Die Etrusker - Dirk Steuernagel - E-Book

Die Etrusker E-Book

Dirk Steuernagel

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Beschreibung

Der Band liefert einen Überblick zur Geschichte und Kultur der Etrusker über die Spanne eines Jahrtausends, von den vorgeschichtlichen Anfängen bis zum Aufgehen in der römischen Gesellschaft der Kaiserzeit. Die ungeklärten Ursprünge werden ebenso diskutiert wie zivilisatorische Leistungen und die ausgefeilten religiösen Praktiken, mit denen Die Etrusker Zeitgenossen wie Nachwelt beeindruckten. Zugleich werden die wesentlichen Erkenntnisse über gesellschaftliche Strukturen, Handelskontakte sowie die künstlerischen Ausdrucksformen auf dem neuesten Stand der Forschung vermittelt. So treten die Konturen einer Kultur hervor, die schon antike Beobachter und mehr sogar Reisende, Forscher und Künstler der Neuzeit in ihren Bann gezogen hat. Doch auch in den Alltag und die Konflikte einer – zu Unrecht – vielfach noch als rätselhaft geltenden antiken Kultur gewährt das Buch neue und spannende Einblicke.

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Dirk Steuernagel

Die Etrusker

Ursprünge – Geschichte –Zivilisation

INHALT

EINLEITUNG

1. DIE WIEDERENTDECKUNG DER ETRUSKER

2. URSPRÜNGE DER ETRUSKER UND DER ETRUSKISCHEN GESELLSCHAFT

2.1Die etruskische Sicht

2.2Die Sicht der Griechen und Römer

2.3Die Problematik der etruskischen Sprache

2.4Die prähistorischen Anfänge der etruskischen Kultur

2.5Der Beitrag der Humangenetik

2.6Das Problem des Ethnos und der Ethnogenese

3. DER GEOGRAPHISCHE UND HISTORISCHE RAHMEN

3.1Das Kernland und die weiteren Siedlungsgebiete der Etrusker

3.2Die Etrusker und ihre Nachbarn

3.3Die Unterwerfung durch Rom und das etruskische Erbe

4. STÄDTE, SIEDLUNGSSTRUKTUR UND WIRTSCHAFTLICHE GRUNDLAGEN

4.1Die Entstehung der städtischen Zentren

4.2Stadtraum und Architektur

4.3Agrarwirtschaft, territoriale Herrschaft und Bodenschätze

4.4Austausch und Handel

5. GRÄBER UND NEKROPOLEN

5.1Zur Bedeutung der Gräber für die Erforschung der etruskischen Zivilisation

5.2Gräber und Nekropolen der orientalisierenden und archaischen Zeit (7. Jh. bis 5. Jh. v. Chr.)

5.3Gräber und Nekropolen der nacharchaischhellenistischen Zeit (4. Jh. bis 1. Jh. v. Chr.)

5.4Zwischen Diesseits und Jenseits

6. DIE ETRUSKISCHE GESELLSCHAFT

6.1Quellen und methodische Grundlagen einer etruskischen Sozialgeschichte

6.2Familienstrukturen und Familienverbände

6.3Die Aristokratie

6.4Andere gesellschaftliche Gruppen

6.5Politische Institutionen

7. DIE ETRUSKISCHE RELIGION

7.1Die Überlieferung des religiösen Wissens

7.2Kosmologie und die Ordnung von Raum und Zeit

7.3Die etruskische Götterwelt

7.4Heiligtümer, Tempel und Kulte

7.5Totenkult und Ahnenkult

8. KUNST UND HANDWERK

8.1Die orientalisierende Zeit (Ende 8. Jh. bis frühes 6. Jh. v. Chr.)

8.2Die archaische Zeit (6. Jh. bis Mitte 5. Jh. v. Chr.)

8.3Die nacharchaisch-frühhellenistische Zeit (Mitte 5. Jh. bis Mitte 3. Jh. v. Chr.)

8.4Die Zeit des Hellenismus und der Romanisierung (Mitte 3. Jh. bis 1. Jh. v. Chr.)

ZUM SCHLUSS

ANHANG I: NAMEN ETRUSKISCHER STÄDTE UND STÄTTEN, MODERN UND ANTIK

ANHANG II: EPOCHEN

ANHANG III: BIBLIOGRAPHIE

EINLEITUNG

Noch ein Buch über die Etrusker? Es scheint wahrhaftig kein Mangel zu herrschen an Literatur über dieses antike Volk, das im modernen Bewusstsein vor allem als Vorläufer und Wegbereiter der Römer gegenwärtig ist. Das Interesse ist gleichwohl lebendig und veranlasst europäische und außereuropäische Museen immer wieder, Sonderausstellungen zum Thema zu veranstalten. In deren Ankündigungen dürfen Begriffe wie »Rätsel« und »Geheimnis« oder gar »Mysterium« nicht fehlen, denn die ungebrochene Anziehungskraft geht gerade von ungelösten Problemen aus, die die Etrusker für die heutige Wissenschaft natürlich auch weiterhin bereithalten. Nicht dass andere antike Kulturen ganz ohne Geheimnisse oder Rätsel wären: Wenn wir etwa meinen, Griechen und Römer gut oder gar »zu gut« zu kennen, sodass Langeweile droht, dann oft nur aufgrund von Scheingewissheiten, die eine humanistische Bildungstradition oder deren späte Ausläufer vermitteln. Aus dieser Tradition waren die Etrusker, weil sie keine »klassischen« Texte hinterließen, ausgeschlossen – und gerade das macht sie noch heute interessant, nachdem die Tradition abgerissen ist und der von ihr aufgestellte Kanon keine Verbindlichkeit mehr besitzt.

Dieses Buch möchte das Interesse aufgreifen und zugleich zeigen, wie stark die etruskische Kultur mit anderen antiken Kulturen verwoben war, wie eng sich die Kontakte mit Griechen und Römern, aber auch mit Phöniziern oder Kelten gestalteten. Selbstverständlich kann hier nicht die Geschichte des gesamten Mittelmeerraums im 1. Jahrtausend v. Chr. aufgerollt werden. Es ist mir aber ein Anliegen, die Etrusker nicht isoliert, als Faszinosum zu betrachten, sondern in ihrer historischen Bedingtheit und Eingebundenheit. Die Etrusker haben auf vielen Gebieten noch heute Beeindruckendes geschaffen: Werke der Architektur, der Kunst, des Handwerks führen uns diese Leistungen vor Augen. Ihre eigene Kreativität auf diesen Gebieten wird aber vielleicht noch übertroffen von den kulturellen Transferleistungen der Etrusker. Damit nehmen sie tatsächlich eine Schlüsselposition ein im Austausch zwischen dem östlichen Mittelmeer einerseits, Italien und dem transalpinen Europa andererseits.

Gedacht ist das Buch für Italienreisende, allgemein kulturhistorisch Interessierte, auch Studierende historischer, archäologischer und anderer Fachrichtungen. Dem Reihenprofil entsprechend habe ich mich bemüht, den aktuellen Stand der Wissenschaft zu wesentlichen Aspekten der etruskischen Geschichte und Zivilisation allgemeinverständlich zusammenzufassen.

Ich hoffe, mit dieser Überblicksdarstellung eine zuverlässige Ausgangsbasis für die Beschäftigung mit den Etruskern zu bieten. Ein Einstieg ist grundsätzlich über jedes Kapitel möglich, über Querverweise lassen sich inhaltliche Zusammenhänge erschließen. Die im Anhang zusammengestellte Literatur ermöglicht vertiefende Studien. Hingegen wurde, um den Lesefluss zu erleichtern, auf Fußnoten verzichtet. Nur die wichtigsten Belege aus der antiken Literatur sind an den entsprechenden Stellen im Text selbst zitiert.

Die Darstellung setzt, auch hierin dem Reihenprofil verpflichtet, in erster Linie auf das Wort. Nun kennen wir die Etrusker jedoch mehr noch durch ihre materiellen Hinterlassenschaften denn durch Schriften. Daher begleiten Abbildungen von ausgewählten Objekten und Befunden den Text, um wenigstens exemplarisch deren Bedeutung für das Verständnis der etruskischen Zivilisation zu beleuchten.

Noch eine letzte Vorbemerkung: Ortsnamen sind in der Regel in ihrer modernen (meist italienischen) Form angegeben. Nur wo andere Formen im Deutschen üblich sind (z. B. Rom, Veji, Pompeji), oder wo aus dem Zusammenhang heraus die antike Form naheliegt, wurde von dieser Regel abgewichen. Zur Vermeidung von Missverständnissen sind in Anhang I die einander entsprechenden modernen und antiken Ortsnamen zusammengestellt.

Regensburg, im Oktober 2019

1. DIE WIEDERENTDECKUNG DER ETRUSKER

»Die Etrusker waren, wie jedermann weiß, das Volk, das in den frühen Tagen Roms die Mitte Italiens besaß und das die Römer, in ihrer üblichen nachbarschaftlichen Art, vollständig auslöschten, um Platz zu schaffen für Rom – Rom mit einem großen R. Sie hätten sie nicht alle auslöschen können, es gab zu viele von ihnen. Aber sie löschten die etruskische Existenz als Nation und Volk aus. Das scheint indessen das unausweichliche Ergebnis einer Expansion – Expansion mit einem großen E –, die die einzige raison d’être für Leute wie die Römer ist.«

Mit diesen Worten beginnt D. H. Lawrence einen Essay über seinen Besuch der etruskischen Gräber von Cerveteri im Jahr 1927. Lawrence, abgestoßen vom im damaligen Italien gepflegten faschistischen Kult des »Römertums«, macht sich hier zum Anwalt der verdrängten und scheinbar vergessenen Etrusker. Tatsächlich waren diese mit Ausgang der Antike aus dem historischen Bewusstsein Europas fast völlig verschwunden. Zwar hatten sich griechische und römische Autoren bisweilen mit spezifischen etruskischen Gebräuchen und Institutionen befasst, wie Aristoteles und Theopompos, oder die Geschichte Etruriens ausführlich dargestellt, wie der römische Kaiser Claudius. Aber von diesen Büchern waren nur die Titel und wenige, kurze Zitate überliefert. Erst das Spätmittelalter und die Renaissance entdeckten die Etrusker neu. Man sah sie, zumal in den aufstrebenden Kommunen Mittelitaliens, als Bürgen für eine historische Bedeutung, durch die man sich auf Augenhöhe mit Kaiserherrschaft und Papsttum wähnte.

Unter den ersten »Entdeckern« waren Giovanni Villani und Leonardo Bruni. Beide verfassten nicht in Latein, sondern in der Volkssprache Abhandlungen zur Geschichte von Florenz (1350 bzw. 1410). Darin stellten sie fest, dass die Etrusker vor dem Aufstieg Roms weite Teile Italiens dominiert hätten. Konnten sie sich für diese Behauptung auf Aussagen des römischen Historiographen Livius (Ab urbe condita 1, 2, 5) und des spätantiken Vergilkommentators Servius (Comentarii in Vergilii Aeneidos 11, 567) stützen, so spitzten sie ihre Darstellung doch in einer Weise zu, die nicht mehr von den antiken Quellen gedeckt war. Bruni etwa sah die Ursache des Niedergangs Roms in der Abkehr von dem Modell freier Stadtstaaten, das sich ursprünglich im etruskischen Zwölfstädtebund manifestiert habe. Villani hingegen verstieg sich zu der Behauptung, die etruskische Stadt Fiesole, oberhalb von Florenz gelegen, sei die älteste Stadt nicht nur Italiens, sondern ganz Europas, gegründet von einem direkten Nachfahren Noahs (Nuova Cronica 1, 7), der zugleich Vater des Gründers von Troja und somit Urahn der Römer gewesen sein soll. Als Beleg führte Villani die bis heute streckenweise noch gut erhaltenen, aus riesigen Quadern gefügten etruskischen Stadtmauern von Fiesole an. Auch andernorts berief man sich auf etruskische Ruinen als Zeugnisse einstiger Größe.

Einen Schritt weiter ging bei der Verfertigung solcher Abstammungslinien und Geschichtsbilder der aus Viterbo stammende Dominikanermönch Giovanni Nanni. Unter dem Namen Annius veröffentlichte er 1498 eine Sammlung von angeblich antiken Texten (Opera diversorum auctorum de antiquitatibus loquentium bzw. Antiquitates variae), die eine von der griechisch-römischen Historiographie abweichende, enger an die biblische Tradition anschließende Sicht der Weltgeschichte eröffnen sollte. Annius schrieb die – tatsächlich von ihm selbst verfassten Texte – Autoren zu, die zwar hier und dort in überlieferten Schriften zitiert, deren Werke aber meist vollständig verloren waren. So behauptete er, unter Berufung insbesondere auf den babylonischen Gelehrten Berosus, nicht das »lügnerische Griechenland«, sondern Etrurien sei die Wiege der europäischen Zivilisation, genauer: Viterbo, wo Noah sich unter dem Namen Janus nach der Sintflut niedergelassen und als Herrscher ebenso wie als Priester gewirkt habe. Als Rom die Rolle des caput mundi usurpiert und die griechische Philosophie an die Stelle der ursprünglichen Lehre des Noah-Janus gesetzt habe, sei die wahre Geschichte vergessen und der Schein griechischer Überlegenheit produziert worden. Obwohl diese Texte schon bald als Fälschungen entlarvt wurden und trotz ihrer Frontstellung gegen die humanistische Wiederentdeckung der griechischen Philosophie, wirkten Annius’ Fantastereien lange nach. Sie bedienten den Wunsch nach Versöhnung von antikem und christlichem Erbe, der sich unabhängig von Annius schon beim Architekten Leon Battista Alberti finden lässt. Dieser behauptete in dem erst postum 1485 veröffentlichten Traktat »Über die Baukunst« (De re aedificatoria 6, 3), es habe »eine wahre und geheiligte, schriftliche Tradition für den Tempelbau« bei den Etruskern gegeben und diese sei unmittelbar auf zeitgenössische Sakral-, also christliche Kirchenbauten anwendbar. Als auf heiligen Schriften basierend, damit dem Christentum verwandt, ist in der Sichtweise von Guillaume Postel auch die etruskische Religion. Schon der Titel seines 1551 in Florenz erschienenen Buches, De Etruriae regionis, quae prima in orbe Europaeo habitata est, originibus, institutis, religione et moribus (»Über die Ursprünge, Einrichtungen, Religion und Sitten der Länder Etruriens, das als erstes auf dem europäischen Kontinent bewohnt wurde«), lässt erkennen, dass Postel zudem von Annius das Postulat eines zivilisatorischen Primats der Etrusker übernahm. Etwa zur gleichen Zeit führten andere Gelehrte wie Pier Francesco Giambullari die toskanische Volkssprache auf das Etruskische und dieses wiederum auf das Aramäische als biblische Ursprache zurück (Il Gello, 1544, Neuauflage 1549 unter dem Titel Origini della lingua fiorentina).

Postel wie Giambullari wirkten in Florenz unter der monarchischen Herrschaft Cosimos I. de’ Medici, der sich seit 1569 »Großherzog der Toskana« nannte. Zur Legitimation seiner Territorialherrschaft berief sich Cosimo häufig auf die etruskische Vormachtstellung im antiken Mittelitalien und insbesondere auf die legendenumwobene Gestalt des Porsenna, einen König von Clusium (Chiusi), dem es sogar beinahe geglückt sein soll, Rom einzunehmen. Giorgio Vasari, seit 1554 künstlerischer Berater Cosimos, ließ denn auch ein berühmtes, zu jener Zeit in Arezzo gefundenes Bronzebildwerk, die Chimaira, im Palazzo Vecchio, dem offiziellen herzoglichen Regierungssitz, aufstellen (Abb. 1). In einem wohl fiktiven Dialog mit Francesco de’ Medici, den Vasari 1557 veröffentlichte, erklärte er dazu, die Inschrift auf einem Bein des Fabelwesens und die altertümliche Formgebung ließen erkennen, dass es sich um ein etruskisches Werk handele; die Etrusker hätten schon vor Griechen und Römern sich in den Künsten geübt und dürften damit tatsächlich eine Vorrangstellung beanspruchen.

Obgleich nach dem Tode Cosimos I. das Interesse zunächst deutlich nachgelassen hatte, ging die nächste Welle der Etruskerbegeisterung wiederum von Florenz aus. Auslöser war die Publikation einer umfassenden, philologisch-historischen Abhandlung, die ein schottischer Gelehrter namens Thomas Dempster im Auftrag des Großherzogs Cosimo II. zwischen 1616 und 1619 verfasst hatte. Gedruckt erschien das Werk erst 1726 (De Etruria regali libri VII). Die zweibändige Buchausgabe wurde nun, der damals neuen antiquarischen Ausrichtung der Geschichtsschreibung entsprechend, um einen von Filippo Buonarroti kommentierten Apparat von Kupferstichen ergänzt. Seinem Beispiel folgend, publizierte der Priester und Altertumsforscher Anton Francesco Gori bald darauf drei Bände eines Museum Etruscum (1736–1743) mit zahlreichen Illustrationen etruskischer Monumente und Funde (Abb. 1). Darin berichtet er gelegentlich auch über eigene Nachforschungen, so in einer gerade geöffneten Grabstätte in Volterra. Damit regte er wiederum eine manchmal geradezu fieberhafte Suche nach etruskischen Gräbern in Volterra und an anderen Orten der Toskana an. Umfangreiche Sammlungen etruskischer Altertümer entstanden, wollte man doch die Geschichte an den Monumenten erweisen, statt auf lückenhafte und oft tendenziöse Berichte griechischer und römischer Historiographen zu vertrauen. Mit derselben Motivation unternahm man erste ernstzunehmende Versuche, die etruskische Schrift zu lesen, die Struktur der Sprache und die Inhalte der Texte zu verstehen. Im Zuge dieser Etruscheria genannten, weite Kreise der italienischen Gelehrtenwelt erfassenden Bewegung wurde 1726 die Accademia Etrusca in Cortona gegründet, die eine paneuropäische Ausstrahlung entwickelte und zu ihren Mitgliedern Geistesgrößen wie Montesquieu und Voltaire zählte. Dennoch wurde immer wieder, nicht zuletzt aus einem bornierten Lokalpatriotismus heraus, die alte Behauptung der Vorrangstellung der Etrusker gegenüber der griechischen und römischen Kultur erneuert. Selbst Johann Joachim Winckelmann, der bis heute als Gründer der Klassischen Archäologie gilt, ordnete in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) die Etrusker einer historischen Entwicklungsstufe vor der griechischen Kunst zu. Demgegenüber zeigten bereits Winckelmanns jüngere Zeitgenossen Christian Gottlob Heyne und Luigi Lanzi wichtige Querverbindungen zwischen der etruskischen und der griechischen Kultur auf und legten so die Grundlagen für ein modernes historisches Verständnis.

Abb. 1: Chimaira, Stich aus Th. Dempster: De Etruria regali, Florenz 1733, Taf. 22

Die Hochkonjunktur der archäologischen Erforschung (und Ausplünderung!) etruskischer Stätten setzte jedoch erst in den 1820er-Jahren und dann vor allem auf dem Territorium des damaligen Kirchenstaats ein. Nekropolen in Veji, Cerveteri, Corneto (Tarquinia), Vulci, rund um Viterbo und auch weiter nördlich, in der Region um Perugia und Chiusi, wurden zum Ziel von in der Regel ortsansässigen Ausgräbern, deren wichtigste Motivation oft darin bestand, mit den in den Gräbern gefundenen Objekten einträgliche Geschäfte zu machen. Somit wurden die Fundstücke über unzählige Sammlungen verstreut, die damals in ganz Europa entstanden. Daneben gab es aber auch recht gewissenhafte Dokumentationen von Fundkontexten, wie jene, die 1836 bei der Ausgrabung einer Grabanlage des 7. Jh.s v. Chr. in Cerveteri der Ortspriester Alessandro Regolini und der päpstliche Offizier Vincenzo Galassi erstellten (dazu 6.2). Die Funde aus dem nach ihnen benannten Grab gingen dann in das unter Papst Gregor XVI. 1837 gegründete, weltweit erste öffentliche Etruskermuseum im Vatikan ein, wo sie noch heute zu sehen sind. Wenig später erhielt auch das Britische Museum in London seine etruskische Abteilung, nach dem Ankauf von Objekten einer spektakulären Ausstellung, die findige »Grabungsunternehmer« aus Tuscania in der Pall Mall veranstaltet hatten. Andere europäische Museen zogen nach. Zugleich entstanden wissenschaftliche Apparate, indem etruskische Inschriften systematisch abgeformt (»abgeklatscht«) und abgeschrieben, Faksimiles und Umzeichnungen von etruskischen Bildwerken zusammengetragen wurden. Hierin tat sich Eduard Gerhard, Mitbegründer des in Rom angesiedelten Instituto di Corrispondenza Archeologica und seit 1833 Archäologe an den Berliner Museen, besonders hervor. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden auf dem Fundament des gesammelten Materials umfangreiche Corpora von etruskischen Inschriften, Spiegelgravuren, Reliefs usw. publiziert.

Im Gegensatz zu dem enormen Zuwachs an archäologischem und epigraphischem Quellenmaterial war die Wertschätzung der etruskischen Kulturleistungen seit den Tagen der Etruscheria allerdings stark gesunken. Nach den Maßstäben des im 19. Jahrhundert vorherrschenden klassizistischen Kunstgeschmacks konnten etruskische neben griechischen Werken nicht bestehen, sondern waren höchstens als qualitativ minderwertige Reflexe einer Betrachtung wert. Die Abkehr von der klassizistischen Ästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte eine erneute Wende herbei. Was bisher als vergröberte Nachahmung, ja barbarische Verballhornung echter künstlerischer Form gesehen worden war, galt nun als spontane Äußerung einer vitalen, urtümlichen Kreativität. Diese gewissermaßen »völkische« Umwertung schlug sich in Italien, besonders unter dem faschistischen Regime und durch ihm nahestehende Wissenschaftler wie Giulio Quirino Giglioli, in der Vereinnahmung der etruskischen Kultur als Substrat der eigenen nationalen Kultur nieder. Die Etruskerforschung erfuhr in dieser Periode, zwischen 1920 und 1940, einen enormen Aufschwung. Sie wurde gar zur eigenen Disziplin, der Etruskologie, freilich um den Preis der partiellen Lösung von den Altertums- und historischen Sprachwissenschaften. Große wissenschaftliche Kongresse auf nationaler wie internationaler Ebene fanden statt, es entstanden spezialisierte Lehrstühle an den Universitäten und Forschungszentren, vor allem in Italien. Diese bildeten die Basis für gezielte Untersuchungen, mit denen man die bislang ungeklärten Probleme lösen wollte.

Ohne dass ein ideologischer oder erkenntnistheoretischer Bruch erklärt bzw. offen zutage getreten wäre, kühlten die oft hitzig geführten Debatten, z. B. über die Herkunft des etruskischen Volkes oder die Zugehörigkeit des Etruskischen zu einer der bekannten Sprachfamilien, schon im Laufe der späteren 1930er- und 1940er-Jahre merklich ab. Eine gewisse historisierende Versachlichung setzte ein, angeleitet nicht zuletzt durch den Giglioli-Schüler Massimo Pallottino. Begleitet wurde sie von einer Ausweitung der wissenschaftlichen Interessen, in deren Zuge sich die Forschung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vermehrt sozialgeschichtlichen Aspekten widmete, nicht allein Gräber und Heiligtümer, sondern vermehrt auch Siedlungen und Produktionsstätten archäologisch untersuchte. Damit einhergehend wurden neben der seit Vasaris Tagen stets vielbeachteten etruskischen Bildkunst eine ganze Reihe anderer Materialgattungen als primäre Quellen für die etruskische Geschichte erschlossen, sodass sich beispielsweise Handelsverbindungen in den keltischen Kulturraum beiderseits der Alpen erstmals deutlich fassen ließen. So wuchs das Verständnis der etruskischen Zivilisation als Teil einer ethnisch wie kulturell komplexen Landschaft Altitaliens und der antiken Mittelmeerwelt. Leider ist die institutionalisierte wissenschaftliche Beschäftigung mit den Etruskern in vielen Ländern außerhalb Italiens dennoch auf dem Rückzug, eine akademische Marginalisierung droht. Sehr erfolgreiche Publikumsausstellungen, die in mittlerweile immer enger werdenden zeitlichen Abständen in ganz Europa stattfinden, können darüber nicht hinwegtäuschen. Auch ist es mit solchen Veranstaltungen, obwohl sie einem großen Kreis von Interessierten neue Facetten des Etruskerbildes vor Augen stellen, bisher nicht vollständig gelungen, mit dem Klischee der »anti-klassischen«, »mysteriösen« Kultur aufzuräumen.

2. URSPRÜNGE DER ETRUSKER UND DER ETRUSKISCHEN GESELLSCHAFT

2.1 Die etruskische Sicht

Wie man in der frühen Neuzeit über das Alter der etruskischen Zivilisation diskutierte und den Ursprüngen des Volkes nachspürte, so hatte es schon in der Antike eine lebhafte Debatte über die Herkunftsfrage gegeben – zumindest in der griechischen und römischen Geschichtsschreibung. Was die Etrusker darüber dachten, ist kaum bekannt. Nicht einmal den Namen, den sie sich selbst gaben, kennen wir mit Gewissheit. Dionysios von Halikarnassos, der um die Zeitenwende eine Geschichte Roms in zwanzig Büchern verfasste, sagt, die Etrusker selbst nennten sich Rasenna (Antiquitates Romanae 1, 30, 3). Tatsächlich ist derselbe Wortstamm in verschiedenen etruskischen Inschriften wiederzuerkennen, als Teil von Titeln städtischer Magistrate (zilath mechl rasnal bzw. rasnas), einmal auch zur Bezeichnung eines Territoriums auf einem Grenzstein aus Cortona (tular rasnal). Der Kontext legt hier jeweils aber nahe, dass eine Bezeichnung des Volkes nicht als ethnische, sondern als politische Einheit vorliegt (vergleichbar lat. populus). Die Angabe des Dionysios, der kaum der etruskischen Sprache mächtig gewesen sein dürfte, beruht also vielleicht auf einem Missverständnis. Tatsächlich könnte die Selbstbezeichnung der Etrusker von einem erschlossenen Wortstamm *Turs- gebildet worden sein, der sich umgeformt im griechischen Tyrsenoi bzw. Tyrrhenoi und im lateinischen Etrusci wiederfindet.

Ein Selbstverständnis als Ethnos scheint jedenfalls unter den Etruskern verbreitet gewesen zu sein, obwohl sie politisch auf verschiedene Stadtstaaten verteilt lebten. Sie waren nur lose durch eine Bundesorganisation verknüpft, die »zwölf Völker Etruriens« (duodecim populi Etruriae), die sich zu Versammlungen in einem Bundesheiligtum trafen (dazu 6.5). Für das übergreifende Selbstverständnis steht der Begriff des nomen Etruscum, der sich in römischen Quellen findet, die sich auf eine religiös definierte Zeitrechnung und ein schicksalhaft vorherbestimmtes Ende des etruskischen Volksstamms beziehen. Wie verschiedentlich bezeugt, unterteilten die Etrusker ihre Geschichte in saecula, deren Dauer unterschiedlich gewesen sein und sich nach dem Todesdatum desjenigen Menschen gerichtet haben soll, der von Beginn des saeculum an am längsten gelebt hatte. Das Ende sei dann jeweils durch göttliche Vorzeichen angezeigt worden. Der antiquarische Geschichtsschreiber Marcus Terentius Varro wusste im späteren 1. Jh. v. Chr. zu berichten, dass etruskische Geschichtswerke dem etruskischen Volk insgesamt zehn saecula zumessen, acht davon seien schon abgelaufen, ein neuntes und zehntes stehe noch bevor, dann werde das Ende der etruskischen Nation (finis nominis Etrusci) gekommen sein (überliefert bei Censorinus, De die natali 17, 6). Dieses Ende rückte offenbar im Bewusstsein der Etrusker näher, als nach dem Tod Caesars im Jahr 44 v. Chr. ein Komet erschien, das sog. sidus Iulium. Augustus berichtete in seinen Memoiren (zitiert bei Servius, Commentarii in Vergili Bucolica Ecl. 9, 47), ein etruskischer Priester habe damals den Kometen als Zeichen für das Ende des neunten und den Beginn des zehnten, letzten saeculum gedeutet. Damit lässt sich, unter Berücksichtigung der bei Varro überlieferten Daten zur Dauer der früheren saecula, ungefähr abschätzen, dass die Etrusker den Anfang ihrer Geschichte nach heutiger Zeitrechnung um die Wende vom 2. zum 1. Jahrtausend v. Chr. angesetzt haben dürften.

2.2 Die Sicht der Griechen und Römer

Besser einzuordnen als die bruchstückhaften und nur indirekt auf uns gekommenen Zeugnisse der etruskischen Überlieferung sind Erzählungen, die in Griechenland und Rom über den Ursprung der Etrusker kursierten. Auch diese präsentieren divergierende Sichtweisen. Die Überlieferung dazu setzt allerdings relativ spät ein; die Verse der Theogonie des böotischen Dichters Hesiod, in denen Leute namens Tyrsenoi als Nachfahren von Odysseus und Kirke erscheinen (1011–1016), sind möglicherweise erst nachträglich dem Werk aus dem frühen 7. Jh. v. Chr. angefügt worden. Die frühesten sicher datierbaren Belege stammen aus dem späteren 5. Jh. v. Chr., aus den Geschichtswerken des Hellanikos von Lesbos und des Herodot. Beide berichten von Wanderungsbewegungen. Hellanikos wird von Dionysios von Halikarnassos zitiert (Antiquitates Romanae 1, 28, 3). Demzufolge waren die Etrusker von ihrer Herkunft her Pelasger, also Angehörige eines frühgeschichtlichen, vor- oder wenigstens nicht-griechischen Volkes, das weite Teile des ägäischen Mittelmeerraums besiedelt haben soll. Von den Griechen aus ihrer Heimat vertrieben, hätten sie sich in Italien niedergelassen und dort den Namen »Tyrrhener« angenommen. Eine andere Geschichte erzählt Herodot (Historiae 1, 94): Die Tyrsener (so nennt er sie) seien eigentlich Lyder, also ein Volksstamm des westlichen Kleinasiens gewesen. Als eine Hungersnot ihre Heimat heimsuchte, sei die Hälfte der Lyder unter Führung des Tyrsenos, des Sohnes von König Atys, ausgezogen, um neues Land zu gewinnen, und habe sich schließlich in Mittelitalien niedergelassen.

Diese beiden einander widersprechenden Versionen sind, mit Varianten, die am weitesten verbreiteten in der griechischen und römischen Geschichtsschreibung. Manche Autoren versuchen sie miteinander zu versöhnen, beispielsweise Plutarch, der in seiner Biographie des Romulus (2, 1) behauptet, die Tyrrhener stammten aus Thessalien (also aus einem der Siedlungsgebiete der Pelasger) und seien zunächst nach Lydien und von dort nach Italien ausgewandert. Strabon (Geographica 5, 2, 2–3) hingegen berichtet, dass Lyder, damals schon in Italien ansässig und Tyrrhener genannt, die Stadt Caere (heute Cerveteri, in Südetrurien) eingenommen hätten, die bis dahin von aus Thessalien eingewanderten Pelasgern bewohnt gewesen sei. Strabon referiert jedoch auch den frühhellenistischen Historiographen Antikleides (5, 2, 4), der von den Inseln Lemnos und Imbros kommende Pelasger nennt, die unter Führung des Tyrrhenos, Sohn des Atys nach Italien umgesiedelt seien.

Eine radikal andere Version der etruskischen Ursprünge liefert Dionysios von Halikarnassos. Er setzt sich zunächst mit den bereits genannten Überlieferungen kritisch auseinander und präsentiert dann so kurz wie entschieden seine eigene These: »Wahrscheinlich kommen jene eher der Wahrheit nahe, die erklären, das (etruskische) Volk sei von nirgendwoher gekommen, sondern aus dem Land stammend (epichorion), zumal es sich als äußerst alt und mit keinem anderen Stamm hinsichtlich der Sprache und der Lebensweise gleich erweist.« (Antiquitates Romanae 1, 30, 2). Nicht auszuschließen ist, dass er Autochtoniethesen aufgreift, die in Etrurien selbst kursierten (2.1), doch hat er von diesen wohl kaum direkte Kenntnis. Deutlich ist in jedem Fall der Hintergrund, vor dem Dionysios geneigt war, die Etrusker als »Eingeborene« anzusehen. Intention seines Geschichtswerks war es nämlich, die Römer, die er als Abkömmlinge der Griechen darstellt, möglichst scharf von ihrer »barbarischen« Umgebung abzusetzen. Der Kontrast musste aus dieser Intention heraus besonders hinsichtlich der Etrusker betont werden, da hier die Beziehungen besonders eng scheinen mochten. Die Römer der augusteischen Zeit leiteten ja nicht wenige der eigenen Gebräuche und Einrichtungen aus Etrurien her, auch um deren hohes Alter zu betonen. In der Königszeit soll Rom zeitweise von etruskischen Herrschern regiert worden sein (vgl. 3.2 und 7.5). Und Dionysios selbst sagt, dass manche griechische Autoren irrtümlich annähmen, Rom sei eine etruskische Stadt (Antiquitates Romanae 1, 29, 2).

Allgemein ist festzuhalten, dass antike Legenden über Ursprünge von Völkern eher nicht als verschwommene Erinnerungen an tatsächliche Migrationsbewegungen von »Urvölkern« wie den Pelasgern verstanden werden sollten, sondern als Hilfsmittel zur aktiven Formierung von ethnischem Selbstbewusstsein. Eine wissenschaftliche Analyse muss der historischen Bedingtheit und auch des »Gemachtseins« solcher Identitäten Rechnung tragen, wenn sie die Frage nach den Ursprüngen der Etrusker stellt.

2.3 Die Problematik der etruskischen Sprache

Schon Dionysios bezieht sich auf die Andersartigkeit der Sprache, um die Eigenständigkeit der etruskischen Zivilisation zu demonstrieren. Um deren Ursprünge zu ergründen, nahmen und nehmen auch viele moderne Versuche von der Sprache ihren Ausgang. Tatsächlich ist sie mit keiner anderen, jedenfalls keiner der besser bekannten Sprachen der Alten Welt, noch mit einer modernen Sprache verwandt. Es mag daher so scheinen, als sei das Etruskische völlig unverständlich, quasi wie ein Code, der darauf wartet, geknackt zu werden. Entsprechende »Lösungen« werden tatsächlich immer wieder vorgeschlagen, wobei häufig die angenommene Verwandtschaft mit einer modernen Sprache als Ausgangspunkt dient, wie in jüngerer Zeit etwa mit dem Albanischen und dem Türkischen geschehen. Solche Unternehmungen reflektieren in der Regel weder das methodische Instrumentarium noch den Kenntnisstand der etruskischen Sprachwissenschaft.

Etruskische Texte sind fast ausschließlich in Form von Inschriften überliefert. Die einzige Ausnahme bildet ein auf Leinen geschriebenes Buch, das auf unbekannten Wegen nach Ägypten gelangt, dort in acht Streifen zerschnitten und zur Mumifizierung eines Leichnams verwendet worden war. Diese Mumie hat ein Reisender Mitte des 19. Jahrhunderts nach Zagreb gebracht; seither bewahrt man im dortigen Archäologischen Museum die nach dem mittlerweile ungebräuchlichen Namen der Stadt benannten Agramer Mumienbinden auf. Das Buch enthält mit ca. 1130 Wörtern den längsten überhaupt erhaltenen etruskischen Text.

Die insgesamt über zehntausend erhaltenen Inschriftentexte hingegen sind in der Regel recht kurz. Die meisten sind Sepulkral-, Besitz- und Weihinschriften, die sich an Grabwänden und -monumenten, auf Gegenständen des täglichen Gebrauchs und auf in Heiligtümern deponierten Objekten finden. Ferner sind Beischriften zu bildlichen Darstellungen auf Schmucksteinen, Gefäßen, Sarkophagen und Urnen zu nennen. Neben Personennamen enthalten solche Texte meist nur wenige Wörter eines formelhaften Vokabulars, nur selten sind Grabinschriften etwas ausführlicher gestaltet. Dazu gibt es eine Handvoll längerer Texte auf unterschiedlichen Inschriftenträgern (Metalltafeln und -täfelchen, ein Dachziegel, ein Grenzstein, das Modell einer Schafsleber) mit unterschiedlichen Funktionen; sie enthalten jeweils ca. 50 bis 200 Wörter.

Die etruskische Schrift leitet sich von Alphabeten ab, die griechische Kolonisten im 8. Jh. v. Chr. in den westlichen Mittelmeerraum gebracht hatten. Die frühesten etruskischen Schriftzeugnisse stammen aus der Zeit um 700 v. Chr., Objekte mit einzelnen Buchstaben sind schon aus dem 8. Jh. bekannt. Besonders unter den frühen Zeugnissen gibt es einige Musteralphabete, die den Vorgang der Übernahme und Anpassung der griechischen Buchstaben llustrieren (Abb. 2). Solche Alphabetarien enthalten Zeichen, die im Etruskischen sonst nie benutzt worden sind, weil die entsprechenden Laute in dieser Sprache nicht vorkamen (z. B. die stimmhaften Verschlusslaute wie Beta und Delta). Dafür gibt es Zeichen, die kein griechisches Pendant haben, eben für Laute oder Lautdifferenzierungen, die nur im Etruskischen vorhanden waren (z. B. bei den Reibe- bzw. Zischlauten, sodass neben Sigma ein Buchstabe San existiert, dessen Form unserem großen M ähnelt). Welche Phoneme den etruskischen Schriftzeichen entsprachen, wie also die Lautbildung vorzustellen ist, lässt sich vor allem anhand von Umschriften fremdsprachlicher Wörter und Namen im Etruskischen (z. B. etrusk. Atunis von griech. Adonis) und durch lateinische oder griechische Übertragungen etruskischer Wörter und Namen rekonstruieren (z. B. lat. Vibenna von etrusk. Vipina). Durch Vergleich älterer und jüngerer etruskischer Inschriften ist es zudem möglich, Lautentwicklungen innerhalb der etruskischen Sprache nachzuvollziehen. Bei den jüngeren Inschriften fallen (durch die sog. Synkope) häufig Binnenvokale aus, was für eine starke Anfangsbetonung der Wörter spricht.

Abb. 2: Etruskische Alphabete

Generell gilt, dass Lesen und Transkription etruskischer Texte kein Problem darstellt. Die Römer scheinen übrigens ihrerseits das lateinische Alphabet aus der etruskischen Schrift entwickelt zu haben. Im Unterschied zur Schreibweise von Griechen und Römern, in der im Laufe der Zeit die rechtsläufige Schrift zur Regel wird, ist das Etruskische meist linksläufig geschrieben. Weitaus schwieriger als das Lesen gestaltet sich das Verständnis etruskischer Texte. Die Sprache ist, wie man aus der Chronologie der Schriftzeugnisse schließen kann, wohl im Laufe des 1. Jh.s n. Chr. außer Gebrauch gekommen, sie hat also die Schwelle zum Mittelalter und zu der bis heute wirksamen christlichen bzw. humanistischen Bildungstradition nicht überschritten. Ferner gehört das Etruskische keiner der bekannten Sprachfamilien an. Wortbedeutungen mithilfe vergleichender Etymologie zu erschließen, ist folglich nicht möglich. Zudem geben die griechischen und römischen Autoren nur etwa 60 Übersetzungen etruskischer Wörter an. In begrenztem Umfang können zweisprachige Texte, sog. Bilinguen, z. B. in Etruskisch und Latein verfasste Grabinschriften, ausgewertet werden. Ansonsten sind Wortbedeutungen also nur aus den etruskischen Texten selbst zu erschließen. Das geschieht durch Beachtung des Zusammenhangs und durch Heranziehen von strukturell vergleichbaren Texten aus anderen Sprachen sowie, soweit möglich, der lexikalischen Ableitungen. Ein Beispiel: Ein etruskischer Sarkophag aus Tuscania aus dem 3. Jh. v. Chr., heute im British Museum, ist mit der Reliefdarstellung eines Beamten geschmückt, der im zweispännigen Wagen fährt und von Amtsdienern begleitet wird. Die Inschrift des Sarkophagkastens lautet Atnas Vel Larthal clan svalce avil LXIII zilath maruchva taris cepta phechucu. Wir haben eine Grabinschrift und können erwarten, etwas über den Verstorbenen zu erfahren. Wir können außerdem römische Grabinschriften zum Vergleich heranziehen in der Erwartung, dass es im Aufbau zumindest gewisse Parallelen gibt. Unter diesen Prämissen und durch Kontrolle anhand ähnlicher etruskischer Grabinschriften stellt sich dann heraus: Am Anfang steht der zweiteilige Name, Vorname und Gentilname (Familienname), hier allerdings in umgekehrter Reihung, dann der Vatersname im Genitiv (Larthal von Larth) in Verbindung mit dem Wort für Sohn, clan (diese Bedeutung ist durch zweisprachige Inschriften gesichert). Es folgt eine Wortgruppe mit dem Zahlzeichen für »63« am Ende, vermutlich eine Angabe zum Sterbealter, vergleichbar lateinischen Formulierungen wie vixit annos LXIII. Durch Abgleich mit vielen anderen etruskischen Beispielen lässt sich diese Hypothese erhärten, avil muss das Wort für »Jahr« sein, svalce eine Vergangenheitsform des Verbs für »leben«. Bis hierhin lautet der Text also: »Vel Atnas, Sohn des Larth, hat 63 Jahre gelebt«. Die dahinter aufgereihten Worte dürften, in Analogie zu Grabmonumenten römischer Magistrate, die vom Verstorbenen bekleideten Ämter aufzählen, bilden also den sog. cursus honorum ab. Tatsächlich ist zilath auch sonst in Kontexten überliefert, die auf etruskische Amtsbezeichnungen schließen lassen; maruchva und cepta sind erweiterte (Verbal-?) Formen ebensolcher Titel, wobei maru- unmittelbar an eine in altitalischen Texten, z. B. den Ritualvorschriften der umbrischen Tabulae Iguvinae erwähnte Magistratur erinnert. Der unaufgelöste Rest bezeichnet demnach entweder weitere Ämter oder Erweiterungen bzw. Spezifizierungen der genannten Titel.

Auch ein Verständnis längerer und komplexerer Texte wie das in Form der erwähnten Mumienbinden überlieferte Buch lässt sich am ehesten durch Kombinationen von kontextabhängigen Hypothesenbildungen und strukturellen Vergleichen erschließen. So können beispielsweise Parallelen mit dem Textaufbau jener Tabulae Iguvinae aufgezeigt werden. Beiden Texten liegt offenbar eine kalendarische Struktur zugrunde, die an genau bezeichneten Tagen die Ausführung bestimmter Riten be- bzw. vorschreibt. Nicht zuletzt das Material des etruskischen Buches spricht für eine solche Deutung, wissen wir doch durch Livius, dass die römischen Priesterschaften ihre Jahreschroniken auf Leinen schrieben (sog. libri lintei, z. B. Ab urbe condita 4, 7, 12; 20, 8). Auf ähnlichem Wege lassen sich die Inhalte der übrigen längeren Inschriften wenigstens grob als Kalender und Ritualvorschriften, außerdem als Pacht- und Kaufverträge sowie Stiftungsurkunden bestimmen.

Das bisher Gesagte mag genügen, um die methodische Grundlage zu illustrieren, auf der mittlerweile ein weitgehendes Verständnis der kurzen etruskischen Texte und ein wenigstens näherungsweises Verständnis der längeren Texte möglich sind. Vor allem sollte klar geworden sein, dass die linguistische Forschung heute keineswegs völlig im Dunkeln tappt, wenn es um das Etruskische geht, sondern über ein zumindest grobes Gerüst an gesichertem Wissen verfügt. Lassen sich also wichtige Merkmale der Sprache klar bestimmen – etwa ihr sicher nichtindoeuropäischer Charakter und ihre grundsätzlich agglutinierende Struktur –, so heißt das leider aber keineswegs, dass ihre Geschichte völlig durchleuchtet wäre. Besonders wichtig ist diesbezüglich die Frage nach der Verwandtschaft mit zwei anderen, noch weitaus weniger gut bezeugten antiken Sprachen, dem Rätischen und dem Lemnischen.

Die rätische Sprache ist in historischer Zeit durch Inschriften des 5. bis 1. Jh.s v. Chr. aus dem Alpen- und nordostitalienischen Voralpenraum bezeugt. Nur wenige dieser Inschriften bestehen aus längeren Buchstabenfolgen und mehreren Wörtern. Dennoch lässt sich erkennen, dass die Sprache morphologisch und grammatisch mit dem Etruskischen verwandt ist, d. h., die Wortbildung und die Regeln der Wortverkettung und Satzbildung sind zumindest ähnlich. Hingegen unterscheiden sich Wortschatz und Personennamen deutlich. Auch ist das Alphabet nicht mit dem etruskischen identisch, sondern nur indirekt, über die Zwischenstufe des venetischen Alphabets, von jenem hergleitet. Manche Linguisten sehen das Rätische daher als Weiterentwicklung einer »urtyrsenischen« Sprache, aus der parallel das Etruskische hervorgegangen sei. Dazu scheint auf den ersten Blick zu passen, was Livius über eine etruskische Herkunft von Alpenvölkern, besonders der Räter berichtet. Diese seien quasi abgekapselt worden, als die etruskischen Siedlungsgebiete, die einst bis zu den Alpen gereicht hätten, durch keltische Invasionen ab ca. 600 v. Chr. eingeengt worden seien (Ab urbe condita 5, 33). Die erwähnten, tiefgehenden Unterschiede der Sprachen sind jedoch wahrscheinlich als Indiz für eine zeitlich weitaus früher anzusetzende Trennung bzw. Verzweigung zu werten.

Nicht weniger kompliziert und historisch noch interessanter sind die Beziehungen zwischen dem Etruskischen und der Sprache, die auf der nordägäischen Insel Lemnos vor deren Eroberung durch die Athener im ausgehenden 5. Jh. v. Chr. verwendet worden ist. Lemnos spielt in einigen antiken Überlieferungen zur angeblichen Herkunft der Etrusker aus dem Osten eine Rolle (z. B. beim oben zitierten Autor Antikleides, s. 2.2). Der athenische Geschichtsschreiber Thukydides nennt die früheren Bewohner von Lemnos sogar ausdrücklich »Tyrsener« (Historiae 4, 109, 4). Die alt-lemnischen Sprachzeugnisse sind nicht sehr zahlreich. Es handelt sich nur um zwei längere »monumentale« Inschriften auf einer Grabstele und auf der steinernen Basis eines Weihgeschenks. Dazu kommen etwas mehr als ein Dutzend kurze, auf Keramikscherben eingravierte Weih- und Besitzerinschriften aus einem Heiligtums- und einem Siedlungskontext. Mit dem Etruskischen gibt es wiederum vor allem morphologische, jedoch nur vereinzelte lexikalische Übereinstimmungen. Auch gibt es Divergenzen hinsichtlich des Vokalismus: Wo im Etruskischen »u« stehen würde, erscheint im Lemnischen »o«. Die Unterschiede sprechen nach Meinung eines Teils der Linguisten dafür, auch das Lemnische vom »Urtyrsenischen« abzuleiten. Andere widersprechen vehement und sehen das Lemnische als eine Spielart des historischen Etruskisch. Demzufolge müssten etruskische Auswanderer die Sprache nach Lemnos gebracht haben. Die Insel sei von da an als Basis für Handels- und Kaperfahrten benutzt worden.

Ist die etruskische Sprache bzw. eine Vorform derselben also von Osten aus nach Westen gewandert – mit Migranten, die von Kleinasien über Lemnos nach Italien kamen? Oder ist Italien die Heimat des Etruskischen, dessen Verbreitung dort in der Folge von Einwanderungen indoeuropäischer Sprachgruppen im Wesentlichen auf Mittelitalien begrenzt wurde? Die Frage kann an dieser Stelle nicht schlüssig beantwortet werden. Einerseits ist der Nachweis einer verwandten Sprache auf Lemnos bei gleichzeitigem Fehlen anderer Indikatoren etruskischer Präsenz (z. B. etruskische Gottheiten oder auch typische Keramikformen) scheinbar gut mit der Ost-West-Verbreitung zu erklären Andererseits werden wir sehen, dass sich ein Widerspruch zwischen Sprache und materieller Kultur ebenso auftut, wenn man eine östliche Herkunft der in Etrurien gesprochenen Sprache voraussetzt. Es bliebe aber ein Drittes, wenn nämlich die Lemnier ebenso wie die Räter schon früh von einer »Urtyrsenisch« sprechenden, in Italien beheimateten Bevölkerung abgesprengt worden wären. In diesem Zusammenhang kann auf die in altägyptischen Quellen erwähnten sog. Seevölker verwiesen werden. Es handelt sich um im Mittelmeer umherstreifende Gruppen, die zwischen ca. 1210 und 1180 v. Chr. wiederholt in das Nildelta einfielen. Über Abwehrkämpfe berichten mehrere Texte aus der Zeit der Pharaonen Merenptah und Ramses III. Darin werden Angehörige einer der Gruppen – in der üblichen Umschrift der Hieroglyphen – mit »t(w)r(w)š« (Teresch oder Turusch) bezeichnet; der Name ist in der historischen Forschung häufig mit »Tyrrhenern« bzw. »Tyrsenern« in Verbindung gebracht worden. Kamen sie aus Italien? Und haben sich Teile oder Nachkommen dieser »Tyrrhener« später auf Lemnos niedergelassen? Leider kommt man diesbezüglich über Spekulationen kaum hinaus. Wichtig bleibt in jedem Fall die Feststellung, dass die etruskische Sprache mit den Sprachen der den Etruskern benachbarten Völkern (Latein, Oskisch, Umbrisch) zwar nicht verwandt ist, aber doch sehr enge Beziehungen hat, sodass Wörter entlehnt und auch sprachliche Strukturen teilweise angeglichen sind. Es ist daher davon auszugehen, dass die Völker schon lange nebeneinander existiert haben müssen, bevor es zu einer Verschriftlichung der Sprachen kam. Die Einwanderung einer etruskischen Sprachgruppe nach Italien müsste folglich, wenn überhaupt, in prähistorischer Zeit erfolgt sein. Im selben Sinne kann man etruskische Sprachspuren in häufig uralten und dauerhaften Ortsbezeichnungen deuten.

2.4 Die prähistorischen Anfänge der etruskischen Kultur