Heute schon einen Prozess optimiert? - Gunter Dueck - E-Book

Heute schon einen Prozess optimiert? E-Book

Gunter Dueck

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Beschreibung

Wir sind die Roboter Alle reden vom Menschen 4.0. Der sei kreativ, selbstverantwortlich und eigeninitiativ - aber in Wirklichkeit werden wir hart dressiert und im Tagesgeschäft von Prozessorientierung und Dauerkontrollen gequält. Die Großsysteme haben die Menschen roboterisiert. Und dann sollen eben dieselben innovativ und neugierig sein? Gunter Dueck führt die grausame Unternehmensrealität vor Augen - unbarmherzig scharf, hinreißend nah am Objekt. Die Unternehmen handeln zukunftsfeindlich, wenn sie ihre Mitarbeiter standardisieren und sich - entgegen aller Erfordernisse - eben nicht für die digitale Welt neu erfinden. »Dueck ist ein genauer und gnadenloser Beobachter. Mit Leichtigkeit verbindet er mathematische Gesetze, philosophische Diskurse, amerikanische Poeten und bissige Randbemerkungen.« Harvard Business Manager zu Schwarmdumm

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Gunter Dueck

Heute schon einen Prozess optimiert?

Das Management frisst seine Mitarbeiter

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Wir sind die Roboter Alle reden vom Menschen 4.0. Der sei kreativ, selbstverantwortlich und eigeninitiativ - aber in Wirklichkeit werden wir hart dressiert und im Tagesgeschäft von Prozessorientierung und Dauerkontrollen gequält. Die Großsysteme haben die Menschen roboterisiert. Und dann sollen eben dieselben innovativ und neugierig sein? Gunter Dueck führt die grausame Unternehmensrealität vor Augen - unbarmherzig scharf, hinreißend nah am Objekt. Die Unternehmen handeln zukunftsfeindlich, wenn sie ihre Mitarbeiter standardisieren und sich - entgegen aller Erfordernisse - eben nicht für die digitale Welt neu erfinden. »Dueck ist ein genauer und gnadenloser Beobachter. Mit Leichtigkeit verbindet er mathematische Gesetze, philosophische Diskurse, amerikanische Poeten und bissige Randbemerkungen.« Harvard Business Manager zu Schwarmdumm

Vita

Gunter Dueck war Mathematikprofessor und bis August 2011 Chief Technology Officer bei IBM. Seitdem lebt er im Unruhestand. Er arbeitet als Autor, Netzaktivist, Business Angel und Speaker und widmet sich weiterhin unverdrossen der Weltverbesserung. Bei Campus erschienen seine Bücher »Das Neue und seine Feinde« (2013), »Schwarmdumm« (2015) und zuletzt »Flachsinn« (2017).

Inhalt

Das Management frisst seine Mitarbeiter – eine Einführung

In die Sackgasse der Inkompetenz – Menschmaschinen statt Zukunftsbauer

Menschenstandardisierung zur globalen Direktausbeutung

Die Folgen von Raubbau an Menschen, Seelen und Infrastrukturen

Gegenwehr der Controller und Aufstand der Kunden

Die Systemneurose der Unternehmenspsyche

Systemtherapie zum offen-innovativen Unternehmen

Es geht kein Ruck durch Deutschland

In die Sackgasse der Inkompetenz: Menschmaschinen statt Zukunftsbauer

Ideen müssen fliegen dürfen!

Hochqualifizierte Arbeit braucht ein ruhigeres Gehirn als ein Routinejob

Die menschliche Intelligenz kristallisiert sich in den Prozessen

»Verunpersönlichung« – Mitarbeiter werden austauschbare Ressourcen

Das Management sieht Menschen wie unwillige Sklaven

Das X-Management verunfähigt sich selbst

Menschenstandardisierung zur globalen Direktausbeutung

Die Gleichform hat Namen – McDonaldisierung und McJobber

Uberisierung – zur Auslastungsoptimierung noch mehr McJobs

Liquidization oder Arbeit von der Billigstange

Lean Human – der Mensch ohne unnötige Eigenschaften

Die Folgen des Raubbaus an Menschen, Seelen und Infrastrukturen

Auslastungsdruck erzeugt planmäßig Tunnelblickprobleme

Widersprüchliche Prioritäten – Diener vieler Herren

Auspressen der Mitarbeiter durch Messen und Vergleichen

Psychologische Vereinzelung und soziale Phobien der Mitarbeiter

Qualitätseinbußen, Kundenbeschwichtigung und schließlich Schummelei

Die Überlastung der Infrastrukturen marodiert unsere Zukunft

Gegenwehr der Controller und Aufstand der Kunden

Der Druck des aufgeklärt-kritisch-gemeinen Kundenkollektivs

Berechtigte Kontrollwut knechtet mit knebelnden Vorschriften

Die Akerlof-Todesspirale – Gegenwehr und Gegengegenwehr

Der Clash von Prozessen zum Antreiben und Kontrollieren

Die Systemneurose der Unternehmenspsyche

Kleine Einführung in Unruheherde und Angstquellen

Zu oft Alarm in unserem Körper – über somatische Marker

Das ruhelose Unternehmenshirn

Die Managerpersönlichkeiten sind meist extrem systemkonform

Die dressierende Mehrheit der Betaordnungshüter in allen Meetings

Diagnose: Das Unternehmen hat eine Persönlichkeitszwangsstörung

Diagnose: Das Unternehmen hat eine zweite Persönlichkeitszwangsstörung

Hyperloyalität trotz Angst vor Ungewissheit

Zur Wertschätzung

Zur Orientierung

Das Leiden unter einer narzisstischen und zwanghaften Systemneurose

Systemtherapie zum offen-innovativen Unternehmen

Die Systemneurose liebt verstärkende Therapien

Die Systemneurose aufweichen – »agile« Organisierung statt Organisation

Wider die Assimilierung – Controller & Pacesetter an die Vorderfront

Etablierung einer selbstverantwortlichen technischen Führungsschicht

Leistungsträger sind zehnmal besser

Unsere Gesellschaft braucht mehr Menschen, die es wissen wollen

Ausblick trübe – es geht kein Ruck durch Deutschland

»Durch Deutschland muss ein Ruck gehen«

Deutschland baut Deiche, keine Schiffe

Anmerkungen

Das Management frisst seine Mitarbeiter – eine Einführung

Die ersten paar Seiten dieses Buches verwende ich, um Ihnen ein Gefühl für den Inhalt des Buches zu geben. Ich kreise das Thema zunächst vorsichtig ein und gehe danach auf den Inhalt der einzelnen Kapitel ein. Unser Unwohlsein mit dem Management und der Politik hat viele Ursachen, die uns zusammengenommen zu einem Leben im Hamsterrad verurteilen – wenn wir nicht arbeitslos oder altersarmutsgefährdet enden wollen.

Merksatz

»Wenn eine Sintflut kommt, so baue Schiffe, keine Deiche.«

Stellen Sie sich das Einbrechen der digitalen Zukunft wie eine Sintflut vor. Die Menschen wundern sich, dass es schon so lange regnet. Hört es irgendwann auf? Muss man Deiche bauen? Wenn das Wasser noch länger ansteigen sollte, könnte es ratsam sein, Schiffe zu bauen wie Noah in der Bibel. Und was tun wir? Wir warten ab. Es wird schon nur ein vorübergehender Regen sein. Aber es regnet lange, sehr lange. Vielleicht hört es tatsächlich irgendwann auf. Aber was, wenn nicht? Das Wasser steht inzwischen immer höher, wir bauen kleine Behelfsdeiche und verdichten sie, weil es ja immer noch regnet … Müssen wir unsere Heimat wirklich verlassen? Wir haben keine Ahnung, wie man Schiffe baut. Das haben wir noch nie gemacht. Wir ziehen uns im Notfall in Häuser auf Grundstücken zurück, die etwas höher liegen, das rettet uns für den Moment. Aber was passiert, wenn der Regen nie aufhört?

Die Banken sehen seit über zwanzig Jahren zu, wie Kunden immer mehr ins Internet abwandern. Was passiert mit den Filialen? Die stehen schon lange im Regen. Die Dieselmotorenhersteller schauen seit Jahren besorgt in den Himmel, denn das Zukunftsklima verlangt nach Elektro- oder besser noch Brennstoffzellenmotoren. Aber ist das wirklich so? Kann man den Diesel nicht doch noch retten? Die Erde erwärmt sich, die Pole schmelzen, die Gletscher verschwinden. Ist das nur für ein paar Jahre? Hört es vielleicht bald auf? Sollten wir Deiche bauen oder besser umziehen, wenn unsere Heimat zur Wüste verbrennt und Sibirien oder Grönland zu einer echten Alternative werden? Und wann geht’s los? Steigen dort nicht schon die Grundstückspreise, weil die USA gerne Grönland kaufen würden? Wahr ist aber auch: Wir haben keine Ahnung, wie man woanders lebt. Wir haben das noch nie gemacht. Das Ansteigen der Temperaturen muss aufhören. Sonst bekommen wir Probleme.

Tatsächlich sind wir einfach unschlüssig.

Übertragen auf den Arbeitsmarkt der Zukunft heißt das: Bauen wir Schiffe zum Übersetzen auf den digitalen Zukunftskontinent? Das würde bedeuten, wir suchten nach möglichen digitalen Innovationen, die unser neues Zeitalter prägen. Heuern wir also die Matrosen der neuen Zeit an und entdecken fruchtbares Neuland? Leider wissen wir nicht genau, wie das geht!

Oder bauen wir doch lieber wie bisher Deiche, damit wir länger in unserer vertrauten Umgebung ausharren können? Das würde bedeuten, dass wir die Digitalisierung nutzen, um das schon Bestehende effizienter, menschensparender und hauptsächlich kostengünstiger zu machen. Das können wir gut, weil wir es schon seit vielen Jahren so praktizieren.

Merksatz

»Wenn eine Sintflut kommt, so baue auf Effektivität und nicht nur auf noch mehr Effizienz.«

Dieses Buch ist eine Kritik am verzweifelten Deichbau, so wie wir ihn aus Management und Politik kennen. Denn Deutschland scheint sich fest gegen eine gute Zukunft stemmen zu wollen. Deutschland igelt sich ein.

Seit etwa 35 Jahren sind die Manager der Industrieproduktion dabei, die Prozesse zu optimieren und Roboter einzusetzen. Sie haben damit sensationelle Erfolge erzielt. Diese Entwicklung strahlt natürlich aus. Nun packen die Manager die Servicegesellschaft mit denselben Methoden wie beim Reengineering der Produktion an. Alle sind sie neuerdings oder schon seit langer Zeit »in search of efficiency«, auf der Suche nach Effizienz. In den Jahren davor hatte Effizienz einen relativ geringeren Stellenwert, da die ständige Verbesserung noch nicht perfekter Produkte im Vordergrund stand, exemplarisch in der boomenden Automobilindustrie. Erst als die Produkte ausgereift waren, entdeckte man die Goldgrube der effizienteren Herstellung. Die Innovation betraf nicht mehr länger die Produkte, sondern ihre Herstellung. Prozessoptimierung wurde zum Gebot der Stunde.

Merksatz

Innovationen bringen einen möglichst effektiven Nutzen, danach konzentriert man sich auf effiziente Produktions- und Leistungserbringungsverfahren.

Das Aufkommen von Computern, Datennetzen und Unternehmenssoftware (»SAP«) führte zu einem enormen Effizienzschub und damit zu weiteren großen Profitsteigerungen. Diese Fortschritte waren so groß, dass sich das Management kollektiv fast nur noch auf die Effizienzfragen kaprizierte und die andere Seite, die der Innovation, immer mehr links liegen ließ. Das Ergebnis: Nach nun einigen Jahrzehnten der maximalen Effizienz haben die Manager und damit die Unternehmen viel an Zukunftsfähigkeit eingebüßt.

Denn etwas Anderes oder Neues zu erschaffen ist eine vollkommen andere Aufgabe, als erfolgreiche Produkte oder Dienstleistungen immer schneller und billiger herzustellen oder zu liefern. Es geht aber für die nächsten Dekaden mehr um neue Inhalte und ein verändertes Denken, nicht mehr so sehr um das alte Ringen um die effizienteste Form. Trotzdem bleibt das heutige Management eisern dem Effizienzprinzip verpflichtet: es macht Druck, versucht alle Arbeiten zu industrialisieren, zu roboterisieren und damit die verbliebenen Aufgaben der Menschen immer schlechter zu bezahlen. Wer als Mitarbeiter nicht auf Lohnzuschläge oder Weihnachtsgeld verzichtet oder wenigstens unbezahlte Überstunden verschenkt, wird durch Billigkräfte ersetzt oder »ausgelagert«. Die Drohung der Unternehmen, »nach Asien« zu gehen, verbreitet Arbeitsplatzverlustangst.

Merksatz

Inzwischen hat schon eine ganze Managementgeneration vorwiegend Effizienz betrieben. Die Folge ist, überspitzt formuliert: »Das Management kann nichts anderes mehr.«

Ein Blick in die aktuelle Unternehmenspresse verrät: Ein Automobilzulieferer verlagert einen Teil der Produktion nach Litauen, und der Geschäftsführer schwärmt wörtlich so: »Hier sind gut qualifizierte und motivierte Arbeitskräfte zu – aus unserer Sicht – fairen Lohnkosten verfügbar.« Das Wort »fair« dürfen die Mitarbeiter in Deutschland getrost als Ohrfeige verstehen. Ihr Chef sagt nicht ehrlich: »Dort ist es für uns billiger.« Er sagt stattdessen »fair«. Heißt das, er findet die Löhne der Stammbelegschaft unfair?! Und trotzdem wird er bei der nächsten Motivationsveranstaltung skrupellos wie alle Topmanager flöten: »Die Mitarbeiter sind unser höchstes Gut.« [Was übrigens nur ausspricht, was alle ahnen: Die Mitarbeiter gehören dem Unternehmen.]

Die Öffentlichkeit empört sich schon längere Zeit. Auch die Presse klagt in ihren Kommentaren mit immer deutlicheren Worten an:

Raubtierkapitalismus

Ausbeutung

Hamsterrad

Effizienzwahn

Gier

Sklavenhaltung

Menschenverachtung

Lohndumping

Heuschreckeninvestoren

Manager und Politiker sinken seit Jahren tief im Ansehen der Bevölkerung. Genießen sie bald ein ähnliches Misstrauen wie Versicherungsvertreter? Ohne schimpfen zu wollen: Jeder sieht nach den langen Jahren des Effizienzstrebens, dass die Balance verloren gegangen ist und noch weiter verloren geht. Trotz dieser Erkenntnis ändert sich nichts, obwohl das Unwohlsein spürbar ist. Dieselben Manager, die tagsüber die Mitarbeiter im Meeting »auspeitschen«, sind abends bei einem Glas Wein auf der Terrasse ganz unserer Meinung. Sie finden die Welt, die sie regieren, nicht mehr erstrebenswert. Aber die Realität, die sie zu verantworten haben, finden sie ausweglos »beinhart« – sie haben einen »Knochenjob«. Sie wissen, dass sie in einer Tretmühle stecken, und fühlen sich trotz ihrer Macht ganz machtlos. »Es sind keine guten Zeiten mehr, auch wenn wir gerade auf bilanzmäßig goldene Jahre zurückblicken können.« Unsere Chefs wissen also schon noch, dass etwas außer Kontrolle geraten ist, aber diese Meinung äußern sie nur nach Feierabend. Privat sind sie natürlich auch gute Eltern und nette Menschen. Mitarbeiter sagen manchmal überrascht: »Ich war mal kurz bei ihm/ihr zu Hause. Sieht ganz normal bei denen aus, es sind angenehme Menschen. So kennt man ihn/sie eigentlich gar nicht im Büro!«

Im Unternehmen aber sind die netten Menschen dann im Effizienzwahn gefangen. Sie halten ihrerseits die Mitarbeiter gefangen. Sie meinen, das tun zu müssen, denn es geht um das »Überleben des Unternehmens«, so die gängige Formel für die Mitarbeiter – aber der Oberboss kommuniziert den unteren Führungskräften ganz klar, worum es wirklich geht: das Steigern des Gewinns.

Beileibe nicht alle Manager entsprechen diesem düsteren Klischee, aber auch die »guten Menschen im Management« müssen sich mit dem Effizienzwahn arrangieren. Sie können im Stillen ihrer Abteilung gute und kreative Chefs sein, aber auch sie müssen ihr Plansoll erfüllen und ihre Mitarbeiter leiden lassen. Das Dogma der Effizienz dominiert das Allgemeine bzw. das statistisch Normale, und dagegen richten ein paar vorbildliche Manager nichts aus. Es ist die dominierende Mehrheit der Führungskräfte, die das Betriebsklima aufheizt und diktiert, so wie große Mehrheiten im Parlament das Sagen haben.

Eben dieses wirtschaftliche Klima wird stetig extremer, so wie unser heutiges meteorologisches Klima wärmer wird. Es wird härter und menschenverachtender, ganz langsam, Monat für Monat, eine Entwicklung, die man seit vielleicht dreißig Jahren beobachten kann.

Ich werde in diesem Buch diese harte Diagnose stellen: Sehr viele Unternehmen leiden bezogen auf ihr Betriebsklima und die Arbeitseinstellung an einer Systemneurose, die merkwürdige Blüten treibt. Anders formuliert:

Merksatz

Das Effizienzstreben ist in einen neurotischen Effizienzwahn umgeschlagen. Dieser kennt nur eine Lösung: Noch mehr Effizienz. Noch mehr vom Gleichen.

Die Antwort des »Mehr vom Gleichen« in schon schwieriger Lage ist die Königsstrategie in der berühmten Anleitung zum Unglücklichsein von Paul Watzlawick. Zum Beispiel: Geizige werden noch sparsamer, Bürokraten noch kleinlicher, Narzissten noch größenwahnsinniger. In diesem Sinne ist das übertriebene Effizienzstreben der Unternehmen eine Verhaltensstörung des Systems.

Man sagt: Ein Neurotiker kann seine Verhaltensstörung nicht kontrollieren und steht unter ihrem Zwang, und er leidet darunter. Er kann zwar intellektuell verstehen, welche Ursachen seine Störung haben mag (speziell in ihm selbst) – das hilft ihm aber nicht: Er macht weiter. »Wir sind nur noch Getriebene, das ist das Problem«, stöhnen Manager, privat bei einem Glas Wein, wie gesagt. Sie verstehen das Problem und sehen es, aber »man kann nichts dagegen machen«. Sie sind Getriebene, die die Kontrolle verloren haben.

In diesem Sinne leiden heute viele Unternehmen an einer Systemneurose. Sie ächzen und kommen nicht mehr »raus«. Das Klima des Effizienzwahns und des kurzfristigen Quartalsdenkens breitet sich wie Metastasen eines Krebses aus und steckt Führungskräfte und Mitarbeiter gleichermaßen an. Diesen Neurotisierungsprozess will ich in diesem Buch nachzeichnen. Ich wünsche mir vor allem dies: Mögen Sie so sehr aufgerüttelt werden, dass Sie über Psychotherapien von Systemneurosen nachzudenken beginnen. Wie das gelingen kann, werde ich am Schluss meines Buches skizzieren.

Denn sonst wird alles noch schlimmer und schlimmer: Die durch das eskalierende Effizienzdenken entstandene Systemneurose frisst erst ihre Mitarbeiter als »Menschen«, sie behandelt sie als bloße Ressource und bald danach als Leiharbeiterstundenkräfte, die später ganz freigesetzt werden, weil es woanders noch »faire« Löhne gibt. Die Manager stehen unter dem Zwang dieser Neurose und fressen ihre Mitarbeiter ebenfalls erst als »menschliche Menschen«, und dann gehen sie langsam zum »Outplacement« über. Sie wissen bei alledem, dass dasselbe Schicksal auch sie selbst als Führungskräfte treffen wird, wenn wieder einmal von oben beschlossen wird, komplette Hierarchieebenen zu streichen oder »Synergien zu nutzen«. Es herrscht eine »Angstkultur«. Der Arbeitsplatz steht im Regen. Das persönliche Menschsein tritt hinter die Prozesseffizienz zurück.

Die Managementkompetenz beschränkt sich selbst, es geht nur noch um die Prozesssteuerung und die harsche »Mitarbeitermotivation« rund um die Uhr. Für anderes ist keine Zeit, das Ergebnis muss Quartal für Quartal eingetrieben werden.

Merksatz

Prozessoptimierung ist Deichbau. Die Schiffe ins Land der neuen digitalen Zeit werden verpasst.

Unter ständigem Ergebnisdruck bleibt kaum noch Zeit, sich auf die Zukunft vorzubereiten. Die Digitalisierung ist im Kern eben nicht das Instrument der Wahl für weitere Prozessoptimierung. Sie ermöglicht eine ganz neue Zukunft, die wir uns als Menschheit mit dieser neuen Basistechnologie schaffen können. So oft wird doch verglichen, wie die Menschheit vorher und nachher aussah: Vor der Maschine, nach der Maschine. Vor der Entdeckung des Penicillins, der Telefonie, des Motors, der Stromerzeugung, der Werkstoffchemie und nachher. Diese früheren Basistechnologien haben unser Leben nachhaltig verändert und per Saldo enorm verbessert. Deshalb liegt der Gedanke nahe, mit der Digitalisierung die Menschheit auf eine weitere höhere Stufe zu bringen. Die Digitalisierung ermöglicht es, gewohnte Dinge neu zu denken, alte Zöpfe abzuschneiden und neue Industriezweige aufzubauen.

Die heutige Zeit ist eine Zeit der Erfinder und Pioniere, der Goldgräber und Entrepreneure, die mit glänzenden Augen eine neue Zeit schaffen. Sie starten mit ihren vagen Ideen eine ungewisse Zukunft. Was sollen da Quartalspläne? Entrepreneure sind »agil«, wie man heute sagt, und sie haben viel höhere Ziele als bloß eine weitere Gewinnsteigerung in einer erstarrten Welt. Die etablierten Konzerne mit ihrem oft hundertjährigen Erfahrungsschatz schauen ungläubig auf die Pioniere unserer Zeit. Die Pioniere rufen: »Wir bauen ein Schiff!« Und die Deichbauer in den Vorstandsetagen fragen beunruhigt: »Womit macht ihr Gewinn in diesem Quartal? Wer garantiert, dass euer Schiff wirklich neues Land entdeckt? Was ist, wenn ihr nur unfruchtbare Wüstengegenden vorfindet?« In diesem Sinne grämen sich Konzernmanager über Innovatoren, die aus ihrer Sicht unverfroren »Verluste machen«, in Wirklichkeit aber nur das Neuland erschließen. Innovationen »ins Blaue hinein« erscheinen den Prozessoptimierern wie das Verjubeln von sauer verdienten Quartalsgewinnen.

Schlimmer noch: Schon bei der Vorstellung von umwälzenden Innovationen zuckt fast die gesamte Führungsschicht körperlich zusammen, denn die Systemneurose zwingt sie, sich mit höchster Priorität auf Sparen, Auslastung, Extrameilen, Einsatzwillen und Druck ohne Ende zu fokussieren. Ein Geizneurotiker krümmt sich, wenn Kosten entstehen! Ein Planneurotiker schreit innerlich, wenn Start-ups einfach »mal so« loslegen, ohne viel zu grübeln – vielleicht haben die nicht einmal eine Excel-Lizenz? Ein Hochdruckneurotiker schäumt, wenn die Pioniere in den Start-ups bei Gratiskaffee laut lachen, diskutieren und offenbar nicht gehörig unter der stressenden Arbeit leiden! Das ist bei menschlichen Neurotikern auch üblich – sie geraten außer sich, wenn sie sehen, dass andere ihre heiligen Ziele verraten, ignorieren oder nicht einmal kennen. Die Systemneurose ist wie die Summe eines solchen kollektiven Zusammenzuckens der Führungsschicht zu verstehen. So wie man bei Menschen sagt: »Jetzt wird er/sie verrückt!« oder »Das macht ihn/sie verrückt!«, so werden Unternehmen verrückt, wenn sie die jungen Zukunftsbauer träumen und Anfangsverluste machen sehen: »Können die nicht erst mal mit einem Paddelboot neue Kontinente entdecken? Muss es gleich so teuer und damit gleich so ernst werden?«

Wenn ich auf Konferenzen erkläre, was eine Systemneurose sein könnte, wird immer wieder entgegnet: »Es sind bei weitem nicht alle Führungskräfte so, wie Sie hier pauschal beschreiben!« – »Sie betreiben niveauloses Manager-Bashing mit dem Rasenmäher, Herr Dueck!« – »Es ist eines Wissenschaftlers unwürdig, so über alle die BWL-Kollegen herzuziehen!« Diese Einwände beruhen auf einem Missverständnis. Ich will ja gar nicht sagen, dass absolut jeder BWLer oder Manager von Kostenangst und Umsatzsucht getrieben ist. Aber die Mehrheitsverhältnisse in den Managermeetings und die Diktate in den Ergebnistabellen erzwingen, dass das Managementteam als Ganzes von Kostenangst und Umsatzsucht geplagt ist und somit als Ganzes größeren Innovationen ablehnend gegenübersteht. Und ich habe doch schon eingestreut, dass die Manager, BWLer, Excellenzen und Politiker einzeln und privat ganz vernünftig sind – aber eben nicht in Meetings und Ausschusssitzungen.

Die Tabellen, die Ziele, die herrschende BWL-Auffassung, die Beratermoden des Tages und die Mehrheiten in Meetings machen die Systemneurose aus, die all die vielen tollen und vernünftigen Manager in die Knie zwingt, so viele es auch geben mag! Die Teamneurose besiegt sie alle. Da hilft auch kein frisch ernannter »Chief Digital Feigenblatt Officer«, der dann doch sehr bald von Kostendruck und Umsatzsatzsteigerungsforderungen assimiliert wird. Wenn Sie als Leserin oder Leser eine dieser wunderbaren zukunftsorientierten Arbeitskräfte sein sollten, dann nehmen Sie bitte den Unterschied zwischen dem Kollektiv und den Individuen wahr, so wie es den Unterschied zwischen »dem schlechten Bildungssystem« und den vielen einzelnen tollen Lehrern gibt. Nicht jeder Einzelne ist verrückt, aber das System macht alle verrückt.

Mit der nochmaligen Betonung dieses Unterschiedes werde ich gleich das erste Kapitel eröffnen, es beginnt etwas philosophisch-dichterisch mit dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Vorweg jedoch gebe ich Ihnen eine Übersicht über dieses Buch. Ich ziele darauf ab, Sie möglichst tief in die neurotische Problematik hineinblicken zu lassen. Es ist nicht damit getan, ein Ende des Kapitalismus zu fordern oder über die irren Gehälter der Vorstandsvorsitzenden zu fluchen oder für Nachhaltigkeit oder Menschlichkeit zu demonstrieren. Wenn Sie das tun, verstehen Sie das Problem nicht grundlegend genug. Wir protestieren ja alle im Privatleben gegen das System, aber das tun die Manager auch. Wir maulen daheim, aber wir kuschen beim Eintritt ins Büro. Wir organisieren uns nicht mehr in Gewerkschaften, wir protestieren nicht gegen unseren eigenen Chef. Wir sind selbst gefangen, aber wir schimpfen nur in den Pausen, und nach der Arbeit regen wir uns laut darüber auf, indem wir die da oben anklagen. Es sind aber nicht nur die da oben, wir machen ja mit. Es ist eine Krankheit des ganzen Systems, das eine tiefgreifende Therapie braucht.

In die Sackgasse der Inkompetenz – Menschmaschinen statt Zukunftsbauer

In diesem Kapitel führe ich in erste wichtige Gedanken ein, die im weiteren Verlauf des Buches noch detaillierter ausgeführt werden. Wenn das Management unsere Arbeit durch Digitalisierung rücksichtslos automatisieren und beschleunigen will, dann gibt es diese Folgewirkungen:

Man betreibt so starke Arbeitsverdichtung, dass die Menschen wie Fließbandarbeiter nur noch durch das Tagesgeschäft hetzen. Zum Lernen und damit für die Zukunft bleibt einfach keine Zeit, sogar das normale Nachdenken ist unter solchem Stress kaum noch möglich.

Man versucht, immer mehr Arbeit in computerisierte Prozesse einzubetten, sodass die Arbeitskräfte möglichst wenig selbst zu entscheiden haben und nur noch Bedienungspersonal optimierter Prozesse werden.

Man strebt an, die Menschen bei der Arbeit fast beliebig austauschbar zu machen (Crews im Luftverkehr und bei der Bahn, Call-Center, Personal im Einzelhandel, Leiharbeiter, Berater) – wir als Kunden haben es dann nur noch mit immer anderen Arbeitskräften zu tun, die uns gegenüber eine immer unpersönlichere Rolle einnehmen; menschliche Beziehungen sind nicht mehr nötig und auch nahezu unmöglich; die Mitarbeiter kommen quasi »aus der Cloud«, sie kommunizieren in vorgeschriebenen Floskeln (»Crew, prepare for landing«).

Man managt Menschen nur noch als fast anonyme Ressourcen und behandelt sie auch so: als Menschen, die tendenziell angetrieben werden müssen, damit sie noch schneller arbeiten, als sie es gerade tun. Das Menschenbild des Managements regrediert. Menschen werden wieder wie Arbeiter in früheren finsteren Zeiten behandelt – eben nicht selbstverantwortlich und »auf Augenhöhe«.

Das Management wendet sich wieder dem bloßen Kontrollieren und Antreiben zu.

Mitarbeiter unter Stress lernen nicht mehr und bilden sich nicht weiter. Anonyme austauschbare Ressourcen halten sich an die Regeln der optimierten Prozesse und nehmen nicht mehr an der Weiterentwicklung ihrer Arbeit teil. Sie haben keine Gelegenheit, etwas zur Gestaltung der digitalen Zukunft beizutragen. Das Management selbst bildet sich zum guten alten »Command & Control« zurück und verliert selbst an Kompetenz. Die Kommunikation zwischen Menschen wird mehr und mehr durch Computerprozesse ersetzt (»Wenn Sie A wollen, drücken Sie die 1, wenn Sie B wollen, die 2, wenn Sie nicht wissen, was Sie wollen, rufen Sie später noch einmal an.«). In einem streng optimierten Arbeitsumfeld ist kaum noch »Wandel« oder »Zukunft« gestaltbar. Die starren Prozesse erlauben kein »Probieren« oder »Experimentieren«. Mitarbeiter und Management verlieren so einen Großteil der nötigen Zukunftskompetenzen.

Damit sind im Buch die Leitplanken gesetzt. In den weiteren Kapiteln wird eingehender beschrieben, wie das alles organisiert wird.

Wie vollzieht sich das Standardisieren der Menschen zu »Ressourcen«? Das wird im Folgekapitel unter den sehr sprechenden Begriffen der McDonaldisierung, der McJobber und der Uberisierung beschrieben.

Wie verhalten sich Menschen unter immensem Arbeitsdruck? Sie fürchten die Dauerkontrolle, weil es unter Totalstress zu Fehlern kommen muss, die gleich wieder bestraft werden. Viele beginnen zu pfuschen und sogar zu schummeln. Der seelische Druck steigt, die Qualität der Arbeit sinkt.

Wie reagieren Kunden, Gesetzgeber und Kontrolleure (außen und innen im Unternehmen) auf die schleichende Verminderung der Qualität? Sie setzen die Mitarbeiter von einer anderen Seite unter Druck: Es hagelt nun Prüfungen und Vorschriften. Zu der Arbeitshetze gesellt sich nun eine wuchernde Bürokratie, die viel Zeit kostet, die man eigentlich einsparen will. Es kommt zu einer Abwärtsspirale von immer gewiefterer Trickserei und noch mehr Bürokratie. »Verrückt!«

Das Ergebnis einer Abwärtsspirale kann als eine Unternehmensneurose angesehen werden. Druck, Gegendruck, Druck, Gegendruck, die Angst vor Fehlern und Entlassung führen, so will ich sagen, zur Entstehung einer Zwangsneurose im Unternehmen.

Kann man die Unternehmensneurose therapieren? Gute Frage. Ich versuche eine Antwort, aber die ist nicht einfach.

Hier nun die etwas eingehenderen Inhaltsbeschreibungen der Abschnitte nach dem Eingangskapitel:

Menschenstandardisierung zur globalen Direktausbeutung

Nach der Industrialisierung der Produktion wird nun auch der gesamte Bereich der Servicearbeitsplätze in Prozessen organisiert und optimiert. Das trifft de facto den größten Teil der deutschen Arbeitskräfte, die ja heute überwiegend im Dienstleistungsbereich tätig sind. Ich schärfe die einleitenden Bemerkungen des ersten Kapitels und führe Sie in die Konzepte der McDonaldisierung/des McJobbers ein, danach in die Uberisierung (Plattformorganisation austauschbarer Humanressourcen) und in die Liquidization (Ausschreiben von Arbeiten im Internet, die man an den billigsten Anbieter per Abwärtsversteigerung vergibt). Im Ergebnis entwickelt sich der Wunsch der Arbeitgeber, nur noch Arbeitskräfte einzustellen, die ausschließlich können sollen, was sie arbeiten (nur das und nicht mehr, sonst könnten sie »mehr Geld fordern«). Wir tendieren unausgesprochen zum »Lean Human«, zum »Menschen ohne unnötige Eigenschaften«. Der arbeitende Mensch wird auf sein wirtschaftlich gewünschtes Profil degradiert, der Homo Oeconomicus wird zum Menschlein, zum Homunculus Oeconomicus, herabgewürdigt. Dienstleistungsketten standardisieren ein neues Prekariat. Plattformen ermöglichen eine globale Nutzung von Arbeitskräften – sie ermöglichen eine »Direktausbeutung«: Nicht nur ganze Betriebe werden ins Ausland verlagert, sondern auch individuelle Dienstleitungen.

Die Folgen von Raubbau an Menschen, Seelen und Infrastrukturen

Wenn wir uns in eine gleichförmige Mitarbeiterschaft von lauter »Lean Humans« hineindenken (Call-Center, Uber-Taxifahrer oder Rechnungsprüfer in der fast vollautomatischen digitalen Welt), dann muss das Management eigentlich nur noch darauf achten, dass quantitativ viel abgearbeitet wird. Schnell viele Hamburger braten, schnell viele Fahrten, Anrufe oder Rechnungen erledigen! Das Management muss nur noch antreiben, was es durch exzessive Leistungsmessungen und Leistungsvergleiche betreibt, sodass die Mitarbeiter ständig fürchten müssen, zu langsam zu sein und/oder Fehler zu machen. Sie entwickeln so genannte soziale Phobien (Angst, von jemandem kritisch beobachtet zu werden), die nach dem Abschied der Einzelbüros nicht mehr gelindert werden können. Die Mitarbeiter können sich auf Büroflächen nicht verstecken. Diese Ängste verschlimmern sich, weil es unter dem immensen Arbeitsdruck natürlich vermehrt zu Fehlern und Kundenbeschwerden kommt und weil sich die Mitarbeiter nun ständig kritisieren lassen müssen. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten bei der Unpünktlich-wie-die-Bahn GmbH und würden von jedem Kunden als Teil einer unfähigen Gurkentruppe angesehen. Die Mitarbeiter versuchen nun, Fehler zu kaschieren und Kunden zu beschwichtigen – und irgendwann schummeln sie, was das Management ganz gut findet, solange nur das Ergebnis stimmt. Kurz: Der übergroße Druck auf die Quantität verschlechtert die Qualität bis über die Strafrechtsgrenze (Dieselbetrug, Zinsmanipulation, Ruhigstellung in Pflegeheimen, Gifte in Lebensmitteln, Ski-Unfallversicherung für 100jährige) hinaus. Dieser Druck belastet das Gewissen der Mitarbeiter, kann aber auch depressiv machen oder zum Burnout führen. Über den Menschen hinaus werden zudem alle Infrastrukturen verwirtschaftet. Fast nichts ist in Deutschland noch »gut in Schuss« (Bildung, Pflege, Autobahnbrücken etc.). Zum Beispiel hat die Bundeswehr derzeit so viele untüchtige Waffen, dass sie vielleicht besser mit Holzschwertern ausgerüstet wäre; zumindest die würden funktionieren.

Gegenwehr der Controller und Aufstand der Kunden

Wenn die Qualitätszusagen nicht mehr eingehalten werden, werden die Kunden rebellisch und untreu. Die Regierungen ziehen immer neuen Vorschriften ein und erfinden Prüfungen noch und nöcher. Die Unternehmen stöhnen über die überbordende Bürokratie, und die Mitarbeiter verzweifeln bei unproduktiven Arbeiten. Es gibt nun einen Großkonflikt zwischen der Qualität (»Controlling«) und der Quantität (Arbeitsdruck) im Unternehmen selbst. Der führt volkswirtschaftlich aus der Helikopterperspektive besehen zum Versinken in einer »Akerlof-Spirale«, einer Abwärtsspirale von immer mehr Produkten mit immer schlechterer Qualität. Die Controller begegnen Managern und Mitarbeitern mit dem Wunsch nach ständigen Kontrollen der Qualität, die Antreiber unter den Führungskräften ziehen nach und fordern maximale Quantität – sie kämpfen fast gegeneinander. Die Kunden hört man anschließend vielleicht auch noch aus der Ferne, wenn Zeit ist. Die reagieren prompt mit Minusbewertungen im Internet und werden illoyal.

Die Systemneurose der Unternehmenspsyche

Nachdem Sie durch all den realen Jammer navigiert wurden, folgt jetzt eine mehr theoretische Aufarbeitung mit dem Ziel, Ihnen zu vermitteln, dass sich der Jammer in Wirklichkeit zu einer veritablen Systemneurose ausgewachsen hat. Es geht zunächst um die automatischen Warninstinkte in unserem Körper, die uns dann zucken lassen, wenn etwas »passiert«, uns droht, überrascht oder die Stirn runzeln lässt. Das Unternehmen zuckt im Meeting zusammen, wenn etwas nicht im Einklang mit »Prozessoptimierung« ist. Ich argumentiere mit Psychoteststatistiken aus Managementlehrgängen: Es gibt viele verschiedene Menschentypen, aber nur zwei von ihnen haben im Management zusammen eine Zweidrittelmehrheit: Die Controller und die Antreiber. Die Systemneurose sucht sich automatisch ihre besten Verstärker. Vor allem kommen solche Führungskräftecharaktere an die Macht, die die Systemneurose stützen. Ich stelle Ihnen Hirnwellenfrequenzen des EEG vor: Kontrollieren und Antreiben verlangen andere Hirnmodi als kreative Ruhe und innovative Meditation. Sie verstehen jetzt die einleitenden Hinweise aus dem ersten Kapitel bestürzend besser. Willkommen bei den Persönlichkeitsstörungen des zu starken Kontrollierens, des zu starken Antreibens und zu starken Sparens. Es sind Unterarten von Zwangsneurosen, die zusammen die Systemneurose bilden, weil ein Großteil der Führungskräfte mindestens unter dienstlichen Zwangsvorstellungen leidet. Die Mitarbeiter aber wehren sich nicht. Warum eigentlich nicht? Sie sehen doch, dass das Unternehmen seine Innovativkraft und damit seine Zukunftsfähigkeit einbüßt! Warum protestieren sie nicht, wenn nur nach Zahlen gefragt wird? Warum fühlten sie sich stattdessen peinlich berührt, wenn ein Kollege die Initiative ergreifen und aufmucken würde? Sie haben schon damals geschwiegen, als sich der Lehrer mit dem Klassenkasper duellierte. Jetzt aber ist es doch bitterernst! Es muss das Schweigen der Lämmer sein.

Systemtherapie zum offen-innovativen Unternehmen

Das Therapieren der Persönlichkeitsstörung einer Einzelperson ist schwierig genug. Bloße Appelle (»nimm es doch nicht so genau« – »hetz doch nicht schon wieder«) helfen nicht, auch wenn sie gegen teures Geld gegeben werden. Genauso wenig helfen Innovationsbeauftragte, Ideenwettbewerbe, Brainstormings oder Brandreden (»Ohne Innovation gehen wir unter«). Es geht um eine Verhaltensänderung der Masse, und die erfolgt nur sehr selten auf vernünftige Vorhaltungen einzelner, auch wenn sie von ganz oben kommen. Bei Einzelnen benötigen Psychotherapien Monate bis Jahre, bis ein Gestörter überhaupt offiziell anerkennt, dass seine Probleme in ihm selbst liegen und nicht in den anderen, die ihm das aber schon jahrelang gesagt haben. Noch viel schwieriger erscheint es also, ganze Unternehmen zu therapieren. Wie ein Übergewichtiger jede Menge Auswahl hat, eine nutzlose Kurzfristdiät zu versuchen, so gibt es Tausende von Changeberatern und Nachhaltigkeitsagenten mit ebenso vielen todsicheren Methoden, das Unternehmen quasi zu globulisieren, ihm also Hoffnung zu machen, damit ihn das Ende des Quartals nicht so schmerzt. Alle diese Therapien lenken vom Wesentlichen ab: Es handelt sich um eine wirkliche Systemneurose, kein bloßes Wehwehchen. Ich denke: Über das Optimieren von Prozessen und dem Schinden der Menschen ist der Bezug des Unternehmens zu den eigentlichen Inhalten verloren gegangen. Was produziert es, was liefert es wem? Welche Aufgabe erfüllt es, von deren Erledigung es auskömmlich leben kann? Ist diese derzeitige Aufgabenstellung des Unternehmens in der digitalen Zukunft noch wichtig – zahlen Kunden in der Zukunft für die Problemlösungen des Unternehmens noch gutes Geld? Der Unternehmenszweck selbst muss auf den Zukunftsprüfstand, das Geschäftsmodell muss infrage gestellt werden. Wer wird das wollen und können? Ich schlage vor, die besseren Experten im Unternehmen »freizulassen« und mit dem Management zu verzahnen. »Inhalt trifft Form.« – »Content meets process.« Das geht durch neue Karrierepfade, durch ein Spicken des Unternehmens mit Topexperten, mit veränderter Arbeitsorganisation usw.

Sie müssen schon verzeihen: Eine Systemneurose ist ein schweres Leiden, die Therapie kann daher nicht ganz einfach sein, und ohne Ansehen des speziellen Unternehmens kann ich keine konkrete Lösung anbieten. Aber ich schlage ein paar praktikable Wege vor, für man nicht in Meetings sitzen muss und die ohne fruchtlose Appelle auskommen. Ich habe so etwas in meiner eigenen Arbeitspraxis probiert und für gut befunden. Ich schlage vor, Sie setzen erst einmal diese vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen um. Dann sehen wir weiter. Es könnte aber sein, dass »man« in Ihrem Unternehmen diese einfachen Maßnahmen nicht so ohne weiteres umsetzen will. Das ist aber nicht das Problem meiner Vorschläge, sondern eine Abwehrreaktion der Neurose. Aber wenn die sich gegen Sie wehrt, sind Sie ja auch einen Schritt weiter: Sie sehen klarer. Ich habe die Hoffnung, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches mindestens an diesen Punkt kommen.

Bitte haben Sie immer vor Augen, wie schwer es ist, was die Digitale Revolution verlangt:

Merksatz

»Wenn eine Sintflut kommt, so baue Schiffe, keine Deiche.«

Es geht kein Ruck durch Deutschland

Im Jahre 1997 hielt der damalige Bundespräsident seine berühmte Ruckrede. An diese erinnere ich in einem Minischlusskapitel. Wenn Sie Zeit haben (es sind nur ein paar Seiten Text im Internet), dann lesen Sie diese Rede auch mit Blick auf die These dieses Buches. Dann verstehen Sie auf der Stelle, dass und warum wir schon so lange Deiche bauen.

In die Sackgasse der Inkompetenz: Menschmaschinen statt Zukunftsbauer

Das Effizienzmanagement behandelt uns wie Prozess-Sklaven. Wer schwierige Arbeiten mit optimaler Anspannung erledigen will, wird sie unter zu hohem Druck nicht schaffen. Er fühlt so genannten »negativen Stress« oder Disstress, der der Psyche und bald auch der Gesundheit schadet, wenn er länger anhält.

Ideen müssen fliegen dürfen!

Noch eine persönliche Einleitung, die muss sein. Sie werden schnell merken, mit welcher Art von leiser Trauer ich dieses Buch schreibe – wie ein Prediger. Die Entwicklungen, die ich aufzeige, scheinen unaufhaltbar zu sein. Na, vielleicht doch nicht?

Mein Spitzname ist »Wild Duck« oder »Wild Dueck«. Bei IBM bezeichnet man Querdenker als »Wild Duck«, und sie gaben mir diesen Namen vor etwas mehr als 20 Jahren – weil ich wohl etwas Unverblümtes geäußert hatte. Ich wusste gar nicht, was eine Wild Duck ist. Natürlich versuchte ich herauszubekommen, was es mit dieser Bezeichnung wohl auf sich haben könnte. Das war gar nicht so einfach, weil man damals noch nicht googeln konnte. Tja, solche Zeiten gab es! Ich fand heraus, dass es wohl um eine Anekdote von Søren Kierkegaard gehen könnte, dem großen dänischen Philosophen. Ich habe sein ganzes Werk elektronisch auf meinem Laptop, sogar mit Suchmaske! Aber das Wort Wildente kommt nicht darin vor. Ich fand schließlich Leute bei IBM, die es mir so erklärten: Wildenten sind bekanntlich Zugvögel, die für den Winter in den Süden fliegen, aber Kopenhagen verlassen sie im Winter nicht, weil die netten Einwohner sie traditionell durchfüttern. Einst aber gab es eine große Hungersnot in Dänemark, da hatten die Kopenhagener selbst nichts zu essen. Die Enten starben, weil sie nicht mehr wild waren und keine von ihnen wusste, dass es den Süden gibt. »We don’t mind to have a few wild ducks around«, so wird der frühere IBM-Chef Thomas Watson jr. zitiert. Übersetzt: »Ein paar Querdenker können wir ganz gut unter uns vertragen.« Oder: Es muss immer noch ein paar Leute geben, die weitgespanntere Perspektiven einnehmen können. Diese anderen Perspektiven fühlen sich in einer würdigen Organisation oft unangenehm an. Das sagte man mir bei der Arbeit in den letzten Jahren oft … Okay, ich bin Wild Dueck.

Jetzt, bei Recherchen für dieses Buch, habe ich nochmals gegoogelt und die Quelle fast sofort gefunden. Nicht auf meinem Laptop in Kierkegaards Werken, denn die Geschichte steht nur in den Tagebüchern von Kierkegaard – und auch dort steht absolut nichts von Enten drin! Es geht um Wildgänse, nicht um Enten. Ich hatte also immer die falschen Suchwörter benutzt – irgendwer bei IBM verstand wohl kein Dänisch oder fand Wild Duck besser als Wild Goose. Egal, hier der Originaltext aus den Tagebüchern von Kierkegaard auf Deutsch:

»Die Wildgans«

»Jeder, der auch nur ein kleines bisschen Kenntnis vom Leben der Vogelwelt hat, weiß, dass zwischen der Wildgans und den zahmen Gänsen, wie verschieden sie auch sind, dennoch eine Art Verstehen herrscht. Wenn der Zug der Wildgänse in der Luft zu hören ist, und da zahme Gänse unten auf der Erde sind, so merken diese letzten das sofort, sie verstehen bis zu einem gewissen Grade, was es bedeutet; deshalb hüpfen sie auch, schlagen mit den Flügeln, schreien und fliegen in verworrener unschöner Unordnung ein Stück über den Erdboden hin – und dann ist es vorbei.

Es war einmal eine Wildgans. Zur Herbstzeit gegen den Wegzug hin wurde sie auf einige zahme Gänse aufmerksam. Sie fasste Zuneigung zu ihnen, es deuchte sie jammerschade, von ihnen wegzufliegen, sie hoffte, sie für ihr Leben zu gewinnen, sodass sie sich entschlössen, mitzufolgen, wenn der Zug fortflöge.

Zu dem Zweck ließ sie sich auf jede Weise mit ihnen ein, versuchte sie zu locken, dass sie ein wenig höher stiegen und dann noch ein wenig höher im Flug, damit sie dann womöglich im Zuge mitfolgen könnten, erlöst von diesem elenden, mittelmäßigen Leben, auf Erden zu watscheln als ehrbare zahme Gänse.

Zu Anfang schien es den zahmen Gänsen, dies sei ganz unterhaltsam, sie hatten die Wildgans gern. Aber bald wurden sie ihrer überdrüssig, so gaben sie denn grobe Worte von sich, setzten sie zurecht als eine fantastische Närrin ohne Erfahrung und ohne Weisheit. Ach, und die Wildgans hatte sich leider zu sehr mit den zahmen Gänsen eingelassen, sie hatten allmählich Macht über sie bekommen, so dass ihre Worte etwas für sie bedeuteten – und das Ende vom Liede war, dass die Wildgans eine zahme Gans wurde.

In gewissem Sinn kann man ja sagen, dass, was die wilde Gans tun wollte, sehr hübsch war, aber trotzdem war es ein Irrtum; denn – das ist die Regel – eine zahme Gans wird niemals eine wilde Gans, aber eine wilde Gans kann sehr wohl eine zahme Gans werden.

Wem das, was die wilde Gans tat, irgendwie lobenswert vorkommen könnte, der sollte vor allem auf eine Sache achten: auf Selbstbewahrung. Sobald du merkst, dass die zahmen Gänse beginnen, Macht über dich zu gewinnen, dann fort! Fort! und weg mit dem Schwarm, damit es nicht damit endet, dass du eine zahme Gans wirst, die mit ihrem jämmerlichen Los glückselig zufrieden ist.«1

Natürlich zielt Kierkegaard auf die »zahmen Menschen«, die sich eigentlich nicht mehr für das Christentum interessieren, es aber ab und zu unterhaltsam finden, sich mit der Bibel auseinanderzusetzen – aber nicht zu arg.

Ich interpretiere hier das Ganze etwas gewaltsam als Parabel über Innovationen. Da kommt ein Innovator mit einer Idee (»wir fliegen nach Süden«) und versucht, die angepassten Angestellten eines Unternehmens dafür zu interessieren. Sie finden die Idee »unterhaltsam« und diskutieren sie gerne in ein paar Meetings. »Was haben wir für tolle Menschen in unserem Unternehmen, die solche Ideen haben! Wir sind innovativ, das macht Freude! Wir könnten dem Innovator einen kleinen Geldpreis mit einer Urkunde verleihen, das wird ihn inspirieren, uns noch mehr Ideen zu bringen.« Das betrübt den Innovator einigermaßen, denn er will die Idee ausführen (»wir fliegen nach Süden«). Da schlägt die Stimmung gegen ihn um, es gibt »grobe Worte« gegen ihn, er soll doch bitte Ruhe geben – er kann sich schließlich nicht beklagen, er hat genug Aufmerksamkeit und sogar Lob bekommen. Diesen Prozess des stillen Beerdigens einer Idee habe ich selbst oft erdulden müssen und ihn wieder und wieder in anderen Unternehmen miterlebt. Nicht gezählt habe auch die Leserbriefe, die mit immer derselben Klage kommen: »Sie wollen gleich dann nicht mehr mitmachen, wenn es etwas ernster wird!«

Kierkegaard war damals verzweifelt, dass die christliche Botschaft nicht mehr ernst genommen wurde (und heute noch weniger ernst genommen wird). Er wütete, schimpfte und provozierte. Er radikalisierte sich am Ende seines kurzen Lebens gegen die verbürgerlicht-behagliche (Per-)Version der reinen christlichen Idee. Er wollte nie »die zahmen Gänse über ihn Macht gewinnen lassen«. Fort, fort, damit er nicht eine zahme Gans werde wie alle! Und letztlich scheiterte er mit seinem Vorhaben, alle die anderen aufzurütteln. Es scheint so schwer zu sein, die »zahme« Menge neu zu orientieren, ist es so mühsam, in einem Unternehmen mit stolzer langer Historie die normalen »dressierten« Menschen hinter dem gemütlichen Ofen der Gewohnheiten hervorzulocken. Wer es versucht, merkt schnell, dass es ihnen Angst macht, sich neu zu orientieren, auch wenn das Verbleiben im alten Trott zu Nachteilen führen würde. Es verlangt dem Innovator vieles ab, sich nicht »zähmen zu lassen« – schnell sagt er: »Okay, dann mache ich nur meinen normalen Job, da lobt ihr mich – aber sonst ja nicht.«

In diesem Sinne beginne ich das erste Kapitel dieses Buches. Ich will das heute normale Management, das sich selbst über Effizienz, Arbeitsdruck und Prozessorientierung definiert, als eine mächtige Dressurmaschine erklären, die uns Mitarbeiter immer stärker normt und zu »Prozess-Sklaven« macht. Wir werden zu Rädern im Getriebe der Geschäftsabläufe, und bald sind wir nur noch menschliche Prozess-Schnittstellen, die in einer Prozesskette Daten bekommen, sie kurz anschauen, mit einigen Klicks überarbeiten und sie in den nachgelagerten Prozess weiterführen. Unser Manager sieht sich als ein kurzfristig agierender Homo Oeconomicus und degradiert uns zu dem schon erwähnten Menschlein (»Homunculus Oeconomicus«), das nicht mehr weit von einem Roboter entfernt ist. Wir spüren es schon unheimlich in uns gären – derzeit grassiert die bohrende Frage in der Presse, ob wir nicht bald alle durch »Robos« ersetzt werden.

Aber auch die Presse hat vergessen, dass es den Süden gibt, gerade sie! Denn sie kanzelt all die Träumer, Tüftler, Künstler, Weltoffenen und Entrepreneure regelmäßig ab, deren radikale Ideen jedem gut dressierten und angepassten Presse-Homunculus verwegen, gefährlich und kindisch erscheinen müssen. Die Geisteswissenschaftler aber glauben erwarten zu müssen, dass jede neue Welt ethisch besser als die alte sein müsse, sonst sei der jeweils neue Weltentwurf rundweg abzulehnen – als ob Innovationen die Menschen als solche je grundsätzlich besser machen könnten.

Die alte Welt der Prozessoptimierung verdrießt uns sehr, aber eine ganz neue Welt scheinen wir zu ernsthaft zu fürchten. Was hält uns zurück? Das will ich hier analysieren: Das Management »baut Deiche«, es spart unermüdlich und optimiert die Prozesse, es verdichtet unsere Arbeit und verlangt Überstunden – und wir Herdentiere machen es angstvoll mit. Die Angst vor wirklichen Veränderungen frisst am Ende uns Mitarbeiter.

Wenn Sie jetzt befürchten, ich würde nun als »Wild Dueck« ein niveauloses Loblied auf alles Neue singen, dann irren Sie sich. Ich will darstellen, wie zahm wir alle geworden sind und wie wir trotz aller Unbill noch zahmer werden, und ich will argumentieren, dass das Zahme schon zwanghafte Züge einer ernsten Störung angenommen hat – offenbar besonders in Deutschland, denn wir liegen heute fast überall zurück. Wir sind nicht mehr die stolzen »Made-in-Germany-Deutschen«. Wir rangieren unter »ferner liefen«. Bei Klimaschutz, Bildung, E-Mobilität, Netzabdeckung, Digitalisierung etc. stehen wir vor »gewaltigen Herausforderungen«, über die wir zahmen Gänse immer noch lange auf dem Hof diskutieren … Es gibt ja immer noch genug Weizen zu futtern, zwar weniger als früher, aber wir Zahmen fühlen uns noch so sicher geborgen, dass wir uns gewiss in kein Abenteuer stürzen.

Merksatz

»Wir werden zu Zukunftsunfähigen geformt.«

Ihr Zahmen: wenn es im Winter nichts zu essen gibt, könnten wir alle doch in eine neue Welt im Süden fliegen. Seid sicher: Es gibt den Süden. Dort liegt Digitalien. Ihr Zahmen: Ist es wirklich so, dass es keine Chance gibt, euch wieder wild zu machen? Oder entsprechen drahtig fliegende Gänse nicht eurem Schönheitsideal, weil sie mager und schwach aussehen, nicht so proper fett und blütenweiß? Was passiert, Ihr fetten Gänse, wenn der Bauer krank wird und euch nicht mehr füttern mag? Wollt Ihr für diesen Fall nicht wenigstens fliegen können?

Da fällt mir ein: War es in Passau? Ja, in Passau, es ist sehr lange her. Ich besuchte damals noch als Bielefelder Mathe-Prof eine Tagung und schwänzte zwei Stunden. Ich schlenderte in der Altstadt die Donau entlang zur Mündung von Inn und Ilz. Auf dem Wege dorthin stellten Künstler ihre Bilder aus, auch Skulpturen und Fotos. Ich schlenderte zügig hindurch, »es ist ja nur Kommerz«. Da! Ich blieb wie gebannt vor einem Foto stehen, betrachtete es und sog es lange in mich hinein, wohl eine Viertelstunde lang. Gänse! Bildfüllend sehr viele Gänse, die allesamt ihre Hälse gespannt in die Richtung des Bildbetrachters recken. Und die vorderste Gans von allen im Bild breitet als einzige schon ihre Flügel aus und scheint loszufliegen. Das Bild steht unter Spannung. Man fragt sich: Würden die anderen ihr folgen? Reißt die führende Gans alle mit auf eine gemeinsame Reise? Ich fühlte tief, dass das Bild etwas mit Innovation und Start-up zu tun haben müsste, dass ich selbst vornewegfliegen müsste und sehnlich erwarten würde, die anderen kämen nach … Ich fragte nach dem Preis. Das Foto, etwas größer als DIN A4, war für mich sagenhaft teuer. Ich ging traurig bis zur Mündung. Auf dem Rückweg kaufte ich es, ohne zu verhandeln, weil Mathematiker dazu wohl zu schüchtern sind und ich noch mehr. Ich hatte das Gefühl, es ewig bereuen zu müssen, wenn ich es nicht besäße. Es hängt nun seit über 30 Jahren neben meinem Schreibtisch und drückt etwas in mir aus.2

Ja, Sie mögen denken, ich könnte von Größenwahn erfasst sein, ich allein vorneweg – nein, es ist Sehnsucht wie bei Saint-Exupéry (erwecke in dir »die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer«) aber auch die Angst – die habe ich, ganz bestimmt – zahm oder assimiliert zu werden.

Als ich 1987 zur IBM ging, hatte ich schon fünf Jahre als Uni-Professor hinter mir, ich schaute mich erstaunt in einem großen Konzern um. Wie viele Regeln es gibt! Und dabei war ich doch in einem »Wildgansgatter«, im IBM Wissenschaftszentrum Heidelberg gelandet, um dessen Freiheit man uns im Konzern beneidete. Ich war bei meinem Eintritt irgendwie schon zu alt, um mich sofort brav der Zähmung zu unterwerfen. Ich war und blieb kritisch, weil ich schon mit einer gefestigten Außensicht auf das Ganze gekommen war und die immer in mir bewahrte. Vielleicht kann ich nur deshalb dieses Buch schreiben.

So. Das war’s auch mit dem persönlichen Teil!

Weniger prosaisch und noch weniger allegorisch formuliert: Unsere nun alt gewordenen Industrien, in deren Anlagen wir zu fetten Hausgänsen wurden, werden uns bald nicht mehr in der derzeitigen Form ernähren. Sogar die sonst auf zahm gebürsteten Prozessberater warnen heute: »Autos, Bankkonten, Energieerzeugung oder Handel gehen zunehmend anders.« Die Umwälzungen durch Globalisierung und Digitalisierung verlangen schon seit längerer Zeit ein neues Verhältnis zum Arbeiten und eine innovativere Grundhaltung der Mitarbeiter. Das ist zwar schon lange erkannt, wird aber in Unternehmen bisher praktisch ignoriert. Nun stehen wir an einem Scheidepunkt. Wir brauchen Unternehmer, die ihre Ideen zum Fliegen bringen. Und zwar ganz vorne.

Irgendwann habe ich mal den folgenden Satz gefunden, der mich seitdem nicht losgelassen hat: »In 1648 he embarked for America to seek his fortunes, as he felt confident that better opportunities awaited him on the shores of the New World.« [Im Jahre 1648 schiffte er sich nach Amerika ein, um sein Glück zu suchen, denn er war voller Zuversicht, dass sich ihm an den Ufern der Neuen Welt bessere Chancen bieten würden.«] So dachten damals viele, als der Dreißigjährige Krieg zu Ende gegangen war. Bleibt man zurück im Zweifel? Oder sucht man nach ungewissen Chancen an einem anderen Ort? Beides ist ungewiss, auch heute. Es ist ungewiss, wie sich die neuen Unternehmen in der digitalen Welt schlagen, es ist ungewiss, in einer leise sterbenden Industrie zu verbleiben, bis es »einschlägt«, so wie in der Stadt Görlitz, in der so viele Siemensmitarbeiter ihren Job verlieren werden.

Man kann losziehen und sein Glück suchen oder sich an einen Strohhalm klammern. Wer entscheidet sich wofür? Das ist vor allem eine Frage der Persönlichkeit – »Das eine Risiko oder das andere?«

Die Menschen, die sich zum Fest- und Durchhalten entschließen, sind anders gestrickt als diejenigen, die aufbrechen. Das Durchhalten und das Gürtelkürzen mag kalkulierbar sein, aber es geht ohne jede Überraschung planmäßig bergab, bis – ja, bis das erhoffte Wunder doch noch alle rettet.

Ich erinnere: »Wenn eine Sintflut kommt, baut Schiffe oder Flugzeuge und keine Deiche.« Besonders die großen Unternehmen bauen Deiche. Sie »stellen sich auf«, »positionieren sich«, »wappnen sich«, »treffen Vorsorge« und »planen vorsichtig«. Etwas aufgeschlossenere Unternehmen »schauen sich Start-ups an«, also Wildgänse, die fliegen – aber sie sehen sofort, dass »das bei uns nicht so einfach geht«. Sie wären ja offen für andere Lösungen, aber sie trauen sich letztlich doch nicht. Hungern im Althergebrachten scheint leichter zu ertragen zu sein als das Einschiffen nach Amerika.

Heute werden wir wieder auf einen neuen Kontinent vertrieben: Die »Digitalisierung« zeigt uns den Weg in eine Neue Welt. Der alte Kontinent »Analog« trägt uns nicht mehr und erscheint überbevölkert, der Kontinent Digital/Global muss erst urbar gemacht werden. Für den Übergang, der eine oder zwei Generationen dauern mag, werden Aufbruchsstimmung und Pioniergeist wie nie zuvor gebraucht.

Merksatz

Zukunftsmenschen brauchen eine Metakompetenz: Zukunftsfähigkeit. »Im Unbekannten Möglichkeiten zu realisieren, neuen Wohlstand aufzubauen.«

Diese Kompetenz haben wir heute zu großen Teilen nicht. Das finden wir an sich nicht schlimm, weil wir noch gut leben und die Sorgen einfach verdrängen. Überdies meinen viele, dass es nie zu spät sein kann, doch noch »überzusiedeln«, aber dann sind wohl die besten Claims schon abgesteckt. Auch das schreckt uns nicht, es geht uns noch gut. Und schließlich wissen die zahmen Gänse: »Es reicht zu wissen, dass wir im Ernstfall fliegen könnten, wenn wir wollten.« Könnten, könnten, könnten. Dass man das Fliegen wieder neu erlernen und vielleicht lange dafür üben muss? Glauben wir nicht.

Derweil wird in Deutschland einfach weitergemacht, immer weiter. Die Digitalisierung wird nicht etwa ganz liegen gelassen, nein, das nicht. Man nutzt jede ihrer Möglichkeiten, um etwas, was schon immer gemacht wurde, nun digital zu optimieren, um damit einzusparen. Hauptsache einsparen! Alles wird effizienter und schneller. Als Land der Ingenieure und Erfinder lieben wir Roboter in den Maschinenhallen, die dürfen uns helfen. Aber man verweigert sich den grundlegenden Innovationen der Fintechs, Biotechs, Gentechs, Insurtechs, Proptechs, die überall zum Leben erwachen. Dabei wollen wir nicht mitmachen, weil wir dann schrecklich unsicheres Land betreten müssten. Grimmig entschlossen werden die neuen Technologien nicht im Sinne der Zukunftsfähigkeit, sondern zum Überleben in der Vergangenheit verwendet. Man verschlankt und optimiert, das können wir alle, zumeist auch mit viel Geld für Berater. Aber etwas Neues beginnen? Nein. Irgendetwas stimmt nicht mehr im »Unternehmenshirn« oder in der Unternehmenskultur.

Merksatz

Das Unternehmenshirn leidet an einer Schieflage. Es klammert sich an Gewohntes.

Das Management für Zukunftsfähigkeit dagegen hat sehr viel mit dem Handlungs- und Gedankenuniversum des »Start-ups« zu tun. Management und Mitarbeiter sind von Aufbruchsstimmung erfüllt, optimistisch und weltoffen. Aber das Management der Krisenbewältigung versucht es mit Sparen und Arbeitsdruck, mit Entlassungen und immer mehr Prozessorientierung und endlosen Umstrukturierungen. Das können Manager gut. Sie waren bald dreißig Jahre lang damit erfolgreich, Produkte, die schon erfunden waren, immer noch besser und schneller zu produzieren (Autos, Maschinen).

Merksatz

Vergangenheitsmenschen klammern sich an ihre Metakompetenz: Effizienzfähigkeit.

Schauen Sie sich die Welt an, Sie können ja überall hinfliegen. Warum arbeiten bei Ihnen im Unternehmen alle vor sich hin? Warum schickt Ihr Unternehmen keine Delegationen ins Silicon Valley? Da ist sicher auch nicht alles Gold, aber es glänzt schon einmal. Wir alle wissen theoretisch, dass ein Auslandsaufenthalt die Persönlichkeit entwickelt. Das gilt auch für das Besuchen anderer Ideenkontinente oder einen träumenden Blick in den Himmel, auch wenn es wolkig ist.

Hochqualifizierte Arbeit braucht ein ruhigeres Gehirn als ein Routinejob

Effizienz bei Hochqualifizierten sieht anders aus als »schnell und billig«. Es hat etwas mit dem Erlernen »des Fliegens« zu tun und dem Erkunden der sich dann öffnenden Welt. Fliegen lernen braucht Zeit zum Üben, die Welterkundung braucht Drang und Freude an Grenzüberschreitungen. Diese Stimmung kommt in einem Gehirn nicht auf, dem ständig in den zugehörigen Hintern getreten wird.

Ich will einen Hauptteil des Buches darauf verwenden, die Denkmuster klassisch-schlechten Managements herauszuarbeiten, damit ganz klar wird, worin das Leiden eigentlich besteht. Unsere Manager sind beileibe nicht dumm, sie »schlafen« durchaus nicht und sie wissen eigentlich auch, was uns und ihnen selbst blüht. Man sagt oft: »Die Firmenkultur ist verkrustet.« – »Das Management ist gelähmt.« – »Das Management schaut sich die Start-ups staunend an, lernt aber nichts von ihnen.« Ich will Klarheit in diese Unklarheit bringen. Ich untersuche im Buch so etwas wie das »Unternehmensgehirn«, also das kollektive Denken und Wirken des Managements, das in einer größeren Mehrheit bestimmten einseitigen Meinungen der Vergangenheit anhängt. Dieses von einer Mehrheit getragene So-und-nicht-anders zementiert die Unternehmenskultur und lässt sich nicht einfach »umdrehen«.

Schritt für Schritt zeige ich Phänomene in veränderungsunwilligen Unternehmen oder staatlichen Strukturen auf, die sie im Alten festhalten.

Schauen wir im ersten Schritt in das Hirn eines jeden Mitarbeiters. Ist es ruhig, kreativ gestimmt, gehetzt oder genervt? Befindet es sich im richtigen Zustand für die Arbeit, die es auszuführen gilt? Sorgen die Manager dafür, dass sich das Gehirn in einem kreativen Zustand befindet? Das habe ich noch nie wirklich erlebt. In welchen Zustand bringen es die Manager? Sie stressen und nerven. Sie nennen es »Präsenz zeigen« oder »pushen«. Ich möchte oft aus der Haut fahren, wenn ich gerade über etwas Wichtiges nachdenke und plötzlich so ein Wie-weit-sind-Sie?-Nervtöter an meinem Arbeitsplatz erscheint. Das vernichtet die ganze Konzentration. Manche Schüler können bei einer Klassenarbeit nicht denken, wenn sich der Lehrer hinter sie stellt und auf ihr Geschreibsel schaut. Es macht wahnsinnig. Viele Lehrer wissen das und üben sich in ein wenig Sadismus. Als Schüler haben wir das alle erfahren, aber unsere Chefs üben sich weiter in diesem Sadismus, obwohl sie wissen, dass sie damit die Produktivität hemmen.

Das heutige Tagesgeschäft unter Druck kommt an seine Grenzen. Viele fühlen sich überlastet, die allgemeine Burnoutgefahr steigt. Wer zu schnell arbeitet, wird hektisch oder bald auch müde und macht Fehler, deren Bereinigung überproportional große zusätzliche (!) Aufwendungen erfordert.

»Eile mit Weile« sagt der Volksmund – aber die Manager sehen das anders. Schauen wir kurz in Ihr Auto: Neuerdings gibt es in den Autorückspiegeln Sensoren, die unsere Augen beobachten und eine Übermüdung oder zu hohen Stress anzeigen können. In diesem Fall erinnert uns ein Tonzeichen, dass wir lieber nicht mehr ohne Pause weiterfahren sollten. Ein richtiger echter Kraftmanager aber spielt den Macho und schaltet diese Vorrichtung ab. Er protzt vor den Mitarbeitern damit, härter und länger als alle anderen zu arbeiten. Seinen Körper- und Hirnzustand will er lieber nicht wahrnehmen.

Hochqualifizierte Arbeit funktioniert im Hastigmodus nicht. Wer kann denn rund um die Uhr – am besten unter Zeitdruck und mit Blick auf Bonusentziehungsdrohungen – Gedichte oder Programme schreiben, an Erfindungen tüfteln, wichtige Inhalte recherchieren oder wundervolle Präsentationen vorbereiten? Dafür braucht man einen klaren Kopf und einen ruhigen Arbeitsplatz – gewiss keinen der heute propagierten Sparbarhocker auf einer Massentierhaltungsarbeitsfläche. Die Sparkommissare missbrauchen pseudowissenschaftliche Studien und behaupten aus Geldgier: »Je enger die Mitarbeiter zusammensitzen, umso kommunikativer können sie ihr Wissen teilen.« Aber jeder Nichtmanager weiß: Für tiefes Nachdenken wäre ein Spaziergang effizienter, und oft kommen die besten Ideen im Urlaub am Strand. Warum dann nicht Freilandhaltung für Mitarbeiter statt Käfigzwang oder Hühnerstangenpflicht?

Werbetexter oder Start-up-Gründer sind noch einmal anders als die konzentrierten Nachdenker: Sie lieben es, fröhlich beim Kaffee beisammen zu sitzen und dabei die Füße auf den Tisch zu legen. Sie lachen und scherzen und »befeuern« sich dabei gegenseitig. »Ein Königreich für eine große Idee, die Wesentliches bewirkt!« Oder: Wer Vorlesungen hält, Theater oder Fußball auf höchstem Niveau spielt, braucht Ansporn durch ein gutes Publikum. Wenn alle psychologisch »mitgehen«, gelingt vieles besser.