Die ohne Schuld sind - Tony Parsons - E-Book

Die ohne Schuld sind E-Book

Tony Parsons

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die allseits beliebte Jessica wird eines Abends direkt vor ihrer Wohnung entführt. Schnell stellt sich heraus, dass sie das falsche Opfer ist. Anscheinend sollte ihre Mitbewohnerin, die Geliebte eines Drogenbosses, entführt werden. Max Wolfe und sein Team machen sich mit Hochdruck daran, Jessica zu finden. Max ahnt nicht, welche Abgründe tatsächlich hinter dem Fall lauern. Und als Max und seine kleine Tochter Scout zufällig die Spur der Verbrecher kreuzen, befinden sich plötzlich beide im Fadenkreuz von Kriminellen, die vor nichts zurückschrecken ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 429

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

Über das Buch

Die allseits beliebte Jessica wird eines Abends direkt vor ihrer Wohnung entführt. Schnell stellt sich heraus, dass sie das falsche Opfer ist. Anscheinend sollte ihre Mitbewohnerin, die Geliebte eines Drogenbosses, entführt werden. Max Wolfe und sein Team machen sich mit Hochdruck daran, Jessica zu finden. Max ahnt nicht, welche Abgründe tatsächlich hinter dem Fall lauern. Und als Max und seine kleine Tochter Scout zufällig die Spur der Verbrecher kreuzen, befinden sich plötzlich beide im Fadenkreuz von Kriminellen, die vor nichts zurückschrecken …

Über den Autor

Tony Parsons wurde am 6. November 1953 in Romford, Essex (UK), als einziges Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Nach seinem Schulabschluss begann er seine Freizeit für seine literarische Begabung zu nutzen und veröffentlichte eine Untergrundzeitung, die er »Skandalblatt« nannte.

Seine Karriere begann er als Musikkritiker. Heute ist er einer der erfolgreichsten Kolumnisten und Fernsehjournalisten Großbritanniens. Er schrieb u.a. für das Musikmagazin NME, den Daily Telegraph und 18 Jahre lang für den Daily Mirror.

Zudem gehört er zu den ganz großen Stars der englischen Literaturszene, denn alle seine Werke schafften es auf die nationalen und internationalen Bestsellerlisten.

1974 schrieb er seinen ersten Roman The Kids der im Jahr 1976 bei New English Library Ltd. erschien. Der gewünschte Erfolg trat nicht mit der ersten Buchveröffentlichung ein und so bewarb sich Tony Parsons 1976 bei NME, um in der Folge drei Jahre über neue Musikerscheinungen und Bands zu schreiben (darunter The Clash, Sex Pistols, Blondie, David Bowie, u.v.m.). In den 1980er Jahren schlug sich Parsons als freiberuflicher Autor durch, bis er 1990 Bare (Penguin Books Ltd), eine Autobiographie über den Sänger Goerge Michael veröffentlichte. In den 90er Jahren begann er für einige britische TV-Formate zu arbeiten und startete bei The Daily Telegraph als Kolumnist.

Er lebt mit seiner Frau, ihrer gemeinsamen Tochter und ihrem Hund in London. Sein erster Kriminalroman Dein finsteres Herz mit Detective Constable Max Wolfe wurde von der Presse frenetisch gefeiert.

Tony Parsons

Die ohne Schuld sind

Detective Max Wolfes sechster Fall

Kriminalroman

Übersetzung aus dem Englischen von Dietmar Schmidt

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:»#taken«

Für die Originalausgabe:Copyright © Tony Parsons, 2019Published by arrangement with Century, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Heike Rosbach, NürnbergUmschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Motiven von © mauritius images: age fotostock | Lluís Real; © www.buerosued.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-7784-2

www.luebbe.dewww.lesejury.de

Für Nick Logan

Prolog

Persönlicher geht es nicht

Es war nichts Persönliches.

Die beiden Männer in dem Auto hinter ihr, die zu dicht auffuhren und dämlich durch die getönte Windschutzscheibe grinsten, hätten sich auch jede andere Frau aussuchen können, um sie zu schikanieren. Das war ihr klar.

Sie hatte das West End verlassen, die Marylebone Road überquert und auf der Albany Street, dem langen Straßenzug, der am Regent’s Park vorbeiführt, beschleunigt. Plötzlich war der große schwarze Geländewagen hinter ihr, füllte ihren Rückspiegel aus, fuhr mit röhrendem Dieselmotor so dicht auf, als wollte er sie einfach niederwalzen.

Auch wenn es nichts Persönliches war, das Verhalten der zwei Männer erschien ihr nicht vollkommen planlos: Die beiden wollten ihr eine Lektion erteilen. Sie wollten es ihr zeigen. Und zwar so richtig.

Es war nichts Persönliches, aber sie schienen irgendeinen Grund zu haben, weshalb sie so dicht auffuhren. Sie musste etwas getan haben, mit dem sie bei ihnen einen empfindlichen Punkt berührt hatte.

Möglicherweise lag es an dem Auto, das sie fuhr – dem neuesten 7er BMW, so neu, dass er noch glänzte wie im Autosalon und auch so roch. Das wäre fast schon komisch, denn der Wagen gehörte ihr gar nicht. Ihr ramponierter kleiner Fiat stand in der Werkstatt, weil er durch die amtliche Kontrolle gefallen war. Aber das konnten die beiden Männer im Geländewagen natürlich nicht wissen.

Oder lag es gar nicht an ihrem Auto? War sie an der Ampel zu schnell losgefahren? Sie wollte bloß nach Hause; sie war spät dran. Gut möglich, dass sie die beiden in ihrer Männlichkeit getroffen hatte, als sie sie hinter sich ließ und sie in ihren Abgasen hinterherzockeln mussten.

Vielleicht stießen sie sich an dem scherzhaften Aufkleber an der Heckscheibe, schwarze Wörter auf gelbem Hintergrund. Heißes Baby an Bord, stand da; eine alleinstehende Frau machte sich über die allgegenwärtigen Baby-an-Bord-Sticker lustig. Nicht mein Sticker, dachte sie. Nicht mein Leben.

Vielleicht hatte es aber auch gar nichts mit dem neuen Auto oder dem Heißes-Baby-an-Bord-Aufkleber oder ihrer Fahrweise zu tun. Vielleicht saßen im Wagen hinter ihr einfach nur zwei Macho-Arschlöcher. Damit musste man schließlich immer rechnen.

Am Regent’s Park – rechts die schönen Nash-Häuser, die in der Nacht schimmerten wie Burgen aus Eiscreme, links der Park wie ein Ozean ungebrochener Schwärze – waren die beiden Fahrzeuge auf dem einsamen Straßenabschnitt plötzlich allein. Die ganze Dunkelheit links, die ganze wohlhabende Eleganz rechts.

Und der Wagen hinter ihr kam so nahe, dass er auffahren musste, wenn sie bremste.

Jetzt hatte sie Angst.

Sanft strich sie mit dem Fuß über das Bremspedal, kaum stark genug, um ihren Leihwagen zu verlangsamen, aber ausreichend, damit die Bremslichter rot aufleuchteten.

Der Fahrer hinter ihr trat in die Eisen. Gummi quietschte, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, als sein Wagen zurückblieb.

Sie gab Gas. Sie wollte dringend heim. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach ihrem Zuhause.

Sie beobachtete ihre Verfolger im Rückspiegel. Sie beobachtete, wie das Auto kleiner wurde, und sie beobachtete es zu eingehend, denn sie hätte fast die scharfe Linkskurve der Straße verpasst, wäre beinahe geradeaus gefahren. Im letzten Moment sah sie nach vorn, fluchte und riss das Lenkrad heftig nach links.

Sie holte Luft, hielt den Atem an, raste am Londoner Zoo vorbei, beschleunigte zur Einmündung hin, wo sie nach rechts auf die St. John’s Wood und die Straße nach Hause abbog. Sie atmete erleichtert auf, als sie sah, dass die Ampel grün war.

»Stell dir vor, das Leben ist eine Schnellstraße, und alle Ampeln sind grün«, hatte ihr Vater einmal zu ihr gesagt. Der Gedanke an ihn brachte sie zum Lächeln.

An der grünen Ampel bog sie rechts ab.

Und die Männer folgten ihr.

»Mann, was habt ihr nur für ein Problem?«, murmelte sie, doch sie kannte die Antwort bereits.

Sie war ihr Problem.

Sie fuhr nun die St. John’s Wood mit den großen Häusern hinter den schmiedeeisernen Toren entlang, und die Straße war leer.

Der schwarze Wagen füllte erneut ihren Rückspiegel aus. Er kam immer näher heran, so dicht, dass er sie berühren musste, so dicht, dass sie wieder zu atmen aufgehört hatte.

Dann erreichten sie die große Kreuzung am Swiss Cottage.

Die Männer rasten an ihr vorbei, und sie erhaschte dabei einen Blick auf ihre Gesichter. Sie sahen nicht einmal in ihre Richtung, ihre simplen Gedanken beschäftigten sich wahrscheinlich nur mit ihrem miesen kleinen Spiel.

Sie atmete auf. Über die Schulter schaute sie auf ihren sechs Monate alten Sohn, der im Kindersitz auf der Rückbank saß, und Erleichterung und Liebe überwältigten sie.

»Es ist okay«, sagte sie, obwohl er schlief.

Wenn ihn etwas garantiert zum Einschlafen brachte, dann waren es Autos.

Selbst zu dieser Zeit staute es sich noch auf der Finchley Road, aber von dem schwarzen Wagen war nichts mehr zu sehen.

Sie fuhr an der alten Kirche rechts ab und folgte der Frognal Lane, die sich zu den höher liegenden Bezirken der Stadt hinaufwand.

Inzwischen säumten die großen Häuser von Hampstead beide Straßenränder, und es ging immer noch weiter hinauf. Langsam fuhr sie in eine Nebenstraße ein, eine Allee, die aussah wie mitten auf dem Land.

Auf einer Straßenseite saß ein Wachmann in seinem Van. Er sah mit unbewegter Miene zu ihr hoch, als sie in die Privatstraße einbog, die zu ihrem Zuhause führte.

Aber den Weg dorthin blockierte der große schwarze Wagen.

Sie warteten auf sie.

Sie bremste und hielt an, griff nach ihrem Handy, weil es so falsch war und gegen das Gesetz verstieß, dass der Wagen dort stand, und dann ging alles sehr schnell.

Die beiden Männer waren ausgestiegen. Ihre Gesichter hatten sie mit einer Maske verdeckt, die aussah wie ein Totenschädel und ihr Angst einjagen sollte, und sie kamen rasch auf ihren Wagen zu.

Als wäre das alles geplant. Alles.

Sie hantierte noch an der Zentralverriegelung herum, als die Türen auf beiden Seiten aufgerissen wurden und der Typ auf der Fahrerseite sie packte, an den Armen gleich über dem Ellbogen. Der Typ auf der Beifahrerseite kam nun auch auf ihre Seite des Wagens. Seine Totenkopfmaske grinste im Scheinwerferlicht, während er half, sie aus dem Auto zu zerren.

Sie schrie um Hilfe, fiel hin.

Die Männer hoben sie vom Boden auf, als wöge sie nichts. Der, der ihre Arme gepackt hatte, hielt sie weiter so fest, der andere hob sie bei den Fußgelenken an. Sie trugen sie zu dem schwarzen Wagen, und sie schrie und schrie und schrie.

Der Wachmann stieg aus.

Einer der Männer sah ihn nur an.

»Lass das«, sagte er.

Und der Wachmann gehorchte. Er stand da, ein Junge in Gegenwart von zwei Männern – entmannt, gelähmt schaute er nur zu, wie sie sie in das schwarze Auto luden.

Sie merkte ihnen nun ihre Gewalttätigkeit an. Weder Trotz noch Sadismus oder der verletzte Stolz eines Frauenhassers. Nur Gewalttätigkeit. Gewalt, von hoch erfahrenen Profis ausgeübt, die mit so etwas ihren Lebensunterhalt bestritten.

Sie sah ihren kleinen Sohn und rief seinen Namen, aber der Säugling schlief noch immer mit feuchten Lippen und leicht wackelndem Kopf unter dem Heißes-Baby-an-Bord-Sticker auf dem Rücksitz.

Sie stieß ein Heulen aus wie ein verletztes Tier, weil sie mit absoluter Klarheit erkannte, dass sie ihn in diesem Leben nicht wiedersehen würde.

Das war der Augenblick, in dem sie begriff.

Es war doch persönlich.

Persönlicher ging es nicht.

1

In der Stunde vor Sonnenaufgang duckte ich mich unter dem Absperrband durch, das über die Einfahrt des Anwesens gespannt war. Wir hatten Frühsommer, aber es war bitter kalt, und ich stand einen Moment lang nur da. Ich musste erst noch richtig wach werden und betrachtete den Suchtrupp, der sich auf Händen und Knien die Böschung hocharbeitete wie ein behäbiges, stilles Tier mit zahlreichen Rücken.

Von Hängebirken gesäumt, stieg die schmale Straße steil zu ihrem höchsten Punkt an, wo ein brandneuer BMW jetzt ein Tatort war. Eine Vielzahl von grellen Punktstrahlern tauchte das Fahrzeug in helleres Licht als der Tag. Alle Türen waren aufgerissen, und CSIs, Spurensicherungsbeamte in weißen Schutzanzügen, bewegten sich mit ihren Pinzetten, Kameras und Asservatenbeuteln im und um das Auto; die Gesichter waren hinter den blauen Nitrilgummimasken nicht zu erkennen. Über den Bäumen pulsierte das Blaulicht unserer Streifenwagen durch die Nacht.

Zwei Frauen kamen aus der Dunkelheit. Sie sahen aus wie eine Bibliothekarin und ein Supermodel, und in der eiskalten Nachtluft lag schwach der metallische Geruch von Wodka. Denn wenn der Anruf kommt, macht man sich auf den Weg. Niemand fragt einen, ob man etwas getrunken habe. Niemand fragt, ob man unter der Wirkung einer Schlaftablette stehe. Niemand fragt, ob die Kinder angemessen betreut würden. Mitten in der Nacht rufen sie an und sagen einem, dass eine Frau aus ihrem Auto entführt worden sei. Und man macht sich auf den Weg.

Die Frauen waren Detective Chief Inspector Pat Whitestone, meine Chefin – schmächtig und mit verschlafenem Blinzeln hinter der John-Lennon-Brille, das helle Haar graumeliert, obwohl sie erst vierzig war –, und Trainee Detective Constable Joy Adams – jung, schwarz, außergewöhnlich groß, das Haar in straffen Cornrows. Joy hatte erst vor einem Jahr die Polizeischule Hendon abgeschlossen und war wohl noch immer für ein paar Pinnchen Wodka zu haben, selbst wenn sie am nächsten Tag Dienst hatte.

»Haben Sie ihr Bild gesehen?«, fragte Whitestone mich. »Die Frau, die entführt wurde? Sie ist eine Schönheit.«

Ich hatte mir das Foto angesehen, das auf mein Handy geschickt worden war, als ich den Anruf erhielt. Es stammte aus dem Führerschein von Jessica Lyle, 22. Langes, dunkles Haar umgab ein blasses Gesicht. Ihr Ausdruck war lichtbildernst, aber ihre Augen lächelten, strahlten beinahe vor Leben. Und selbst auf dem sterilen Porträt von dem einzigen Ausweisdokument, das wir bisher gefunden hatten, sah ich deutlich, wie recht Whitestone hatte.

Jessica Lyle, die entführte junge Frau, war eine Schönheit.

»Ihre Eltern sind da«, sagte DCI Whitestone zu mir. »Sie nehmen ihren Enkel zu sich, sobald der Arzt den Jungen freigibt. Reden Sie mit ihnen, Max.«

Ich nickte. Bei einer Entführung dieser Art war ein abgewiesener Verehrer der wahrscheinlichste Täter. Wenn man die Anweisung erhielt, mit den nächsten Verwandten zu reden, hieß das: Versuchen Sie herauszufinden, ob die Eltern von irgendwelchen nachtragenden Ex-Beziehungen oder liebeskranken Stalkern wussten, die ihrer Tochter nachstellten, sich nicht abweisen lassen wollten und den Unterschied zwischen jemanden lieben und ihm schaden nicht kannten.

Opfer einer Entführung konnte man allerdings auch werden, indem man wie vom Blitz getroffen vollkommen zufällig ausgewählt wurde, das größte vorstellbare Pech.

Whitestone schauderte. Es war Juni, aber darauf wäre man in diesem Niemandsland zwischen Nacht und Tag niemals gekommen.

»Der Vater war einer von uns«, sagte Whitestone. »Frank Lyle.«

»Ein Cop? Aber nicht mehr im Dienst?«

»Nach dreißig Jahren bei der Met im Ruhestand.« Hinter den Brillengläsern zeigten Whitestones helle Augen Vorsicht. »Das macht so etwas nie einfacher.«

Dreißig Jahre, dachte ich. Wie viele Feinde kann man sich in dreißig Jahren machen?

Auf der anderen Straßenseite stand ein privater Wachmann neben seinem Van und zog gierig an einer Zigarette. Seine Uniform im Militärstil war ihm mehrere Nummern zu groß.

»Was ist mit Clint Eastwood?«, fragte ich.

»Er behauptet, er habe nichts gesehen«, antwortete Adams. »Es sei in seiner Toilettenpause passiert.«

»Das ist nicht gut.«

»Ich bin noch nicht fertig mit ihm.«

Whitestone und ich standen schweigend da und sahen zu, wie Joy das Notizbuch zückte und auf den Wachmann zutrat; nicht ganz das Schweigen zwischen alten Freunden, aber das Schweigen zweier Profis, die jahrelang zusammengearbeitet haben.

Whitestone nahm die Brille ab und polierte die Gläser an ihrem Ärmel. Ihr Gesicht bekam dabei einen verletzlichen, eulenhaften Ausdruck. Wenn man sie so sah, kam einem das Wort Bücherwurm in den Sinn, und man hätte nie vermutet, dass im Homicide and Serious Crime Command von West End Central niemand Pat Whitestone an Ermittlungserfahrung übertraf. Sie setzte die Brille wieder auf und nickte kurz. Wir folgten der kleinen Allee zum Wagen und kamen uns vor wie mitten auf dem Land. Am Straßenrand stand ein Schild.

EDEN HILL PARK

Privatbesitz

Keine Durchfahrt

Keine Hunde

Whitestone trug einen kleinen Stapel transparenter Trittplatten, mit denen sie einen unkontaminierten Weg zum Tatort legte. Als wir auf der Hügelkuppe waren, gab sie die restlichen Platten mir und streifte sich blaue Plastiküberschuhe über. Der Wagen war so neu, dass er noch nach neuem Leder, poliertem Chrom und frischem Lack roch wie im Autosalon; er duftete nach Geld. Heißes Baby an Bord verkündete ein Aufkleber im Heckfenster. Ein Kriminaltechniker fotografierte den leeren Babysitz auf der Rückbank.

Whitestone nahm mir die Trittplatten wieder ab und schob ihre Brille auf dem Nasenrücken hoch.

»Reden Sie mit Jessicas Mitbewohnerin«, sagte sie. »Sie heißt Snezia Jones. Das Auto gehört ihr.«

Als ich in der Stille auf die pulsierenden Blaulichter zuging, spürte ich, dass ich mich an einem der höchsten Punkte Londons befand. Die Luft hier oben war fast so frisch wie in den Alpen. Ich atmete tief ein, als die Straße sich zur Wohnanlage Eden Hill Park öffnete. Sie kam mir vor wie ein Geheimnis, das vor der Stadt verborgen gehalten worden war. Die bescheidene Einfahrt hätte nie vermuten lassen, wie groß die Anlage war. Sie bestand aus einem Gebäude mit Luxusapartments und einer Vielzahl frei stehender Häuser, von riesigen modernen Villen mit über zwei Stockwerke reichenden Glaswänden bis hin zu einer Reihe winziger altmodischer Cottages, die irgendwie den Abrissbirnen der Bauunternehmer entgangen waren. Überall in Eden Park brannte Licht, und die Anwohner lehnten in den Fenstern und starrten auf die Polizeifahrzeuge vor ihren Häusern. Ich fuhr mit dem Aufzug ins oberste Geschoss des Apartmenthauses. Auf dem Korridor waren sämtliche Türen offen. Vor der Wohnung, in die ich wollte, stand ein Streifenbeamter. Der Polizeiarzt wollte gerade gehen.

»Geht es dem Jungen gut, Doc?«, fragte ich ihn.

»Der Junge ist so ziemlich der Einzige, dem es gut geht. Die Eltern stehen unter Schock. Das Gleiche gilt für die junge Dame, Miss Jones. Die Mitbewohnerin. Machen Sie es so kurz, wie es geht.«

Auf dem Sofa im Wohnzimmer hielten sich zwei Frauen umklammert, und ein Mann wiegte ein schlafendes Baby in den Armen. Jessica Lyles Eltern und die Mitbewohnerin. Alle wandten sich mir zu, als ich eintrat.

Frank Lyle war ein zäher alter Ex-Cop mit kurz geschnittenem stahlgrauem Haar und musterte mich aus kühlen, unbeeindruckten Augen, während er sanft seinen schlafenden Enkel schaukelte.

Mrs Lyle war selbst in ihren Fünfzigern noch atemberaubend, das Ebenbild ihrer Tochter in dreißig Jahren. Falls sie überlebt, dachte ich und schob den Gedanken weit weg.

Die Mitbewohnerin, Snezia Jones, war um die dreißig, groß, dünn und beinahe albinoblass. Ihre Haare waren von diesem hellen Blond, dass sie fast schon weiß aussahen.

Beide Frauen hatten geweint. Ich stellte mich vor und zeigte meinen Dienstausweis.

»Ich habe nur ein paar Fragen über Jessica«, sagte ich.

Aber die Eltern hatten Fragen an mich.

»Wieso sollte jemand Jess entführen?«, fragte Mrs Lyle. »Wollen sie ihr wehtun? Was tun sie ihr an?«

»Hör auf damit, Jen«, ermahnte Mr Lyle seine Frau leise. »Hör bitte auf.« Er lächelte ihr sanft zu, dann wandte er sich an mich, hob das Kinn, und das Lächeln verschwand. »Ist irgendwas, das Sie gefunden haben, in IDENT1 aufgetaucht?«

IDENT1 ist die Datenbank der Polizei mit den Fingerabdrücken von zehn Millionen Personen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind.

»So weit sind wir noch nicht, Sir. Ich wollte Sie nur fragen …«

»Aber Sie haben Abdrücke?« Er platzte vor Ungeduld und wiegte seinen Enkel ein wenig fester, wandte das Gesicht ab und hustete – das schleimige Röcheln des lebenslangen Rauchers. Das Baby wimmerte im Schlaf. »Finger, Schuhe, Reifen? Kommen Sie schon. Es muss doch wenigstens Reifenspuren geben. Ich kann nicht fassen, dass Sie so inkompetent sind und nicht einmal Reifenspuren finden können!«

Ich atmete tief durch. Whitestone hatte recht. Mit alten Cops zu tun zu haben machte unsere Arbeit nicht leichter.

»Die Spurensicherung ist noch bei der Arbeit«, sagte ich. »Wie Sie wissen, Mr Lyle, muss jede Reifenspur mit den Fahrzeugen der Anwohner abgeglichen werden. Wir gehen davon aus, dass die Täter Handschuhe getragen haben. Unser Suchtrupp ist bereits die ganze Nacht unterwegs. Wenn Handschuhe weggeworfen wurden, entdecken wir sie. Wir werden Ihre Tochter finden, Sir.«

Er verzog den Mund mit einem Wissen, das er auf die harte Tour erworben hatte. Ihm war genauso klar wie mir, wie mit jeder Minute, die verstrich, ohne dass wir seine Tochter fanden, die Chancen dahinschmolzen, sie lebend wiederzusehen.

»Sparen Sie sich das lackierte Gequatsche für die Presse, Sohn. Tun Sie einfach Ihren Scheißjob.«

»Frank«, ermahnte ihn seine Frau.

»Ist Ihre Tochter von jemandem bedroht worden?« Ich sah zwischen Mutter und Vater hin und her. Wenn Jessica Lyle sich einem von ihnen anvertraut hatte, dann eher der Mutter. »Ein Ex-Freund, jemand, der ihr nachstellte, oder …«

»Jeder liebt Jess«, sagte die Mitbewohnerin.

Snezia Jones hatte einen osteuropäischen Akzent. Mrs Lyle drückte ihr die Hand.

»Ging sie mit jemandem aus …«

»Jess geht mit niemandem aus«, sagte Mr Lyle. »Sie war verlobt, okay? Mit Lawrence. Und er ist gestorben, ja? Ein netter Bursche, wirklich nett. Englischlehrer. Lawrence ist vor einem halben Jahr bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen. Irgendein Drecksack hat ihn vom Fahrrad geholt. Hat nicht mal angehalten. Wurde nie gefasst. Ihr Haufen konnte uns da nicht helfen. Verstehen Sie, Detective?«

Ich sah das Baby in seinen Armen an und nickte.

»Ich kann Ihnen gleich sagen«, fuhr er fort, »meine Tochter hat keine verbitterten Ex-Freunde oder liebeskranken Psychos in ihrem Umfeld.« Zum ersten Mal brach dem älteren Mann vor Rührung die Stimme. »Ihr Kind ist ihr Leben. Und ihre Arbeit. Es ergibt einfach keinen Sinn. Dahinter steckt irgend so ein verkommener Perverser …«

»Es ist genau, wie Snezia sagte«, warf Mrs Lyle ein. »Jeder liebt Jess.« Sie stand auf und wies auf ihren Enkel. »Wir müssen Michael jetzt nach Hause bringen. Sie können sich bestimmt nicht vorstellen, was wir durchmachen.«

Sie gingen in ein anderes Zimmer, um die Kleidung ihres Enkels einzupacken, und ich setzte mich neben Snezia aufs Sofa.

»Wie lange wohnen Sie schon mit Jessica zusammen?«

»Zwei Jahre. Wir sind beide Tänzerinnen. Wir haben uns bei einem Vortanzen im West End kennengelernt. Keine von uns beiden wurde engagiert, aber ich habe sie in einem Schuhgeschäft wiedergetroffen, in das wir alle gehen. Freed of London. Kennen Sie es?«

Ich nickte. »Covent Garden. Dort kaufen Profis ihre Tanzschuhe.«

»Das meine ich. Wir gingen einen Kaffee trinken. Ich glaube, sie war einsam. Und ich war es auch.« Sie wies mit Blicken in die Wohnung. »Und es ist schwer, so ein Apartment allein zu finanzieren.«

»Wir brauchen ein paar aktuelle Fotos.«

Zum ersten Mal lächelte sie und griff nach ihrem Handy. »Ich habe viele schöne Bilder von Jessica.«

In der Tat hatte Snezia viele Fotos von ihnen beiden, zusammen und allein. Snezia und Jessica sahen ganz aus wie zwei junge Frauen, die in London das Leben genossen. Im Fitnesscenter und in einem Tanzstudio. In Bars und Restaurants. Im Park und auf Hampstead Heath. Und Jessica Lyle, wie sie ihr verborgenes Lächeln an stillen Abenden zu Hause zeigte, bequem auf dem Sofa mit einem Buch und dem Baby.

»Jeder liebt Jess«, sagte Snezia wieder, träumerisch vor Erschöpfung, gelähmt vor Schock.

Mit einem Mal sah ich eine andere Sorte Foto. Snezia in einem Bikini und Highheels, kopfüber an einer silbernen Stange.

»Oh, das bin nur ich bei der Arbeit.« Rasch wischte sie weiter.

»Sie sagten, Sie seien beide Tänzerinnen.«

»Wir sind unterschiedliche Sorten von Tänzerinnen. Jess war bis zu ihrem Kreuzbandriss im Knie Balletttänzerin. Jetzt unterrichtet sie – die Kleinen, verstehen Sie. Ich bin mehr eine exotische Tänzerin. Oder heißt es erotisch?«

Ich zuckte mit den Schultern. Vermutlich traf beides zu.

Im Nebenraum hörte ich die Eltern. Sie hatten im Streit die Stimmen erhoben.

Die Mutter irrte sich. Ich konnte mir durchaus vorstellen, was sie durchmachten. Ich glaubte, ich hätte mir die eigene Haut heruntergerissen, wenn jemand meine Tochter Scout entführt hätte.

Aber manche Dinge begreift man erst dann richtig, wenn sie geschehen.

»Hat jemand Jessica bedroht?«, fragte ich Snezia. »Sie belästigt? Ein Ex-Freund, der nicht loslassen wollte? Oder ein Typ aus der Nachbarschaft, der ein Auge auf sie geworfen hatte?«

»Wie Jess’ Mum Ihnen schon gesagt hat, war sie verlobt. Mit Michaels Vater. Er ist verunglückt. Und meine Freundin … na ja, sie trauert noch um ihn.«

Ich gab ihr das Handy zurück.

»Sie haben ihr Ihren funkelnagelneuen Wagen geliehen? Sie müssen sehr gute Freundinnen sein.«

»Ihr Auto ist in der Werkstatt. Ich habe ihr meinen Wagen geliehen. Das ist doch selbstverständlich. Wir sind eher Schwestern als Mitbewohnerinnen.«

»Hat sie Ihnen auf dem Nachhauseweg eine SMS geschickt oder dergleichen?«

Sie zeigte sie mir.

Gleich da. Bitte bleib auf xxx

»Warum wollte sie, dass Sie aufbleiben?«, fragte ich.

»Jess kommt nicht gern in eine stille Wohnung.«

Ich musterte die Nachricht eine Weile und versuchte in den fünf Wörtern und drei Küsschen eine tiefere Bedeutung zu finden. Aber als sich nichts einstellte, drückte ich den Knopf unten am Gerät, und der Homebildschirm erschien.

Und unter der Zeit und dem Datum am oberen Rand des Displays war ein Foto von Snezia mit einem Mann, den ich erkannte. Einem viel älteren Mann. Er vielleicht sechzig, sie dreißig. Arm in Arm, als täten sie so, als tanzten sie. Grinsten in die Kamera.

Harry Flowers.

Was ich über Harry Flowers wusste, wusste jeder.

Er war der Henry Ford des Drogengeschäfts. In den Achtzigern hatte er angefangen, einer der ersten Berufsverbrecher, der voraussah, dass sich die Drogensucht von der Mittelstandsboheme – Studenten, Musiker, Künstler – wegbewegte und zum Mainstream wurde. Dass die Beliebtheit von Methylendioxymethamphetamin – kurz MDMA, allgemein bekannt als Ecstasy, XTC oder E – zur Folge hätte, dass sämtliche Jugendlichen in jedem Provinzclub des Landes regelmäßig vollkommen dicht sein würden.

»Sind das Sie und Ihr Freund?« Ich konnte einen harten Unterton nicht unterdrücken.

Sie nickte. »Harry ist ein ehrlicher Geschäftsmann«, sagte sie, mit nur einem Hauch von Trotz, als wiederholte sie einen Satz, den man ihr eingeschärft hatte. »Abfallwirtschaft. Autoverwertung.«

Und vielleicht war das sogar wahr. Niemand handelt vierzig Jahre lang mit Drogen. Man wird lange vorher eingebuchtet oder kaltgemacht. Vielleicht hatte Harry Flowers ein Vermögen verdient und sein Leben geändert. Aber mir fiel es schwer, das zu glauben.

Die Eltern kamen mit Taschen voller Kleidung und einem schlafenden Baby aus dem Zimmer.

»Haben Sie Kinder, Detective?«, fragte Mrs Lyle.

Ich stand auf und wandte mich ihr zu.

»Ja, Ma’am. Nur eins.«

»Junge oder Mädchen?«

»Ich habe ein kleines Mädchen, Ma’am. Acht Jahre alt. Scout heißt sie.«

»Wie das Mädchen in Wer die Nachtigall stört?«

»Daher hat sie ihren Namen.«

»Dann verstehen Sie, was wir empfinden.«

Sie drückte mich kurz.

»Finden Sie unsere Tochter wieder«, flüsterte sie. »Bitte.«

Ihr Mann sah mich an, als hätte ich noch nichts geleistet, womit ich eine Umarmung verdiente.

Während ich zu Whitestone zurückkehrte, rief ich mir die berühmteste Geschichte über Harry Flowers in Erinnerung.

In den Achtzigern, auf dem Höhepunkt des Zweiten Sommers der Liebe, zerstritt sich Harry Flowers mit einem Geschäftspartner. Aus einem Freund wurde ein Rivale. Beide sahen sie, wie groß Ecstasy herauskommen würde und wie viel Geld sich damit verdienen ließ. Harry Flowers besuchte seinen Rivalen mit einem Gorilla und einem vollen Benzinkanister. Der Rivale saß mit seiner ganzen Familie beim Sonntagsessen. Harry Flowers und sein Gorilla fesselten den Rivalen an seinen Stuhl am Kopf der Tafel, dann entleerten sie den Benzinkanister über die Familie.

Über alle.

Die Frau. Die Großeltern. Die vier Kinder.

Und dann riss Harry Flowers ein Streichholz an.

Er setzte die Menschen nicht in Brand. Weil es gar nicht mehr nötig war.

So wurde Harry Flowers zum Henry Ford des Drogengeschäfts.

Whitestone wartete an der Hügelkuppe auf mich. Der brandneue BMW wurde auf einen Abschleppwagen geladen.

»Jessica Lyles Fiat ist in der Werkstatt«, sagte ich. »Deshalb hat ihr die Mitbewohnerin, Snezia Jones, für heute ihr neues Auto geliehen. Und Snezia, offenbar eine Stripperin, geht mit Harry Flowers. Wenn man das so nennen kann.«

Sie starrte mich einen langen Moment an. »Dem Harry Flowers?«

»Und es scheint etwas Ernstes zu sein. Immerhin hat sie Harry Flowers als Hintergrundfoto auf dem Homebildschirm.«

Whitestones Augen waren groß hinter den Brillengläsern. »Wir wollen mal hoffen, dass Harrys Frau nicht herausfindet, wie ernst die Sache ist.«

»Wer hat etwas gegen ihn?«, fragte ich.

»In der langen Zeit dürfte eine lange Liste zusammengekommen sein«, sagte Whitestone.

Ich saugte die frische Luft von Hampstead ein.

Als ich wieder Wodka roch, begriff ich, dass ich vorhin falsch getippt hatte. Meine Chefin war es, die Wodka getrunken hatte, obwohl sie am nächsten Tag Dienst hatte.

Keine Hunde, stand auf dem Schild an der Einfahrt zu Eden Hill Park, aber ich hörte sie hinter den Bäumen bellen, unsere Hunde von der K9, der Hundestaffel; sie waren dort draußen in der tiefen Dunkelheit und suchten eine Leiche.

»Ihnen ist klar, was hier passiert ist, oder?«, fragte Whitestone.

Ich nickte.

»Jemand hat die falsche Frau entführt«, sagte ich.

2

In einer stillen Ecke des Black Museum in New Scotland Yard rostet in einer Vitrine ein alter 20-Liter-Benzinkanister vor sich hin.

Vor dreißig Jahren war das Blech rot gestrichen, aber die Zeit hat es in ein dunkles, fleckiges Braun verwandelt. Wenn man genau hinsieht, ist der Schriftzug Shell Motor Spirit gerade noch so lesbar. Im Gegensatz zu den meisten Exponaten im Crime Museum der Metropolitan Police – um das Black Museum mit seinem korrekten Namen zu bezeichnen – wird der alte Benzinkanister ohne Bezug auf ein spezifisches Verbrechen ausgestellt. Nur ein kurzer Kommentar begleitet ihn.

Benzinkanister, Shell, entdeckt im Haus von Patrick Mahone, Kentish Town, Juli 1988.

»Kein Opfer, kein Täter und – wenigstens offiziell – kein Verbrechen«, sagte Sergeant John Caine, Kurator von Raum 101, wo die Met der Verbrechen in der Hauptstadt aus den vergangenen 150 Jahren gedenkt. »Nie wurde Anzeige erstattet, nie Klage erhoben, nie ein Urteil gesprochen.« Im permanenten Halbdunkel des Museums sah ich, wie er mir zulächelte. »Wie eins von diesen T-Shirts, die sie den Touristen andrehen«, sagte er. »Harry Flowers hat die moderne Rauschgiftindustrie erfunden, und alles, was ich bekam, war dieser lausige Benzinkanister.«

»Dann ist die Geschichte wahr, die man sich über Harry Flowers erzählt.«

»Die Geschichte ist beim Erzählen immer größer geworden. Unstrittig ist, dass Harry Flowers und dieser Patrick Mahone Ende der Achtzigerjahre um die Kontrolle über den Ecstasy-Markt gekämpft haben. Sie waren Sandkastenfreunde, bis sie sich überwarfen. Harry war stolz auf seine Qualitätsware, aber sein alter Kumpel verschnitt den Stoff mit Babypuder oder Rattengift – mit jedem weißen Pulver, das er gerade billig in die schmierigen Finger bekam. Harry nahm Anstoß an dieser Täuschung der erlauchten britischen Drogenkundschaft. Er handelte mit dem guten Zeug, und Mahone verdarb das Geschäft, indem er billigen Ramsch vertickte. Wir wissen, dass Harry Flowers und einer seiner Lieblingsgorillas eines Sonntagmittags zur Essenszeit in Mahones Haus eindrangen und einen 20-Liter-Kanister voll Benzin mitbrachten. Aber ich habe gehört, dass Harry, nachdem sie die Familie Mahone mit Benzin übergossen hatten, mit einer brennenden Zigarette umhergeschlendert sei – und ich weiß nicht, ob das wahr ist. Harry Flowers hat seine kleinen menschlichen Schwächen, aber er ist nicht bekloppt. Und ich habe auch gehört, dass sich Harry und sein kleiner Helfer, nachdem sie den Kanister über Granny Mahone, Mrs Mahone und all die kleines Mahones ausgeleert hatten, an den Tisch gesetzt und altmodischen Sonntagsbraten mit Yorkshire Pudding und allen Beilagen vertilgt hätten. Und das kann ich nicht so ganz glauben.« John blickte auf den alten Benzinkanister hinter der Glasscheibe. »Wie schon gesagt – die Geschichte ist beim Erzählen immer größer geworden. Aber mit Bestimmtheit weiß ich, dass Harry Flowers der große Durchbruch gelang, als er einem Mann drohte, seine Familie bei lebendigem Leib in Brand zu setzen.«

»Ich habe Flowers im PNC nachgeschlagen«, sagte ich. PNC steht für Police National Computer und ist die Datenbank, die Strafverfolgungsbehörden im ganzen Land benutzen. »Aber ich konnte ihn darin nicht finden.«

»Weil Harry Flowers nie gesessen hat«, sagte John. »Er hat keine Vorstrafen. Flowers war in der Lage, die anderen Verbrecher auszunehmen, weil er wusste, dass ein Bösewicht nicht vor den Kadi ziehen kann. Deshalb werden Sie Harry Flowers im PNC nicht finden. Und bis auf diesen alten Benzinkanister sehen Sie auch hier drin nicht viel von ihm.«

Ich folgte John in die Abteilung über die alten Familiengangs, die vor einem halben Jahrhundert über London geherrscht haben.

Eddie und Harry Richardson südlich der Themse.

Paul und Danny Warboys in West London.

Reggie und Ronnie Kray im East End.

»Flowers war der Erste von der neuen Sorte aufstrebender Gangster«, sagte John. »Die erste Generation, für die nicht mehr die Krays das große Vorbild waren. Flowers wusste, wo alle Kray-Brüder gestorben waren – nicht nur Reggie und Ronnie, sondern auch ihr älterer Bruder Charlie; und sie sind alle hinter Gittern abgetreten. Harry Flowers sollte es nicht so ergehen.«

»Reggie Kray ist nicht im Gefängnis gestorben«, wandte ich ein. »Reggie hat in der Hochzeitssuite eines Hotels in Norwich den Geist aufgegeben. Irgendein weichherziger Richter hat ihm seinen letzten Wunsch erfüllt und erlaubt, dass er in Freiheit starb.«

»Glauben Sie etwa, Reggie Kray hätte auch nur einen Schritt aus diesem Norwicher Hotel setzen können, Max?« John grinste. »Auch eine Hochzeitssuite kann ein Gefängnis sein.«

»Snezia Jones hat Harry Flowers einen Geschäftsmann genannt«, sagte ich. »Sie ist die Mitbewohnerin von Jessica Lyle. Die junge Frau, die Flowers ihren Freund nennt.«

John lachte leise. Er war ein Sergeant mit drei Jahrzehnten Dienst im Gesicht und keinem einzigen Gramm weichem Fleisch am Leib, einer dieser teakholzharten alten Hasen, die das Rückgrat der Met bilden.

»Jeder kleine Drecksack, den ich je geschnappt habe, hielt sich für einen Geschäftsmann«, sagte er. »Reggie und Ronnie Kray, Paul und Danny Warboys, Eddie und Harry Richardson – sie alle fanden, sie hätten auch ganz gute Betriebswirte abgegeben. Wünschten sich ein bisschen mehr soziale Mobilität und glaubten, wenn sie irgendeinem armen Hund die Ohrläppchen an den Teppich nagelten, bewiesen sie Unternehmergeist. Glauben Sie, jemand hat die falsche Frau entführt? Dass sie es auf Snezia Jones abgesehen hatten?«

Ich nickte. »Mir fällt keine andere Möglichkeit ein. Jessica Lyle ist eine alleinerziehende Mutter, die Ballettstunden gibt. Soweit ich sagen kann, trauert sie noch um ihren verstorbenen Verlobten. Es besteht kein Grund, sie zu entführen, es sei denn für einen sexuellen Übergriff, bei dem sie ein Zufallsopfer ist. Das ist natürlich immer möglich. Es wird nur immer unwahrscheinlicher, wenn man erfährt, dass Snezia Jones die Geliebte eines alten Gangsters ist. Und Jessica Lyle ihren Wagen fuhr.«

Auf dem Korridor erklangen aufgeregte Stimmen. Eine Gruppe junger Polizeischüler aus Hendon wartete auf ihre Führung durch das Black Museum. Ebenso sehr wie als Archiv ihrer eigenen Geschichte nutzt die Met den Raum 101 als Ausbildungsstätte für ihre Anwärter.

»Was ist aus Patrick Mahone geworden?«, fragte ich.

»Mahone hatte nach Harry Flowers’ Stippvisite einen Nervenzusammenbruch. Zehn Jahre danach hat er ein Comeback versucht – er wollte ins Kokaingeschäft diversifizieren –, aber er wurde festgenommen, als er zehn Gramm an einen verdeckten Ermittler von Scotland Yard verkaufen wollte. Er starb in Parkhurst an Bauchspeicheldrüsenkrebs.«

»Also suche ich nicht nach Patrick Mahone.«

»Sie suchen nach jemandem, der blöd genug ist, Harry Flowers’ Geliebte zu kidnappen. Entweder ein alter Groll – davon gibt es viele, soweit es Harry betrifft – oder ein neuer Rivale. Und auch davon gibt es jede Menge.«

»Ich habe gehört, dass Harry Flowers heute die Finger im Recyclinggeschäft hat.« Ich erinnerte mich an das, was Snezia mir gesagt hatte. »Er verwertet Altautos.«

»Ja, er ist geradezu ein Grüner, unser Harry.« John gluckste. »Sorgt sich um den Planeten. Liegt nachts wach und kriegt kein Auge zu, weil er sich ausmalt, was die Plastiktüten den Delfinen antun. Und es ist wahr, er hat einen Schrottplatz in Kentish Town, auf dem sie alte Autos auseinandernehmen und nach China verschicken, wo sie auf einer Müllkippe landen.«

»Glauben Sie, er dealt immer noch?«

»Kann ich nicht sagen. Aber er hat nach wie vor einen großen Namen im Drogengeschäft – auch wenn er im Ruhestand ist. Diese Art Ruhm verblasst nicht bei den Kriminellen. Das Kidnapping könnte also gut die Arbeit irgendeiner neuen Bande sein, die Harry Flowers als Dinosaurier betrachtet, der nur aufs Aussterben wartet, und seinen Namen in ihren Lebenslauf aufnehmen möchte. Oder es sind Leutchen aus dem Ausland, die in London eine Niederlassung gründen wollen. Es ist klar, warum irgend so ein ehrgeiziger junger Revolverheld auf die Idee kommen könnte, Harry vom Sockel zu stoßen. Flowers führt ein sehr angenehmes Leben, und er genießt es schon seit vielen Jahren. Draußen in Essex hockt er mit seiner vornehmen Frau namens Charlotte und zwei erwachsenen Kindern auf einem Landsitz und kommt nur in die Stadt, um mit seinen Finanzberatern zu reden, zu Mittag zu essen und seine Geliebte zu besteigen. Ich bin mir sicher, diese Snezia Jones ist eine sehr anziehende junge Dame. Harry Flowers’ Freundinnen waren das immer. Eine Menge Schurken wollen all das, was er hat. Es gibt aber noch jemanden, der Harry Flowers hasst …«

Ich wartete ab. Wir hörten die aufgeregten jungen Stimmen der Polizeischüler, die darauf warteten, eingelassen zu werden. In London gibt es keinen Raum, in den schwieriger hineinzukommen ist als das Black Museum. Ich kannte einige altgediente Detectives, die diese kühlen, stillen, halbdunklen Hallen noch nie betreten hatten. Aber für die Polizeischüler war die Zeit fast gekommen.

»Wir«, sagte John. »Das Gesetz. Wir hassen Harry, weil er nie seine Zeit abgesessen hat. Wir hassen ihn aber auch aus einem noch besseren Grund. Wir hassen ihn, weil es damals in genau diesem Gebäude hier Bullen gab, die bereit waren, von Harry Flowers Geld anzunehmen – und die dafür den Bach runtergegangen sind. Ich weiß nicht, was aus Jessica Lyle geworden ist. Ich weiß nicht mal, auf welcher Seite des Gesetzes Harry heute steht. Aber wenn Sie irgendeinen Grund hätten, Harry Flowers zu hassen, dann stünden Sie in einer sehr langen Schlange.« Er verstummte und rieb sich das Kinn. »Diese Jessica Lyle – stimmt es, dass sie Frank Lyles Tochter ist?«

Ich nickte. »Kannten Sie ihn?«

»Unsere Wege haben sich ein paarmal gekreuzt. Ein paarmal haben wir miteinander geredet. Frank Lyle wollte immer seinen Kopf durchsetzen.«

»Ja, das klingt nach ihm. Kann er sich die Sorte Feind gemacht haben, die versucht, ihn über seine Familie zu treffen?«

»Jeder noch lebende Cop macht sich die Sorte Feind, die versuchen könnte, ihn über seine Familie zu treffen. Glauben Sie, seine Tochter ist bereits tot?«

»Die Kidnapper müssen mittlerweile wissen, dass sie die Falsche entführt haben«, sagte ich. »Aus ihrer Sicht ist es vermutlich zu gefährlich, sie gehen zu lassen. Sie sind in Panik. Ihr Plan ist fehlgeschlagen. Und sie wollen die ganze Sache hinter sich haben.«

»Das arme Ding«, murmelte John Caine. »Und ihr armer Junge.«

Schweigend starrten wir den rostigen Benzinkanister an. Die Stimmen im Korridor wurden unruhiger. Ich sah auf die Uhr.

»Ich weiß, Sie haben einen Zehn-Uhr-Termin, John«, sagte ich. »Aber kann ich sie kurz sehen?«

Er schlug mir leicht auf die Schulter. »Aber sicher, mein Sohn. Und nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«

In diesen halbdunklen Räumen steht eine große Vitrine, und die Dauerausstellung darin wird jedes Jahr ergänzt. Der Schaukasten ist den Beamten der Metropolitan Police gewidmet, die in Erfüllung ihrer Pflicht gestorben sind. Beschriftet ist er mit: UNSERE ERMORDETEN KOLLEGEN.

Anderthalb Jahrhunderte Fotografien, die frühesten vom Alter grau. Alle Gesichter in offiziellen Aufnahmen eingefangen, lächeln einige mit der Schüchternheit von Menschen, die sich ungern fotografieren lassen; andere sind todernst, einige grinsen belustigt. Alle sind sie sich zum Glück nicht bewusst, dass sie in Ausübung ihrer Pflicht sterben werden, aber alle sind sich der Gefahr bewusst, dass es so kommen könnte. Einige von ihnen sind keine zwanzig, andere stehen am Ende ihrer Karriere; nur noch ein unangenehmer Zwischenfall trennt sie vom Ruhestand. In den ersten hundert Jahren etwa sind es ausnahmslos Männergesichter, aber ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts kommen immer mehr weibliche Kollegen hinzu. Der Schaukasten ist ein simples und sehr eindrucksvolles Denkmal für die Besten und Aufgewecktesten, die ihr Leben an einem Tag hingaben, an dem sie morgens zu einer ganz gewöhnlichen Dienstschicht von zu Hause aufbrachen. Zu den einzelnen Menschen steht kaum etwas da, denn dazu sind es viel zu viele. Nur Name, Dienstgrad, Alter und Todesursache. Und sie war dort. Dort war das Lächeln, das ich geliebt hatte und noch immer liebte und für den Rest meines Lebens lieben würde.

DC Edie Wren. 26 Jahre. Ihren Verletzungen erlegen.

Ich stand lange dort, weil ich nie genug von diesem Lächeln, diesem Gesicht bekommen konnte, bis mir schlagartig bewusst wurde, dass die Polizeischüler warteten und nicht eingelassen würden, bevor ich ging.

»Danke, John.«

»Jederzeit wieder.« Er legte den Arm um mich. Wir gingen zu seinem Büro, und die Stimmen auf dem Gang verstummten respektvoll, als wir uns ihnen näherten.

»Hauen Sie Harry Flowers mal an«, sagte John. »Er wird Ihnen schon sagen, wer ihn hasst.«

»Wird gemacht.«

Aber ich brauchte mich gar nicht auf die Suche nach Harry Flowers zu machen.

Denn er suchte nach mir.

3

Als dieser erste Tag endete, aß ich im Smiths of Smithfield mit Scout und Stan zu Abend.

Der Hund döste vor unseren Füßen, ausgestreckt in der klassischen Ruhehaltung eines Cavalier King Charles Spaniels: die Vorderbeine vor sich ausgestreckt wie ein Turmspringer, der zu einem Kopfsprung ansetzt. Ich betrachtete durch die großen Fensterscheiben, wie der Fleischmarkt zum Leben erwachte, und Scout las sich laut aus ihrem Buch vor. Sie war eine gute Vorleserin.

Acht war sie und hatte fast alle Milchzähne verloren. Die vier oberen und unteren Schneidezähne fehlten, und gelegentlich kamen ihre Wörter mit einem Nebengeräusch heraus, das irgendwo zwischen einem Pfiff und einem Lispeln anzusiedeln war.

»Taormina«, las sie, »fteht vor dem Hintergrund def Ätna hoch auf dem Monte Tauro. Die Ortfaft blickt auf tfwei grofartige weite Bufften und ift Fitfilienf … Zizilienf! … Siziliens! bekanntestes Resort.«

Diese letzten Wörter sprach sie mit beträchtlicher Sorgfalt aus. Scout verabscheute den Sprachfehler, der mit dem Verlust ihrer Milchzähne einherging, und ich achtete sorgsam darauf, dass sie mich nicht beim Grinsen ertappte. Ich blickte auf das Cover ihres Buches. The Rough Guide to Italy. Eine seltsame Wahl für ihre Buchvorstellung, dachte ich.

Und dann fiel mir der Wagen auf.

Ein schwarzer Bentley Bentayga V8.

Die Fleischträger hielten mit ihrer Arbeit inne, um den Luxus-SUV zu beobachten, der gemächlich die Charterhouse Street hinunterfuhr. Der Wagen hielt vor dem Smiths of Smithfield, und ein Fahrer stieg aus. Der junge Mann, vermutlich indischer oder pakistanischer Herkunft, trug einen dunklen Anzug, der nicht ganz die Uniform eines Chauffeurs war, ihr aber nahekam. Sein Kopf war kahl rasiert, sein Gesicht jedoch zu verhuscht, als dass er bedrohlich gewirkt hätte. Er sah einem tibetischen Mönch ähnlicher als einem Skinhead.

Er drückte auf einen Klingelknopf an der Haustür neben dem Restaurant. Der Haustür des Gebäudes, in dem wir wohnten.

»Sizilien betrachtet sich als Gebiet, das vom Rest Italiens getrennt ist«, sagte Scout. Sie blickte vom Rough Guide to Italy auf. »Gibt es auch Nachtisch?«

»Du bestellst für uns«, sagte ich. »Ich muss mit dem Mann reden.«

Der Fahrer blickte zu mir hoch, als ich das Smiths of Smithfield durch die Glastür verließ. Der schwere V8-Motor des Bentleys röhrte zufrieden.

»Mr Wolfe?«, fragte er.

»Detective Wolfe«, entgegnete ich. »Was wollen Sie, Freundchen?«

Auch wenn ich es schon ahnte.

»Mr Harold Flowers sitzt im Fond des Fahrzeugs«, sagte der Fahrer. »Er möchte Ihnen für die laufende Ermittlung seine Hilfe anbieten.«

Ich schaute auf die geschwärzten Scheiben des Bentleys und spürte einen Stich purer Wut.

»Und Ihr Boss hält es für angebracht, mich zu Hause aufzusuchen?«

Der Fahrer sah mich entschuldigend an. »Nur weil Mr Flowers die Dringlichkeit der Lage begreift.«

»Hat Ihr Boss neue Informationen über die Entführung von Jessica Lyle?«

»Keine neuen Informationen als solche, aber Mr Flowers …«

»Hören Sie zu«, sagte ich. »Richten Sie ihm aus, er soll morgen früh ins Revier West End Central kommen und eine Aussage machen.« Ich trat einen Schritt auf den Fahrer zu. »Und kommen Sie nie wieder in die Nähe meiner Wohnung.«

Die hintere Tür des Bentleys öffnete sich.

Der Fahrer sprang hin, um sie zu halten.

Harry Flowers stieg aus und stellte sich vor mich. Er war ein großer Mann. Er überragte meine sechs Fuß nur leicht, war aber doppelt so schwer wie ich. Und er sah aus, als hätten ihn nicht seine Erbanlagen, sondern sein Appetit zu dem gemacht, was er war. Seine schütteren Haare trug er aus der hohen Stirn zurückgekämmt. Er wurde kahl und gab sich keine Mühe, es zu kaschieren.

Harry Flowers erweckte den Eindruck, er habe sein Leben lang anderen Leuten Schwierigkeiten gemacht, doch als er sprach, war es höflich und leise; so leise, dass ich gegen den Drang ankämpfte, mich vorzubeugen, um besser zu hören, und so höflich, dass mir im ersten Moment gar nicht mehr danach war, ihm einen Tritt zu geben, dass er nach Essex zurückflog.

»DC Wolfe? Es tut mir leid, Sie am Abend zu behelligen, und ich möchte mich für meine Aufdringlichkeit entschuldigen.«

Harry Flowers sprach ungekünstelt wie ein Londoner Malocher, hatte aber eindeutig Zeit mit Menschen privilegierter Herkunft verbracht. Hatte John Caine nicht erwähnt, Flowers habe eine vornehme Frau? Sie hatte seine Tischsitten und seine Cockney-Vokale geglättet.

»Ich möchte bei der Suche nach Jessica helfen.« Er zuckte mit den Achseln. Das Achselzucken eines Geschäftsmanns, das Achselzucken eines Menschen, der die Kunst des Verhandelns beherrschte. Er bot mir etwas an, das ich wollte. Er machte mir ein Angebot, von dem er nicht glaubte, dass ich es ablehnen könnte. »Das ist alles«, sagte er, die leise Stimme der Vernunft. »Auf jede Weise, die mir möglich ist.«

»Dann kommen Sie morgen früh nach West End Central und machen Sie eine Aussage.«

»Ich wollte nicht warten.«

»Ich bin beschäftigt.«

»Nach Ihrem Abendessen.«

»Nach meinem Abendessen muss ich meinen Hund ausführen.«

Er öffnete die Hände. Er hatte große Hände. »Dann darf ich warten?«

Und das tat er. Ich ging zurück ins Smiths of Smithfield, wo Scout einen Blaubeerpfannkuchenfleck vom Cover des Rough Guide to Italy wischte und Stan aufgewacht war. Er schnüffelte aufmerksam; ihm war keineswegs verborgen geblieben, dass warme Pfannkuchen ganz in der Nähe waren.

Wir aßen den Nachtisch. Ich bekam die Rechnung, und als ich herauskam, saßen Flowers und sein Fahrer wieder hinter den getönten Scheiben des Bentleys.

Der Motor war abgestellt. Sie warteten.

Soll der Mistkerl ruhig warten, dachte ich.

Scout und ich nahmen Stan mit in den West Smithfield Rotunda Garden, einen friedlichen kleinen Ort, der nicht groß genug war, um Park genannt zu werden. Niemand hätte erraten, dass an dieser Stelle einmal öffentliche Hinrichtungen stattzufinden pflegten. Vor mehr als siebenhundert Jahren ist dort William Wallace gehängt, gestreckt und gevierteilt worden. Maria die Katholische, Queen Mary I. Tudor, hat vor fünfhundert Jahren am selben Ort zweihundert Protestanten verbrennen lassen. Niemals hätte man sich von dieser blutigen Vergangenheit träumen lassen, dachte ich, während ich zum Fleischmarkt zurückblickte, genau wie man sich niemals hätte träumen lassen, dass der Mann auf dem Rücksitz des Bentleys sich einmal einen Konkurrenten mithilfe eines 20-Liter-Benzinkanisters vom Hals geschafft hatte.

Ich wollte diesen Drecksack nicht in meiner Nähe haben, nicht in der Nähe meiner Tochter und unseres Zuhauses.

Ich wollte ihn nicht in der Nähe meines Hundes.

Aber der Bentley parkte noch immer vor dem Smiths of Smithfield, als wir zurückkehrten. An den Scheibenwischern flatterten zwei Strafzettel wegen Falschparkens.

»Hast du deinen Schlüssel?«, fragte ich Scout. »Gib Stan Wasser, und putz dir die Zähne. Öffne nicht, wenn es klingelt. In fünf Minuten bin ich oben.«

Ich schloss ihnen die Haustür auf und sah zu, wie Scout Stan in den Aufzug führte. Als die Türen sich geschlossen hatten, ging ich zurück zum Bentley. Der Fahrer stand auf dem Gehsteig.

»Er hat fünf Minuten«, sagte ich.

»Mr Flowers erwartet Sie dort drin«, sagte der Fahrer.

Er zeigte auf Freds Boxclub.

Ich ging hinein.

Um diese Zeit war es bei Fred fast leer.

Die Anlage spielte James Brown in voller Lautstärke. Der einsame Laufbandrenner schien sich in dem funky Rhythmus zu bewegen, während auf der Yogamatte eine Frau in den Sechzigern mit einem Körper, der vierzig Jahre jünger wirkte, einen makellosen Surya Namaskar ausführte, den Sonnengruß; die zwölf Asanas ließ sie aussehen wie einen anmutigen heidnischen Tanz. Am riesigen Fernseher wurde der erste Kampf zwischen Marco Antonio Barrera und Érik Morales ohne Ton gezeigt. Beide Mexikaner weigerten sich, auch nur einen Zoll zurückzuweichen. Die Yogafrau starrte sie direkt an und schien sie doch nicht zu sehen. Bei Fred trifft man alle möglichen Typen.

Harry Flowers schaute zu, wie Fred mit einem Schwergewichtler sparrte, der gut doppelt so groß war wie er. Und Flowers war nicht allein.

Der höfliche kleine Fahrer war auf der Straße geblieben, aber neben Flowers stand ein hochgewachsener, gut aussehender Schwarzer, und ein enorm dicker bebrillter Weißer hantelte mit Händen, die durch uralte Tattoos nur undeutlich zu erkennen waren.

Sein Mitarbeiterstab, dachte ich. Welcher ehrliche Geschäftsmann bringt Leibwächter ins Fitnessstudio mit?

Der hantelnde Dicke sprach mich an, als ich an ihm vorbeiging.

»Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte er.

Ich blieb stehen und starrte ihm ins Gesicht. Ich starrte, bis er wegschaute. Und als ich sah, dass er mir gegenüber nicht noch einmal das Maul aufreißen würde, ging ich weiter zu Flowers, der nach wie vor das Sparring verfolgte.

»Der Kleinere ist schneller«, sagte er nachdenklich. Er sprach über Fred. »Aber da ist noch etwas. Er hat keine Angst.«

Konnte ich mir vorstellen, wie Harry Flowers einen Benzinkanister über einer verängstigten Familie ausleerte? Das war dreißig Jahre her. Es kam mir vor, als wäre das jemand anders in einem anderen Leben gewesen. Vielleicht hatte er es gar nicht getan. Vielleicht war es nur eine dieser Mythen, die Gangster kultivierten. Eine Geschichte, die mit jedem Erzählen größer wurde, hatte John Caine gesagt, als handelt es sich um eine Story von Tolkien.

»Was wollen Sie, Flowers?«

Er wandte sich mir zu.

»Was Jessica Lyle zugestoßen ist, ist eine Tragödie«, sagte er.

»Fühlen Sie sich schuldig? Sollten Sie. Denn es scheint nicht sehr wahrscheinlich, dass man es wirklich auf Jessica Lyle abgesehen hatte, oder?«

Der Schwarze an seiner Seite rührte sich bei meinem Ton, und mir fiel auf, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte. Es war lange her, in einem Profiboxring. Er war damals gut gewesen – groß, aber schnell, mit dem Traum aufgewachsen, sich zu bewegen wie Muhammad Ali.

»Woher kenne ich Sie?«, fragte ich ihn.

»Ich bin Ruben Shavers.« Er reichte mir eine massige Hand.

Ich übersah sie. »Und wer ist der Fresskopf mit den Hanteln?«

Flowers gluckste. »Fresskopf!« Das gefiel ihm.

»Er heißt Derek Bumpus«, antwortete der Schwarze. »Big Del.«

Ich wandte meine ganze Aufmerksamkeit dem Herrn und Meister zu.

»Wir beide wissen, dass nicht Jessica Lyle entführt werden sollte«, sagte ich zu Flowers. »Man hatte es auf Ihre spezielle Freundin abgesehen. Die Entführer wollten Snezia Jones. Eine unschuldige Frau ist gekidnappt worden, weil jemand Ihnen etwas heimzahlen will.«

»Ist das Ihre Theorie?«, fragte er ruhig und gelassen.

»Oder vielleicht wollten Sie selbst Snezia Jones loswerden.«

Eine Wolke zog über sein fleischiges Gesicht.

»Warum sollte ich das wollen?«

»Es gibt so viele Gründe, wieso ein Mann wie Sie bei seiner Geliebten die Auswurftaste drücken könnte. Weil sie Ihnen langweilig geworden ist. Weil Sie nicht mehr für sie zahlen wollen. Weil Sie herausgefunden haben, dass sie nebenher noch was laufen hatte. Oder jede Kombination davon.«

»Ihre erste Theorie gefällt mir besser. Jemand möchte mir schaden. Wenn ich hinter der Entführung stecken sollte, würde ich mich ja wohl kaum an einen Detective von Homicide and Serious Crime wenden, oder?«

Da hatte er recht. Oder auch nicht. Vielleicht versuchte er bei mir einen Doppelbluff.

»Was glauben Sie, wer Jessica Lyle entführt hat?«, fragte ich. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie keine Liste von Verdächtigen haben.«

Er schüttelte den Kopf.

»Was immer Sie über mich gehört haben, es ist aus und vorbei.« Er reichte mir etwas, das wie eine Visitenkarte aussah, sich aber als eines dieser altmodischen Werbestreichholzbriefchen entpuppte.

Auto Waste Solutions, stand darauf. Kfz Recycling Lösungen. Bindestriche waren wohl zu teuer.

»Ich weiß nicht, wer sie hat, aber ich weiß, was als Nächstes kommt«, sagte er. »Wer immer Jessica entführt hat, ist gewalttätig. Und dumm. Mittlerweile dürfte den Kerlen fast mit Sicherheit klar sein, dass sie den größten Fehler ihres Lebens begangen haben. Und das lässt mich um die junge Frau fürchten.«

Genau so sah ich die Situation auch.

»Kennen Sie Jessica Lyle?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist die Mitbewohnerin …« – er hielt inne und suchte nach dem passenden Begriff – »… von jemandem, der mir nahesteht. Wir sind uns vorgestellt worden und sagen Hallo zueinander. Ich bin nicht oft in der Wohnung. Snezia und ich treffen uns gewöhnlich in einem Hotel in der Stadt.«