Die erloschene Flamme - Margarete Buber-Neumann - E-Book

Die erloschene Flamme E-Book

Margarete Buber-Neumann

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Beschreibung

Margarete Buber-Neumann schildert ihre Begegnungen mit geschundenen Menschen, Opfern kommunistischer und nationalsozialistischer Herrschaftssysteme. Es sind Erinnerungen an tragische Einzelschicksale zwischen den Mühlsteinen der Diktaturen, darunter Namen, die in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen sind, wie Max Hölz, Kafkas Freundin Milena, Heinrich Vogeler, Dimitroff und viele andere. Ein erschütterndes Dokument von Opfern und Schuldigen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Margarete Buber-Neumann

Die erloschene Flamme

Schicksale meiner Zeit

FISCHER E-Books

Inhalt

Die erloschene FlammeDie Kraft zu überleben. Fluggast Karl BrunnengraberJohanna Langefeld – Schuldige und OpferTjotja Franziska – Eine Deutsche in KasakstanMein UntermieterErich Schmidt begreift nichts mehr …Die BourguikaDie Geschichte der Bella RosenkranzDie Killer des Ignaz PoretskyFrauen in DunkelarrestMax Hölz, der RebellMilena aus PragHeinrich Vogeler – Passionsweg eines Idealisten»Stalins junge Wölfe« – die EnttäuschtenNachwort

Die erloschene Flamme

… Es sind Genossen von der KPD, die uns eingeladen haben. Wir sollen einen berühmten Gast kennenlernen, der gerade aus Sowjetrußland gekommen ist. Er heißt Panait Istrati. Ich kenne einen Roman von ihm und habe seinen Namen immer wieder in der kommunistischen Presse gelesen, wo er als großer Freund und Bewunderer der Sowjetunion gerühmt wird.

Es gibt Kaffee. Der Gast sitzt schweigend da, so, als gehe ihn diese Gesellschaft um den runden Tisch nicht das geringste an. Istratis Freundin, eine Schönheit aus dem Morgenland, blickt unsicher von einem zum anderen, als wolle sie aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen wegen ihrer Anwesenheit um Verzeihung bitten.

Da lenkt die Gastgeberin, eine aktive Kommunistin, das Gespräch auf die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR. Als sei dies sein Stichwort gewesen, springt Istrati auf, läuft erregt zum Fenster, rennt zum Tisch zurück, zerrt nervös an dem dunkellila Seidenschal, den er statt Kragen und Krawatte um den Hals geschlungen trägt, bleibt schließlich am Sessel stehen und krampft die Hände um die Lehne. Mit vor Aufregung zitternder Stimme beginnt er eine temperamentgeladene Anklagerede, eine Art Strafpredigt. In abgehackten Sätzen berichtet er über Geschehnisse, deren Zeuge er angeblich gewesen sei. Es geht um Ereignisse, die in Leningrad, in Moskau und an anderen Orten Sowjetrußlands spielten. In seiner Erregung setzt Istrati so viele Dinge als bekannt voraus, daß es schwerhält, ihm überhaupt zu folgen. Als mir – damals war ich noch eine überzeugte Kommunistin – seine Gedankengänge endlich aufgehen, werde ich von Minute zu Minute starrer und ablehnender. Das, was Istrati den Anwesenden da ins Gesicht schreit, kann ganz einfach nicht wahr sein! Das ist die typische Propaganda eines Konterrevolutionärs. Behauptet er doch, er habe in Sowjetrußland auf Schritt und Tritt nur Selbstsucht, Schwindel und Ungerechtigkeit gefunden.

Da fällt das Wort »Trotzkisten«, und damit erwache ich aus meiner Erstarrung. Jetzt kann ich mich endlich zurechtfinden: Dieser Istrati und seine Freunde, die Rakowski und Viktor Serge, sind Anhänger Trotzkis und somit nichts anderes als Konterrevolutionäre. Auf eine Zwischenfrage, ob er, Istrati, etwa auch behaupten wolle, daß man unschuldige Menschen in Sowjetrußland verhafte und verurteile, verliert er völlig die Fassung und schreit dreimal hintereinander: »Ja! Ja! Ja!« Als Beispiel für diese Behauptung beginnt er von dem Schicksal einer mit ihm befreundeten Familie aus Leningrad zu erzählen, die man angeblich, obgleich völlig unschuldig, vors Gericht geschleift habe. Das Sowjetregime sei zerfressen von Fäulnis, die nur noch Elend, Feigheit und Sklaverei hervorbringen könne. Auf den Einwand, daß er vielleicht über dem tragischen Schicksal seiner Freunde Russakow, das doch selbstverständlich nur eine Einzelerscheinung in Sowjetrußland sei, die großen Errungenschaften dieses Landes nicht mehr wahrhaben wolle, erfolgte ein Ausbruch, der mir Schauer über den Rücken jagte. Mit erhobener Stimme ruft Istrati, es gebe in Sowjetrußland nicht nur eine, nein, hunderttausend ähnliche Affären, die aber niemals an die Öffentlichkeit drängen, denn in diesem Land triumphiere die Ungerechtigkeit, das Banditentum und die Schreckensherrschaft

Etwas Seltsames hatte sich mit mir ereignet. Ein Teil meines Ich wußte, daß hier die reine Wahrheit gesprochen wurde, aber der moralische Selbsterhaltungstrieb des politisch Gläubigen zwang mich dazu, ihn zum Lügner zu stempeln. Mit einem Mal verstummt Istrati, er scheint zu erfassen, wen er da vor sich hat. Mitten im Satz bricht er ab, geht zum Sessel, in dem seine Freundin sitzt, und legt ihr schweigend die Hand auf die Schulter.

 

Diese Begegnung hinterließ einen tiefen Eindruck. Jahre später, als ich schon keine Kommunistin mehr war, hörte ich von Freunden vieles aus dem Leben Panait Istratis. Er stammte aus der rumänischen Stadt Braila, wo er 1884 als Sohn armer Leute geboren wurde. Sein Vater, den er nicht kennenlernte, war ein griechischer Schmuggler, seine Mutter, die den Sohn zärtlich liebte, eine rumänische Wäscherin. Schon mit zwölf Jahren lief er von zu Hause fort und begann, die Welt zu durchstreifen. Er arbeitete da und dort in allen möglichen Berufen, litt mehr Hunger, als er satt wurde, organisierte Lohnkämpfe der Arbeiter, lernte mit verbissenem Fleiß Französisch und las alles, was ihm unter die Finger kam. Anfang der zwanziger Jahre verfaßte er seine erste Belletristik in französischer Sprache. Istrati, der »Gorki des Balkan«, wie ihn Romain Rolland nannte, glaubte an die Menschen und war dem Leben in allen seinen Höhen und Tiefen abgöttisch zugetan.

Im Jahre 1917 wurde er Anhänger des Bolschewismus, der ihn, wie er später schrieb, »durch seine Geschlossenheit, seine Klarheit und seinen Mut vollkommen gefangennahm« – Mitglied der kommunistischen Partei wurde er hingegen nie. Während seines ganzen Lebens blieb er ein Aufrührer, ein Syndikalist, einer, der für Freiheit und soziale Gerechtigkeit kämpfte. Für alles, was er verfocht, setzte er sein Leben ein, ganz gleich, ob es um das Recht der Armen ging oder um seine Mission als Schriftsteller

Er hatte schon manches geschrieben und veröffentlicht, doch immer wieder befielen ihn heftige Zweifel an seinen Fähigkeiten als Schriftsteller. Im Jahre 1921 – damals lebte Istrati in Südfrankreich – wurde er schwer krank und war nahe am Verhungern. Da wollte er eine Entscheidung über sein Schicksal erzwingen. Er sandte ein Manuskript an den französischen Schriftsteller Romain Rolland, dem seine ganze Bewunderung gehörte. Im beigefügten Brief bat er Rolland, ihn bis zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Meinung über das Manuskript wissen zu lassen. Romain Rollands Urteil sollte aber auch entscheiden, ob sich das Leben für ihn weiterhin lohne.

Er wartete vergeblich auf eine Antwort. Das war noch vernichtender, als es jede negative Kritik gewesen wäre. In seiner bis zur geistigen Verwirrung gesteigerten Verzweiflung verfaßte Istrati einen Abschiedsbrief an Rolland und an das Leben. Dann durchschnitt er sich die Kehle. Dem Verbluten nahe, wurde er im Zimmer eines schäbigen Hotels aufgefunden und ins Krankenhaus nach Nizza gebracht. Den Abschiedsbrief, den man bei dem Bewußtlosen fand, übersandte man dem Adressaten. Kurze Zeit darauf kehrte Rolland von einer längeren Reise zurück und fand gleichzeitig den ersten Brief Istratis sowie das erschütternde Abschiedsschreiben. Er stürzte ins Krankenhaus, wo Istrati in fast hoffnungslosem Zustand lag. Der Bemühung der Ärzte gelang es, ihn zu retten. Von diesem Selbstmordversuch blieb ihm eine breite Narbe an der Kehle zurück, und um sie zu verdecken, trug er stets einen Schal um den Hals.

Als Istrati das Krankenhaus verließ, kehrte er in ein wahrhaft neues Leben zurück. Er hatte nicht nur die Freundschaft Romain Rollands gewonnen: der französische Dichter glaubte an das Erzählergenie Istratis; und dieses positive Urteil inspirierte ihn zum Schreiben seiner ersten Romane. So entstanden »Kyra Kyralina«, die »Geschichten des Adrian Zograffi« und viele andere Werke.

Panait Istrati war bereits ein anerkannter Schriftsteller, als er endlich seinen sehnlichsten Wunsch verwirklichen konnte, in die bewunderte und geliebte Sowjetunion zu reisen. Als sein Freund Christian Rakowski, ein gebürtiger Rumäne, der bis zum Herbst 1927 sowjetrussischer Botschafter in Paris gewesen war, von seinem Posten abberufen wurde, nötigte ihm Istrati ganz einfach eine Reise nach Sowjetrußland ab. Er begleitete Rakowski zum Pariser Bahnhof, um Abschied zu nehmen. Als sich der Zug in Bewegung setzte, sprang er mit einem Satz hinein, setzte sich neben den schockierten Diplomaten und erklärte ihm mit Nachdruck und Entschiedenheit, daß er unbedingt mit nach Moskau reisen werde. Istrati besaß weder ein Transitvisum noch gar ein Einreisevisum in die Sowjetunion. Es kam ihm, dem Freiheitsfanatiker, nicht in den Sinn, wie kompliziert es für einen gewöhnlichen Sterblichen war, ins »Vaterland des Weltproletariats« vorzudringen, wie hermetisch Sowjetrußland seine Grenzen gegen Ausländer abschloß. Rakowski, ein Anhänger Leo Trotzkis, der, ohne es zu ahnen, bereits seiner Verbannung entgegenfuhr, war aber damals noch akkreditierter Diplomat und konnte deshalb Istrati, dem er freundschaftlich zugetan war, die Schwierigkeiten dieser Reise aus dem Wege räumen. Man machte ihn einfach zu einem Gast, der zu der am 7. November 1927 stattfindenden Zehnjahresfeier der Oktoberrevolution von der »Gesellschaft der Freunde der Sowjetunion« nach Moskau eingeladen worden war. Und Istrati übernahm diese Rolle ohne jeden Argwohn, denn er war ja ein gläubiger Kommunist.

In Moskau reißt man sich um den berühmten Schriftsteller. Überall findet er offene Türen; jede Zeitung wünscht Artikel von ihm; er wird stürmisch gefeiert. Ebenso wie viele andere der ausländischen Delegierten des Zehnten Jahrestages fährt auch er auf Kosten der Sowjetregierung durch das Land und hält Vorträge, in denen er nicht mit Lob über die Errungenschaften der kommunistischen Revolution spart. Bei dieser ersten organisierten Reise faßt er den Entschluß, später auf eigene Kosten und ohne Begleitung das Land des Sozialismus genau kennenzulernen. Man hatte ihm nämlich große Rubelbeträge für seine in Sowjetrußland erschienenen Romane und für die Verfilmung eines seiner Werke ausgezahlt.

»Hätte ich«, so gesteht Istrati später in seinem Bekenntnisbuch, »Sowjetrußland schon nach sechs Wochen verlassen, wie es alle anderen Delegierten von der Zehnjahresfeier der Oktoberrevolution taten, so hätte ich gewiß dithyrambische Artikel darüber geschrieben …« Aber mit ihm sollte es anders kommen. Nach kurzem Aufenthalt in Griechenland, Anfang des Jahres 1928, wo ihm seine prokommunistischen Vorträge die Landesverweisung eintrugen, kehrt er noch im Winter 1928 nach Sowjetrußland zurück und tritt zusammen mit seiner Lebensgefährtin sowie einem revolutionären Kreter und dessen Frau die geplante große Fahrt durchs Land des Sozialismus an.

Istrati brachte für diese Reise, die sich über mehr als ein Jahr erstreckte, wesentlich andere Voraussetzungen mit als die meisten Sowjetrußland-Pilger. Er kennt die Welt der Armut; er ist in ihr zu Hause; als Vagabund hat er die Länder des Mittelmeeres und des Nahen Ostens durchstreift, kennt den Balkan, Ägypten, Algerien und Italien. Ihm sind nicht nur alle Varianten des Elends bekannt, er hat so manche Form der Unterdrückung am eigenen Leibe kennengelernt. Deshalb gibt es für ihn nicht nur zahllose Vergleichsmöglichkeiten; er hat noch eines vor vielen voraus: er beherrscht die Sprache der Geknechteten. Und so öffnen sich ihm die Herzen der Menschen Sowjetrußlands. Diese Voraussetzungen, verbunden mit persönlichem Mut, mit Klarsicht und einem unerbittlichen Gefühl für politische Moral, lassen Istrati schon nach kurzem Aufenthalt in Sowjetrußland von einem Entsetzen ins andere geraten. Allerorts sieht er die Leiden des Volkes und durchschaut nur zu bald die schändlichen Diktaturmethoden der kommunistischen Partei, deren demoralisierte Vertreter er mit tiefer Verachtung straft. Sein Zorn gilt jenen, »die an der Schüssel sitzen«; und deren Methoden, die Welt zu revolutionieren, empören ihn zutiefst. Gequälten Herzens ruft er aus: »Fahrt dahin, ihr Träume, ihr Pläne! Träume der Hingabe an das neue Heilige Rußland, Pläne des Kampfes zum Schutze der UdSSR …«

Auf dieser Reise kommt er zu vielen traurigen Erkenntnissen, doch eine der bittersten ist, daß die sogenannte Diktatur des Proletariats vom moralischen Standpunkt, vom Standpunkt elementarer Gerechtigkeit aus, zutiefst verrottet ist. Außerdem stellt er fest, daß es im Vaterland des Proletariats für niemanden Frieden gibt, nicht einmal für die Parteibürokraten, die sich Tag und Nacht in Sorgen und Ängsten verzehren müssen, ob sie sich auch keiner politischen Abweichung schuldig gemacht haben, ob sie auch stets die von oben befohlene Linie befolgt hätten. –

Zur Frage des Kampfes ums tägliche Brot unter der »Diktatur des Proletariats« findet man in seinen Erinnerungen folgende Sätze: »Wenn das Recht, zu denken und sich frei zu bewegen, bloß noch in der Erinnerung besteht, dann wird das gesicherte tägliche Brot etwas Ungeheures, dann wird es alles. Und das weiß der Diktator und nützt es aus. Er streckt seine Hand aus nach dem Magen des Mannes und gibt ihm zu verstehen: ›Sterben ist nicht das Schlimmste. Das bringt jeder fertig; man sieht es im Krieg und in der Revolution. Aber Hunger leiden und kein Obdach haben und trotzdem leben, das ist schlimmer; und da ich an der Herrschaft bleiben muß, frage ich dich, was du denkst. Und je nachdem, was du denkst, wirst du dein Stück Brot und dein Obdach haben …‹ Dieses Schlimmste … dieser Gipfel des Banditentums und der Schreckensherrschaft hat seinen vollkommenen Ausdruck in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gefunden, unter der Herrschaft der sogenannten Diktatur des Proletariats …«

Als sich Istrati, der Syndikalist, über die Funktionen der sowjetrussischen Staatsgewerkschaften klar wird, gerät er in Weißglut. Er stellt die Frage: »Gegen wen kämpfen denn diese Roten Gewerkschaften in der UdSSR eigentlich, welche Daseinsberechtigung besitzen sie, woher stammt ihre ungeheure Stärke in einem Land, wo der Begriff Unternehmer nur noch in der Erinnerung lebt?!« Und er gibt dann selbst die Antwort: »Mit Hilfe der Roten Gewerkschaften diktiert die Partei ihre Gesetze in den Fabriken und den Werkstätten, den Kaufläden, in den Büros und in den Wohnungen, schlechthin überall …«

 

Istrati und seine kleine Reisegesellschaft machen sich auf den Weg in den Norden des Landes. Sie erreichen Murmansk. Doch ihr eigentliches Ziel ist das ehemalige Kloster und jetzige Zuchthaus Solowki, das auf einer Insel im Weißen Meer liegt. Der Plan, bis dorthin vorzudringen, verrät ganz Entscheidendes über das Wesen Panait Istratis. Er, der sich während seines ganzen Lebens den Mitmenschen hingegeben hat, strebt zu den Ärmsten der Armen, zu den politischen Gefangenen der Sowjetdiktatur, mit denen er sich tief verbunden fühlt.

Über diese Reise schreibt Istrati in seinem Buch »Auf falscher Bahn«: »… Ein rumänischer Genosse … geht als Dolmetscher mit, aber auf meine Kosten … Die Fahrt durch Karelien macht einen mächtigen Eindruck auf mich, tausend Kilometer ununterbrochener Waldungen, unzählige einsame Seen … In Murmansk sind wir am Ende der ›zivilisierten‹ Welt angelangt. Wir sind am Polarkreis … Eine Barackenstadt, es riecht nach Pökelfisch, ein paar spärliche Einwohner gehen gesenkten Hauptes und langsamen Schrittes durch ein weites Gelände … Kaum steigen wir aus dem Zug, so betrachtet uns ein Agent der GPU eine Minute lang, winkt dann unseren Dolmetscher heran und führt ihn fort … Dem Geleise gegenüber ist eine Wachstube. Durch das Fenster sehen wir, wie man ihn grob anfährt und durchsucht … Wird man uns vielleicht alle ins Loch stecken? – O nein. Wenn man noch ein Halb-Offizieller ist, hat man nichts zu fürchten …«

»… Wir wollen die schrecklichen Solowki-Inseln besuchen, wo die politischen Gefangenen schmachten. Aber wir haben nicht die erforderliche Sondererlaubnis. Ich telegrafiere nach Moskau …

Wir gehen Mittag essen. Das Restaurant gehört der GPU … Vom Direktor angefangen bis zum Geschirrwäscher und zum Orchester ist jedermann Gefangener …«

Zum Schlafen »steckt man uns in zwei Zimmer, deren ganze Einrichtung sich auf zwei Betten beschränkt, was in Ordnung ist. Weniger in Ordnung sind die Wanzen, die in Eskadronen anrücken, sobald wir uns zu einer kleinen Siesta ausstrecken. Lebt wohl, ihr Teuren! Wir räumen schleunigst das Feld … Am nächsten Tag verlassen wir Kern und verzichten auf Solowki sowie auf die Antwort aus Moskau …«

Hätte Istrati mehr Ausdauer besessen, wäre ihm vielleicht die Gunst zuteil geworden, die Besichtigungsbaracke von Solowki in Augenschein zu nehmen, und irgendein krimineller Häftling, ein Agent der GPU, hätte ihm Wunderdinge über das einmalige Gefängnisregime von Solowki vorgeflunkert. – Welche Bewandtnis es mit diesem Totenhaus wirklich hatte, sollte die westliche Welt erst vor einigen Jahren durch Solschenizyns »Archipel GULAG« erfahren.

So reist Istrati also unverrichteter Sache ab und macht sich auf den Weg nach dem Südosten des riesigen Landes, nach Astrachan am Kaspischen Meer. Dort hat er mehr Glück. Er findet seinen Freund Christian Rakowski, der Ende Dezember 1927, nachdem er auf dem 15. Parteitag der KPdSU seine Stimme für die trotzkistische Opposition erhoben hatte, seines Amtes als stellvertretender Volkskommissar des Auswärtigen enthoben und bald darauf verbannt worden war.

»… Wir hatten es eilig, nach Astrachan zu Rakowski zu kommen … Eine stinkende Stadt. Myriaden von Stechmücken, Pest, Malaria, Cholera …« Im Hotel wieder alles voll mit Wanzen. »… Ich fluchte daher auf dem Gange wie ein Wilder und verlangte wanzenfreie Betten. Da öffnete sich eine Tür in der Finsternis und ein vierschrötiger Mann kam auf mich zu: ›Bist du es, der so flucht?‹ »Rakowski! Was, du wohnst in einem verwanzten Hotel?«… Wir stürzen in sein Zimmer … Ein Tisch voller Papierzeug. Rakowski arbeitet an seinem ›Leben des heiligen Simon‹. Deshalb finde ich ihn dick und schwammig geworden, denn er ist ein Mann des Kampfes und nicht dazu da, ein ›Leben‹ zu schreiben. Außerdem hat er die Malaria und auch noch eine andere Krankheit … die er in Astrachan nicht kurieren kann …« Drei Jahre nach Istratis Tod wurde auch Rakowski ein Opfer der Großen Säuberung, wurde auf einem Schauprozeß zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Den letzten und schwersten Schlag für seinen Glauben an das Positive im kommunistischen Rußland erleidet Istrati erst am Ende der Reise bei seiner Rückkehr nach Moskau. Schon im November 1927 hatte er bei einem offiziellen Besuch in Leningrad den alten jüdischen Revolutionär Russakow kennengelernt, den Schwiegervater seines Freundes Viktor Serge, und war von da ab mehrmals Gast bei dessen zahlreicher Familie gewesen. Die Russakows hatten bis zur Oktoberrevolution als Emigranten in Frankreich gelebt und waren dann in ihre russische Heimat zurückgekehrt. Der Familienvater verdiente sein tägliches Brot als Arbeiter in einer Leningrader Fabrik.

Die Tragödie dieser elfköpfigen Familie beginnt mit einem Verleumdungsartikel in der »Leningrader Prawda«. Inspiriert wurde diese Veröffentlichung durch eine einflußreiche Komsomolka (Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes), die es auf Russakows Wohnung abgesehen hat. Solche Methoden sind in Sowjetrußland etwas Alltägliches. Doch in diesem Fall kommt noch hinzu, daß der alte Russakow niemals davor zurückschreckte, in der Fabrik seine Meinung zu sagen, und als besonders gravierend, daß man seinen Schwiegersohn, Viktor Serge, als einen Anhänger Leo Trotzkis verdächtigt. Der Schmähartikel in der Leningrader Zeitung, ein vollendetes Lügendokument, in dem Russakow als Kulak, als NEP-Mann und als Konterrevolutionär bezeichnet wird, zielt eindeutig darauf ab, ihn vor Gericht zu stellen und zu verurteilen.

Im Januar 1929, nach seiner langen Reise soeben in Moskau angekommen, bekommt nun Istrati diesen Artikel gegen Russakow in die Hände. Anstatt, wie geplant, Sowjetrußland in einigen Tagen zu verlassen, beginnt er wie ein Löwe für diesen seinen Freund zu kämpfen. Sein Gerechtigkeitsgefühl zwingt ihn nicht nur dazu, empörte und beschwörende Briefe über den Fall Russakow an verschiedene hohe Sowjetinstanzen zu schreiben, er dringt sogar bis zum Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, bis zu Kalinin persönlich vor, um Russakow, der inzwischen vors Gericht geladen wurde, zu retten. Dann eilt er selbst nach Leningrad. Dort sollte er erfahren, mit welchen Mitteln die Parteibürokratie gegen politisch unliebsame Elemente vorgeht. Als williges Werkzeug benutzt man dazu die Belegschaft der Fabrik, in der Russakow arbeitet; man läßt sie eine Resolution gegen den alten Mann annehmen, ein Schanddokument, das folgenden Wortlaut hat: »Russakow mißbraucht die Etikette eines Arbeiters, er täuscht in der Fabrik vor, daß er ein Proletarier sei, während er in Wirklichkeit ein schändliches Anhängsel der inneren Konterrevolution, ein Elender der Schwarzen Hundert, ein verbohrter, antisemitischer Kleinbürger ist. In der Werkstatt betreibt Russakow offenkundige Pogromagitation gegen die UdSSR, wagt es nur nicht, sich anders als in Worten Luft zu machen …« So also sprach das Volk auf Befehl der Partei. Resolutionen dieser Art und auf gleiche Weise zustande gekommen, waren und sind die Methoden der Kommunisten, allen denen die Gurgel zuzuschnüren, die es wagen aufzumucken.

Ohne Panait Istratis Eingreifen wären Russakow und seine Familie in irgendeinem Konzentrationslager gelandet. So aber erzwang er ein Zurückweichen des Gerichtes. Es kam nur zu einer Scheinverurteilung von drei, zwei und einem Monat Zwangsarbeit für drei Mitglieder der Familie Russakow. Was allerdings aus den Russakows wurde, als die Massenverhaftungen der Großen Säuberung begannen, ist leicht zu erraten.

Panait Istrati verläßt die Sowjetunion, wo, wie er später schreibt, »von Sozialismus keine Rede mehr ist, wo Menschenleben behandelt werden wie Material in einem sozialen Krieg, das man benützt, um eine neue schauderhafte Kaste triumphieren zu lassen …« Als ein Besiegter, ein Verzweifelter, ein seines Glaubens Beraubter kehrt er über Berlin nach Frankreich zurück. Bis zu seinem Tode im Jahre 1935 bekämpft er den Kommunismus als den Verräter der großen Ideale der Arbeiterklasse. Am Schluß seines Buches »Auf falscher Bahn« stehen folgende erschütternden Sätze: »Eine Flamme, nach tausend anderen, ist erloschen in einem Lande, das reich war an Hoffnungen. Heute weht über diesem Lande nur der eisige Hauch der Selbstsucht, der das Leben erstarren läßt …«

Die Kraft zu überleben. Fluggast Karl Brunnengraber

Wir hatten zuvor lange warten müssen auf dem Tempelhofer Flugplatz in Berlin – wegen Nebel …

»Wie schön der Nebel von oben aussieht«, sagt mein Nachbar vor sich hin. Wir sitzen nebeneinander in den bequemen Sesseln eines Flugzeuges. Ich beuge mich vor und blicke durch das Kabinenfenster auf die blendend weiße Wolkenlandschaft. – »Sind Sie schon mal im Nebel gelandet?« wendet sich der junge Mann an mich. »Ich sage Ihnen, eine sehr gefährliche Sache … Könnt’ natürlich sein, daß unser Flugzeug schon Radar hat. Da kann’s ja nochmal gutgehen …«

Mein Nachbar hat schlotternde Angst und verbirgt sie nicht vor mir. Seine dunklen Augen sind erschreckt und traurig.

Ich dachte mir: Die werden schon wissen, was sie zu tun haben nach den Erfahrungen mit der Luftbrücke. Da flogen sie ja auch bei jeder Witterung, in Nebel, Sturm und Schnee. Eben das sage ich meinem Nachbarn, als er mir die Geschichte von einem im Nebel herumirrenden Flugzeug erzählt, das sich nur mit knapper Not vor dem Absturz retten konnte …

»Sind Sie aus Berlin?« frage ich, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen. »Nein, aus einem kleinen Ort bei Krakau.« – »Aus Krakau? Jetzt erst gekommen?« – »Nein, schon lange.« Mit einem Mal scheint ihm die Lust vergangen zu sein, sich mit mir zu unterhalten. Ich sehe ihn von der Seite an. Sicher ist er ein polnischer Jude. Das hört man an seiner Sprache. Unüberlegt frage ich: »Sie sind doch Jude, nicht wahr?« Er wendet mir sein Gesicht zu und antwortet fast herausfordernd: »Ja! Und?!« – »Waren Sie unter Hitler auch schon in Deutschland?« – »Und ob!« – »Im KZ?« – »Ja. Warum fragen Sie das?!« – »Weil wir dann Kollegen sind!« – »Sie auch?!« – Er schreit es fast und beugt den Oberkörper vor, so als ob er mir die Hände entgegenstrecken will. – »Was für ein Zufall! Da fliegt man von Berlin nach Frankfurt, redet über den Nebel und dabei gäbe es doch ganz anderes zu bereden.«

»Und wie haben Sie’s überlebt?« – »Tja, eigentlich kann man sagen, ich hab’ gelebt von einer Uhr zur anderen.«

»Was hat denn das mit einer Uhr zu tun?«

»Wissen Sie, das war nämlich so: Nach der ersten Aktion bei uns zuhause in Polen, als die Deutschen anfingen, die Juden wegzuschleppen, das war gegen Ende 1941, da haben wir mit Vater und Mutter beraten, wie man sich retten könnte vorm Tod. Sie meinten, wir zwei Großen, meine Schwester und ich, gingen wohl am besten freiwillig ins Arbeitslager zur SS, denn wir hatten ja was gelernt. Sie müssen wissen, ich bin Uhrmacher und meine Schwester ist Schneiderin. Fuhren wir also nach Krakau. Überall hörten wir, es geht den Juden ans Leben. Da gab’s kein langes Überlegen. Eh’ wir uns bei der SS meldeten, sagte meine Schwester: ›Wenn ich wieder rauskomme, wart’ ich auf dich in der Wohnung der Tante in Krakau. Vergiß nicht!‹

Im Arbeitslager war man auch nicht sicher vorm Tod. Eine Selektion nach der anderen. Durch Neue, die reinkamen, hörte ich, daß Vater, Mutter und die kleinen Geschwister schon verschwunden waren. – Weil sie wußten, daß ich Uhrmacher bin, gab mir ein SS-Mann seine Armbanduhr mit dem Befehl, sie so schnell wie möglich wieder in Ordnung zu bringen. Da wußte ich: Solange diese Uhr nicht fertig repariert ist, so lange werde ich nicht auf Transport gehen. Und ich verstand es so einzurichten, daß immer, bevor die eine Uhr ganz fertig war, ich schon die nächste zur Reparatur bekam. Die SS-Leute hatten immer Uhren, die nicht gingen. So lebte ich über zwei Jahre von einer Uhr zur anderen. Ich kam in Arbeitskommandos, ich kam ins Konzentrationslager, und mein Leben hing immer an einer Uhr.

Einmal, das war Anfang 1944, ist es aber schiefgegangen. Ein Capo befahl mir, auch seine Uhr zu reparieren. Er wollte mir ein Stück Brot geben für die Arbeit. Ich steckte die Uhr in mein Hemd, um sie heimlich in der Werkstatt herzurichten. Das sah ein polnischer Mithäftling. Und nun ging’s ums Leben. »Gib mir die Uhr oder ich melde dich der SS. Es ist verboten für Häftlinge, zu reparieren!« Ich bettelte, ich flehte ihn an, mich nicht zu verraten. Die Uhr konnte ich ihm nicht geben. Der Capo hätte mich totgeschlagen. Alles umsonst. Er verriet mich, und ich kam in eine Strafabteilung. Da ging es mit Riesenschritten abwärts. Bald war ich ein Muselmann, so hieß im Lagerjargon ein heruntergekommener Häftling, der sich nur noch mühsam aufrecht hielt. Man stellte einen Transport nach Bergen-Belsen zusammen. Ich gehörte dazu. Damit war es eigentlich aus …«

 

Schon lange musterten uns die Mitreisenden kritisch.

Mein Nachbar gestikuliert erregt. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sein jetzt wohlgenährtes Gesicht hat immer noch eine verdächtig graue Farbe, und der Ausdruck der Hoffnungslosigkeit in den Augen wird wohl nie wieder verschwinden.

»Eines Tages wurden durch den Lautsprecher 1000 Häftlinge für Aufräumungsarbeiten in Hamburg auf den Lagerplatz gerufen. Es meldeten sich 5000. Alle wollten aus der Hölle Bergen-Belsen raus, jeder wollte unter den 1000 sein. Die Häftlinge schlugen sich gegenseitig mit Knüppeln auf die Schädel. Ich aber kroch durch die Beine der Kämpfenden. Und ich habe es geschafft. Ich war unter den 1000 Auserwählten, war noch einmal gerettet …«

Er schildert die Szene – das Prügeln und das Kriechen – so dramatisch, daß selbst die Stewardeß auf uns starrt. – Da wird den Fluggästen mitgeteilt, eine Landung in Frankfurt sei unmöglich, wir würden in Stuttgart runtergehen. Mein Nachbar scheint diese Nachricht überhört zu haben. Nebel interessiert ihn nicht mehr. Im Moment lebt er ganz und gar in der Vergangenheit, in einer Zeit, in der jede Stunde die letzte hätte sein können.

»Beim Aufräumen in Hamburg hatten wir ein gutes Leben. Viel Brot! Die Arbeiter waren freundlich zu uns. Nach einigen Wochen ging das Gerücht, wir kämen zurück nach Bergen-Belsen. Das bedeutete das Ende. Ich stahl eine Zivilhose, eine Jacke und eine Mütze und für alle Fälle eine Zange.

Als wir im Waggon eines Güterzuges zum Transport ins Lager verfrachtet waren, die anderen stumpfsinnig und verzweifelt am Boden hockten, begann ich, mit meiner Zange das Gitter vorm kleinen Fenster des Waggons wegzureißen. Die SS-Bewachung war außerhalb des Waggons in den Bremserhäuschen postiert. Noch war ich nicht ganz fertig, als mich ein Mitgefangener flüsternd fragte – es war ein Russe –: ›Du fliehen? Uns zwei mitnehmen?‹ – Ich war einverstanden. Draußen war es schon dunkel, als ich zuerst den einen, dann den anderen Holzschuh zum Waggpnfenster hinauswarf und lauschte. Nichts erfolgte. Dann sprang ich aus dem langsam fahrenden Zug. Alles blieb ruhig. Die SS schlief wohl in den Bremserhäuschen. Gleich nach mir sprangen die zwei Russen. Es brauchte eine Weile, bis ich die Holzschuhe wiedergefunden hatte. Dann schnell die geklauten Zivilkleider über den Häftlingsanzug gezogen. Und so stand ich herzklopfend in der Freiheit. Da wandte sich einer von den beiden Russen zu mir und sagte: ›Du Jude sein. Wir nicht mit dir gehen!‹ – Das tat weh. Aber, was wollen Sie, wir sind es ja gewöhnt. Ich lief allein viele Kilometer auf Seitenstraßen und Waldwegen. Mich trieb die Angst und der Hunger. Im Morgengrauen sah ich von weitem die Umrisse eines Bauernhauses.

Ich klopfte an die Haustür und sagte, ich sei Ostarbeiter und ob sie nicht Holz kleinzumachen hätten. Das hatten sie. Aber ein Platz zum Schlafen fand sich nicht. Ich hackte das Holz und hatte nur einen Gedanken: Wenn sie doch ein Erbarmen hätten und mir etwas zu essen gäben … Als die Bauersfrau rief: ›Reinkommen!‹, rannte ich mehr, als ich ging, und wollte in der Küche höflich meine Mütze vom Kopf ziehen. Im letzten Moment besann ich mich, denn, wehe mir, die mitten über den Kopf kahl geschorene Bahn hätte mich sofort als geflohenen KZler verraten. – Sich nur nichts anmerken lassen. In kleinen Stücken aß ich langsam das Schwarzbrot, so als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt und nicht die ersten Bissen seit zwei Tagen. – Voller Dankbarkeit, daß man mir zu essen gab, arbeitete ich bis zum Mittag, aber da wäre es beinahe geschehen. Die Bauersfrau stellte eine große Schüssel voll Gemüse und Kartoffeln mitten auf den Tisch. Und ich glaubte, alle Deutschen essen aus großen Schüsseln, wie es im KZ üblich war. Diese Schüssel war allerdings doppelt so groß wie die in Bergen-Belsen, aber ich befand mich ja auch unter freien Menschen … Ohne viel zu überlegen, griff ich danach, zog sie vor mich und tauchte den Löffel hinein. Auf dem Wege zum Munde aber stockte ich vor den verwunderten Blicken der Bauern und schob mit verlegenem Lächeln die Schüssel in die Mitte des Tisches zurück. Sie schwiegen und tauchten dann ihre Löffel in die gemeinsame Schüssel. So ist es bei den Bauern dort in der Gegend.

Der Abend kam; ich hinterließ einen Berg gespaltenen Holzes; der Bauer brummte zufrieden, daß ich morgen wiederkommen könne. Ich lief zaghaft in den Wald und wünschte mir für die Nacht, denn es war noch kalt, ein Dach über den Kopf. Auf der Suche sah ich von einem Waldrand aus in einiger Entfernung Baracken, dieselben wie in Bergen-Belsen, aber nicht von einer Mauer mit fünffachem Stacheldraht umgeben, sondern von einem einfachen Bretterzaun. Das konnte nur ein Lager für freie Ostarbeiter sein. Weil ich so sehr fror, beschloß ich, bei Dunkelheit über den Zaun in das Lager einzusteigen und mich irgendwo aufzuwärmen …« Die lächelnde Stewardeß stellt jedem Fluggast ein Tablett auf das Klapptischchen und fragt freundlich: »Wünschen Sie Kaffee oder Tee?« Mein Nachbar hat sich im Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Ich berühre seinen Arm: »Wollen Sie Kaffee oder Tee?« Er zuckt zusammen. »Ach, richtig. Natürlich Kaffee, bitte.«

Nach einer Pause frage ich neugierig: »Wie ging es denn dann weiter? Sind Sie also wirklich über den Zaun ins Lager gestiegen? Und dann?« – Langsam kommt seine Antwort: »Ja, und dann versteckte ich mich hinter einer offenstehenden Tür. Die Knie unter das Kinn gezogen, verbrachte ich dort die erste Nacht. Noch ehe es richtig hell war, schlich ich mich raus. Kam ungehindert über den Zaun und durch den Wald zum Bauern. Zwei Nächte ging es gut, aber in der dritten war Fliegeralarm. ›Licht aus!‹ brüllten die Wachsoldaten, und einer ging kontrollierend mit einer Taschenlampe durch die Baracke, kam an die Tür, hinter der ich zitternd kauerte und beleuchtete meine Fußspitzen, die unter dem Türspalt hervorsahen. Da war es aus. Sie packten mich, rissen mir die Mütze vom Kopf und sahen die verräterische Bahn. ›Woher kommst du Judenschwein?! Aha! Ausgerissen!‹ Man schlug mich ins Gesicht. Ich fühlte nichts mehr, wußte nur eins: Jetzt hast du verspielt. Einer brachte mich zur Polizei. ›Morgen, mein Freundchen, ist’s vorbei mit dir.‹ Das ist also dein letzter Tag, dachte ich mir. Wissen Sie, da kann man sich nicht mal aufregen. Alle Gefühle sind weg. Damals war ich 22.

Am Morgen hatten sie mit Bergen-Belsen telefoniert, und von dort kam der Befehl, mich sofort ins Lager zu bringen, denn ich müsse verhört werden. Aus dem Hamburger Transport waren noch mehr geflohen. Nach denen suche man. Erst am späten Nachmittag wurde ich von zwei Polizisten im Auto weggefahren. In irgendeinem kleinen Ort machten wir halt. Es war wieder Fliegeralarm. Es schien das Bürgermeisteramt zu sein, in das sie mich brachten. Dort sollten wir übernachten. Der Alarm war zu Ende, das Licht ging an. Man befahl mir, mich hinten im Raum auf den Fußboden zu setzen. Der eine Polizist saß am Tisch vor mir, der andere auf einer Bank an der Wand. Da war kein Laut im Zimmer. Ich mußte eingeschlafen sein. Plötzlich schreckte ich hoch. Die Polizisten schnarchten. Mein Blick ging zur Tür. Ich richtete mich langsam hoch und traute meinen Augen nicht: der Schlüssel steckte im Schloß.

Zwischen dem Tisch und der Wand war der Durchgang keine 30