Die Essenz des Bösen - Tony Parsons - E-Book

Die Essenz des Bösen E-Book

Tony Parsons

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Beschreibung

Für Detective Max Wolfe ist es die dunkelste Stunde seines Lebens: Nur mit Glück überlebt er einen Terroranschlag auf ein Einkaufszentrum, bei dem fünfundvierzig andere Menschen sterben. Eine Woche später ist die Londoner Polizei den Tätern auf der Spur, aber der Einsatz läuft aus dem Ruder. Die Drahtzieher des Anschlags, zwei Brüder, werden bei der Festnahme erschossen.

Doch für viele Londoner ist die Sache damit noch nicht beendet. Angestachelt von Fanatikern wächst ihre Wut und richtet sich gegen die Familie der Terroristen. Max hat alle Hände voll zu tun, sie zu beschützen. Das macht ihn selbst zur Zielscheibe. Genau wie seine kleine Tochter und die Frau, die er liebt ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

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Über das Buch

Für Max Wolfe, Detective bei der Londoner Polizei, ist es die dunkelste Stunde seines Lebens: Nur mit Glück überlebt er einen Terroranschlag, bei dem 45 andere Menschen sterben. Die Drahtzieher des Anschlags, zwei Brüder, werden bei der Festnahme erschossen. Doch für viele Londoner ist die Sache damit noch nicht beendet. Angestachelt von Fanatikern wächst ihre Wut und richtet sich auf die Familie der Terroristen. Max hat alle Hände voll zu tun, sie zu beschützen. Das macht ihn selbst zur Zielscheibe. Genau wie seine kleine Tochter und die Frau, die er liebt. Was Max nicht weiß: Am Ende wird er eine von beiden für immer verlieren.

Über den Autor

Tony Parsons wurde am 6. November 1953 in Romford, Essex (UK), als einziges Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Nach seinem Schulabschluss begann er seine Freizeit für seine literarische Begabung zu nutzen und veröffentlichte eine Untergrundzeitung, die er »Skandalblatt« nannte.

Seine Karriere begann er als Musikkritiker. Heute ist er einer der erfolgreichsten Kolumnisten und Fernsehjournalisten Großbritanniens. Er schrieb u.a. für das Musikmagazin NME, den Daily Telegraph und 18 Jahre lang für den Daily Mirror.

Zudem gehört er zu den ganz großen Stars der englischen Literaturszene, denn alle seine Werke schafften es auf die nationalen und internationalen Bestsellerlisten.

1974 schrieb er seinen ersten Roman The Kids, der im Jahr 1976 bei New English Library Ltd. erschien. Der gewünschte Erfolg trat nicht mit der ersten Buchveröffentlichung ein, und so bewarb sich Tony Parsons 1976 bei NME, um in der Folge drei Jahre über neue Musikerscheinungen und Bands zu schreiben (darunter The Clash, Sex Pistols, Blondie, David Bowie, u.v.m.). In den 1980er Jahren schlug sich Parsons als freiberuflicher Autor durch, bis er 1990 Bare (Penguin Books Ltd), eine Autobiographie über den Sänger George Michael, veröffentlichte. In den 90er Jahren begann er für einige britische TV-Formate zu arbeiten und startete bei The Daily Telegraph als Kolumnist.

Er lebt mit seiner Frau, ihrer gemeinsamen Tochter und ihrem Hund in London. Sein erster Kriminalroman Dein finsteres Herz mit Detective Constable Max Wolfe wurde von der Presse frenetisch gefeiert.

Tony Parsons

Die Essenz des Bösen

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Dietmar Schmidt

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Für die Originalausgabe:Copyright © Tony Parsons, 2018Titel der englischen Originalausgabe: »Girl On Fire«Originalverlag: Century, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Heike Rosbach, NürnbergUmschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Motiven von © Neil Spence/getty-images und © www.buerosued.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6135-3

luebbe.delesejury.de

Für Tim Rostron aus Tunell Park und Toronto

1

Ich wachte auf, und die Welt war nicht mehr da.

Alles war still, alles war schwarz. Mich umgab eine Dunkelheit, so umfassend, als wäre der Welt sämtliches Licht ausgesaugt worden.

Überall war Staub. Er hing dick in der Luft, heiß und schmutzig, der Staub eines frisch ausgehobenen Grabes. Und ein merkwürdiger Regen fiel – ein Regen aus Stein, aus den Bruchstücken zerschmetterter Dinge, die ich nicht benennen konnte. Die Zerstörung war überall. In meinen Augen, in meinem Mund, in meiner Nase und in meinem Rachen.

Ich lag flach auf dem Rücken, und unvermittelt raubte die Verwüstung mir den Atem.

Als ich mich hochstemmte und den seltsamen Staub aushustete, spürte ich ihn auch an meinen Händen und in meinem Gesicht.

Leer blickte ich in die pechschwarze Stille. Jetzt erst bemerkte ich die Hitze, und mich durchlief schieres Entsetzen. Ganz in der Nähe musste ein großes Feuer wüten. Ich sah mich um und entdeckte es, wie es loderte und flackerte, das einzige Licht in der Dunkelheit. Die Hitze nahm zu. Die Flammen kamen näher.

Beweg dich oder stirb. Dir bleibt keine andere Wahl.

Auf Händen und Knien kroch ich vom Feuer weg und würgte an dem Schmutz in der Luft. Eine Welle der Übelkeit überfiel mich. Ich hatte am ganzen Leib Schmerzen, aber sie schienen von der Innenseite meines linken Knies auszustrahlen.

Mit einem leisen Fluch ließ ich mich auf die Seite sinken und ertastete die Glasscherbe, die sich mir ins Bein gebohrt hatte, ein kleines, aber dickes Bruchstück einer großen Fensterscheibe, die niemals hätte zerspringen dürfen. Vorsichtig betastete ich die Scherbe. Der Schmerz in meinem Knie flammte auf, und ich versuchte zu begreifen, was hier überhaupt los war.

Wo war die alte Welt hin?

Was war passiert?

Mir fiel ein, dass ich im Lake Meadows gewesen war, dem Einkaufszentrum in Westlondon, um einen neuen Rucksack für Scout zu kaufen. Meine Tochter wollte einen einfarbigen, schmucklosen Rucksack von Kipling, denn sie war schon sieben und erachtete sich als viel zu erwachsen für den Kinderrucksack, mit dem sie im Moment noch zur Schule ging. Er war nur ein Jahr alt, aber darauf zu sehen war die weibliche Hauptfigur aus dem großen Blockbusterfilm vom vergangenen Sommer, Die zornige Prinzessin, eine wunderschöne Zeichentrickprinzessin mit finsterem Gesicht, die aus ihren schmalen Fingernägeln Blitzstrahlen verschoss. Und mit solchem Kinderkram war Scout durch. Sie wollte, dass ich ihr einen Rucksack für ein großes Mädchen kaufte. Als es geschah, war ich damit beschäftigt gewesen.

Ich erinnerte mich noch, dass ich für den neuen Große-Mädchen-Rucksack bezahlt hatte und in die Fressmeile gegangen war, gedanklich ganz auf die Frage konzentriert, wo ich hier einen anständigen dreifachen Espresso bekommen konnte.

Menschen waren dort gewesen, Licht und Lächeln, der Duft nach Kaffee und Zimtgebäck, leise Einkaufszentrumsmusik, irgendein Song aus dem vergangenen Jahrhundert. All das kam mir nicht wie eine Erinnerung vor, sondern wie ein Traum, der ins Vergessen entwich, kaum dass ich aufgewacht war.

Jetzt waberte und wallte der Feuerschein, weil der Großbrand die Dunkelheit in Fetzen riss. Durch ein eingestürztes Dach oder eine geborstene Wand kroch graues Licht aus der Außenwelt in die Ruinen.

Erst in diesem Moment sah ich die Menschen in den Trümmern des Einkaufszentrums.

Einige von ihnen rührten sich nicht. Andere versuchten aufzustehen.

Die neue Welt war lautlos.

Nein, begriff ich in diesem Augenblick, die Welt war nicht lautlos. Nicht ganz. Mein Gehör hatte in dem Augenblick ausgesetzt, in dem die alte Welt verschwunden war.

In meiner Nähe saß ein junger Wachmann auf dem Boden. Seine Uniform war von dem grauen Staub bedeckt, der auf allem lag. Er drehte den Kopf zu mir und versuchte zu sprechen.

Falsch – er sprach, aber ich konnte ihn nicht hören.

Ich zog die Glasscherbe aus meinem Knie und brüllte vor Schmerzen auf. Dann kroch ich zu ihm.

Sein Mund bewegte sich wieder, aber seine Worte blieben unverständlich.

Ich starrte ihn an. Vom Staub tränten mir die Augen. Ich schüttelte den Kopf.

Er wiederholte, was er gesagt hatte, und diesmal drang seine Stimme durch das Klingeln in meinen Ohren.

»Eine Bombe«, sagte er.

»Nein. Zu groß für eine Bombe.«

»Mein Arm«, sagte er.

Er hielt seinen Oberarm, starrte ihn an, ohne zu begreifen.

Alles unterhalb des Ellbogens fehlte.

Ich drückte ihn vorsichtig zu Boden, damit er sich hinlegte, bettete seinen Kopf auf die Plastiktüte mit Scouts neuem Rucksack, streifte meine Lederjacke ab, zog mir das T-Shirt aus und zerriss es in drei Streifen.

Der Wachmann hielt den verstümmelten Arm hoch. Er nutzte die Schwerkraft, um den Blutfluss zu verringern. Ich nickte ihm aufmunternd zu.

»Gut so«, sagte ich.

Menschen gingen langsam an uns vorbei. Niemand rannte. Jeder war zu benommen, um zu rennen. Sie torkelten aus den wabernden Staubwolken. Einige hielten noch ihre Einkaufstaschen in der Hand, als könnte das, was hier geschehen war, überhaupt nicht sein. Die Menschen waren zu betäubt, um die Taschen abzustellen, und zu geschockt, um sie loszulassen. Ich legte dem Wachmann einen T-Shirt-Streifen auf die Wunde und drückte ihn vorsichtig fest.

Beinahe umgehend war der Stoff blutdurchtränkt.

Ich ließ den blutigen T-Shirt-Streifen auf der Wunde und platzierte darauf ein zweites Stoffstück. Es sog sich schon langsamer mit Blut voll.

So behutsam, wie es ging, nahm ich dem Wachmann die Krawatte ab, legte sie etwa zehn Zentimeter über der Wunde an und band ab, was von seinem rechten Arm übrig war. Dann legte ich das letzte T-Shirt-Stück auf die Wunde.

Diesmal sickerte kein Blut mehr durch.

Mein Gehör kehrte zurück, und ich hörte die Schreie und die Sirenen. Ich sah die Leiber, die in den Ruinen verstreut dalagen. Ich spürte die Hitze des großen Feuers. Entsetzen überfiel mich und raubte mir den Atem.

Ich dachte an meine Tochter und wollte nicht sterben.

Immer mehr Brocken regneten vom Himmel. Einige davon waren klein wie Kiesel, aber andere so groß, dass sie einem das Genick brechen konnten. Der Wachmann und ich zogen den Kopf ein und versuchten unsere Augen zu schützen.

Der Himmel fiel auf die Lebenden und die Toten herab – die großen Betonklumpen brachten noch mehr Staubwolken mit, als wäre der Himmel selbst daraus gemacht und nun für immer zertrümmert worden.

Etwas traf mich an der Schulter. Ich spürte nichts, aber die Schmerzen in meinem rechten Knie waren so heftig, dass ich die Zähne zusammenbiss, bis mir die Kiefer wehtaten.

Ich nahm die linke Hand des Wachmanns und führte sie zu den T-Shirt-Fetzen auf seiner Wunde. Er streckte den Armstumpf noch immer in die Höhe. Er machte seine Sache gut.

»Sie schaffen das«, sagte ich zu ihm. »Ich hole Hilfe.«

Ich stand auf und wollte langsam in die Richtung gehen, aus der die Sirenen kamen. Nur tat mein rechtes Knie nicht mehr, was es tun sollte.

Es gab unter mir nach, und unversehens lag ich wieder auf dem Boden.

Ich erhob mich vorsichtig wieder und ging weiter. Ich verlagerte mein Gewicht auf das linke Bein und versuchte, die rechte Seite so wenig wie möglich zu belasten.

Ich spürte die Hitze der Feuersbrunst und roch ihren Gestank.

Kerosin?

Aber ein ganzer Ozean von dem Zeug, der lichterloh brannte – das ergab keinen Sinn. Wo sollte so viel Kerosin herkommen?

Ein Mann in einem Businessanzug ging vorbei. Er trug eine Tüte aus dem Apple-Store, und jeder Zoll von ihm war von dem grauen Staub bedeckt, der die heiße, übelriechende Luft sättigte. Ich spuckte aus und atmete tief durch. Die sengende Luft brannte mir in der Lunge.

Das Feuer kam näher.

Beweg dich oder stirb.

Von dem, was vom Dach des Untergeschosses noch übrig war, hing eine lebensgroße Marionette. Mit dem Stuhl der Marionette waren lange, dicke Streifen aus Gurtband verbunden. Sie hielten ihn an der Decke, als warteten sie auf die Hand eines Riesen, die ihn in Bewegung setzen sollte. Die Marionette war mir so nahe, dass ich den Ausdruck in ihrem unversehrten Gesicht erkennen konnte.

Mir wurde klar, dass sie ein Mann gewesen war. Der Mann war ein Pilot gewesen. Und irgendein unglaublicher Zufall hatte verhindert, dass er in tausend Stücke zerfetzt wurde, nachdem er vom Himmel fiel.

Ich hatte gehört, dass so etwas geschehen könne, und es nie geglaubt.

Jetzt glaubte ich es.

Und endlich verstand ich.

Der eklige, durchdringende Geruch war Jet A-1.

Flugbenzin.

Beweg dich oder stirb!

»Verzeihen Sie«, sprach mich eine ältere Dame an. Ihre Höflichkeit in dieser neuen Welt zerriss mir das Herz. »Bitte bleiben Sie bei uns.«

Sie saß auf dem Boden und stützte den Kopf eines Mannes in ihrem Alter auf dem Schoß, der aussah, als wäre er dem Tod nahe. Ich kniete mich neben sie und keuchte auf von dem Schmerz, der mich von meinem Knie ausgehend durchschoss. In dem Moment, in dem ich ihre Hand nahm, erblickte ich, was diese neue Welt hatte entstehen lassen.

»Eine Bombe«, sagte die Dame.

»Zu groß für eine Bombe«, erwiderte ich. »Ein Hubschrauberabsturz.«

Durch den Rauch und den Staub und die halbdunklen Ruinen erkannte ich einen zerschmetterten und zerfetzten Rettungshelikopter. Sein Cockpit war ein Gewirr aus zerknittertem rotlackiertem Aluminium, Stahl und Glasscherben. Die vier Rotorblätter waren verbogen und verdreht, aber trotzdem aus irgendeinem Grund nicht abgebrochen.

Er sah aus wie ein riesiges Insekt, das ein übellauniger Gott erschlagen hatte.

Hinter dem Hubschrauberwrack zog sich ein Pfad der Verwüstung, der sich in alle Unendlichkeit zu erstrecken schien. Eine zerschmetterte, brennende, verbogene, verworrene Masse aus Stahl, Glas und Beton, Fleisch, Blut und Knochen, menschlichen Leibern und Baustoffen. Alles zermalmt.

Aber jetzt sah man neue Lichter, blitzende rote und blaue Lichter. Die ersten Rettungskräfte.

»Ich hole Hilfe«, versprach ich.

Ich ließ das ältere Paar zurück und ging weiter in Richtung der roten und blauen Blitze. Mein Knie gab wieder nach. Ich stürzte und knallte mit dem Gesicht in die Trümmer des Einkaufszentrums.

Ich rappelte mich auf und suchte mir sehr vorsichtig meinen Weg, damit ich nicht auf die Menschen trat, die überall lagen. Ich bewegte mich langsam, um mein verletztes Knie zu schonen, fast als müsste ich alles, von dem ich geglaubt hatte, ich wüsste es, von Neuem lernen.

Als die Tränen mir den Staub aus den Augen geschwemmt hatten, erblickte ich die neue Welt klar und deutlich.

Ich sah die Männer und Frauen, die mit den roten und blauen Lichtern der Rettungskräfte gekommen waren.

Ich sah die Spur der Verwüstung, die der abgestürzte Helikopter zurückgelassen hatte.

Die Wut schnürte mir die Kehle zu, als ich die Verletzten sah – dieser sanfte kleine Euphemismus, mit dem man Menschen bezeichnet, die von entsetzlichen Wunden entstellt sind, Wunden, die niemals heilen würden, nicht in diesem Leben.

Ich wischte mir die Augen mit den Handrücken ab, holte Luft und taumelte vor zu dem Rot und Blau unserer Lichter.

2

Eine Stunde vor Sonnenaufgang stand ich neben dem niedrigen Podium und schwitzte in meiner stichfesten Kevlarjacke, obwohl es noch kalt war. Sieben Tage lag es zurück, dass der Rettungshubschrauber im Einkaufszentrum Lake Meadows aufgeschlagen war, und in meinem rechten Knie pochten nach wie vor heftige Schmerzen.

Dutzende Unschuldiger waren ums Leben gekommen; aktuell wussten wir von vierundvierzig Todesopfern. Die Rettungsdienste durchwühlten weiterhin die Absturzstelle, und mit jedem Tag stieg die Zahl an. Noch konnte niemand genau sagen, wie viele Menschen dort gestorben waren, und ich vermutete, dass wir es nie mit absoluter Sicherheit erfahren würden.

Das Podium, neben dem ich stand, befand sich im Besprechungsraum der Leman Street Police Station in Whitechapel, und ich spürte, dass ich mich an einem geschichtsträchtigen Ort befand. Von diesem Revier aus hatten Mordermittler Jack the Ripper gejagt. Heute ist es die Basis vom SC&O19, des Specialist Firearms Command der Metropolitan Police – der einzigen Abteilung in der Londoner Polizei, die permanent Schusswaffen mit sich führt.

Der Besprechungsraum war voll.

Reihen von Specialist Firearms Officers in grauen Schutzwesten über kurzärmeligen blauen Uniformhemden hörten konzentriert dem jungen weiblichen Sergeant auf dem Podium zu. Auf dem Podium gab es ein Rednerpult, aber sie stand daneben, groß, sportlich und liebenswert, und ich fand sie zu jung, um Sergeant in irgendeinem Teil der Met zu sein, ganz zu schweigen beim SC&O19.

Specialist Firearms Officer Detective Sergeant Alice Stone klang viel entspannter, als sie es sein durfte.

Hinter ihr zeigte ein großer Bildschirm das Foto eines dreistöckigen Gebäudes.

Das kleine, ordentliche viktorianische Reihenhaus stand in der Borodino Street, London E1. Seine Erkerfenster waren mit Tüllgardinen verhängt. Nur eine Postleitzahl entfernt. Wir glaubten, dass in dem Haus die Männer wohnten, die den Rettungshubschrauber zum Absturz gebracht hatten.

Die junge Sergeantin berührte das iPad, das sie in der Hand hielt, und Grundrisse erschienen auf dem großen Schirm. Sie begann, über die MOE – die Methode des Eindringens – am heutigen Morgen zu sprechen, und ich merkte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief.

Vom Gewicht der Kevlarjacke kam das nicht.

Irgendjemand muss immer als Erster hinein, dachte ich. Nach stundenlanger Observierung, Auswertung der Erkenntnisse und Einweisung muss immer jemand als Erster eine verschlossene Tür aufbrechen und ins Unbekannte vorstoßen.

»Das Zugriffsteam der Operation Tolstoy knackt die Vordertür des Zielgebäudes mit Hatton-Geschossen«, sagte DS Stone. Ihre Stimme klang ruhig und klassenlos, aber ich bemerkte in ihrer Redeweise die Andeutung einer wohlhabenden Ecke der Home Counties. »Unmittelbar vor dem Zugriff werden zur Ablenkung Blendgranaten eingesetzt.« Sie schwieg kurz. »Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass es sich bei den Männern im Haus um bewaffnete Fanatiker handelt, die begeistert den Märtyrertod auf sich nehmen. Sobald wir im Gebäude sind, befinden wir uns daher im CQC.«

CQC bedeutet Close Quarters Combat, Nahkampf, bei dem man sich gegenseitig sichert, während man durch Räume und Korridore vorstößt, bis alle Personen im Haus überwältigt und unter Kontrolle sind. Viele SFOs sind entweder militärisch ausgebildet oder mit Waffen aufgewachsen. In ihren Familien ist es üblich, auf schlammigen Feldern zu jagen.

Ich fragte mich, was bei der jungen DS Stone der Fall war.

Sie lächelte. Sie hatte ein schönes Lächeln, breit, weiß und aufrichtig. Das Problem mit den meisten fröhlichen Mienen ist, dass sie nicht echt sind. DS Stones Lächeln schon.

»Und hinterher gehen wir alle frühstücken«, sagte sie. »Ich gebe einen aus.«

Der Raum voller SFOs in grauen Panzerwesten grinste mit ihr.

Noch lächelnd wandte sie sich zur Seite.

»DC Wolfe? Sie können loslegen.«

Ich stieg die wenigen Stufen zum Podium hoch, schüttelte ihr die Hand und stellte mich ans Rednerpult, wo mein Laptop schon auf mich wartete.

»DC Wolfe vom West End Central wird den Hintergrund des heutigen Ziels erläutern«, sagte DS Stone zu ihren Kollegen.

Sie trat einen Schritt zurück und übergab mir das Wort.

»Wie Sie wissen«, sagte ich, »haben wir ursprünglich angenommen, dass der Rettungshubschrauber mit einer Art Boden-Luft-Rakete abgeschossen worden ist. Die Auswertung in der Nacht nach dem Vorfall hat jedoch ergeben, dass ihn ein UAV zum Absturz gebracht hat, ein Unmanned Aerial Vehicle – ein unbemanntes Fluggerät.« Ich schwieg kurz. »Eine Drohne.« Nur einen Moment lang schmeckte ich wieder den Staub im Mund. »Drohnen dürfen in Höhen von bis zu vierhundert Fuß geflogen werden«, sagte ich. »Die Drohne, die den Hubschrauber zu Fall brachte, flog knapp unter fünftausend Fuß, als sie mit dem Helikopter zusammenprallte. Eine Meile hoch. Über den Wolken und direkt über dem Einkaufszentrum Lake Meadows.« Ich schwieg kurz und rief mir ins Gedächtnis, weshalb wir heute hier waren. »Bisher vierundvierzig Tote, darunter eine Hubschrauberbesatzung, die ihr Leben der Rettung fremder Menschen verschrieben hatte. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Für die Täter muss Lake Meadows ein Glückstreffer sein. Der Hubschrauber hätte auch in einen Acker stürzen können. Aber er schlug in ein Einkaufszentrum im Westen von London ein.« Ich holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »UAVs brauchen nicht angemeldet zu werden, und ihre Eigentümer stehen in keiner Datenbank. Die Ermittlungen des Counter Terrorism Command haben jedoch ergeben, dass die Drohne einem dieser Männer gehört hat.«

Ich berührte meinen Laptop, und auf dem Schirm hinter mir erschienen zwei Gesichter, die Passfotos zweier junger Männer, die sich in Alter und Aussehen so sehr ähnelten, dass sie Zwillinge hätten sein können.

»Asad und Adnan Khan«, sagte ich. »Sechsundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alt. Syrienrückkehrer. Militärisch ausgebildet und gefechtserfahren. Vor achtzehn Monaten sind sie nach Großbritannien zurückgekehrt. Im ersten Jahr standen sie unter Beobachtung, aber weil sie sich nichts zuschulden kommen ließen, wurden die Observierungen eingestellt und die Beamten anderweitig eingesetzt. Wir glauben jetzt zu wissen, weshalb sie sich bedeckt hielten.«

Ich drückte eine Taste, und ein Dutzend Rechnungen für Drohnen erschienen auf dem Schirm. Keine zwei stammten aus dem gleichen Onlineshop, aber auf allen stand entweder Asad oder Adnan Khans Name.

»Am Flughafen Heathrow hat es im vergangenen Jahr eine Reihe von Beinahezusammenstößen gegeben«, fuhr ich fort. »Drohnen verfehlten knapp Flugzeuge und Hubschrauber beim Start oder bei der Landung. Angenommen wurde immer, dass irgendwelche Schwachköpfe die Kontrolle über ihr neues Spielzeug verloren hätten. Bis jetzt.«

Das Licht des Bildschirms beleuchtete die Gesichter der SFOs. Während sie die Fotos der Khan-Brüder musterten, erkannte ich zu meinem Erstaunen einen der Beamten. Ich war mit ihm zusammen aufgewachsen.

Jackson Rose.

Ich hatte ihn immer fast als Bruder betrachtet, aber heute trennte uns, wie es vielen Kindheitsfreunden ergeht, eine unauslotbare Distanz. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er in die Metropolitan Police eingetreten war. Als ich ihm vor einiger Zeit wiederbegegnet war, hatte er – wie so viele andere Exsoldaten – auf der Straße gelebt. Eine Weile war er bei mir untergekommen, aber es hatte nicht funktioniert. Er gönnte mir keinen Blick, sondern starrte unverwandt die Gesichter der Khan-Brüder hinter mir an.

Ich drückte wieder die Taste.

Ein Männergesicht erschien, ein Foto mit leerem Blick, das von einem Führerschein stammte.

»Ahmed Khan – bekannt als Arnold – ist der Vater von Asad und Adnan Khan. Mr Khan hat seit Jahren das Haus in der Borodino Street gemietet. Er hat dort seine Kinder großgezogen. Er ist neunundfünfzig und sieht älter aus. Unsere Observierungen und Ermittlungen deuten darauf hin, dass Mr Khan keine Person von Interesse für uns ist.« Ich drehte mich um und sah sein Bild an. »Über dreißig Jahre lang hat er als Busfahrer gearbeitet. Ebenfalls im Gebäude sind seine Frau, Azza Khan, sechzig, und Layla, die sechzehnjährige Tochter eines dritten Sohnes namens Aakil. Er war der Älteste und hat bei den Kämpfen um Aleppo sein Leben verloren.« Zwei weitere Gesichter: eine stämmige, ernste Frau mit einem Hidschab und ein lächelndes Mädchen im Teenageralter auf einem Schulporträt. »Wie Mr Khan sind Mrs Khan und Layla Khan keine Personen von Interesse. Sie haben, was die Sicherheitsdienste als unschuldige Kontakte mit unseren Zielpersonen bezeichnen. Laylas Mutter – Aakils Frau – ist vor zehn Jahren an Krebs gestorben. Soweit wir wissen, wurde Layla von ihren Großeltern aufgezogen.«

Im Raum kam Unruhe auf. Unser Job wird stets komplizierter, wenn unter einem Dach mit den Schuldigen auch Unschuldige wohnen.

DS Stone trat neben mich. »Fragen?«

Mehrere SFOs hoben die Hand. Stone nickte einem von ihnen zu.

»Wenn da drin mehr Unbeteiligte sind als Tatverdächtige, wieso gehen wir dann mit solch einem Aufgebot rein, Boss?«

»Entscheidung der DSO«, antwortete Stone. »Und meiner Ansicht konnte sie gar keine andere Entscheidung treffen.«

DSO bedeutet Designated Senior Officer und bezeichnet den Polizeibeamten oder die Polizeibeamtin, der oder die letztlich die Verantwortung für die operativen Entscheidungen trägt. An diesem Morgen war das Detective Chief Superintendent Elizabeth Swire, die von New Scotland Yard aus den Zugriff überwachte.

»Asad und Adnan Khan werden kaum Spielraum für Verhandlungen lassen«, verkündete Stone.

Sie blickte mich an.

»Und jetzt die schlechte Nachricht.« Sie lächelte nicht mehr.

Ich drückte die Taste, und auf dem Schirm erschienen zwei Handgranaten.

Sie sahen aus wie der Tod – schwarze Eier mit geriffelter Oberfläche, einem goldfarbenen Schalthebel und einem Zugring am Sicherungsstift, der an einen Schlüsselring erinnerte. Auf der Seite konnte man deutlich den Namen des Herstellers lesen: Cetinka.

»Dieses Fabrikat einer kroatischen Handgranate sollte vor zwanzig Jahren, als der Balkankonflikt zu Ende war, ausgemustert werden«, sagte ich. »Diese beiden Exemplare wurden jedoch vor zwei Tagen in der Asservatenkammer des West End Central fotografiert.«

Einen Moment lang ließ ich meine Worte wirken.

»Wie es mit ausgemustertem Kriegsmaterial so oft der Fall ist, wurde eine unbekannte Anzahl dieser Handgranaten niemals zerstört, sondern gestohlen, zwischengelagert und verkauft. Einige von ihnen haben den Weg über den Balkan auf unsere Straßen gefunden. Vor drei Tagen erfuhren Detectives des Homicide and Serious Crime Command im West End Central von einem Informanten, dass ein bekannter Waffenschieber zwei Exemplare an zwei Brüder aus Ostlondon verkauft hat. Aufgrund der Personenbeschreibungen und der Aufnahmen der Überwachungskameras müssen wir davon ausgehen, dass Asad und Adnan Khan diese Käufer gewesen sind.«

Im Raum war es mucksmäuschenstill geworden.

»Deshalb gehen wir mit der gebotenen Härte vor«, sagte DS Stone. »Wir graben sie aus. Wir ergreifen und überwältigen sie, ehe sie kapieren, wie ihnen geschieht. Und dann nehmen wir die wichtigste Mahlzeit des Tages zu uns. Das Einzige, worüber Sie sich dann noch Gedanken machen müssen, ist Ihr Cholesterinspiegel.«

Sie grinsten sie wieder an.

Bei Jackson Rose sah ich die Lücke zwischen den Vorderzähnen, die mir so vertraut war. Jetzt blickte er mich an und nickte.

»Wenn es keine weiteren Fragen gibt, dann machen wir uns ans Werk«, sagte DS Stone. »Ich führe das Zugriffsteam. Wir passieren nur einmal.« Damit meinte sie, dass das Einsatzfahrzeug nur einmal an der Zieladresse vorbeifahren würde, ehe der Zugriff erfolgte. »DC Wolfe begleitet uns zur Zielidentifizierung. Also passt gut auf einander auf da draußen.«

Sie applaudierten ihr alle. Sie fanden sie großartig.

Als ich vom Podium stieg, kam Jackson auf mich zu. »Was ist mit deinem Bein? Du gehst so komisch.«

»Hab mich gestoßen«, sagte ich. »Du trittst in die Met ein und vergisst es mir zu sagen?«

Mir war bewusst, dass wir klangen wie ein altes Ehepaar.

»Das wollte ich noch«, sagte er. »Wir unterhalten uns beim Frühstück.«

Er drückte mich kurz, Kevlar presste sich an Kevlar, dann folgte er seinen Kollegen in die Waffenkammer. Dort nahmen sie ihre Schusswaffen in Empfang und schrieben ihre Namen auf Quittungen, während ihre Ausrüstung ihnen aus dem massigen Maschendrahtkäfig angereicht wurde.

Sie erhielten Glock-17-Pistolen, Sturmgewehre Modell SIG Sauer MCX – die Schwarze Mamba, kurz und superleicht, ideal für den Nahkampf in beengter Umgebung – und M26-Taser.

Einer von ihnen unterzeichnete für eine Flinte – die Benelli M3 Super 90, die uns als Haustürschlüssel dienen würde. Der SFO, der die an sich nahm, versuchte mit einem flaumigen Bart die Aknespuren in seinem jugendlichen Gesicht zu verdecken. Er starrte mich an, ohne zu lächeln.

»Auf geht’s, Jesse«, sagte Jackson zu ihm.

DS Stone unterschrieb für ihre Waffen, und wir gingen hinunter in die Tiefgarage, wo eine Kolonne aus Armed Response Vehicles und zivilen Transportern mit laufenden Motoren wartete.

»Das ist unserer.« Sie zeigte auf den weißen Lieferwagen eines Blumengeschäfts. Jackson und der junge Mann mit dem Bartversuch und der Flinte gehörten zu denen, die in den Laderaum stiegen. Auf der Seitenwand stand ein ausgebleichter Schriftzug.

»Betörende« Blüten aus Barking

DS Stone lachte. Sie war wirklich unnatürlich gelassen.

In einer Hand hielt sie zwei PASGT-Helme. Einen der Schutzhelme aus Kevlar, die als Personnel Armor System for Ground Troops zuerst bei der US Army eingeführt worden waren, reichte sie mir. Ich nahm ihn und setzte ihn auf.

»Ich liebe ja die Anführungszeichen um ›betörende‹«, sagte sie. »Warum machen die so was?«

Sie bemerkte, dass ich nicht lachte.

»Was ist denn, Detective?«, fragte sie.

Ich schloss den Riemen des Kampfhelms und schüttelte den Kopf. »Wir benutzen einen Blumenhändlerwagen für das Zugriffsteam? Wenn ich es richtig verstanden habe, ist die Borodino Street eine sehr fromme und arme Gegend. Ich frage mich, wie viele teure Blumensträuße da jeden Tag so ausgeliefert werden.« Ich zeigte auf den Transporter. »Von Betörende Blüten aus Barking oder sonst wem.«

Die Tiefgarage lag unter dem Polizeirevier Leman Street, aber man sah, wie das erste Licht eines schönen Sommertages zum Eingang hereinfiel.

DS Stone lachte nicht mehr. Ich sah zu, wie sie den Helm aufsetzte. Sie ließ die Schultern kreisen, damit ihre Panzerweste bequemer saß, und hielt ihr Sturmgewehr im 45-Grad-Winkel vor der Brust, die Mündung zum Boden gerichtet. Die Tiefgarage füllte sich mit den Abgasen der vielen Fahrzeuge. Sie lächelte mir zu, und das Lächeln ließ mich denken, dass ich beim Frühstück gern neben ihr sitzen würde.

»Wir sind da rein und wieder raus, ehe sich jemand fragen kann, wo die Rosen sind«, sagte sie. »Okay, Max?«

Aber so kam es dann nicht.

3

Im Laderaum des Blumentransporters roch es nach altem Schweiß und frischem Waffenöl.

Die SFOs, die sich darin drängten, waren in dem engen Raum zu Hause. Wir nennen sie ein Tactial Support Team. Sie nennen sich Schützen. Ich nahm an, diese Schützen benutzten diesen Mannschaftstransporter nicht zum ersten Mal.

DS Alice Stone stand an den Hecktüren und verlagerte geschickt immer wieder ihr Gewicht, während wir durch die leeren Straßen rasten. Die anderen neun SFOs ihres Teams saßen einander auf niedrigen Bänken gegenüber; die meisten von ihnen prüften ein letztes Mal Waffen und Ausrüstung. Jackson Rose saß ganz ruhig da und starrte fast meditativ ins Leere. Der junge SFO mit dem Bartflaum – Jesse Tibbs stand auf seinem Namensschild – rückte die Flinte zurecht, die er sich zwischen die Beine geklemmt hatte. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, sah er mich warnend an. Vorn im Transporter waren der Fahrer und auf dem Beifahrersitz ein Mann, der sich um den Funkverkehr kümmerte. Beide trugen Zivilkleidung.

»Fünf Minuten«, rief der Fahrer über seine Schulter.

DS Stone sprach in das Funkgerät, das an ihrem linken Revers befestigt war.

»An alle, hier Rot-Eins – Zugriffsteam trifft in fünf Minuten ein.« Sie erhob die Stimme, um durch den Motorenlärm hörbar zu sein, aber sie blieb professionell gelassen.

Fünf Minuten brauchte man von der Leman Street zur Zieladresse in der Borodino Street, einer ruhigen Wohnstraße nicht weit vom Victoria Park.

Ich kauerte unweit von den Hecktüren vor einem Monitor, der Livebilder von der verborgenen Kamera im Dach des Mannschaftstransporters anzeigte. Die Darstellung war schwarz-weiß und in neun Bildfelder unterteilt, die eine Rundumsicht nach außen erlaubten. Außerdem waren in beide Seitenwände des Fahrzeugs zwei Gucklöcher gebohrt.

Wir hatten noch keine fünf Uhr morgens. Eine Stunde bis Sonnenaufgang. Die Stadt war in das Zwielicht getaucht, das dem echten Tagesanbruch vorangeht.

Die Straßen sahen leer aus. Der ständige Funkverkehr aus der Führerkabine des Transporters erzählte allerdings eine andere Geschichte.

Auf den Straßen wimmelte es von unseren Leuten.

Der Funkdispatcher auf dem Beifahrersitz kommunizierte ununterbrochen. Auf dem Monitor sah ich eine Reihe von Armed Response Vehicles, die direkt vor der Leman Street parkten, und als wir uns der Zieladresse näherten, entdeckte ich Mannschaftstransporter mit Streifenpolizisten in Schutzausrüstung. Ihre neben den Fahrzeugen gestapelten Schilde erinnerten an ein mittelalterliches Heer; neben ihnen parkten die kleinen Vans der Hundeführer mit Schusswaffen- und Sprengstoffspürhunden.

Dazu kamen Krankenwagen. Wir passierten eine ganze Kolonne von Krankenwagen, die an einer aufgelassenen Tankstelle auf die Katastrophe warteten.

Je näher wir der Borodino Street kamen, desto mehr Undercover-Observierungsbeamte waren auf Beobachtungsposten über die Umgebung verteilt – mir fielen ein Zelt von British Gas und zwei Kastenwagen der Wasserwerke auf, die nichts mit Gas und Wasser zu tun hatten.

Ein Ersatz-Team wartete in Bereitschaft, ein Tactial Support Team aus Schützen, die einen Häuserblock von der Zieladresse entfernt parkten. Nur eine Straße entfernt stand ein gepanzerter Land Rover in der zweiten Reihe; sein großer Dieselmotor schnurrte im Leerlauf. Ein Hubschrauber schwirrte am milchigen Himmel des frühen Morgens.

In der Borodino Street selbst kauerten dunkle Schatten auf den Hausdächern – die Scharfschützen in ihren erhöhten Positionen. Ihre G36C-Karabiner hoben sich wie schwarze Streichhölzer gegen den langsam wandernden Himmel ab.

»Hier geht’s ja zu wie auf dem Piccadilly Circus!«, rief Stone, und das Team lachte in wilder Erleichterung.

Wir waren eine Armee.

Aber jemand muss als Erster hineingehen.

»Alles okay, Raymond?«, fragte DS Stone.

Sie sprach mit dem Schützen, der zwischen Jackson Rose und Jesse Tibbs mit seiner Flinte saß. Dieser Raymond nickte allzu schnell, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß, als er seine Waffe ein weiteres Mal checkte. Er wirkte überragend fit, aber älter als die anderen Schützen, als hätte er ein anderes Leben gelebt, bevor er dieses begann. Ich überlegte, ob auch er ein Militärveteran war.

»Einmal passieren«, sagte DS Stone zum Fahrer.

»Verstanden, Ma’am«, antwortete er.

Wir bogen in die Borodino Street ein.

DS Stone kauerte neben mir und hielt sich mit einer Hand an meiner Schulter fest, während sie auf den Monitor starrte.

Der Transporter des Blumenhändlers fuhr am Zielobjekt vorbei, ohne langsamer zu werden.

Ein Bild aus neun zeigte die Vorderseite des Hauses.

Kein Anzeichen von Bewegung.

Ich sah Stone die heftige Anspannung an, als sie aufstand und an die Hecktür gelehnt einen raschen Blick durch das Guckloch warf.

Eine Frauenstimme drang aus dem Funkgerät an ihrem Kragen. Sie gehörte DCS Elizabeth Squire, die von New Scotland Yard aus den Einsatz leitete. Unvermittelt verstummte auf dem Funkkanal sämtliches andere Gerede.

»Rot-Eins, Situationsbericht bitte«, sagte DCS Swire.

»Keine Bewegung an der Zieladresse, Ma’am«, antwortete Stone. »Rot-Eins erbittet Erlaubnis für Zugriff.«

Schweigen. Wir warteten. Sämtliche Schützen starrten ihre Teamführerin an.

»Rot-Eins erwartet Anweisung«, sagte DS Stone gelassen.

»Erlaubnis erteilt«, kam die Antwort. »Beginnen Sie den Zugriff.«

Stone nickte ihrem Team zu. »Wir gehen rein. Bereithalten.«

Der Transporter war am Ende der Straße nach rechts abgebogen. Er fuhr eine weitere Rechtskurve und bog abermals rechts ab.

Niemand prüfte jetzt noch seine Ausrüstung. Alles wartete, die Augen auf der Teamführerin. Stone hob ihr Sturmgewehr. Ich starrte auf den Monitor und merkte, dass ich nicht mehr blinzelte. Der Monitor verriet mir gar nichts.

»An alle: Zugriffsteam ist in Position«, sagte DS Stone über mir.

Aller Blicke ruhten auf ihr. Der Transporter bremste ab, aber er hielt nicht ganz an.

»Denken Sie an Ihre Ausbildung. Achten Sie aufeinander, und passen Sie wegen der Handgranaten auf«, sagte Stone.

Sie drückte ihr MCX an die Brust.

»Auf meinen Befehl.«

Einen Augenblick lang atmete keiner von uns.

»Los!«, sagte Stone. »Los! Los! Los!«

»Halt!«, rief ich.

Die Haustür öffnete sich.

Sehr langsam.

Wer immer das Haus verlassen wollte, ließ sich Zeit.

DS Stone kniete neben mir.

»Jemand kommt raus«, sagte sie in ihr Funkgerät.

Ein Herzschlag.

Unser Transporter kroch nur noch.

»Identifizieren und festsetzen«, sagte DCS Swire.

Eine hochgewachsene Frau in einem schwarzen Tschador und Nikab vor dem Gesicht schlurfte aus dem Haus. Sie rückte das Kopftuch zurecht, als sie auf die Straße trat. Nur ihre Augen waren über dem Schleier zu sehen.

»Ist das Mrs Khan?«, fragte DS Stone.

Ich starrte angestrengt auf den Monitor. Die Fotos von Mrs Azza Khan, die ich kannte, zeigten eine kräftige Frau mit grimmigem Gesicht. Das Gesicht der Person, die das Haus verließ, konnte ich nicht erkennen, aber sie hatte Füße wie Landungsboote. Und diese Füße steckten in Stiefeln von Doc Martens.

»Das ist ein Mann«, sagte ich.

DS Stone öffnete die Hecktüren des Transporters und sprang aus dem Laderaum.

»Halt! Polizei! Stehen bleiben! Zeigen Sie mir Ihre Hände!«

Die Gestalt im Tschador zog die Hände aus dem wogenden Gewand. In den Händen hielt sie ein Sturmgewehr.

Und sie schoss DS Alice Stone in den Kopf.

Die SFOs brüllten alle das Gleiche, als sie aus dem Mannschaftstransporter stürmten.

»Schussabgabe! Kollege am Boden!«

»Schussabgabe! Kollege am Boden!«

»Schussabgabe! Kollege am Boden!«

Ein Feuerstoß zerriss die Stille des Morgens endgültig.

Alle Schusswaffen, die von der Metropolitan Police eingesetzt werden, sind so eingestellt, dass sie nur halbautomatisch feuern, das heißt, jede Betätigung des Abzugs löst nur einen einzigen Schuss aus. Später muss dieser Schuss vor Menschen gerechtfertigt werden, die noch nie gehört haben, wie mit Tötungsabsicht gefeuert wurde, es sei denn bei der Moorhuhnjagd.

Der ungebremste Ausstoß von vollautomatischem Feuer, den die Gestalt im Tschador abgab, war nicht nur ohrenbetäubend.

Er ließ das Blut gefrieren und alarmierte sämtliche Sinne.

Denn Polizeischüsse klingen niemals so.

Nur die Schüsse des Feindes.

Die letzten Schützen eilten an mir vorbei, dann stieg auch ich aus dem Laderaum des Transporters.

»Halt! Polizei! Keine Bewegung!«

»Halt! Pol…«

Einer der Schützen prallte so heftig gegen mich, dass ich vom Gehsteig in den Rinnstein stolperte und beinahe stürzte. Ich sah auf. Der Nikab war vom Gesicht gerutscht, und ich blickte in das bärtige Gesicht von Asad Khan, dem älteren der beiden Brüder.

Er hob sein Sturmgewehr, ein fünfzig Jahre altes Heckler & Koch G3. Er richtete es auf den nächststehenden SFO und drückte ab. Nichts geschah. Er starrte auf seine altersschwache Waffe. Menschen schrien. Ich sah nach unten. Der leblose Körper von DS Alice Stone lag zusammengekrümmt halb auf dem Gehsteig, halb auf der Fahrbahn. Ein Heiligenschein aus Blut breitete sich um ihren PASGT-Helm aus.

Khan beseitigte die Ladehemmung und feuerte erneut.

Diesmal peitschten die Schüsse, klingelten einem in den Ohren und verhießen den Tod. Der Feuerstoß schlug ratternd in die Seitenwand unseres Transporters neben mir. Als ich hinsah, hatten die Kugeln über dem legendären »Betörende« Blüten aus Barking ein wildes Tattoo ins Blech gestanzt.

»Bewaffnete Polizei!«, rief Jackson. »Lassen Sie die Waffe fallen und zeigen Sie mir Ihre Hände!«

Ich sah hoch. Jackson Rose richtete sein SIG Sauer MCX auf Asad Khan.

Der Mann im Tschador hielt sein Gewehr fast beiläufig auf der Seite, als hätte er sich den Arm verletzt oder könnte nicht fassen, was vor sich ging.

Er hob das G3 wieder, und Jackson schoss auf ihn.

SFOs sind ausgebildet, auf das Massenzentrum zu zielen – den größten Teil des Körpers, den Oberkörper, das Zentrum der Brust, das größte Ziel. Sie sind nicht zum Töten ausgebildet. Sie sind ausgebildet, ihr Ziel zu treffen. Jacksons Einzelschuss warf sein Ziel nach hinten, beleuchtet vom gelben Mündungsblitz.

Das alte Sturmgewehr klapperte neben Asad Khan in den Rinnstein.

»Verdächtiger am Boden!«, rief jemand.

Zwei SFOs knieten neben ihrer Kollegin. DS Stones Blut schimmerte auf den grauen Beinschienen ihrer Schutzwesten.

Jackson trat zwei Schritte vor und beugte sich über Asad Khan.

Ich rief seinen Namen. »Jackson!«

Und Jackson schoss erneut auf ihn.

Noch ein Mündungsblitz.

Gelassen sah er mich an.

Die Haustür stand offen, und SFOs stürmten hinein.

»Polizei!«

»Polizei!«

»Polizei!«

Jackson drängte sich an mir vorbei, den Mund vor Wut verzerrt.

»Sollen sie das doch in ihren Bericht schreiben«, sagte er.

Ein Krankenwagen schoss bereits mit blitzendem Blaulicht und heulender Sirene die Straße hoch.

Ein weiblicher SFO kauerte neben Asad Khan und versuchte, den Blutfluss an seiner Brust zu stoppen. Sie versuchen uns zu töten, und wir schießen sie nieder, aber dann versuchen wir, ihnen das Leben zu retten.

Das ist unser Job, dachte ich.

Das ist es, was uns ausmacht.

Ich sah DS Alice Stone ins Gesicht, und mir schnürte es die Kehle zu.

Die beiden SFOs neben ihr sprachen sie an, aber schockartig wurde mir klar, dass sie mit einer Toten redeten.

Und dann betrat ich das Haus.

Im engen Korridor erlosch sofort das Licht, und ich hörte SFOs im Dunkeln brüllen. Ich stieß mir mein schlimmes Knie an einem Kasten und krümmte mich vor Schmerzen zusammen. Ich begriff, dass im Flur eine dieser Lampen war, die automatisch ausgingen, die Sorte, wie man sie in billigen Wohnhäusern hat, wo jemand, der dort selbst nicht lebt, sich Gedanken um die Stromrechnung macht. Ich tastete an der Wand, fand den runden Schalter und schlug darauf. Das funzelige gelbe Licht ging wieder an, und ich konnte nicht begreifen, was ich da vor mir sah.

Der ganze schäbige enge Flur war voller Kisten.

Mit Drohnen.

Dutzenden Drohnen.

Einige Kartons waren noch zu. Andere waren ausgepackt, und die Flugmaschinen hatten Schmutzflecke, an denen Grashalme klebten; ihr Metall war von häufigen Bruchlandungen zerkratzt.

SFOs waren über mir im ersten und zweiten Stock.

Ich ging ans Ende des Korridors und öffnete die Küchentür.

Ein Kind schrie auf.

Schrill, hoch, voller Entsetzen.

Nein, es war kein Kind. Aber auch kein Erwachsener. Ein Teenager, ungefähr sechzehn Jahre alt, kauerte mit einem Mann und einer Frau um die sechzig neben dem Herd auf dem Boden. Die Frau und das Mädchen trugen einen Schlafanzug. Der Mann mit grauem, schütterem Haar hatte eine Uniform von London Transport an.

Zwei SFOs hielten sie mit ihren MCX-Sturmgewehren in Schach.

Die Menschen am Boden waren, begriff ich, Ahmed »Arnold« und Azza Khan, die Eltern der Brüder, und Layla, ihre Enkelin, die Töchter ihres ältesten Sohnes, der in Aleppo ums Leben gekommen war.

»Papa-Papa!«, schrie Layla in einem fort, und zuerst dachte ich, sie riefe nach ihrem toten Vater. »Papa-Papa! Papa-Papa!«

Sie wandte ihr verängstigtes Gesicht ihrem Großvater zu, und ich begriff, dass sie mit ihm sprach.

»Bitte töten Sie uns nicht!«, flehte Mrs Khan mich an und umklammerte ihre Enkeltochter. Beide schlossen die Augen.

Zu ihren Füßen lag ein Rucksack in Pink und Purpurrot. Auf der Seite stand Die zornige Prinzessin. Genau der gleiche Rucksack wie der, den ich im Einkaufszentrum hatte ersetzen wollen.

»Hören Sie mir gut zu«, sagte ich. »Sie sind jetzt in Sicherheit. Aber Sie müssen gehen – sofort.« Ich half ihnen auf. »Wenn Sie zur Haustür hinausgehen – das ist jetzt sehr wichtig –, halten Sie Ihre Hände mit den offenen Handflächen nach vorn über den Kopf.« Ich zeigte es ihnen. »So. Es ist sehr wichtig, dass man Ihre Handflächen sehen kann, okay? Dann wird Sie niemand verletzen.«

Sie gehorchten mir, während die SFOs reglos zusahen, nie den Blick von den dreien nahmen. Die Frau schnappte sich den Zornige-Prinzessin-Rucksack ihrer Enkelin und warf ihn sich über die Schulter.

Dann rannten sie los und streckten die Hände in die Luft, ehe sie die Küche verließen, die offenen Handflächen nach vorn, wie ich es ihnen gezeigt hatte.

Ich verließ die Küche. Mein Gleichgewicht litt unter dem, was die Schüsse draußen an meinem Innenohr angerichtet hatten, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass dem Eingang zur Küche eine Kellertür gegenüberlag. Am unteren Ende der Treppe war ein mattes Licht.

Ich ging die Stufen hinunter und rief dabei meinen Namen und meinen Rang.

Im Keller stand ein SFO mit angelegtem Sturmgewehr. Er war der Schütze, den DS Stone im Heck des Mannschaftstransporters angesprochen hatte.

Alles okay, Raymond?

Vor ihm kniete ein Mann.

Es war der andere Bruder, der jüngste. Adnan Khan reckte die Hände in die Luft. Ich blickte hin und erwartete, Handgranaten zu sehen, aber seine Hände waren leer. Der SFO warf mir einen kurzen Blick zu und richtete die Augen wieder auf den Knienden. Adnan Khan ergab sich.

Alles war wie erstarrt.

Wir warteten.

»Raymond?«, fragte ich. »Ray? Ist Ihnen Ray oder Raymond lieber?«

Er sah mich nicht an. Ich merkte aber, dass etwas in ihm reagierte, als ich seinen Namen aussprach.

»Wie lauten Ihr vollständiger Name und Ihr Dienstgrad, Officer?« Meine Stimme klang härter.

»Vann«, sagte er. »SFO DC Raymond Vann, Sir.«

Die Schützen waren ein Schemen aus grauer Panzerkleidung, PASGT-Helmen und Feuerkraft gewesen. Vor meinem inneren Auge hatten sie eine untrennbare, unteilbare Gruppe gebildet. Selbst Jackson Rose, mein ältester Freund, war wie ein Teil der Truppe von Brüder und Schwestern gewesen. Nur hatte ich gesehen, wie DS Stone diesen Mann speziell angesprochen hatte, um sich zu vergewissern, dass er für das, was kam, bereit war.

Alles okay, Raymond?

Doch jetzt zielte DC Raymond Vann mit seinem Sturmgewehr auf den Mann, der vor ihm kniete, und wirkte vollkommen verlassen und auf sich gestellt.

»Bitte«, sagte ich. »DC Vann. Raymond. Ray. Tun Sie es nicht.«

Aber er tat es.

Ein einziger Schuss.

In dem kleinen Kellerraum peitschte er so laut, dass er mir wie das Letzte vorkam, was ich je hören würde. Blendend grell zuckte der Mündungsblitz über die halbdunklen Kellerwände, und Adnan Khan wurde nach hinten geworfen. Blut schoss aus der tödlichen Wunde in seiner Brust.

Ich stolperte die schiefen Stufen der kurzen Kellertreppe hoch und stürzte durch den Korridor, in dem sich die Drohnenschachteln stapelten, bis zur Haustür. Ich stieß gegen die Wände, rannte weiter, wollte so weit vom Keller weg wie möglich. Draußen war es hell geworden. Der Tag hatte begonnen, während wir im Haus waren.

Der Schmerz in meinen Ohren war so intensiv, dass ich sie berührte und meine Fingerspitzen betrachtete; ich erwartete, Blut zu sehen. Aber da war nichts. Es fühlte sich nur so an, als müsste dort welches sein.

Ich taumelte aus dem Haus ins blendende Licht des neuen Tages. Beide Enden der Straße wurden schon abgesperrt. Der Hubschrauber klang viel lauter, als flöge er tiefer. Das zweite Zugriffsteam verließ das Heck seines Transporters und strömte in das Haus, dessen Bewohner alle tot oder geflohen waren.

Sanitäter legten DS Alice Stone in einen Leichensack. Wir nennen sie gar nicht Leichensäcke, sondern Human Remains Pouch – Sack für menschliche Überreste –, und sie sind auch nicht schwarz wie im Kino. Dieser HRP war weiß und hatte einen langen schwarzen Reißverschluss. Die Sanis hatten Alices Gesicht gesäubert, und sie sah wieder aus wie sie selbst. Junge Menschen sehen immer wie sie selbst aus, wenn sie fünfzig Jahre vor ihrer Zeit sterben. Zwei Sanitäter hoben sie in den Krankenwagen, so behutsam wie Eltern, die ihr eingeschlafenes Kind zu Bett bringen.

Ich hörte Funkstimmen und jemanden schluchzen.

Jackson saß mit trockenen Augen in der offenen Hecktür des Floristentransporters, die Waffe noch in den Händen. Ein Ausrüstungsbeamter hätte sie einsammeln sollen, aber es war noch zu früh und zu chaotisch, als dass schon formelle Prozeduren eingeleitet worden wären. Im Augenblick gab es nur den betäubten, ungläubigen Schock, der auf einen Schusswechsel folgt. Ich setzte mich neben ihn. Er nahm den Helm ab und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Dann klopfte er mir sanft auf den Rücken. Wir sprachen kein Wort.

Das Specialist Search Team war eingetroffen und wartete auf die Freigabe, die es brauchte, um das Haus auf den Kopf zu stellen. Keine Handgranaten, dachte ich. Noch nicht. Am anderen Ende der Straße sah ich die Kriminaltechniker, die in ihre weißen Tyvekanzüge stiegen und sich die blauen Nitrilhandschuhe überstreiften. Die ganze Bande ist da, dachte ich.

Unvermittelt stand ein höherer uniformierter Beamter vor Jackson und mir. Er brüllte und wedelte mit den Armen. Jackson sah weg und gähnte. Der Beamte hatte silbernes Haar, war in den Fünfzigern, und seine Schulterstücke zeigten die silbern-rote Krone eines Superintendents.

Ich starrte auf seine Lippen. Mein Gehör war noch immer weg, aber ich verstand seine Frage. Ich verstand, was er von uns wissen wollte. Und er stellte seine Frage immer wieder.

»Was zum Teufel ist hier geschehen?«

Ich blinzelte ihn an und gab keine Antwort.

Das Bild von dem Mündungsblitz im Keller war mir in die Netzhäute gebrannt.

Und dort würde es für immer bleiben.

4

Als ich eine Stunde später West End Central erreichte, scharte sich vor dem Revier eine Menge zusammen.

Unter der großen blauen Lampe vor Nummer 27 in der Savile Row stand ein junger Constable in Uniform und behielt die Leute im Auge. An seiner Jacke hing gleich über dem Abzeichen, auf dem METROPOLITAN POLICE stand, ein himmelblaues Band. Man sah diese Bänder überall. Sie erinnerten an die Opfer des Hubschrauberabsturzes. Normalerweise verbot die Dienstvorschrift strengstens jede Abänderung der Uniform.

Nur waren die Zeiten nicht normal.

Der junge Polizist nickte, als er mich erkannte, und trat beiseite, damit ich eintreten konnte.

Ich drehte mich um und betrachtete die Menge. Sie bestand aus Arbeitern von den Baustellen und Büroangestellten. Ob sie Bauhelme trugen oder gebügelte Anzüge, die meisten waren junge Männer. Die Stimmung war gedämpft. Sie tuschelten leise miteinander, aber ihre Zahl schien mit jeder Sekunde anzuwachsen.

»Was wollen die Leute denn?«, fragte ich den jungen Streifenpolizisten.

Er nickte zu den Glastüren des West End Central. »Sie haben einen von den Drohnendrecksäcken da drin eingesperrt, Sir.«

Ich starrte ihn an. »Aber ich habe eben gesehen, wie sie starben.«

Er zuckte mit den Schultern. »So habe ich es gehört, Sir.« Er zögerte und deutete auf die Menge. »Ich glaube, sie wollen auch der fünfundvierzig Toten gedenken. Die Menschen möchten trauern, aber sie wissen nicht, wo. Lake Meadows ist noch als Tatort abgesperrt.«

»Es waren vierundvierzig Tote.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie haben noch wen gefunden.« Tränen traten ihm in die Augen, und er kämpfte um seine Beherrschung. »Ein Kleinkind. Damit sind es jetzt fünfundvierzig.«

Ich berührte ihn leicht am Arm. »Kommen Sie klar, hier ganz allein?«

Er grinste. »Solange die so friedlich bleiben, Sir.«

Mit dem Aufzug fuhr ich ins oberste Stockwerk.

Edie Wren war allein im Major Incident Room 1.

»Hallo«, sagte sie und reichte mir einen dreifachen Espresso aus der Bar Italia, bevor sie sich wieder dem Großbildschirm zuwandte.

Wir blickten auf die Borodino Street, die von einem Nachrichtenhubschrauber gefilmt wurde. Die Straße war an beiden Enden abgesperrt. Die Scheinwerfer der Kriminaltechniker rings um das Haus strahlten heller als das Tageslicht. Überall sahen wir Teams in weißen Schutzanzügen.

In der linken unteren Bildschirmecke wurde eine weitere Helikopteraufnahme eingeblendet, ein Blick auf Lake Meadows, der in den vergangenen sieben Tagen entsetzlich vertraut geworden war. Das Einkaufszentrum bildete eine geschwärzte, verkohlte Narbe im Angesicht der leuchtenden Stadt. Für die Öffentlichkeit war es geschlossen, aber von Bulldozern, Kränen und weißen Zelten umgeben, ein Verbrechensschauplatz und Massengrab zugleich.

Und in der rechten unteren Ecke war die schwarze Silhouette von Kopf und Schultern eines Menschen.

Edie wandte sich mir zu. »Die nächsten Angehörigen müssen noch benachrichtigt werden«, sagte sie. »Deshalb zeigen sie ihr Gesicht nicht. Sie versuchen wohl gerade, ihren Mann zu erreichen.« Edie strich sich den wirren roten Haarschopf zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. »Einmal bin ich ihr begegnet. Alice, meine ich. DS Alice Stone. Als ich noch Uniform trug. Sie war schon damals Teamleiterin. Und sie hat geleuchtet, Max. Sie erinnerte mich an das coole Kind auf der Schule, mit dem alle befreundet sein wollen. Und sie war wirklich nett. Ein echter Überflieger und trotzdem ein anständiger Mensch.« Edie sah wieder auf den Schirm. »Ich glaub, ihr ganzes Team war in sie verknallt.«

»Ja«, sagte ich. »So war sie.«

Ich zog den Deckel vom Kaffeebecher und stürzte den dreifachen Espresso herunter. »Danke.«

»Er muss kalt geworden sein, aber es ist ja der Gedanke, der zählt.« Edie streckte die Arme aus. »Komm her.«

Sie drückte mich unbeholfen. Ich erwiderte die Umarmung genauso ungelenk, und sie versetzte mir einen sanften Kopfstoß; es war eine Umarmung unter Kollegen, die einander mochten, aber noch dabei waren herauszufinden, was genau das bedeutete. Soweit ich wusste, traf sie sich noch immer mit ihrem verheirateten Mann. Soweit ich wusste, versprach er ihr nach wie vor, ihretwegen seine Frau zu verlassen.

Trotzdem fühlte es sich gut an, Edie in den Armen zu halten.

Mit einem Mal war ich müde bis auf die Knochen. Ich schloss die Augen und hätte in ihren Armen einschlafen können, für eine Viertelstunde oder auch für mein ganzes Leben. Ich merkte, wie sie mich losließ und zurücktrat. Als ich die Lider wieder öffnete, beobachtete mich Edie und wartete.

»Was war da los?«, fragte sie.

»Es lief von Anfang an schief«, sagte ich. »Von dem Moment an, in dem der Mannschaftstransporter vorfuhr.«

Ich erzählte ihr alles. Von der Gestalt im Tschador, die aus dem Haus kam; wie Asad Khan das Feuer eröffnet hatte, bevor Alice noch ganz aus dem Wagen gestiegen war. Was auf der Straße passiert war. Wie Alice Stone und Asad Khan innerhalb weniger Sekunden nacheinander starben. Wie ich Mr und Mrs Khan und ihrer Enkeltochter Layla befohlen hatte, die Hände zu heben und das Haus zu verlassen.

Ich erzählte ihr jedoch nicht vom Keller, in dem Adnan Khan kniete, und von DC Ray Vann, der ihn über Kimme und Korn seines Sturmgewehrs anblickte. Ich erzählte ihr nichts von dem Schuss im Keller, dem einzelnen Schuss, der mir noch in den Ohren klingelte, oder dem Mündungsblitz, der weiterhin auf meiner Netzhaut umhergeisterte.

Durch die offenen Fenster drang der Lärm der Menge auf der Straße herein. Ich sah Edie an. Ich verstand nach wie vor nicht, was sie hier wollten.

»Vermutlich sind sie hier, weil wir die Familie Khan haben oder das, was von ihr übrig ist«, sagte Edie. »Nach dem Zugriff wurden sie hierhergebracht. Der Vater, die Mutter und das Mädchen, Layla, die Tochter des Bruders, den es in Syrien erwischt hat. Mrs Khan und das Mädchen sind bei der FLO im zweiten Stock.«

Ein Family Liaison Officer ist verantwortlich für die Verbindung zur Familie.

»Und was ist mit Mr Khan?«

»Er ist unten in Gewahrsam.«

»Wieso haben sie ihn eingesperrt?«