diese Entwicklung wird vom ebenfalls schon aus der Antike bekannten Klagegesang der Schriftkritik begleitet. Noch im Mittelalter, der Hoch-Zeit der Manuskriptkultur, habe es eine Kultur des Performativen, Leiblichen als Alternative zur stillen Askese der Mönchszellen und Kopisten gegeben, namentlich in der Volksdichtung. Diese, so geht die Erzählung weiter, sei mit dem Triumph des Buchdrucks endgültig untergegangen, der die von den Manuskripten getragene Schriftkultur unangefochten durchsetzte. Mit dem Sieg über die Oralität verschwand zugleich das Manuskript; seine Idiosynkrasien wurden von der Uniformität der Massenproduktion verdrängt. Zwar hat die Auffassung, das sogenannte Gutenberg-Zeitalter werde in naher Zukunft erneut durch eine Ära der Oralität und spontanen Unmittelbarkeit abgelöst, wie sie sich in den neuen technischen Medien sowohl ankündigt wie ausdrückt, heute einiges an Plausibilität verloren. Gleichwohl hat sich die Vorstellung verfestigt, dass zuerst der Buchdruck und erst recht der Computer die Handschrift zur auslaufenden Kulturtechnik gemacht hätten, die keine weitere Beachtung mehr verdient.[27]
Mit Sicherheit lässt sich festhalten, dass diese Erzählung für die Zeit der letzten mindestens 200 Jahre in die Irre führt. Die buchhistorische Forschung hat die Baumgrenze der Manuskriptkultur ohnehin ständig weiter nach vorne verschoben. Bis weit ins 17. Jahrhundert galten Manuskripte als völlig normale Form der Publikation und wurden sogar auf dem Buchmarkt neu und gebraucht gehandelt.[28] In der Frühzeit des Drucks existierte lange Zeit gar kein Bewusstsein eines Unterschieds von Druck und Handschrift: Druckwerke galten als besondere Form des Schreibens und wurden bisweilen erst durch handschriftliche Zusätze, etwa Widmungen oder Leseanleitungen, als Bücher verbreitet; manche Drucke wurden noch von Hand kopiert.[29]
Wer sich der Literaturhistorie von den Problemen der Textkritik und Editionsphilologie her nähert, muss erst recht feststellen, dass die Diagnose eines zunehmenden Bedeutungsverlustes der Handschrift spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr gilt.[30] Mehr Manuskript war nie. Im selben Maß, wie sich der Ausstoß der Buchproduktion erhöhte, wuchs auch die Menge des handschriftlichen Materials aller Art, und zwar nicht nur absolut, sondern auch relativ. Seit der berühmten Zeitenwende ›um 1800‹ treten sogar gehäuft Fälle auf, in denen das nur handschriftlich vorliegende Material eines Autors seine Publikationen zumindest dem Umfang nach weit übertrifft. Die besondere Lage des Editors moderner Literatur lässt sich noch eindrücklicher fassen, wenn man sich zum Vergleich die Situation des Editors der Literatur des 17. oder 18. Jahrhunderts oder gar noch länger zurückliegender Jahrhunderte vor Augen führt. Die Schwierigkeiten des Herausgebers von Schriften des 18. Jahrhunderts liegt gewöhnlich in einer Anzahl unterschiedlicher Drucke – nicht nur Raubkopien oder ursprünglich unautorisierte Nachdrucke sind ein Problem, denn selbst scheinbar identische Auflagen desselben Verlagshauses weichen auf zunächst unerklärliche Weise voneinander ab.[31] Außerdem gibt es Abweichungen im Vergleich von Zeitschriftenpublikationen oder Neudrucken für Werkausgaben. Dagegen fallen handschriftliche Variationen kaum ins Gewicht.[32]
Die polarisierende Gegenüberstellung und chronologische Ablösung von Handschrift und Druck, wie sie aus medienhistorischer Sicht gerne vorgenommen wird, ist indes nicht nur aus archivalischer Sicht kategorial unbefriedigend. Selbst der banale Unterschied von Notation und Transmission und die Tatsache, dass die steigende Verbreitung von typographisierten Kodizes nicht mit dem Schreiben identisch ist, wurden in Mediengeschichte und Medientheorie gerne ignoriert.[33] Ähnlich dem exponentiell wachsenden Papierverbrauch seit dem Siegeszug des Personal Computers, der den Slogan vom papierlosen Büro ad absurdum führte, zeitigte der Buchdruck eine Explosion des Verschriftlichens insgesamt.[34] Nach Erfindung und Verbreitung der beweglichen Lettern entwickelt sich zwischen Handschrift und Druck ein Verhältnis funktionaler Differenzierung. Erst im medialen Kontext gewinnt die Handschrift ihre spezifische Bedeutung.[35] Vorbildlich sind hierzu die historischen Studien des Mediävisten und Frühneuzeitforschers Rüdiger Schnell, der sich in den vergangenen Jahren mit bestechenden Argumenten von Postulaten und Klischees der Mediengeschichte im Gefolge von Marshall McLuhans einflussreichen Schriften abgesetzt hat. Statt einer Abfolge von »Kulturstufen«, die im Sinne McLuhans von der Manuskriptkultur zur Gutenberg-Galaxie und wieder über diese hinaus führen, betont Schnell das »Neben-, Mit- und Gegeneinander« der Medien.[36] Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts seien in der Handschrift, »sofern es sich um Erst-Produktionen von noch lebenden Verfassern handelte«, Texte für kleine Kreise und für die vertraute Kommunikation entstanden; nur die Monopolstellung der Handschrift habe der Druck beseitigt, sie selber nicht.[37] Vor diesem Hintergrund hat Schnell besonders die Annahme in Frage gestellt, der Buchdruck sei schon an sich selbst für zahllose sozialhistorische und mentalitätshistorische Änderungen verantwortlich gewesen.[38] Womöglich seien dafür andere Faktoren wichtiger, die ihrerseits den Buchdruck hervorgebracht hatten.[39] Einer sich allmählich formierenden Abkehr von der sogenannten Toronto-Schule[40] und ihren Ausläufern mit der starken Betonung des Unterschieds zwischen vermeintlich oralen Kulturen einerseits und schriftsprachlich geprägten Kulturen andererseits liefert Schnell zahlreiche überzeugende Argumente. Beispielsweise lassen sich schon in Texten des Mittelalters, die gemeinhin als Inbegriff oraler Kultur gelten, hochelaborierte Spiele mit Schriftlichkeit, Schriftbildern und Gematrie (Zahlenspielen) nachweisen. Andererseits betonen viele Dichter des 18. bis 20. Jahrhunderts den mündlichen Charakter ihrer Dichtung, wird seit Rousseau, Herder oder Goethe die lebendige Stimme gegen den toten Buchstaben in Stellung gebracht. In der Tat wurde Poesie bis ins 20. Jahrhundert, teilweise noch bis heute durch gemeinsames lautes Lesen rezipiert, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie im 18. Jahrhundert – ein weiterer Beweis für die Differenzierungsthese: Wo Schrift sich unangefochten durchgesetzt hat, kann lautes, am Klang orientiertes Lesen eine neue, herausgehobene Rolle spielen.
Schnells Studien enden zeitlich dort, wo es aus Sicht der modernen Literatur interessant wird, nämlich an der Schwelle zur Entstehung des modernen Literaturbegriffs und damit der ›Erfindung‹ der literarischen Handschrift. In dieser Periode lässt sich eine die Differenzierung noch steigernde Entwicklung ausmachen. Handschrift und Druck bleiben nicht länger in ihren jeweils genau abgezirkelten Bereichen, sondern berühren und beeinflussen einander wechselseitig auf vielfältige Weise – in dem Sinne, in dem die Systemtheorie von re-entry spräche. Durch die Befreiung der Handschrift von der Aufgabe der vervielfältigenden Publikation werden Buchkultur und Manuskriptkultur paradoxerweise Teil desselben Phänomens.[41] Das handschriftliche Material generiert Druckerzeugnisse, ohne im Anschluss zu verschwinden. Vielmehr wachsen aus demselben Boden neue Druckerzeugnisse nach, die wiederum das handschriftliche Material befruchten, verändern und erweitern. Die Drucklegung wird zum Moment eines übergeordneten Schreibprozesses, der erst mit dem Tod des Autors endet; in einigen Fällen noch nicht einmal dann. Denn wenn die Philologen posthum übernehmen und das handschriftliche Material neu ordnen und herausgeben, ist dies nur die Fortsetzung einer zentralen Technik des Autors selbst.
Doch selbst wenn man die Erfindung und Durchsetzung des Buchdrucks als Zäsur und notwendige Voraussetzung einer neuen Rolle der Manuskripte gelten lässt, bleibt der zeitliche Rahmen für die Entstehung der modernen, sich selbst thematisierenden écriture umstritten. Maurice Blanchot ließ in einem einflussreichen Buch das (textgenetisch relevante) moderne Schreiben mit Flaubert beginnen.[42] In der deutschen Diskussion kommt häufig schon Hölderlin die Ehre zu,[43] aber naturgemäß kann beim späten Hölderlin, der durch die Schwierigkeiten seiner textuellen Überlieferung die moderne Aufmerksamkeit gegenüber der Problematik erst provoziert hat, kaum von einer breiten oder gar bewussten Literaturrevolution die Rede sein. Obwohl es bisher keine systematische Forschung dazu gibt, hat sich das Ende des 19. Jahrhunderts als beliebtester Kandidat durchgesetzt, verkörpert durch Paul Valéry, der von zahlreichen Textgenetikern zusätzlich als Begründer des eigenen Selbstverständnisses verehrt wird.[44] Bei ihm lässt sich in der Tat eine Bewegung weg vom Denken des Werks als abgeschlossenes Produkt zugunsten der »Werkherstellung« (fabrication de l’œuvre) beobachten, die er selber als revolutionär verstand.[45] Wenn die Arbeit am Text – »travail« wird zum Schlüsselbegriff dieser Ästhetik – eine unendliche ist, kann seine Publikation wenig mehr als ein »äußerlicher Vorfall« (incident extérieur) oder gar ein »Zufall« (accident) sein, der mit der eigentlichen Werkgenese wenig zu schaffen hat. Ein Gedicht, das in Varianten vorliegt, ist aus dieser Perspektive schon ein Güteausweis, kein Problem mehr.[46] Sein Abschluss ist immer nur temporär.[47] Unter den Zeitgenossen Valérys wäre an Robert Walser, Georg Trakl oder Franz Kafka zu denken, um einige der prominentesten zu nennen. Ein großer Teil ihrer wirkungsmächtigsten Schriften lag zu Lebzeiten ausschließlich in Handschriften vor und ist nur schwer in konventionelle Werkform zu bringen. Bei einigen von ihnen nimmt die Handschrift eine bis dato unerhörte, gleichsam kunsthistorisch relevante Dimension an, weil ihre Gestaltung und Bildhaftigkeit integraler Bestandteil des kompositorischen Prozesses wird. Kafkas Texte, so Gerhard Neumann, könne man gar nicht mehr als Fassungen beliebiger Genres wie Roman oder Novelle präsentieren: als »nicht einsinnig steuerbares emergentes Bewegungsspiel« verkörperten sie einen völlig neuen, nichtlinearen Textbegriff, »ein stereometrisch geschichtetes Ensemble von sich überlagernden ›Varianten‹-Feldern«.[48]
Allerdings ist dergleichen beileibe nicht mehr revolutionär. Neumanns Satz lässt sich ohne größere Abstriche schon auf editionsphilologische Schwierigkeiten bei Herder, Kleist oder Heine anwenden. Die Wurzeln des prozessorientierten Schreibens reichen offenbar tief ins 18. Jahrhundert zurück. Spätestens in der Goethe-zeit gehörte die Sinnlichkeit des Schreibprozesses in den Gesamtkontext materialer Kulturaneignung.[49] Was sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert ereignete, war bloß die Radikalisierung einer Entwicklung, die viel früher begonnen hatte. Zusätzlich nahm die Literatur der experimentellen Avantgarde auch in den Darstellungsformen Abstand von uniformen typographischen Kodes: Man denke nur an die dispersiven Gedichte in Apollinaires Calligrammes[50] oder an die Entwürfe eigener Schriften, die an Handschriften angelehnt sind.[51] Die Übergänge zur bildenden Kunst wurden fließender, aus Text wurde Textur, bis in die Dreidimensionalität künstlerischer Gegenstände hinein, die ihre Beschriftung ausstellen.[52] Neu war schließlich auch die Rezeptionsweise gegenüber Werken, die traditionellerweise als unfertig oder unleserlich galten. Roland Reuß’ Plädoyer für das »Lesen, was gestrichen wurde«[53] war gerade deshalb so elektrisierend, weil es den performativen Widerspruch zwischen Kafkas Streichungen und seinem Gebot zur Vernichtung aufdeckte, der zum integralen Teil von Gehalt und Ästhetik des Werks wurde. Der Begriff des Manuskripts allein kann die ästhetischen und letztlich auch philosophischen Implikationen der Rolle von Handschriften in der modernen Literatur nur schlecht erfassen. Für die Manuskripte der modernen Literatur und für die an Manuskripten ausgerichtete Poetologie und Ästhetik in Buchform werde ich von literarischen Handschriften sprechen. Ich interessiere mich für ihre Beschaffenheit genauso wie für ihre allmähliche Entstehung.
Der Begriff der literarischen Handschrift widerspricht auf fundamentale Weise der in weiten Teilen noch immer dominierenden Auffassung, wonach sich der »Vorgang in der Literatur […] hauptsächlich aus Büchern« zusammensetze.[54] Für Wilhelm Dilthey waren Handschriften in erster Linie für die Geschichtsforschung relevant. Dem Literaturforscher konnten handschriftliche Nachlässe allenfalls noch unentdeckte große Werke in Aussicht stellen, die nach ihrer Bergung durch die Veröffentlichung zutage treten würden. Dilthey sah noch nicht, dass Manuskripte weniger als historische Quellen dem vielmehr als literarische Handschriften bereits integraler Bestandteil der Literatur geworden waren. Das führte in der Folge so weit, dass Autoren ihrem Werk gelegentlich sogar durch die nachträgliche Produktion von Arbeitshandschriften auf die Sprünge halfen, wie (wahrscheinlich) schon James Joyce im berühmten Rosenbach-Manuskript von Ulysses.[55]
Der problematische Status der Handschrift in der Literaturwissenschaft – aber auch ihre Aura – wird nicht wenig dadurch befeuert, dass sie gewöhnlich den Blicken entzogen ist. Man muss sie an den Orten, wo sie verborgen ist, in Archiven oder Privatbibliotheken, aufsuchen. Selbst jenen, die sich professionell mit Literatur beschäftigen, ist nur selten das Ausmaß des handschriftlichen Kosmos bewusst, auf dem die moderne Literatur aufruht. Das Manuskript ist wie das schöne Buch Opfer der Bibliophilie in dem Sinne geworden, dass sich eine zur Wissenschaft gewandelte Philologie dergleichen Schwärmerei verbot. Der Begriff des Textes, der die literaturwissenschaftliche Diskussion viele Jahrzehnte bestimmte, verstand sich als rein semiotische Kategorie. Die zeitgenössische Schwundstufe dieser Vorstellung kommt noch in der ubiquitären Rede vom ›content‹ zum Ausdruck, der beliebige ›Medien‹ bespielt.
Vor diesem Hintergrund musste der Umstand ein blinder Fleck bleiben, dass in der modernen Literatur etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein zunehmend emphatischer Begriff von Literatur an die Existenz von autographen Handschriften bzw. Autorenmanuskripten gebunden wurde: als ›Erfindung‹ des Manuskripts, das nun nicht mehr trotz, sondern wegen seiner Handschriftlichkeit wahrgenommen, weiterentwickelt und aufbewahrt wird. Die ›Erfindung‹ des Manuskripts bezeichnet die komplexe Entwicklung, die zur Herausbildung von literarischen Handschriften führte, die ihrerseits das literarische System dergestalt veränderten, dass die rein mediale Unterscheidung von Handschrift und Buch erneut schwierig wurde. Ohne an dieser Stelle darauf näher eingehen zu wollen, verstehe ich die Untersuchung dieser Erfindung nicht als Ursprungssuche, sondern als Rekonstruktion einer Emergenz, die auf die Annahme starker Kausalitäten verzichtet.[56]
So liegt es beispielsweise nahe, die Aufwertung von Handschriften mit der Genieästhetik zu assoziieren.[57] Allerdings lässt sich bei deren Protagonisten bis in die 1780er Jahre hinein keine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber Handschriften nachweisen, was eher für eine rhetorica contra rhetoricam[58] als für einen konsequenten Bruch mit dem Klassizismus der Feile spricht. Es leuchtet ferner nicht ein, dass Schiller noch fast alles eigenhändig vernichtete, während Goethe sein eigenes Archiv anlegte, allerdings erst nach 1800, nachdem er die Genieperiode längst hinter sich gelassen hatte. Klopstock benötigte fast 27 Jahre, um die ersten zwanzig Gesänge des Messias fertigzustellen, und weitere 25, um das ganze Werk zu publizieren, zu korrigieren, erneut zu veröffentlichen – Handschriften haben sich freilich kaum erhalten. Plausibler ist es deshalb, die Genieästhetik als nur einen und zudem noch nicht einmal besonders wichtigen Emergenzfaktor anzunehmen. Erst im Zusammenspiel verdichteten sich die verschiedenen, vor allem im dritten Hauptabschnitt dargelegten Faktoren dann über einen Zeitraum von ca. 100 Jahren zu jener neuen Situation, die man nachgerade als moderne literarische Manuskriptkultur bezeichnen könnte.
Manuskripte interessieren in der Regel nur, wenn ein dazugehörendes kanonisiertes und gedrucktes literarisches Werk vorliegt, auch wenn die Drucklegung womöglich erst lange nach dem Tod des Autors stattfand.[59] Erst in der Epoche der literarischen Manuskriptkultur haben Handschriften einen – in der Literaturwissenschaft und Editionsphilologie oft gleichermaßen übersehenen – Marktwert, der vom literaturhistorischen Status der Autoren, also einem ästhetischen und kulturhistorischen Werturteil, abhängt, aber auch vom davon unabhängigen Grad der Durcharbeitung.[60] Im Begriff der literarischen Handschrift liegt also nicht in erster Linie die (banale) Behauptung, dass verschiedene handschriftliche Textsorten auch nach Durchsetzung des Buchdrucks bestehen bleiben, vielmehr bekommen diese Textsorten eine neue Rolle zugewiesen, an der sich ihrerseits die gedruckte Literatur orientieren wird.
Bei Briefen handelt es sich um die wohl einleuchtendste Domäne literarischer Handschriften; nur ihnen wurde bisher wissenschaftliche Aufmerksamkeit in größerem Stil zuteil, gerade wegen ihrer engen Verbindung zur zeitgenössischen Literatur: zum Briefroman und zu Briefstellern, zu Brief-Anthologien, die schließlich auch als vorbildhaft gedruckt wurden, als Quelle für literarische Biographien. Briefe beeinflussten und veränderten einerseits die gedruckte Literatur selbst, diese wirkte wiederum auf sie zurück – die Briefe werden zunehmend literarischer, nicht nur jene, bei denen eine künftige Drucklegung nicht unwahrscheinlich war. Literarische Strategien, Bilder, Floskeln flossen selbst in die riesige, unüberschaubare Masse wirklicher Privatkorrespondenz mit ein.
Eine hier nicht weiterverfolgte Besonderheit ist die handschriftlich verfasste Geschäftskorrespondenz, die selbst nach Erfindung der Schreibmaschine noch lange ihre Bedeutung behielt. Die von ihr zum Ausdruck gebrachte Urkundenechtheit und persönliche Haftung in juristischen Willensbekundungen, die in engem Zusammenhang mit dem Vertragsrecht und dem Rechtsinstitut des Testaments steht, ist noch heute in der eigenhändigen Signatur enthalten, deren Geste der Autorisierung und Authentifizierung durch die Drucktechnik sogar noch verstärkt wurde. Ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entsprach ihr literarischer Stellenwert – man denke nur an Fausts Pakt oder zahlreiche literarische Testamente. In vielen literarischen Texten spielte sie eine motivische Schlüsselrolle. Ihre Bedeutung strahlte aber auch auf die Einschätzung der Handschrift insgesamt aus. Die Handschrift der Signatur wurde bis hin zur Edition ›letzter Hand‹ zum Ausweis auktorialer Intention.
Eng verwandt damit sind die verschiedenen Genres handschriftlichen autobiographischen Schreibens, namentlich das Führen diaristischer Aufzeichnungen, die zu den ältesten in größerem Umfang erhaltenen Texten in Manuskriptform gehören. Ihre schiere Anzahl wächst seit dem 18. Jahrhundert sprunghaft an. Als literarisch eigenständiges Genre etablierte sich dieses Schreiben ebenso wie die Briefkultur durch ständige Rückkoppelung mit literarischen Vorbildern. In privaten Tagebüchern ließ sich der Einfluss von Klassikern wie Rousseaus Confessions nachweisen; im Roman tauchten sie plötzlich als tragende Elemente auf (man denke etwa an die schon von den Zeitgenossenen vielbeachteten »Bekenntnisse einer schönen Seele« in Goethes Wilhelm Meister). Tagebücher galten wie Briefe ebenfalls bald als historische Quelle zur Erkundung des dichterischen Werks.
Briefe, Tagebücher und Autobiographien scheinen dabei eher Folge als Ursache der neuen Bedeutung von Handschriften gewesen zu sein. Sie standen oft in der ersten Reihe, wo es um Autographen als Sammelobjekte ging. In der deutschen Literatur begann dies mit Gleims und Goethes Archiven, doch existierten Vorläufer schon in der italienischen Renaissance und im englischen antiquarianism seit dem 17. Jahrhundert. Die Autographensammlungen waren das Bindeglied zwischen produktivem und rezeptivem Verhältnis zum Schreibprozess und seinen Spuren.
Zu den ersten handschriftlichen Sammlerobjekten gehörten auch autographe Reinschriften, eine Praxis, die sich bis ins 19. Jahrhundert nachweisen lässt. Sie dienten durchaus nicht allein als Sicherheitskopien, nachdem das Druckmanuskript beim Verleger abgeliefert worden war, sondern als ästhetische Gebilde eigenen Rechts, als Ausdruck der Persönlichkeit des Verfassers oder als kalligraphische Kunstübung. Unter dem Schlagwort der Arabeske fand diese Eingang in die Theorie oder wurde, wie in E.T.A. Hoffmanns DerGoldene Topf, motivisch verwendet.
Fließend ist der Übergang zu handschriftlich annotierten Korrekturbögen und Druckfahnen. Sie führen in den Bereich der Produktionshandschriften, deren Bewahrung und Weiterentwicklung den bedeutendsten Effekt auf die Veränderung der Literatur insgesamt hatte. Hierunter zählen Notizen bzw. Exzperte genauso wie Kolleghefte und Kladden, Brouillons, Arbeitsmanuskripte, Entwürfe aller Art. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die alten Florilegiensammlungen und Exzerpthefte immer umfangreicher, persönlicher – und von autobiographischen Genres deshalb bisweilen schwer abgrenzbar. Die Aneignung fremder Gedanken und Bücher geht mit einer Erweiterung des Gesichtsfeldes und der Aufmerksamkeit für Abseitiges einher. Häufig werden diese Hefte auch ausgetauscht und zirkulieren in kleinen Kreisen Gleichgesinnter, wie etwa in der deutschen Frühromantik. In publizierte literarische Werke und Genres finden sie vielfältig Eingang, etwa als wiedergegebene fiktionale Notizen (im Stile von Aus Makariens Archiv bei Goethe) oder Aphorismensammlungen (wie in Lichtenbergs Sudelbüchern). Die Literatur der Epoche reagiert darauf schon seit dem 16. Jahrhundert, denn viele Bücher scheinen darauf angelegt zu sein, zur Quelle von Florilegien, commonplace books und Ähnlichem zu werden (für diese These spricht jedenfalls die Zunahme sentenzenhafter Wendungen). Die erwähnten Kolleghefte aus dem akademischen Umfeld spielten vor allem in Deutschland eine überragende Rolle. Einige der kanonischen Werke namentlich der Philosophiegeschichte sind lediglich als Mitschriften überliefert. Die konketen Erscheinungsformen und Funktionen der Arbeitsmanuskripte und Brouillons sind so vielfältig, dass sie sich allenfalls für jeden einzelnen Autor systematisieren lassen.
Schließlich erwies sich die Handschrift als unumgänglich bei der Aneignung fremder Literaturen, Bücher, ja sogar Landschaften. Eigenhändige Übersetzungen waren verbreitet, als noch von den wenigsten Werken aus den klassischen und europäischen Hauptsprachen gedruckte Übersetzungen vorlagen. Sie waren aber nicht in erster Linie eine Erschließung fremder oder vergangener Literaturen, sondern in mindestens ebenso hohem Maße Stilübungen: Viele sogenannte literarische Einflüsse sind zuerst auf diesem Wege zustande gekommen. Ein angrenzendes, oft übersehenes Genre handschriftlicher Aneignung sind Anstreichungen und Randkommentare in Büchern oder Leseexemplaren von Manuskripten sowie Interlinearkommentare und Glossen. Es zeigt exemplarisch die enge Verbindung der Tätigkeit der Hand und des tiefen Eindringens in einen Text an, sein buchstäbliches Be- und Ergreifen. Die Lesespuren indizieren ein bis dahin bloß materielles Artefakt aus Papier und Druckerschwärze als Dokument eines vergangenen Leseprozesses, dessen Verlauf sie oft noch lange danach zu evozieren vermögen. Ein durch manuelle Lesespuren – und seien es nur Eselsohren – modifiziertes Buch ist bereits kein reines Druckerzeugnis mehr, sondern ähnelt, metaphorisch gesprochen, einem Palimpsest, in dem der gedruckte Text lediglich die unterste Schicht ausmacht. Das Buch ist schon früh ein interaktives Medium, weil es zur physischen Modifizierung und Spezifizierung durch den Lesenden einlädt, der es sich mit der Hand erschließt und es deshalb zumindest teilweise in ein eigenes Manuskript zurückführt. Bildhaft-sinnfällliger Ausdruck davon ist u.a. die »manicule«, die stilisierte zeigende Hand, die vom Leser ausgewählte Stellen anzeigt. Sie tritt bereits in der Renaissance auf und ist damit älter als der Druck; noch in Büchern des 18. Jahrhunderts ist sie keine Seltenheit. Das Lesen ist im wörtlichen Sinne eine Lese (man denke an die Blumenpflückmetaphorik der Florilegien) und damit auch eine Aktivität der Hand, eine »embodied practice«.[61] Weitgehend unerforscht, zumindest für die moderne Literatur, ist schließlich das Gebiet der Epigraphik und Inskriptionen. Es umfasst literarische Inschriften aller Art, namentlich aber die in der Natur hinterlassenen, z.B. Goethes bekanntes »Wandrers Nachtlied«. In engem Zusammenhang damit steht das seit dem 18. Jahrhundert aufgekommene Interesse an skandinavischen Runen.
Die literarische Handschrift ist aus der modernen Literatur nicht fortzudenken. Wie im beliebten Topos des Zeichentrickfilms, dessen Figuren erst dann den Gesetzen der Schwerkraft gehorchen, wenn sie erkennen, dass sie längst über den Rand des Abgrunds hinausgelaufen sind, wird man die Vorstellung einer rein auf dem Druck basierenden literarischen Kultur und eines abstrakten Textbegriffs als gleichsam physikalische Unmöglichkeit ansehen müssen. Erkenntnis und Eingeständnis dieses Umstands sind ein zentrales Moment in der Herausbildung der literarischen Handschrift selbst. Diese ›Erfindung‹ des Manuskripts lässt sich in insgesamt sechs Stufen einteilen. Sie ist bis heute nicht endgültig abgeschlossen. Die Stufen sind theoretische Abstraktionen, die mit der literaturhistorischen Chronologisierung allerdings durchaus lose verbunden sind. Die erste Stufe oder Erfindung bezeichnet den langsamen Prozess der Emergenz einer neuen Bedeutung von Manuskripten in Differenzierung gegenüber dem Druck, die sich spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts abzeichnet. Die zweite Stufe ist die reflexive Durchdringung der neuen Bedeutung der Handschrift, wie sie namentlich in der Frühromantik auftritt – als eigentlicher Durchbruch der literarischen Handschrift. Die dritte Stufe wird durch die Umsetzung der frühromantischen Reflexion in konkrete literarische Handlungsanweisungen erreicht. Diese zentrale Stufe, verkörpert durch die Urszenen des ersten Kapitels, bildet das Scharnier zwischen Emergenz und schreibreflexiv geprägter Moderne, die breitere Kreise erfasste. Seit dieser dritten Stufe muss sich jeder Autor entscheiden, wie er es mit seinen Manuskripten hält. Selbst die Negation material-, exzerpte- oder entwürfereicher prozessualer Kompositionsweisen muss eine bewusste sein, will sie literarisch ernst genommen werden. Auch in der Negation bleibt die Wirkung der Handschrift erhalten. Ein Werk ohne Nachlass lässt sich dann nur noch durch überzeugende Gründe für dessen Fehlen rechtfertigen (z.B. Zensur, bewusste Verdunkelung, Wahnsinn, Katastrophen). Die vierte Stufe beginnt mit der Institutionalisierung und Erforschung literarischer Handschriften in der Philologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch erste historisch-kritische Ausgaben, die auf die Nachlässe besondere Rücksicht nehmen, durch die Einrichtung literarischer Archive.[62] Sie wird von der fünften, noch jungen Stufe abgelöst, nämlich der Wahrnehmung einer der Handschriften eigenen Epistemologie und Ästhetik auch in bildkünstlerischer Hinsicht sowie der Entstehung der nun primär an der Handschrift ausgerichteten Editionsphilologie und Editionstheorie textgenetischer und ›materialer‹ Ausrichtung der vergangenen Jahrzehnte.[63] Aktuell und in absehbarer Zukunft befinden wir uns in der vorerst letzten Etappe, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die Erträge aus textgenetischer Edition und Editionstheorie für andere Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften sowie der Philosophie fruchtbar machen will. Die vorliegende Studie, die sich auf die beiden grundlegenden ersten Stufen konzentriert, möchte eine erste Heuristik für spätere, gründlichere Einzelstudien oder kollektive Projekte zur Theoriebildung und für die Arbeit im Archiv entwickeln.
Es gibt hervorragende literaturhistorische Abhandlungen, es gibt hervorragende editionsphilologisch geschulte und am Schreibprozess ausgerichtete Einzelstudien kanonischer Autoren,[64] es gibt mittlerweile sogar eine eigene Tradition theoretischer Reflexion der Edition und der mit ihr verbundenen hermeneutischen Herausforderungen. Was bisher fehlte, war eine Arbeit, die philologisch-textkritische Praktiken der intensiven Beschäftigung mit Handschriften literaturhistorisch und theoretisch motiviert und begründet, warum sich Handschriften überhaupt für den Bereich des Literarischen aufdrängen.[65] Die vorliegende Studie möchte diese Arbeit leisten. Sie stellt deshalb nicht die einzelne Handschrift ins Zentrum und hält sich überhaupt bewusst bei der Präsentation von Anschauungsmaterial zurück, um gar nicht erst in die Nähe eines bloßen Materialfetischismus zu gelangen.
Literaturgeschichtsschreibung und textgenetische Editionswissenschaft haben einander lange Zeit ignoriert. Noch immer ist »keine klare Antwort gegeben auf die Frage nach der Beziehung zwischen Werkgenese und Literaturgeschichte«.[66] Ich würde sogar sagen: Noch ist kaum ein Versuch dazu unternommen worden. Als Editor moderner Literatur ist man typischerweise Experte für eine sehr kleine Anzahl individueller Handschriften. In der Literaturgeschichtsschreibung, die sich ohnehin nicht gerade in einer Phase der Hochkonjunktur befindet, existieren zwischen der Erforschung des 18. Jahrhunderts und der Romantikforschung nach wie vor nur wenige Berührungspunkte.[67] Schließlich stellt häufig die nationalphilologische Selbstbeschränkung ein Hindernis dar, um einmal die großen Linien nachzuzeichnen. Dabei könnte die Untersuchung eines so umfassenden Wandels des literarischen Systems ein Anlass sein, das ganze Ausmaß der europäischen Wechselbeziehungen zu erkennen – vielleicht ein Auftakt, um zwischen Nationalphilologie und Komparatistik noch eine vermittelnde europäische Philologie zu entdecken.[68]
Bei den gängigen Alternativen zur disziplinären Spezialisierung in den einschlägigen Gebieten überwiegen die Nachteile, namentlich bei den für das Thema relevanten Ansätzen der Medientheorie und Mediengeschichte. Ihre historischen Kategorien, etwa die Hypertrophierung der Bedeutung des Buchdrucks, erwiesen sich als zu grobmaschig für die Problemstellung. Komplexe Entwicklungen werden hier typischerweise in eine starre und technologisch determinierte Erzählung gezwängt. Die Annahme grundlegender Homogenität zeitgleich entstandener Texte aufgrund ihrer Verankerung im selben »Aufschreibesystem« (Friedrich Kittler) bezog ihre Motivation lediglich aus der Opposition gegen eine bestimmte Ausprägung hermeneutischer Selbstgewissheit, wird aber, bei aller intellektuellen Brillanz, zunehmend zur Zielscheibe berechtigter Kritik.[69] Ein starker Medienbegriff setzt immer schon voraus, was im vorliegenden Kontext durchaus fraglich ist und zuallererst untersucht werden müsste. Noch steht etwa gar nicht fest, ob eine beliebige Handschrift überhaupt unter dem Medienbegriff gefasst werden darf. Zumindest bedürfte dies einer der Anwendung der Medientheorie vorausgehenden Argumentation. Vor allem aber unterstellen mediendeterministische Modelle den Akteuren häufig Naivität und vergessen, dass gerade Kunst die Medien selber auslotet, verändert und zerspielt.[70] Ähnliches gilt im Übrigen mit Abstrichen auch für die von der critique génétique eingeforderten kultursoziologischen Studien[71] zur Klärung der Frage, warum Handschriften in der modernen Literatur eine so überragende Rolle spielen. Wer sie durchführen möchte, erhöht nicht nur um ein Gewaltiges die Menge der zu untersuchenden Materialien, sondern legt sich bereits von vornherein darauf fest, dass die beschriebenen Entwicklungen ursächlich auf kultursoziologische Faktoren zurückzuführen sind, denen Autoren oder Leser gleichsam ausgeliefert sind.
Obwohl literarische Handschriften nie zuvor in ihrem Eigenwert und ihrer Eigenart so hingebungsvoll studiert worden sind wie heute, gibt es keine grundlegende Reflexion ihrer Ontologie. Dieses Versäumnis behindert auch die Einsicht in ihre literaturhistorische Funktion. Jean-Louis Lebrave hat an die wechselseitige, fast paradoxe Abhängigkeit des abstrakten Textbegriffs und der handschriftlichen Überlieferung erinnert. Mit der Entstehung des Textbegriffs als eines stabilen, abgeschlossenen, intern strukturierten Abstraktums[72] entstanden auch die komplementär darauf bezogenen handschriftlichen Artefakte, die seine Stabilität konterkarierten und die dann zunehmend in ein wissenschaftliches Blickfeld gerieten, das am Text seinen Ausgangspunkt nimmt.[73] Editionsphilologie und genetische Kritik haben je auf ihre Weise die Grundsatzdiskussion der Literaturwissenschaft angeregt wie wenige Entwicklungen zuvor (ironischerweise in einem Moment, da die Literatur für Philologien selbst immer unwichtiger wurde). Es ist an der Zeit, sie sowohl philosophisch wie literaturhistorisch auf eine Weise ernst zu nehmen, die auch die philosophische und literaturhistorische Reflexion nicht unverändert lassen darf.
Die literarische Handschrift soll im Rahmen der folgenden Studie nicht primär als Hilfsmittel für die Erstellung von Editionen, nicht als Projektionsfläche technischer Beschreibungsvorgänge, auch nicht als Mittel, um besser, tiefer, anders zu lesen und zu verstehen, betrachtet werden. Vielmehr soll zunächst ihr gnoseologischer Status geklärt werden. Zwischen der Verabsolutierung sogenannter Materialität und der Askese reiner Interpretation gibt es einen dritten Weg, der die Banalität goldener Mittelwege – hoffentlich – zu umgehen weiß. Voraussetzung dafür ist die Überwindung dessen, was Peter Szondi, leider mit Recht, das »gestörte Verhältnis der Literaturwissenschaft zur Philosophie« genannt hat, das entweder aus zu großer Nähe oder zu großer Distanz resultiert.[74] Ein entspannteres Verhältnis ist das – gar nicht so geheime – Anliegen der vorliegenden Abhandlung. Ihr Ideal, dem sie sich nur anzunähern vermag, wäre ein materialgesättigtes Durchdenken[75] des Themas. Bezeichnenderweise kennt die deutsche Sprache die Kulturphilosophie, die Wissenschaftsphilosophie, die politische Philosophie, die Managementphilosophie usw. – aber noch keine Literaturphilosophie. Sie müsste nicht primär von der Philosophie, sondern von der Literatur her denken (und nicht etwa den Bereich der Dichtung der philosophischen Disziplin der Ästhetik subsumieren). Im Unterschied zur Literaturtheorie ginge es der Literaturphilosophie um Literatur, nicht um Theorie als Selbstzweck; anders gesagt: um das theoretische Verständnis einer Praxis, die ihre Theorie schon enthält. »Die Wissenschaft denkt nicht.«[76] Heideggers hartes, leider oft zutreffendes Urteil gilt es immer wieder aufs Neue zu widerlegen. Mein Begriff der Literaturphilosophie darf dabei nicht als Antiphilologie missverstanden werden. Historisch gesehen sind philosophische Zugänge zur Literatur oft antiphilologisch aufgetreten oder so verstanden worden. Das galt schon für den großen Erfolg der Hegel-Schule auf die junge Literaturwissenschaft, die institutionell allerdings gegenüber dem philologischen Paradigma den Kürzeren zog.[77] Die daraus erwachsene Frontstellung von Philosophie und Philologie ist es, die etwa Peter Szondi im Namen einer philologischen Erkenntnis überwinden wollte, der ich mich hier verpflichtet fühle. Der Begriff der Literaturphilosophie erhebt den Anspruch, das philologische Paradigma durch seine Reflexion zu erhalten und weiterzuentwickeln.[78]
Als sinnvollste Anordnung ergab sich aus diesen Vorüberlegungen folgende Struktur der Abhandlung. Auf die Einleitung (1) folgt die begriffliche und wissenschaftshistorische Herleitung einer Theorie der literarischen Gegenständlichkeit, die für das (ontologische) Verständnis von Literatur im Allgemeinen und Handschrift im Besonderen maßgeblich sein soll (2). Als Gegenstück folgt eine ausführliche historische Analyse jener Faktoren, die zuallererst zu ihrer Emergenz, d.h. zur ›Erfindung‹ des Manuskripts geführt haben (3). Ich führe am historischen Beispiel der literarischen Handschrift ausschnittweise und exemplarisch vor, welche Rolle die Gegenständlichkeit der Literatur für ihre konkrete Ausprägung spielt. Eine Gesamtperspektive auf ihre Ontologie oder Gegenständlichkeit kann selbstredend nicht berücksichtigt werden. Um nicht in den blinden Winkel der eigenen Theorie zu steuern, soll den literaturhistorischen Untersuchungen eine eigene Systematik zugrunde liegen, die im Material ihren Ausgangspunkt nimmt. Die theoretisch etablierten Kategorien lassen sich so überprüfen und tragen ihrerseits dazu bei, aus den Einzelteilen ein Mosaik zusammenzufügen, dessen Konturen nicht bereits von der Theorie vorgegeben waren. Abschnitt (4) vertieft die Heuristik an Fallstudien, in denen nicht die Theorie oder ein Emergenzfaktor, sondern ein konkreter Autor bzw. ein einzelnes Werk im Zentrum stehen. Das letzte Kapitel (5) führt schließlich theoretische und historische Perspektiven in der Frage nach den Konsequenzen für unsere Auffassung von Schreiben, Lesen und Edieren zusammen und endet mit einem aktualisierenden Ausblick.
In Valérys philosophischem Dialog Eupalinos wird von einem Strandspaziergang des jungen Sokrates berichtet, der auf einen merkwürdigen, nicht bestimmbaren Gegenstand stößt. Er ist von reinstem Weiß, glänzend poliert, zugleich hart und zart und besitzt eine »forme singulière«.[1] Weil er sich nicht entscheiden kann, ob es sich um ein von Menschenhand erschaffenes Kunstwerk oder aber ein von der Zeit, also der Natur geformtes Gebilde handelt, wirft er es zurück ins Meer.[2] Das Problem lässt ihn freilich nicht los und bringt ihn schließlich auf die Idee, dass es sich im Grunde auch bei Gegenständen ergebe, die wir zu kennen glauben. Seine Spekulation erstreckt sich nun auf die Unterschiede von Kunst- und Naturprodukten. Bei diesen übersteige die Komplexität des Ganzen immer die Summe der Teile, bei jenen, also den Kunstwerken, sei es umgekehrt. Ihre vergleichsweise Unordnung sei der Tatsache geschuldet, dass sich der Künstler nie um alle »Eigenschaften der Substanz (qualités de la substance)« des Materials kümmere, das er bearbeite, sondern sich mit der Erfüllung konkreter Ziele begnüge. Ein Tisch sei weniger komplex als die Holzfasern, aus denen er besteht.[3]
Hans Blumenberg, der dieses vergessene Werk wiederentdeckte, hat Valérys Faden kongenial weitergesponnen.[4] Sokrates, so seine Hauptthese, habe sich in dem Moment, da er das unbekannte Objekt in die Fluten warf und »mit den Fragen über den Gegenstand begann, die nicht mehr Frage an den Gegenstand sein konnten«, für die Philosophie und gegen die ästhetische Einstellung entschieden.[5] Blumenberg liest hier eine Wesensbestimmung des Künstlers heraus, insofern Valéry ihn »die Freiheit der Anschauung, des regard pur«[6] wiedergewinnen lasse, um sich dem Gegenstand als dem gänzlich Unbekannten auszuliefern. So wolle denn auch das Kunstwerk im Unterschied zur Wissenschaft »die Rätsel des Gegebenen« nicht auflösen, sondern diese ersetzen durch »die beglückende, Genuß bietende Unauflösbarkeit des menschlichen Werkes, dessen Realitätscharakter als Widerstand damit äquivalent dem Gegebenen, aber ohne den Stachel der theoretischen Unruhe, ist«.[7] Sokrates muss das objet ambigu ins Meer werfen, weil er seiner Unerkennbarkeit keine Darstellung entgegenzusetzen hat, es also nicht künstlerisch »zum Sprechen verbinden mag«, aber auch noch nicht die richtigen philosophischen Fragen zu stellen weiß. Die ästhetische Einstellung hingegen muss sich um dergleichen gar nicht bekümmern und hätte gar keinen Anlass, den Gegenstand des Blickfeldes zu verweisen. Dies liegt nicht daran, dass der Künstler den Gegenstand einfach als solchen genießt, sondern weil er »durch den Gegenstand hindurch bzw. an ihm sein eigenes Nichteingeschränkt-Sein durch die faktische Welt, seine Freiheit gegenüber dem ›Gegebenen‹« zelebriert, wo Sokrates noch der Welt des Faktischen verhaftet ist.[8]
In seiner einschlägigen und für mein Thema überaus inspirierenden Studie hat Günter Figal aus einer ähnlichen Konstellation heraus den Begriff der Gegenständlichkeit entwickelt, den ich mir zu eigen machen und für meine Zwecke neu intepretieren werde.[9] Das Gegenständliche ist bei Figal buchstäblich das Entgegenstehende, das nicht schon immer im Erwartungshorizont oder Erkenntnisinteresse, im »zuerst suchenden, dann fixierenden Blick« enthalten war, dem sich die Philosophie aber nicht entziehen kann, da es nicht außerhalb ihrer Wahrnehmung liegt. Figal nennt eine fremde Person, die in unser Gesichtsfeld tritt; man könnte auch, um ein in seiner Studie nicht genanntes Beispiel zu nennen, auf den Fund verweisen – Sokrates’ objet ambigu.[10]
Die Geste des Entgegenstellens als ein dem Erleben nur Äußerliches stammt laut Figal aus einem spezifischen Unbehagen. Werden nämlich »die Dinge nicht als Objekte vom Bewußtsein gehalten« oder erweisen sie sich nicht von vornherein als nützlich, fallen sie scheinbar »aus dem Bereich des Menschlichen heraus« und haben weder »Wert« noch »Bedeutung«.[11] Dahinter steht die prägende Furcht, einer wissenschaftlichen Welt- und Selbstbeschreibung aufzusitzen, die nicht auf das Leben selbst bezogen ist und dieses deshalb bedroht. Hier liegt das vielleicht wichtigste Motiv der Philosophie Husserls und auch Heideggers, hier liegt der Grund, warum sie Freiheit auch gegenüber der Wissenschaft gewinnen wollten. Die Lösung von den Gegenständen der Wissenschaft bringt aber nicht die Gegenstände selbst zum Verschwinden. Sie lässt somit die Frage nach der Objektivierung offen, also die eigentlich unbestrittene Tatsache, dass es auch etwas außerhalb des Bewusstseins gibt. Die »Beschreibung und Analyse des nicht objektivierten Lebens in seinem Vollzug« führt, mit Figals treffendem Begriff, zu »Entgegenständlichkeitsversuchen«, die das Erleben der Gegenstände und die »Selbstobjektivierung aus diesem Erleben« privilegieren.[12] Da die Gegenständlichkeit aber durchaus nicht unwesentlich ist, tauche sie an anderer Stelle, etwa in der Kunst, wieder auf. Die Reaktion auf das Entgegenstehende sei, etwa in der Malerei, seine Darstellung als der Versuch, es in seiner Gegenständlichkeit gelten zu lassen. Freilich geht es dann schon nicht mehr um »die gegenständlich gewordene Sache selbst, sondern [um] ihre Darstellung«.[13] Die Darstellung trete an die Stelle der Sache, weil diese durch sie dargestellt und damit die Darstellung selber gegenständlich geworden sei. Sie ist nun auch Gegenstand. Zum Wesen der Philosophie gehöre es, sich einerseits »von den Texten, die ihre Gegenstände sind«, zu lösen, andererseits das Gegenständliche selbst »darstellend zu erfassen«.[14] Sie ist für Figal durch ihr doppeltes Wesen charakterisiert, zu dem die Ausrichtung sowohl auf Gegenständliches wie auf Gegenstände gehört – das Vermögen, Darstellung zu reflektieren und selbst Darstellung zu sein.
Philosophisch geglückt war Blumenbergs Valéry-Interpretation in diesem Sinne, weil er Valérys suggestiven Text gleichsam als objet ambigu behandelt und ihn zum Sprechen bringt, ohne auf Philosophie zu verzichten – er denkt ihn weiter in einer zugleich ästhetischen wie wissenschaftlichen Einstellung. Wo der Philosoph abstrakt über den Gegenstand reflektiert, setzt sich das Leben allerdings über ihn hinweg. Der Ästhetiker oder Künstler wiederum widmet sich dem Gegenstand selbst mit Hingabe, versäumt aber, so zumindest in Blumenbergs überspitzter Lesart, die Reflexion über die Bedingungen der Erkennbarkeit. Bei Valéry geht es indes nicht so sehr um den Gegensatz zwischen Philosophie und Ästhetik als vielmehr um den Gegensatz zwischen dem forschenden Geist, der in Selbstaufgabe alles wissen will, und dem Leben, das alle Aspekte dem Interesse des Lebens unterordnet. Wer nur leben möchte, bedarf keiner umfassenden Ideen, sondern lediglich des Eindrucks der Härte oder Formbarkeit des Materials.[15] Der junge Sokrates hatte sich zunächst gegen die Idee entschieden, ohne doch deshalb das Leben zu entdecken, das war Valérys Pointe. Sokrates setzt sich gleichsam zwischen die Stühle von Philosophie und Leben und wird damit zum Urbild des Dilemmas vieler Geisteswissenschaften. Dass sich etwa die Philologie zwischen Wissenschaft (z.B. Quellenforschung) und Kunst (z.B. Essay) entscheiden muss wie zwischen Geist und Leben, Theorie und Praxis gehört mittlerweile zu ihren tradierten Klischees und ist geradezu Teil ihres Selbstverständnisses geworden.
Herausgekommen ist dabei, so meine These, ein fauler Kom