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Nicht wenige, die an ›muslimische‹ Menschen und ›deren‹ Lebenswelten denken, sehen diese Bilder vor ihrem inneren Auge: Köftespieße, Gebetsteppiche, Baklava und Schwarztee, Gemüsehandel und Barbiershops mit arabischen Schriftzeichen, kopftuchtragende, auf dem Boden speisende Frauen in Hinterzimmern, verrauchte Cafés voller Männergruppen mit schwarzen Bärten und lauten Stimmen, die sich lediglich mit den Worten "wallah", "in'şallah" und "yani" zu unterhalten scheinen … In unserer Gesellschaft herrscht offensichtlich der Drang, über den ›Islam‹ und die ›Muslim*innen‹ zu sprechen. Es sind in erster Linie rassistische (Islam-)Bilder, Vorstellungen und Denkweisen, die sich fest in das kulturelle Gedächtnis der Dominanzgesellschaft eingebrannt haben: archaische Kultur, rückständige Religion, übergriffige, gewaltaffine Männer und unterworfene Frauen. Der vorliegende Essayband erklärt nicht, wie ›Muslim*innen wirklich sind‹, sondern wirft den Blick zurück auf jene, die diese Bilder produzieren und weitertragen. Mal ernst, mal augenzwinkernd, mal (selbst)ironisch demaskieren die Beiträge den antimuslimischen Rassismus und entlarven die Konstruktion des bedrohlichen Anderen als identitätsstiftend und herrschaftsstabilisierend.
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Seitenzahl: 128
Veröffentlichungsjahr: 2022
Anna Sabel & Özcan KaradenizVerband binationaler Familien und Partnerschaften (Hg.)
Die Erfindung des muslimischen Anderen
20 Fragen und Antworten, die nichts über Muslimischsein verratenMit Illustrationen von Morteza Rakhtala
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Anna Sabel & Özcan Karadeniz
Verband binationaler Familien und Partnerschaften (Hg.):
Die Erfindung des muslimischen Anderen
20 Fragen und Antworten, die nichts über Muslimischsein verraten
Einführungen in Bildern: Illustrationen Morteza Rakhtala, Konzept Anna Sabel
Die Aufsätze 1.1, 1.3, 1.4, 1.5, 2.1, 2.2, 2.3, 2.4, 2.5, 3.2, 3.4, 3.5, 4.1, 4.3, 4.4
und 4.5 sowie die Illustrationen sind im Modellprojekt ›(Un)Sichtbarkeiten in der
Migrationsgesellschaft – Storytelling angesichts von antimuslimischem Rassismus
und Ethnosexismus‹ entstanden. Dieses Modellprojekt wird im Rahmen des
Bundesprogramms »Demokratie leben!« durch das Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend und im Rahmen des Landesprogramms »Weltoffenes
Sachsen für Demokratie und Toleranz« durch das Sächsische Staatsministerium für
Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.
Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar.
Für inhaltliche Aussagen tragen die Autorinnen und Autoren die Verantwortung.
eBook UNRAST Verlag, März 2022
ISBN 978-3-95405-106-9
© UNRAST-Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
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Umschlag: David Hellgermann, Münster
© der auf dem Umschlag verwendeten Illustration: Morteza Rakhtala
Satz: Andreas Hollender, Köln
I. Die Anderen waren nicht immer muslimisch
1.1 Wieso heißt es antimuslimischer Rassismus, obwohl der ›Islam‹ doch eine ›Religion‹ ist? (Anna Sabel)
1.2 Was haben alle ›Muslim*innen‹ gemeinsam? (Özcan Karadeniz)
1.3 Wer ist ›wir‹ und wann stärker als sonst? (Anna Sabel)
1.4 Seit wann haben Menschen Migrationshintergrund? (Mehmet Arbag)
1.5 Wie steht es um die »Islamisierung des Abendlandes«? (Anna Sabel)
II. Von Haremsfantasien und Sexmobängsten
2.1 Die Macht der Geschichten, oder: Wann ist was ›getürkt‹? (Anna Sabel)
2.2 Warum scheint das Kopftuch nicht so sexy wie der Haremsschleier? (Anna Sabel)
2.3 Wieso wirken andere Männer bloß immer wieder so viel fruchtbarer? (Anna Sabel)
2.4 Warum verkaufen sich Kreuzberger Kriminalitätsgeschichten besser als andere? (Mehmet Arbag)
2.5 Warum wirkt Gastfreundschaft ›orientalisch‹ und das Orientalisierte anziehend? (Anna Sabel)
III. Von erlebter und verschwiegener Gewalt
3.1 Wie lässt sich Rassismus (erfolgreich) ignorieren? (Özcan Karadeniz)
3.2 Wann werden aus erzkonservativen Politiker*innen Feminist*innen? (Anna Sabel)
3.3 Warum wird dem einen vertraut und der andere besser kontrolliert? (Özcan Karadeniz)
3.4 Warum sind Geflüchtete nicht dankbarer? Oder: Ganz schlecht fühlte ich mich 2015 nicht (Anna Sabel)
3.5 Ohne Fleiß kein Preis? (Anna Sabel)
IV. Darf man jetzt gar nichts mehr sagen?
4.1 Wer hat hier eigentlich Angst? (Anna Sabel)
4.2 Muss man Paschas tolerieren, oder: Müssen wir nicht zumindest unsere Homosexuellen schützen? (Özcan Karadeniz)
4.3 Wieso positionieren sich Muslim*innen nicht stärker gegen Terrorismus? (Mehmet Arbag )
4.4 Warum integrieren sich sächsische Männer nicht besser? (Anna Sabel)
4.5 Und was ist noch über Antisemitismus unter Muslim*innen zu sagen? (Mehmet Arbag)
V. Worüber müssten wir eigentlich reden?
5.1 Die Erfindung des muslimischen Anderen, oder: Der Race/Religion-Nexus (Schirin Amir-Moazami)
5.2 Wie und mit wem (nicht) sprechen (Iman Attia)
5.3 Worüber müssten wir eigentlich reden? (Claudia Brunner)
5.4 Plädoyer für den wohltemperierten Streit (María do Mar Castro Varela)
5.5 Worüber sollten wir eigentlich reden? (Fatima El-Tayeb)
5.6 Worüber sollten wir eigentlich sprechen? (Naika Foroutan)
5.7 Es geschieht täglich. Es geschieht seit vielen Jahren (Sabine Hark)
Literaturverzeichnis
Die Autor*innen
Anna Sabel
Immer wenn sich in meinem Bekanntenkreis eine neue Gruppe ausschließlich für BPoC gründet, um einen rassismusarmen Schutzraum zu schaffen, kann ich meine Gedanken schreien hören: »Wieso ohne mich? Ich habe PoC geboren.«, »Ich kann nicht rassistisch sein. Ich engagiere mich seit Jahren gegen Rassismus.«, »Und wenn ihr nur wüsstet, was für Diskriminierungen ich schon alles erlebt habe.« Allzu schnell und immer wieder erliege ich dem Reflex, Rassismus weit von mir zu weisen. Zurück in die Geschichte (abgelegt am 8. Mai 1945, Schlag Mitternacht) oder hin zu den Jugendlichen, die die Bewohner*innen einer Geflüchtetenunterkunft durch die ostdeutsche Kleinstadt jagen. Wenn’s doch so einfach wär’.
Wir wissen, Rassismus wird durch Gesetze, Medien und Selbstbilder und in Institutionen ebenso wie in zwischenmenschlichen Begegnungen produziert und reproduziert. Rassismus ist ein Herrschaftsverhältnis, das Gesellschaft organisiert, und das schon eine Weile. Das Konzept ›Rasse‹ war dafür eine hilfreiche Erfindung. Es entstand im Europa des 18./19. Jahrhunderts. Weil Nationalstaaten gefestigt werden sollten, weil Wissenschaft gerade in Mode war und zum Selbstverständnis der Moderne der Glaube an Vernunft und die Gleichheit aller Männer gehörte und zugleich auf Unterdrückung nicht verzichtet werden sollte (vgl. Mecheril/Scherschel 2009: 41 f.).
Bis dahin wurde von europäischen Mächten häufig Religionszugehörigkeit herangezogen, um Herrschaft und Gewalt zu rechtfertigen. Ermordung und Ausbeutung von amerikanischen Indigenen um 1600 wurden mit Selbstbildern ›christlicher‹ Nächstenliebe dadurch in Einklang zu bringen versucht, dass diese Menschen als gottlos und damit seelenlos beschrieben wurden (vgl. Grosfoguel/Mielants 2006: 3). Und aus der ›Reconquista‹ des ebenfalls frühen 16. Jahrhunderts kennen wir Fremddefinitionen von ›Muslim*innen‹, die sich nicht an der tatsächlichen Religionszugehörigkeit orientieren. Auch nach und trotz ihrer Zwangskonversionen vom ›Islam‹ zum ›Christentum‹ wurden 1609 knapp 300.000 Menschen aus Spanien ausgewiesen (vgl. Soyer 2018: 126). ›Religionen‹ waren Konstrukte zur Veranderung und Hierarchisierung. Sie dienten in den großen europäischen Weltherrschafts- und Ordnungsbemühungen bis ins 19. Jahrhundert dazu, zwischen bedeutsam und unbedeutend zu unterscheiden.
Auch als der Begriff der ›Rasse‹ diese Aufgabe zu übernehmen schien, verlor ›Religion‹ als ordnendes und heillos vereinfachendes Konstrukt nicht völlig an Bedeutung. Erzählungen von ›Weltreligionen‹ kamen etwa zeitgleich auf und konstruieren besonders und bis heute eins: Zugehörigkeiten (vgl. Amir-Moazami 2018: 16).
Die Sehnsucht nach eindeutigen Zugehörigkeiten wirkt nach wie vor in der Beschwörung eines ›christlich-jüdischen Abendlandes‹. Und auch, wo EU-Grenzen verlaufen, hat nicht nur, aber auch etwas mit Erzählungen der Unvereinbarkeit unterschiedlich religiös geprägter Wertesysteme zu tun. Rassistische Ausschlüsse brauchen keine biologistischen Argumente, um wirksam zu sein. Heute greifen sie stattdessen vielfach auf Konstruktionen vermeintlich unvereinbarer ›Kulturen‹ und ›Religionen‹ zurück. Die zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnisse aber ändern sich kaum. Es bleibt ein »Die passen nicht zu uns«. Worte wie ›Moslem‹ und ›Nordafrikaner‹ vibrieren heute ganz ähnlich wie ehemals ›Gastarbeiter‹ und ›Türke‹ und hinterlassen noch den Geschmack von heute Unsagbarem auf der Zunge.
Noch steht der Begriff ›Rasse‹ im Grundgesetz, aber selbst manch CDU-Politiker*in ist für seine Streichung (vgl. Zeit Online 2020). Und sogar viele der Jugendlichen, die Bewohner*innen von Geflüchtetenunterkünften durch Kleinstädte jagen, halten nichts mehr von diesem Terminus. Es gibt keine menschlichen Rassen. Dieses Wissen hat sich durchgesetzt. Und doch bleiben Erzählungen über die unvereinbar Anderen an nicht-weiße Körper gebunden.
Rassismus richtet sich nicht gegen mich als Weiße. Aber auch antimuslimischer Rassismus richtet sich unabhängig von meinem Glauben nicht gegen mich als weiße Deutsche, sehr wohl aber gegen Menschen mit vermeintlich ›muslimischem‹ Namen, aus vermeintlich ›muslimischen‹ Staaten, mit, denn hier geschieht eben doch Rassifizierung über den Körper, vermeintlich ›muslimischem‹ Aussehen. Marwa El-Sherbini, getötet am 1. Juli 2009 in Dresden, gilt manchen als das erste Todesopfer aufgrund von antimuslimischem Rassismus in Deutschland. Der Mörder äußerte sich klar rassistisch gegenüber ›Muslim*innen‹ und ›dem Islam‹. Menschen muslimischen Glaubens wurden jedoch auch zu Zeiten aus rassistischen Gründen getötet, in denen ihre ›Religion‹ nicht dominanter Fokus rassistischen Redens war. Die historischen Linien von antimuslimischem Rassismus sind vielfältig und widersprüchlich und mir großteils unbekannt. Die Auseinandersetzung selbst mit noch so alten Geschichten geht mir näher als mir lieb ist. Noch näher scheinen mir aber die Geschichten, mit denen ich mich nicht auseinandersetze. Sie drücken sich in mir unbewussten Gesten und meinen unbedachten Worten aus, auch während ich mich gegen Rassismus engagiere oder meine Kinder küsse.
Özcan Karadeniz
Neulich stand im Ethikunterricht meiner Tochter das Thema Toleranz auf dem Lehrplan. Ihr wurde, welch Zufall, aufgetragen, ein Referat über ›den Islam‹ zu halten. Mit kindlichem Eifer und der Hilfe von digitalen Suchmaschinen, wie es heute üblich ist, setzte sie sich also hin und suchte einige Aspekte zusammen: Entstehungszeit, Verbreitung, Grundlagen, Gebote – so in etwa. Nach dem Vortrag fragte ich sie, wie es war. Sie wollte zunächst nicht antworten und wich aus. Nach einigem Zureden erzählte sie dann, dass ihre Lehrerin ihr früh ins Wort gefallen sei und sie nicht weiter habe vortragen lassen. Stattdessen habe die Lehrerin der Klasse erzählt, wie rückständig ›der Islam‹ sei, wie viel Terror aus ihm hervorginge, dass Menschen gesteinigt und Frauen unterdrückt würden. Anschließend fragte sie meine Tochter noch, ob ihr Bruder beschnitten sei.
Geschichten wie diese gibt es zuhauf. In allen Teilen der Republik wabern Vorstellungen über ›den Islam‹ und auch über ›die Muslim*innen‹ und zumeist sind die Assoziationen nicht die besten. Zugegebenermaßen sprudeln einem die Zuschreibungen nicht immer so unverhohlen und ungefiltert entgegen und gerade in bürgerlichen Kreisen gehört es eigentlich zum aufgeklärten und demokratischen Selbstbild, vordergründig beherrschter und auch professioneller aufzutreten als die Lehrerin meiner Tochter. Repräsentative Umfragen zeigen jedoch, wie weit rassistische Vorstellungen über ›Muslim*innen‹ und ›Islam‹ in unserer Gesellschaft verbreitet sind: Rund 57 % der deutschen Nichtmuslim*innen halten ›den Islam‹ für ›sehr‹ oder ›eher‹ bedrohlich, 60 % vertreten die Ansicht, ›der Islam‹ passe nicht in die ›westliche Welt‹ (Bertelsmann Stiftung 2015), 54 % sprechen sich für die Einschränkung beim Bau öffentlich sichtbarer Moscheen aus (Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung 2014) und knapp 47 % der Bürger*innen stimmen der Aussage zu: »Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land« (Leipziger Autoritarismus-Studie 2020).
Negative Publicity hat ›die islamische Welt‹ als bedrohlicher Nachbar Europas bereits seit Jahrhunderten. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der maßgeblich die Außen- und Sicherheitspolitik bestimmenden Systemkonfrontation setzte allerdings ein Prozess ein, der ›den Islam‹ zunehmend zum Antagonisten der ›westlichen Welt‹ konstruiert. Seither wird er weniger als ›Religion‹, sondern vermehrt als Ideologie gedeutet und zu einer politischen Gefahr stilisiert (vgl. Attia 2009). Analog dazu wurden aus den zuvor ethnisch markierten Türk*innen, Bosniak*innen, Marokkaner*innen und anderen Immigrant*innen aus muslimisch geprägten Gesellschaften plötzlich vor allem ›Muslim*innen‹. Die über die Abstammung hergeleitete Zugehörigkeit zu dieser Gruppe der ›Muslim*innen‹ führt dazu, dass selbst nicht-muslimische Minderheiten aus bestimmten Herkunftsregionen wie z.B. koptische Christ*innen und auch nichtreligiöse Menschen hierzulande regelrecht ›muslimisiert‹ (Amirpur 2011) werden. Eine solche Ethnisierung muslimischer Identität wird auch dadurch ersichtlich, dass Menschen, deren Herkunft auf der arabischen Halbinsel, der östlichen Mittelmeerregion oder in Nordafrika verortet wird, primär auf ihr vermeintliches Muslim*insein reduziert werden, während dasselbe Muslim*innenbild aber nicht südostasiatischen oder aus den Subsahara-Regionen Afrikas stammenden ›Muslim*innen‹ übergestülpt wird (vgl. Shooman 2014).
Die so ethnisierten ›Muslim*innen‹ gelten mittlerweile als Prototyp einer fremdartigen, nicht integrierbaren Minderheit. Aus der Vorstellung einer fundamentalen ›muslimischen‹ Andersartigkeit wird zudem wiederkehrend pauschal Bedrohliches abgeleitet. Fundamentalismus, Gewalt, Terror, Rückschritt, Frauenunterdrückung – derlei Zuschreibungen sind latent vorhanden und können situativ aktiviert und verstärkt werden. Ob politischer Wahlkampf, restriktive Migrations- und Asylpolitik, Abschiebedebatten, Einschränkungen der Religionsausübung, Leitkulturdebatten oder gar als Legitimation für Kriegseintritte, wiederkehrend gründen die Kompositionen gesellschaftspolitischer Debatten auf einer elementaren Gegensätzlichkeit zwischen ›ihnen‹ und ›uns‹ (vgl. Attia 2013).
Im öffentlichen Sprechen ist wie selbstverständlich kontrastierend von Deutschen und ›Muslim*innen‹ die Rede, so als wären diese Identitätsmerkmale miteinander unvereinbar. Die problematisierenden Diskurse und die indifferenten, scheinbar allgegenwärtigen Bedrohungsszenarien durch ›den Islam‹ und ›die Muslim*innen‹ sind allerdings nicht, wie vielfach suggeriert, Reaktionen auf gesellschaftliche Verhältnisse. Es handelt sich dabei vielmehr um gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse schaffende und legitimierende Prozesse. »Jede menschliche Gesellschaft muss ihre Ungleichheiten rechtfertigen«, so Thomas Piketty. Insofern ist Rassismus ein machtvolles, ordnendes Instrument, das gesellschaftliche Dominanzverhältnisse mit ihren Hierarchien, Ausgrenzungen und der ungleichen Verteilung von Ressourcen berechtigt erscheinen lässt (vgl. Rommelspacher 2009).
»Race doesn’t exist, but it does kill people«, so hat es die französische Soziologin Colette Guillaumin einst formuliert. Offiziellen Statistiken zufolge gibt es jeden zweiten Tag ›islamfeindliche‹ Angriffe in Deutschland. Uneindeutige Erfassungskategorien, geschwundenes Vertrauen in die Ermittlungsbehörden und Resignation unter Betroffenen lassen eine deutlich höhere Dunkelziffer vermuten. Nicht nur Demagog*innen, auch bürgerliche Politiker*innen spielen regelmäßig die rassistische Klaviatur antimuslimischer Abgrenzung, die neben der unmittelbaren physischen Gewalt für Betroffene vielfache gesellschaftspolitische Einschränkungen und Ausschlüsse mit diskriminierenden Effekten produziert. Die Klammer aufseiten der Betroffenen ist dabei nicht das ›Muslim*insein‹, sondern die Ausschluss- und Gewalterfahrung.
Sprechen und Hören sind identitätskonstituierende Vorgänge, die in Machtstrukturen eingebettet sind, so Spivak. Entsprechend ist es auch nicht relevant, ob und inwieweit sich meine Tochter als ›Muslim*in‹ versteht. Sie wird, wie so viele andere Menschen auch, wiederkehrend als ›Muslim*in‹ angerufen und aufgefordert, sich als solche zu verorten. Durch das Fügen in die Logik der Differenz wird die Möglichkeit, als ›authentische*r Vertreter*in‹ zu sprechen, zugestanden. Das so Vorgetragene bettet sich in den dominanten Diskurs. Es konturiert die Umrisse der ›eigenen‹ Überlegenheit, während die Prämissen der unterlegenen ›anderen Kultur‹ bezeugt werden. Differenzierende, mehrschichtige Stimmen erhalten hingegen kaum Gehör. Zuwiderhandlungen rufen, siehe das Beispiel meiner Tochter, korrektive Eingriffe oder Sanktionen hervor.
Anna Sabel
In der ersten Sitzung des italienischen Parlaments 1861 erklärte der Abgeordnete D’Azeglio: »Wir haben Italien geschaffen, jetzt müssen wir Italiener erschaffen.« (zitiert nach Alter 1985: 28) Das hat er schön gesagt, finde ich, und irritiert hat er damit die Vorstellung von Nationen als quasi-natürliche Ordnungen, auf die zu erzeugen im Laufe der weiteren Geschichte so viel Mühe verwandt wurde.
Die Italiener*innen mussten erst erfunden werden und auch die Deutschen und vor ihnen die Preuß*innen. 1842 war dafür ein entscheidendes Jahr. Preuß*in war, wer vor diesem Jahr auf preußischem Gebiet geboren worden war (vgl. El-Tayeb 2016: 147). Fortan aber konnte nur als Preuß*in gelten, wer von den Männern unter den neu geschaffenen Preuß*innen abstammte. Der alleinige Bezug auf das Abstammungsprinzip galt auch seit der Gründung des Deutschen Reichs 1871, hielt sich hartnäckig und in beinah unveränderter Form von 1913 bis 1967 in der DDR und bis 2000 in der alten BRD und im vereinten Deutschland. Andere Nationalstaaten teilten diese Fixierung auf Abstammung nicht. Geradezu deutsch ließe sich also die Idee der Abstammungsgemeinschaft nennen. Was sonst noch deutsch war, sein sollte und sein durfte, änderte sich im Laufe der Geschichte und mit der Herausbildung zweier deutscher Staaten auf widersprüchliche Art und Weise.
Der erneute Moment der Nationsbildung 1989/1990 muss also eine Herausforderung gewesen sein. Eine Aushandlung von Werten, Zielen, Erzählungen und Politiken allerdings fand zwischen den beiden deutschen Staaten nicht statt. Stattdessen wurde auf die alte Abstammungsgeschichte zurückgegriffen. Die WIEDERvereinigung des EINEN Volkes wurde gefeiert. Frühere Feindbilder gingen (zumindest offiziell) verloren, andere waren schnell gefunden. Der ›Islam‹ ersetzte sowohl für Ost- als auch für Westdeutschland, was mit dem Ende des Kalten Krieges und dem früheren Gegenpart verlustig gegangen war. Er übernahm die Funktion des äußeren Anderen, in dessen Angesicht sich das vereinte Deutschland seiner selbst gewiss sein durfte. Für Westdeutschland änderte sich dabei die eigene Selbstbeschreibung wenig. Der eigene Liberalismus wurde weiterhin betont, nun nur eben nicht mehr in Abgrenzung zum Kommunismus, sondern zum ›Islam‹ (vgl. Attia 2009: 74). Für viele Menschen in Deutschland änderte das einiges.