Die falsche Ecke der Heide - Frederike Gillmann - E-Book
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Die falsche Ecke der Heide E-Book

Frederike Gillmann

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Beschreibung

Abi in der Tasche und was dann? Raus. Einfach weg. Mal die Welt. Das ist der Plan vieler junger Menschen, um endlich mal von zu Hause rauszukommen. So auch Annemieke. Sie hat keine Lust mehr auf diese triste Kleinstadt in Norddeutschland und will endlich mal etwas erleben. Doch nachdem sie einige Jahre mal woanders verbracht hat, muss sie sich eingestehen, dass es in der Heimat vielleicht doch gar nicht so schlecht ist...

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Frederike Gillmann

Die falsche Ecke der Heide

Roman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Danksagung

Impressum neobooks

Widmung

Für dich, Mama. Danke, dass du mir die Flügel zum Fliegen gegeben hast und dass ich doch immer wieder zurückkommen kann.

Und für meinen Opa, der wohl nie verstehen wird, warum ich keinen Wein trinke.

Kapitel 1

Annemieke

Raus. Einfach weg. Das dachte ich jetzt schon zum hundertsten Mal in nur einer Woche. Vielleicht waren es auch zehn Tage. Und gleichzeitig war das die Antwort auf die Frage, was ich denn nach der Schule machen wollte. Aber wohin? Ich fühlte mich einfach planlos. Ich wusste einfach, dass ich hier in der Region und vor allem meiner Stadt – Munster – nicht bleiben wollte. Einige meiner Freundinnen würden bewusst in Norddeutschland bleiben und am Wochenende ihre Familien besuchen, aber ich wusste, dass ich das nicht konnte. Klar, ich liebte meine Familie, aber ich wollte einfach Abstand. Ich wollte die Welt sehen. Aber nur wo? Ich wusste auch, dass ich mich bald entscheiden müsste, bevor die Anmeldefristen für FSJ und Co abgelaufen waren. Auch meine Mutter saß mir jetzt schon im Nacken. „Hauptsache, du entscheidest dich bald mal…“, sagte sie immer mit schon leicht genervtem Blick, wenn ich ihr beim Abendbrot gegenübersaß und auf die Frage nach meinen Zukunftsplänen nur die Achseln zuckte.

„Das ging sogar bei deiner Schwester schneller“, setzte sie manchmal sogar noch hinterher, wahrscheinlich um mich ein wenig zu piesacken. Meine Schwester Rena hatte ewig gebraucht, bis sie sich für ein Studium entschieden hatte und war schließlich mit Psychologie glücklich geworden, allerdings wusste Rena auch, dass sie studieren wollte. Ich wusste ja noch nicht einmal, was ich machen wollte.

„Was machen die anderen denn?“ Das war auch immer noch eine beliebte Frage. Mit die anderen waren meine Freundinnen gemeint.

„Mama“, sagte ich dann immer leicht genervt, „das habe ich dir doch auch schon tausend Mal gesagt.“

„Ja, aber hilf deiner alten Mutter doch nochmal auf die Sprünge.“ Ich verdrehte demonstrativ die Augen.

„Hey, das habe ich gesehen“, kam es von ihr empört.

„Also, Laura und Lea gehen studieren. Ich glaube, Laura will nach Hamburg und Lea nach Hannover. Kathi macht so Work and Travel.“

„Aha. Und wo das?“

„Keine Ahnung, ich glaube, sie wollte nach Neuseeland.“

„Wie? Du hast keine Ahnung? Unterhaltet ihr euch nicht?“

„Ey Mama…“, sagte ich jetzt wirklich genervt, denn mir war echt nicht danach, mich ausfragen zu lassen.

„Ja, was denn? Und ey schon mal gar nicht. Es geht hier um deine Zukunft, Fräulein.“

Als ob ich das nicht wüsste. „Rena hat sich doch auch erst kurz vor knapp entschieden“, sagte ich zu meiner Verteidigung.

„Das war im Juli.“

„Ja, und jetzt haben wir Ende Juni“, meinte ich ein wenig keck, um damit die Situation ein wenig zu entschärfen.

„Ich wünschte, du würdest die Sache etwas ernster angehen“, sagte meine Mutter resigniert.

„Mach dir keine Sorgen, Mama.“ Damit war unsere Diskussion des Abends beendet.

Vielleicht würde es mir ja leichter fallen, wenn ich nicht permanent dieses Gefühl hätte, etwas finden zu müssen. Auch wenn es leider die Realität war. Ich konnte und wollte auch nicht ab Oktober ein weiteres Jahr hier versauern müssen. Ich hatte schon öfters daran gedacht, zu studieren. Nur was, das wusste ich noch nicht so genau. Und zum Glück war die Frist bis Mitte Juli auch noch nicht abgelaufen, sodass noch eine Anzahl an Möglichkeiten blieb. Die naturwissenschaftlichen Fächer schloss ich schon mal aus, da würde ich ganz das Klischee bedienen. Nicht, dass ich schlecht darin war, es gab nur einfach Fächer, die mir in der Schule mehr Spaß gemacht hatten. Ich hörte die Stimme meines Opas im Kopf: Mach doch Zahnmedizin, dann muss ich mir später darüber keine Sorgen machen, wer mir meine Zähne macht.

Wie witzig (oder auch nicht). Zumindest hatte mein Großvater seinen Sinn für Humor nicht verloren. Ich wusste, dass sich meine Mutter insgeheim wünschte, dass ich mich für etwas Richtiges entschied. Noch so ein Ausdruck, den sie gerne verwendete. Damit meinte sie etwas, womit man sicherlich später einen Job fand. An erster Stelle sah sie da wohl Medizin. Das fand ich auch interessant, aber da hörte es auch schon wieder auf. Weder hatte ich den NC dafür, noch hatte ich große Lust darauf, an Leichen rumzuschnippeln. Auf BWL hatte ich auch nicht so viel Lust, zu viel Mathe. Wenn Rena mal da war, beschwerte sie sich auch allzu gerne darüber, wie viel Mathe sie im Studium machen müsste. Dafür, dass man Menschen später wieder die Seele klempnern würde. Ich hatte das Gefühl, sie wusste genau, worauf sie sich da einließ, brauchte manchmal aber einfach diese Portion Mitleid.

Wenn Kathi – wie in letzter Zeit sehr oft – von Neuseeland schwärmte, hatte ich auch nicht übel Lust, so weit weg zu reisen wie nur irgend möglich. Aber konnte das denn so einfach sein? Ich war da noch ziemlich skeptisch. Einfach ein Ticket kaufen, wegfliegen und hoffen, einen Job zu finden? Das war mir dann doch irgendwie zu risikoreich.

Immer, wenn ich es einfach nicht besser wusste, befragte ich Doktor Google, auch wenn ich bei meinen Eingaben nicht sonderlich kreativ war. Was tun nach dem Abi? Welcher Studiengang passt zu mir? Auslandsjahr und so weiter. Ich hatte auch schon gefühlt alles gelesen, was es zum Thema Work and Travel, FSJ im Ausland und sogar Au-Pair gab. Irgendwie konnte ich mir das nicht so recht vorstellen, in einer fremden Familie für ein ganzes Jahr auf deren Kinder aufzupassen. Ich meine, ich mochte Kinder, aber ständig und den ganzen Tag? Ich klickte einen Link an und las mir durch, was auf der Seite angepriesen wurde. Es wurde davon geredet, was alles im Rundum-Sorglos-Paket dieser und jener Agentur mit drin ist und dass man sich im Notfall um nichts kümmern müsste und dann noch die Erfahrungsberichte von jungen Frauen, die einem Mut machen sollten, sich in das Abenteuer zu stürzen. Ich stand dem ganzen ja eher skeptisch gegenüber. Noch dazu erinnerte ich mich an den ein oder anderen Bericht im Fernsehen zum Thema (Alb-)Traum Auslandsjahr. Vielleicht hätte Kathi ja Lust, dass ich mit ihr nach Neuseeland fliegen würde. Dann wäre sie zumindest nicht so allein. Aber irgendwie sah ich mich dann doch mehr als den Weltreise-Typ. Ich glaubte allerdings, da hatte meine Mutter etwas dagegen – schon allein rein finanziell.

Da kam mir eine Idee: ich würde mir ein Interrail-Ticket kaufen. Durch ein oder auch ein paar mehr Länder fahren und ein paar Wochen arbeiten und am besten sogar einen festen Job finden. Das war die Idee!

Meine Mutter war da allerdings anderer Meinung: „Das kannst du vergessen. So einfach ist das nicht“, sagte sie ernst, als ich ihr von meiner Idee am nächsten Morgen vorschwärmte. „Wo willst du denn unterkommen? Du kannst doch nicht immer in Hotels schlafen.“

„Tu ich ja gar nicht“, sagte ich ein wenig beleidigt.

„Und wo dann? Im Zelt, oder wo?“

„Wenn es sein muss…“ Ich sah den leicht entsetzten Blick meiner Mutter. „War natürlich nur Spaß...Mama, ich bin 18, ich kann das allein!“

„Genau darum geht es, du bist erst 18. Da kann sonst was passieren.“

„Jetzt mal mal den Teufel nicht an die Wand“, erwiderte ich ein wenig gereizt. Eigentlich hatte ich darauf gehofft, dass meine Mutter von meinem Aktionismus etwas mehr angetan wäre.

„Sag mal…Oma hat doch Familie in Kanada. Kann die die nicht mal anhauen?“

„Was willst du denn jetzt in Kanada?“

„Ich will einfach weg!“, sprach ich endlich das aus, was ich meiner Umwelt schon seit Ewigkeiten mitteilen wollte.

„Du kannst sie ja mal fragen. Ich kann dir aber nichts versprechen. Außerdem sind das ja fremde Leute...Ich selbst kenne meine Cousins ja kaum.“

„Das kann man ja ändern“, behauptete ich, obwohl ich selbstsicherer tat, als ich war.

Tatsächlich konnte meine Oma den Kontakt zu ihrer Schwester aufnehmen und sie war gerne bereit, sich auf das Abenteuer einzulassen, ihre Großnichte für eine gewisse Zeit zu beherbergen. Als das geregelt war, jubelte ich vor Freude. Meine Mutter sah dabei gar nicht so glücklich aus, aber ich glaubte, dass sie sich trotzdem ein wenig für mich freute, auch wenn sie wusste, dass ihr Küken nun das Nest verlassen würde.

So kam es, dass ich am ersten August völlig aufgeregt mit meiner Mutter und meiner Schwester am Hamburger Flughafen stand. Meine Mutter war erstaunlich still, doch ich meinte zu wissen, wie sehr sie mit sich kämpfte.

„Hast du auch alles? Dein Visum?“, fragte sie mit ein wenig Besorgnis in der Stimme.

„Nein“, antwortete ich nur, um sie ein wenig zu ärgern. „Spaß…“, sagte ich dann ein paar Augenblicke später, nachdem ihr Gesichtsausdruck von Besorgnis in Schock umgeschlagen war.

„Das kannst du mit deiner alten Mutter doch nicht machen“, sagte sie ein wenig empört.

„Mama, Mieke kann das schon“, versuchte auch Rena sie zu beruhigen. Meine Mutter sagte nichts.

Nach einer bereits gefühlten Ewigkeit am Flughafen wurde endlich mein Flug angezeigt. Ich würde zuerst nach Frankfurt fliegen und von dort aus nach Toronto. Ich konnte es kaum erwarten, gleich endlich ein wenig Ruhe zu haben, denn die letzten Tage mit meiner Mutter waren echt anstrengend gewesen. Ständig fragte sie mich, ob ich noch irgendetwas bräuchte oder ob ich dieses und jenes schon eingepackt hätte. Manchmal waren solche Diskussionen sogar in Streit ausgeartet.

„Also, mach‘s gut, Rena“, sagte ich zu meiner Schwester und umarmte sie. Ich versuchte, nicht allzu emotional zu werden, merkte aber doch, wie meine Kehle ein wenig trocken wurde.

„Ich wünsch dir ganz, ganz, ganz viel Spaß! Und lass mal von dir hören“, antwortete sie.

„Mach‘s gut, Mama“, wandte ich mich an meine Mutter. Sie hatte bereits Tränen in den Augen und schniefte leise.

„Mach‘s gut, mein Schatz. Meld dich, wenn du angekommen bist.“ Ich versuchte, nicht zu weinen, spürte aber dennoch, wie eine einzelne Träne meine Wange hinunterrann. Dann ging ich durch die Sicherheitskontrolle und konnte anschließend auf der anderen Seite der Glaswand noch sehen, wie meine Mutter mir zuwinkte. Ich winkte kurz zurück, nur um zu zeigen, dass ich sie gesehen hatte, ging dann aber weiter, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Kapitel 2

Heike

So fühlte sich das also an, wenn ein Küken flügge wurde. Ich konnte es nicht glauben: meine Mieke ging einfach so in die große, weite Welt. Hatte ich sie die letzten fünfzehn Jahre gut darauf vorbereitet? Sie ist doch mein Baby! Sie ist doch gerade erst aus der Schule raus. Es kommt mir sogar so vor, als wäre sie gestern erst geboren worden. Warum muss die Zeit denn nur so schnell vergehen? Warum können Kinder denn nicht immer klein bleiben? Sie hat sich noch nicht einmal umgedreht. Wird sie mich denn überhaupt nicht vermissen? Habe ich irgendetwas falsch gemacht?

Ich fuhr nach Hause und musste mich erst einmal an die Stille gewöhnen. Bei Rena war das damals nicht so schlimm, da wusste ich ja noch, dass meine Mieke da war und Hamburg war ja auch viel näher dran. Aber Kanada? Ich wollte sie ja am liebsten noch umstimmen, aber Mieke hatte schon immer so einen Dickschädel...

Kapitel 3

Annemieke

Ich hatte schon Erfahrung mit Langstreckenflügen – für einen Schüleraustausch war ich einmal in den USA gewesen –, aber trotzdem gibt es Schöneres, als acht Stunden mit hunderten, anderen wildfremden Leuten auf engstem Raum nahezu eingepfercht zu sein. Und natürlich stellt sich da auch die Frage, was besser ist: Gang oder Fenster? Ich hatte einen Fensterplatz ausgewählt, dann konnte ich zumindest bei Start und Landung aus dem Fenster schauen.

Alles verlief reibungslos und ich kam wohlbehalten, wenn auch ein wenig müde, am Flughafen in Toronto an. Ich bin in Kanada!, dachte ich aufgeregt, sobald ich von der Gangway die Ankunftshalle für Einreisende betrat. Ich reihte mich in die Schlange der anderen Wartenden ein und als ich dran war, gab ich dem Mister meine Dokumente und hoffte, dass alles in Ordnung war. Er schaute auf meinen Pass und dann mich an, dann wieder mein Touristen-Visum, mit dem ich sechs Monate lang bleiben konnte.

„What‘s your reason for being here?“, fragte er dann noch einmal. Er wollte den Grund meines Aufenthalts wissen.

„Vacation“, war meine kurze Antwort – Urlaub.

Er schaute noch einmal auf meine Unterlagen.

„And you are staying with…Mrs Barbara Ferman“, stellte er fest. „Who is that?“

„My grand aunt“, kam wieder die kurze Antwort von mir.

Noch ein letzter Blick auf Ausweis und Unterlagen, dann nahm er seinen Stempel und drückte ihn in meinen Pass. Ich war in meinem Leben, glaube ich, noch nie erleichterter gewesen. Und auch wenn diese Kontrolle noch nicht mal zwei Minuten gedauert hatte, war es mir doch wie eine Ewigkeit vorgekommen. Jetzt musste ich nur noch meinen Koffer holen und würde dann meine Großtante und ihre Familie kennenlernen.

So leicht, wie ich mir das vorgestellt hatte, war das dann allerdings doch nicht. Natürlich dauerte es noch eine Weile, bis das Gepäck aus dem Flieger in der Gepäckhalle ankam und ich hatte auch immer das Gefühl, dass mein Gepäckstück eines der letzten war, doch mein Koffer kam und kam einfach nicht. Irgendwann vernahm ich dann dieses Knacken einer beginnenden Lautsprecherdurchsage: „Annemieke Engel, please come to the information desk, I repeat, Annemieke Engel, please come to the information desk.“

Schockstarre. Was hatte ich getan? Gab es nachträglich doch ein Problem mit den Papieren? Würde ich noch heute wieder zurückreisen müssen?

Wie ferngesteuert begab ich mich zum Informationsschalter und eine Dame lächelte mir freundlich zu. „Hello, what can I do for you?“, fragte sie mit zuckersüßer Stimme.

„I‘m Annemieke Engel“, sagte ich. Das war alles, was ich herausbrachte. Ich glaube, die Dame hatte jemand Älteren erwartet, als sie meinen Namen ausgerufen hatte.

„Oh, okay. So, unfortunately, your luggage didn‘t made it today“, sagte sie und sollte dabei wohl irgendwie beruhigend klingen. Ich starrte sie an. Von all diesen hundert Gepäckstücken war es ausgerechnet meins, das nicht mitgekommen war.

„Where are you going to stay?“ Ich gab ihr das Papier mit der Adresse meiner Großtante. Sie schaute es an.

„Okay, when we have found your luggage, we will send it directly to this adress. Can you please tell me how it looks like…like the size, colour and so on?“

„It is purple....and the surface is soft...and the case is very big.“ Mehr konnte ich zur Beschreibung meines Koffers in dieser Situation nicht sagen. Mein Gehirn war einfach wie leergefegt.

„Alright, we will try our best to find it. Have a good stay.“

Ja, der Aufenthalt begann ja schon mal super. So hatte ich mir das nun wirklich nicht vorgestellt.

Die Dame am Schalter lächelte mir noch einmal entschuldigend zu.

„Okay, thank you. Have a nice day“, verabschiedete ich mich mit einem Kloß im Hals und drehte mich um Richtung Ausgang.

Meine Großtante und ich hatten Fotos ausgetauscht, damit wir uns am Flughafen wiedererkennen würden. Ich folgte den anderen Passagieren durch die Schiebetür und schaute mich nach einer Frau mit kurzen grauen Haaren und strahlend blauen Augen um. Als ich mit den Augen die Menge absuchte, hörte ich aus einer Richtung: „Annemieke! Hier!“ Ich drehte mich um und sah sie fast ganz vorne mit einem etwas jüngeren Mann hinter der Absperrung stehen. Ich ging um die Absperrung herum und stand auf einmal vor ihr: meiner Familie aus Kanada. Ich wusste nicht ganz, wie ich mich verhalten sollte, denn eigentlich waren wir uns fremd. Also nicht nur eigentlich...

„Na, willst du deine Großtante denn nicht drücken?“, ergriff sie die Initiative. Ich folgte ihrer Aufforderung. „Das ist übrigens Oscar, mein Sohn“, stellte sie ihre Begleitung vor.

„Freut mich“, sagte ich zu ihm und wir schüttelten uns die Hände.

„Nice to meet you too“, sagte er.

„Oscar ist hier geboren und er spricht nur noch selten Deutsch. Aber verstehen tut er es noch sehr gut. Nicht wahr, Oscar?“, erklärte mir Barbara.

„Das ist ricktig“, bestätigte er und wir mussten ein wenig lachen.

„Kein Problem, mit Englisch komme ich klar“, meinte ich.

„Sag mal, hast du nur den Rucksack da?“, fragte sie mich und schaute etwas verwundert auf mein spärliches Handgepäck.

„Nein, allerdings ist mein Koffer aus irgendeinem Grund nicht mitgekommen“, erklärte ich.

„Was? Wie konnte das denn passieren?“

„Das wüsste ich auch gerne“, meinte ich.

„Und jetzt hast du gar nichts zum Anziehen dabei?“, fragte Barbara.

„Nein, nur das, was ich anhabe.“

„Gut, dann werden wir uns wohl was einfallen lassen müssen. Aber jetzt fahren wir erst mal nach Hause. Dann kannst du dich ausruhen.“

Ausruhen klang wie Musik in meinen Ohren, denn auf einmal merkte ich, wie müde ich doch wirklich war.

Auch auf dem Weg zum Auto hörte Barbara nicht auf zu reden.

„Ach, ich freue mich so, dass du da bist. Weißt du, ich habe gar nicht mehr so viel Kontakt zu meiner Familie aus Deutschland und auf einmal ruft meine Schwester – deine Oma – an und erzählt mir, dass ihre Enkelin nach Kanada kommen will. Ich hoffe, es gefällt dir hier, hier ist es wunderschön...“

Fast hatte ich das Gefühl, sie redete einfach so drauflos, anstatt mich direkt anzusprechen. Ich war immer noch etwas unsicher und ging ein paar Schritte hinter meiner Großtante und Oscar drehte sich hin und wieder zu mir um, vielleicht um sicherzugehen, dass ich ihnen immer noch folgte. Der Flughafen erschien mir riesig und der Weg zum Auto entsprechend lang. Außerdem fiel mir auf, dass im Parkhaus fast nur SUVs standen.

„Oscar packt deinen Koffer für dich in den Kofferraum“, verkündete Barbara. Oscar und ich schauten uns an und mussten lachen.

„Ich glaube, da gibt es nicht viel zu verstauen“, sagte er.

„Ach, was bin ich alt geworden, habe es schon wieder ganz vergessen“, fiel es ihr wieder ein. „Na dann, steigt schon ein.“

Oscar setzte sich hinters Steuer und ich wollte schon hinten einsteigen, als Barbara sagte: „Du kannst ruhig vorne sitzen, wenn du magst, ich sitze lieber hinten.“

Ich überlegte einen kurzen Moment, setzte mich dann aber schließlich auf den Beifahrersitz.

„Immer dieser Verkehr…“, seufzte Barbara von hinten. „Früher war das alles anders. Manchmal wünsche ich mir diese Zeiten zurück.“

„Mama ist manchmal ein klein wenig sentimental“, flüsterte Oscar mir zu.

„Hey, ich bin vielleicht ein wenig älter als ihr, meine Ohren sind aber immer noch ausgezeichnet!“

Der Rest der Fahrt verlief eher still. Oscar manövrierte uns zielsicher durch den Verkehr der kanadischen Großstadt und hin und wieder meldete sich Barbara von hinten zu Wort, sobald sie mich über dieses oder jenes informieren wollte.

„Warum bist du damals aus Deutschland weg?“, wollte ich wissen.

„Der Liebe wegen. Jack war in Deutschland stationiert und als er wieder zurückmusste, konnte ich einfach nicht alleine bleiben. Meine Eltern waren am Anfang überhaupt nicht begeistert, haben allerdings schließlich eingewilligt.“

Ich musste ein wenig schmunzeln. Heutzutage wäre es egal, was die Eltern sagen, da brennen die Verliebten einfach durch.

Mittlerweile steuerte Oscar den Wagen durch eine Wohnsiedlung und parkte vor einem dieser Häuser, die man schon tausendmal in nordamerikanischen Filmen gesehen hat. Oscar stellte den Motor ab und machte seiner Mutter die Tür auf. „Was für ein Gentleman“, kommentierte sie. „Wer dich wohl so erzogen hat?“ Ich lächelte ein wenig in mich hinein.

„Hey, we‘re home!“, verkündete Barbara, als wir über die Schwelle traten. Oscar war so freundlich und nahm mir meine Jacke ab. „Das ist wohl die gute deutsche Schule“, bemerkte ich mit einem Augenzwinkern.

„Ja, Mum hat da sehr viel Wert draufgelegt“, antwortete er.

„Hi, darling. Oh, and who‘s that?“ Ein Mann im Alter meiner Großtante war erschienen.

„Honey, I told you that Os and I will pick up our great-niece.“

„Just kidding“, sagte er. „Nice to meet you, I‘m Jack. Your great-uncle.“

„I supposed that“, erwiderte ich lächelnd. „I‘m Annemieke.“ Ich fühlte mich ein wenig komisch dabei, Englisch zu sprechen und meinen Namen dabei Deutsch auszusprechen. Was hatten sich meine Eltern auch dabei gedacht, mir diesen urdeutschen Namen zu geben?

„Annömieckey“, versuchte er, meinen Namen zu wiederholen.

„We should probably go with Anne“, schlug Barbara vor. „Was denkst du?“ Ich hatte nichts dagegen.

„Anne klingt gut. Sounds good“, bestätigte ich.

„I‘m off, Mom, Julie‘s waiting“, sagte Oscar und verabschiedete sich. „See you, Anne.“ Er hob die Hand zum Gruß.

„See you“, erwiderte ich.

„What a pretty girl you are“, stellte Jack fest. Ich errötete bei diesem Kompliment ein wenig.

„Jack“, schalt meine Großtante ihren Mann mit leichter Empörung in der Stimme.

„It‘s true“, verteidigte er sich.

„Jack spricht übrigens so gut wie kein Deutsch mehr. Ich denke, er versteht noch immer alles, aber sprechen tut er‘s nicht mehr.“

Jack, der zugehört hatte, nickte zustimmend. „Meine Deutsch ist nickt mehr so good.“

„Oscar ist also verheiratet?“, fragte ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Ja, er und seine Frau Julie haben selbst zwei Kinder, die aber auch schon erwachsen sind und aufs College gehen.“ Nach einer kurzen Pause sagte Barbara weiter: „Ich werde etwas zu essen machen? Was isst du am liebsten?“

„Ich esse eigentlich alles außer Fleisch und Fisch. Ich bin Vegetarierin.“

„Oh dear“, hörte ich Jack sagen.

„Ich werde schon was finden“, sagte meine Großtante und begab sich in die Küche. „Jack, show Anne the room, please.“

Jack machte eine Handbewegung, die anzeigte, dass ich ihm folgen sollte. „No luggage?“, fragte er erstaunt. Ich schüttelte den Kopf. „Kind of a story.“

Ich folgte Jack die Treppe hoch und er zeigte mir mein Zimmer. „Do you like it?“ Ich nickte. Ich ging ins Zimmer, stellte meinen Rucksack neben das Bett und sah mich um. Ich hatte sogar ein eigenes kleines Bad.

„Du kannst dich ausruhen. Wenn du irgendetwas brauchst…“, sagte er auf Englisch. Damit drehte er sich um und ließ mich allein.

Ich ließ mich aufs Bett fallen und atmete einmal tief durch. Ich konnte es noch gar nicht fassen: ich war in Kanada! Alles kam mir so unwirklich vor. Dann fiel ich in einen tiefen Schlaf der Gerechten.

Kapitel 4

Als ich wieder aufwachte, ging draußen schon fast die Sonne unter. Ich war zwar ausgeschlafen, ärgerte mich aber dennoch darüber, denn bei einem Jetlag, bei dem man nach Westen reist, hieß es ja, man soll so lange wie möglich wach bleiben. Na ja, ändern konnte ich das nun nicht mehr.

Ich ging in das kleine Badezimmer, spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht und richtete meine Haare ein wenig, sodass ich halbwegs präsentabel aussah. Meine Großtante und mein Großonkel saßen vor dem Fernseher, als ich die Treppe hinunterstieg. Barbara schaute auf.

„Hey, da bist du ja. Hast du gut geschlafen?“ Sie lächelte mich an. „Ich habe dir ein bisschen Salat aufgehoben. Und Pommes sind auch noch da. Entschuldigung, wir leben nicht sehr vegetarisch.“

„Klingt doch gut“, sagte ich. Barbara stand auf und ging in die Küche, um die Sachen zu holen.

„Hast du schon einen Plan für die nächste Zeit?“, fragte Barbara, als ich fertig war und ich mich zu meinem Großonkel und meiner Großtante vor den Fernseher gesetzt hatte.

„Irgendwie noch nicht so wirklich“, gestand ich. „Also eigentlich würde ich gerne arbeiten gehen, aber ich weiß noch nicht so wirklich, wie ich das anstellen soll.“

„Du könntest einfach mal in den Cafés und Geschäften fragen. Die Kanadier sind da sehr offen und stellen auch mal spontan junge hübsche Frauen ein.“ Als sie das sagte, merkte ich, wie ich wieder ein klein wenig rot wurde.

„Ja, das kann ich tatsächlich mal probieren“, stimmte ich ihr zu.

„Hast du deiner Mutter überhaupt schon gesagt, dass du angekommen bist?“, fragte mich Barbara nach einem kleinen Moment der Stille.

„Oh, Mist. Das habe ich total vergessen“, fiel es mir wieder ein. „Ich denke, das werde ich wohl eher morgen machen, jetzt ist es in Deutschland zu spät.“

Der Rest des Abends verlief eher schweigend. Auch wenn ich ein wenig wacher war (was mich ein paar Stunden wahrscheinlich wieder einholen würde), wusste ich irgendwie nicht, worüber ich mit meiner Familie reden sollte. Allerdings war mir diese Stille auch irgendwie ein bisschen unbehaglich. Warum redeten Barbara und Jack nicht miteinander? War es wegen mir? Oder hatten sie sich schon alles erzählt, weil sie schon so viel Zeit ihres Lebens miteinander verbracht hatten? Ich wünschte beiden eine Gute Nacht und ging wieder auf mein Zimmer.

Dort setzte ich mich auf mein Bett und holte meinen Laptop heraus. Einer der wenigen, weil wertvollen, Dinge, die ich in mein Handgepäck gepackt hatte. Gleichzeitig konnte ich gar nicht in Kontakt mit der Außenwelt treten, da ich hier natürlich kein Internet hatte und ich wollte auch nicht noch einmal runtergehen und wegen so einer Banalität wie dem WLAN-Schlüssel fragen. Sofern es überhaupt welches gab. Was für ein komisches Gefühl: ich war weit weg von zu Hause und da ich kein Internet hatte, war ich ja fast schon ein wenig abgeschnitten, und trotzdem fühlte ich mich auf eine Weise wie neu geboren, so motiviert, etwas Neues zu beginnen. Ich hatte auf einmal Lust, alles aufzuschreiben, was mir hier passieren würde und da ja so ziemlich alles in meinem Koffer war, begann ich, alles in meinem Computer zu schreiben.

Eine gute halbe Stunde später klappte ich meinen Laptop zu. Was würde die Zeit mir hier bringen? Was würde wohl alles passieren? Ich war etwas aufgeregt aber zugleich auch nervös.

Am nächsten Tag beim Frühstück bot Jack mir an, mich ein wenig herumzufahren, mir die Gegend zu zeigen und dass wir bei ein paar Cafés anhalten könnten, damit ich fragen könnte, ob sie vielleicht eine Aushilfe brauchten. Ich war einverstanden und so machten wir uns nach dem Frühstück sofort auf den Weg. Jack und Barbara wohnten etwas außerhalb vom Stadtzentrum – oder zumindest dem, was ich als Stadtzentrum verstand. Gut, Munster hatte 16.000 Einwohnern, das konnte man einfach nicht mit 2,6 Millionen Einwohnern – und damit der größten Stadt Kanadas – vergleichen. Somit staunte ich nicht schlecht, als Jack mir diese private Stadtrundfahrt anbot und wir unter anderem am CN Tower vorbeifuhren.

„You look like you have never seen something like this before“, sagte er.

„True“, war meinte Antwort als ich aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Ich erklärte ihm, dass ich bislang aus meiner Heimatstadt nicht wirklich herausgekommen war, bis auf die kurze Reise in die USA vielleicht.

„I loved Germany but I wanted to go back to Canada.“ Ich nickte verständnisvoll. Jack machte am Straßenrand halt und stellte den Motor ab. „Here is one of our favorite diners. I know the owner since ever. We served together in the army.“

Wir stiegen aus und betraten den Laden. Kaum war die Tür hinter uns wieder zugefallen, kam ein alter Mann aus der Küche. „Jack, how are you doing? Haven‘t seen you for ages“, sagte er lachend und umarmte seinen Freund. Mein Großonkel erwiderte die Umarmung und stellte mich vor. „Ick liebe Deutschland“, sagte er und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass war so ein Standardsatz, denn alle Kanadier früher oder später lernten. „My great-niece is looking for a job. Do you need someone here?“, fragte Jack rundheraus. Ich war etwas überrascht von dieser Offenheit. Der Besitzer, der sich als Mick vorstellte, schüttelte den Kopf. „Die Zeiten waren schon mal besser“, sagte er auf Englisch. „Ich meine, ich komme klar, aber so gerne ich auch möchte, ich kann‘s nicht. Sorry.“

„Okay, kennst du jemanden, der eine Aushilfe gut gebrauchen kann?“

„Ich werde mich mal umhören, momentan fällt mir aber niemand ein.“

„Okay, danke.“

„Komm mal wieder vorbei!“, rief Mick uns noch nach, als wir schon fast wieder an der Tür waren. „Ich werde versuchen, es einzurichten“, versprach Jack. „See you.“

Als ich Mick gesehen hatte, ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, wie alt mein Großonkel eigentlich war. Ich hatte ihn noch gar nicht genau danach gefragt, aber er sah im Gegensatz zu Mick richtig jung aus.

„Warum macht Mick das alles noch?“, fragte ich Jack.

„Because he loves it. He has done this since ever and he doesn‘t want to stop.“

„Hat er keine Frau, keine Kinder?“, bohrte ich weiter.

„Lost them“, sagte Jack traurig. „His wife died a few years ago and his only daughter got hit by a car.“

Ich musste schlucken. Das war wirklich traurig.

Wir stiegen wieder zurück ins Auto und hielten noch ein paar Mal an, aber nirgendwo hatten wir Glück. Stillschweigend fuhren wir wieder nach Hause. Vielleicht war ich zu optimistisch und hatte mir die ganze Sache irgendwie einfacher vorgestellt.

Zu Hause erwartete uns Barbara schon freudig. „Und wie ist es gelaufen?“, aber eigentlich sah sie die Antwort schon in unseren Gesichtern.

„Anscheinend braucht gerade keiner eine Aushilfe“, erklärte ich trotzdem.

„Ach komm, das wird schon“, meinte meine Großtante aufmunternd.

„Übrigens kommen Oscar und Julie heute zum Abendessen. Ich habe ihr von dir erzählt und sie freut sich darauf, dich kennenzulernen“, teilte sie uns weiter mit.

Kapitel 5

Julie stellte sich als eine sehr quirlige und offene Person heraus, die mich mit Fragen bombardierte, sodass Barbara sie schon ein wenig ausbremsen musste.

„I‘ve never been to Germany. It must be so exciting!“, sagte Julie. Und irgendwie schien alles, was ich sagte, irgendwie exciting zu sein. Und dann kamen wir zu dem Punkt, an dem sie fragte, wie denn meine Pläne für die nächste Zeit waren. Ich erklärte ihr, dass es momentan nicht so wirklich einen gab und Jack erzählte ihr, was wir unternommen hatten. Julie hörte interessiert zu. Dann überlegte sie einen Moment und sagte schließlich: „My sister has a farm on Vancouver Island and she always needs people who can help her.“ Ich traute meinen Ohren kaum. Julies Idee konnte meine Probleme für eine Weile lösen. „That would be awesome“, freute sich auch Barbara. Julie versprach, gleich morgen ihre Schwester anzurufen und nachzufragen. Obwohl noch überhaupt nichts in trockenen Tüchern war, konnte ich nicht aufhören, den ganzen Abend über zu grinsen.

Ich erkundigte mich nach Oscars Kindern. Maxwell und John waren nur etwas älter als ich – Anfang zwanzig – und studierten in Ottawa und Vancouver. Oscar erklärte mir, dass Maxwell schon immer mehr der Familienmensch gewesen war und deswegen lieber nebenan wohnte (als ich die Entfernung später googlete, staunte ich nicht schlecht, dass nebenan viereinhalb Autostunden hieß!). John war schon immer mehr der Freigeist und wollte lieber weit weg von der Familie sein.

„Eigentlich sind die beiden unzertrennlich und doch so grundverschieden“, sagte Oscar mit einem Lächeln.

Ich erzählte ein wenig über Rena und mich. Ich dachte eigentlich immer, dass wir ziemlich ähnlich waren – wir ähnelten uns sogar vom Äußeren – aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass es auch viele Dinge gab, in denen wir so unterschiedlich war. Auch Rena blieb liebe in der Nähe von zu Hause, während ich schon immer so weit weg wie möglich davon sein wollte.

Zum Abschied umarmte mich Julie herzlich und versprach mir mehrmals, dass sie so bald wie möglich mit ihrer Schwester sprechen würde.

„She is lovely“, sagte Barbara mit einem leichten Seufzen in der Stimme. „Ich bin froh, dass sie und Oscar sich gefunden haben. „Weißt du, Oscar hat lange gebraucht. Wir dachten zuerst, er sei schwul, weil er einfach kein Mädchen mit nach Hause gebracht hat, aber offensichtlich hat er einfach nur auf die Richtige gewartet.“

Es war mir schon fast ein wenig peinlich, wie meine Großtante da so aus dem Nähkästchen plauderte. „Also bei John mussten wir schon immer aufpassen, dass er uns nicht zu früh zu Oma und Opa macht“, meinte sie lachend.

„Babs…“, sagte nun Jack mit leichter Ermahnung in der Stimme, so, als ging ihm das auch langsam ein wenig zu weit. Ich warf ihm einen Blick zu, der Dankbarkeit ausdrücken sollte.

„Also ich bin ein wenig müde. Ich glaube, das ist immer noch der Jetlag“, sagte ich und begab mich in Richtung Treppe. „Und...bevor ich es vergesse. Habt ihr vielleicht WLAN hier?“

„Na, was glaubst du denn, wo wir leben?“, sagte Barbara leicht empört. „Natürlich haben wir hier Internet. Jack, sei so gut und such das Passwort raus“, bat sie meinen Großonkel.

„Auf der Rückseite vom Router....unter dem Fernseher“, rief Jack mir zu, der er sich inzwischen schon wieder auf der Couch gemütlich gemacht hatte.

„Danke“, sagte ich und folgte seinen Anweisungen. „Ich geh dann mal nach oben. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Liebes“, wünschte mir meine Großtante.

„Sweet Dreams“, kam es von meinem Großonkel.

In meinem Zimmer schaltete ich meinen Laptop an, gab das Passwort ein und freute mich, endlich wieder online zu sein. Ich checkte meine Mails und sah sofort, dass ich fünf Nachrichten von meiner Mutter bekommen habe, die nach und nach immer panischer wurden. Von Hallo, mein Schatz, wie geht es dir? Bist du gut angekommen? Bis zu Warum meldest du dich nicht????!!!! Muss ich eine Vermisstenanzeige aufgeben??? Natürlich, irgendwie hatte ich total vergessen, ihr irgendwie mitzuteilen, dass ich heil angekommen war und mein Handy funktionierte hier ja auch nicht. Ich schrieb ihr zurück, beruhigte sie, dass alles gut war und noch dazu, dass es mir hier bis jetzt ziemlich gut gefiel. Na ja, zu Letzterem konnte ich bislang ja noch nicht so viel sagen, aber ich wusste, dass sie das beruhigen würde.

Dann schrieb ich auch noch an meine Freundinnen und erzählte ihnen, was mir bisher alles passiert war, inklusive der Geschichte mit dem Koffer, die ich meiner Mutter lieber verschwiegen hatte, damit sie sich keine Sorgen machte. Und dann überkam mich wieder diese Jetlag-Müdigkeit. Ich legte den Laptop zur Seite, ging ins Bad und sobald ich mich ins Bett gelegt hatte, schlief ich ein.

Am nächsten Morgen begrüßte mich Barbara freudestrahlend: „Julie hat bereits angerufen. Sie hat mir ihrer Schwester telefoniert und die hat gesagt, dass sie sich über jede helfende Hand auf dem Hof freut.“ Ich konnte mein Glück kaum fassen. „Ehrlich?“, war das einzige, was ich herausbrachte. „Würde Babs es dir sonst sagen?“, meinte Jack ein wenig nüchtern. „Och, Jack…“, erwiderte meine Großtante ein wenig genervt von diesem Kommentar.

„Wann kann ich los?“, fragte ich ungeduldig.

„Quasi sofort, das hängt nur ein bisschen von den Flügen ab, die sind natürlich spontan n bisschen teurer und natürlich ist dein Gepäck ja immer noch nicht aufgetaucht.“ Damit holte sie mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „Aber das wird schon, Annie“, meinte sie beruhigend, als sie mein wahrscheinlich trauriges Gesicht sah. Ich mochte es, wie sie Annie sagte, fast noch lieber als Anne. „Können wir nicht mal beim Flughafen anrufen?“, fragte ich fast schon bettelnd.

„Können wir machen, aber ich glaube nicht, dass das etwas bringt. Die werden sich schon melden.“ Ich konnte wirklich wohl nur abwarten und das war etwas, was ich hasste. Meine Mutter hatte mich schon früher ständig einen unruhigen Geist genannt, weil ich nie lange stillsitzen konnte.

Und als hätte es der Zufall so gewollt, kam am Nachmittag ein Anruf vom Flughafen, dass endlich ein Koffer mitgekommen war, der auf meine – doch recht spärliche – Beschreibung passte. Ich tanzte vor Freude auf und ab und war immer noch ganz aufgeregt, als Jack und ich losfuhren, um ihn abzuholen.

Als ich ihn dann tatsächlich sah, wäre ich dem Mann am Schalter am liebsten um den Hals gefallen. „Looks like you have been waiting for this“, sagte er lachend. „She did“, bestätigte mein Großonkel an meiner Stelle.

„Wanna some champagne? Cause we have to celebrate, right?“, sagte er, nachdem wir vom Schalter weggegangen waren. „Ich hätte lieber nen Kaffee“, sagte ich schmunzelnd. Das setzten wir auch dann gleich in die Tat um und wir buchten vor Ort auch gleich einen Flug nach Vancouver Island für die nächste Woche.

Auch Barbara freute sich für mich, dass ich meine Habseligkeiten wieder beisammenhatte. „Jetzt kann es ja weitergehen“, stellte sie fest. „Genau“, bestätigte ich.

Kapitel 6