Die Feuerprobe - Salim Alafenisch - E-Book

Die Feuerprobe E-Book

Salim Alafenisch

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Beschreibung

Salim Alafenischs Stamm in der Negev-Wüste wird von einer Nachbarsippe des Mordes verdächtigt. Als alle Vermittlungsbemühungen scheitern, willigt der Vater, der Scheich des Stammes, in die radikalste Wahrheitsprobe ein, die das uralte Recht der Beduinen kennt: die Feuerprobe. Wenn sein ältester Sohn diese besteht, gilt der Stamm als unschuldig. Wenn er sie nicht besteht, müssen vier Männer zur Sühne sterben. Nun beginnt ein Drama, das sich über viele Jahre hinzieht. Kriege ziehen ins Land, das alte Leben der Beduinen wird umgewälzt. Das Geheimnis der Feuerprobe wird Salim Alafenisch nicht mehr loslassen. Er reist zurück zum Feuerproberichter und erforscht dieses Ritual, das bis zum heutigen Tag unter der Oberfläche der Moderne weiterlebt.

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Seitenzahl: 155

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Salim Alafenischs Stamm in der Negev-Wüste wird von einer Nachbarsippe des Mordes verdächtigt. Als alle Vermittlungsbemühungen scheitern, willigt der Vater in die radikalste Wahrheitsprobe der Beduinen ein: die Feuerprobe. Wenn sein ältester Sohn diese besteht, gilt der Stamm als unschuldig. Wenn nicht, müssen vier Männer zur Sühne sterben.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Salim Alafenisch (*1948) hütete als Kind die Kamele seines Vaters in der Negev-Wüste. Nach dem Gymnasium in Nazareth und einem einjährigen Aufenthalt in London studierte er Ethnologie, Soziologie und Psychologie in Heidelberg. Seit Langem beschäftigt er sich mit der orientalischen Erzählkunst.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Salim Alafenisch

Die Feuerprobe

Erzählung

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Alex Bischof

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30696-7

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 28.05.2024, 12:42h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

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DIE FEUERPROBE

Nachtrag

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Über Salim Alafenisch

Ein Film über und mit Familie Alafenisch im Negev

Salim Alafenisch: »Kleine Kerzen in der Dunkelheit zünden«

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Meinem Vater gewidmet

»Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?«

Thomas Mann, »Joseph und seine Brüder«

Die Mordgeschichte, die diesem Buch zugrunde liegt, ereignete sich im Herbst des Jahres 1966. Vierzehn Jahre danach sprach die Feuerprobe das letzte Wort in dem Vorfall.

Immer wieder habe ich den Versuch unternommen, diese Geschichte aus unserer Familie niederzuschreiben, doch ohne Erfolg. Sobald ich mich ihr näherte, entglitt sie mir sogleich wieder. Es schien, als sei die Zeit noch nicht reif, sie in Worte zu fassen, sie literarisch zu gestalten.

Als die magische Zahl von vierzig Jahren erreicht war, drängten sich mir die Erinnerungen geradezu auf. Erfreut packte ich meine alte Schreibmaschine aus und begann zu tippen. Im Adlersuchprinzip kreiste ich die Buchstaben ein. Während die Ereignisse bis dato nicht zu greifen waren, kam nun mein rechter Zeigefinger angesichts der drängenden Gedanken mit Tippen kaum noch mit. Was mochte diesen Sinneswandel veranlasst haben?

Vermutlich nahm die Familiengeschichte Rücksicht auf ihre Akteure: Mein Vater, mein ältester Bruder, mein Cousin, der Stammesälteste, der Großonkel, der begleitende Scheich, die vier Würdenträger, die das Dokument unterzeichnet hatten, und nicht zuletzt der Feuerproberichter, sie alle sind nicht mehr am Leben. Vielleicht erreichen Geschichten aus der Wüste ihre Reife auch erst nach einer Generation.

Brauchten Moses und sein Volk nicht auch vierzig Jahre, um sich in der Wüste Sinai zu läutern?

Das Schreiben rief Ereignisse wach, die für mich und meine Sippe schicksalsbestimmend waren. Trotz der räumlichen und zeitlichen Distanz durchlebte ich das Geschehen in all seinen Höhen und Tiefen noch einmal.

Zwei Wadis durchziehen unser Stammesgebiet, der Ostwadi und der Westwadi. Beide entspringen in der Westbank. In der Mitte des Stammesgebietes vereinigen sie sich zu einem Hauptwadi, der nach mehreren Kilometern in das breite Flussbett von Beer-Sheva mündet. Dieses ist über den berühmten Gaza-Wadi mit dem Mittelmeer verbunden.

Wenn in den Regenmonaten des Winters die Wadis Wasser führen, sprießen an ihren Ufern Gräser, Kräuter und Blumen. Mensch und Tier stillen ihren Durst und schonen für Wochen die kostbaren Wasservorräte der Zisternen und Brunnen. Die Wasseradern spenden Leben in der Wüste.

Haben die Kinder ihre Wasserschläuche gefüllt, so gönnen sie sich gerne ein Bad, planschen ausgelassen in den Wasserkuhlen und tunken sich gegenseitig unter.

In der Frühlingszeit sind die grünbewachsenen Ränder der Wadis mit ihren zerklüfteten Böschungen und Felsvorsprüngen nicht nur ein bevorzugter Platz der Hirten und ihrer Herden, sie werden auch von Liebenden aufgesucht. Zahllose Geschichten und Gedichte der Beduinen ranken sich um diese Verstecke, in denen man nicht nur den Durst nach Wasser, sondern auch das Verlangen nach Liebe zu stillen sucht.

Der Traum eines jeden Hirten geht in Erfüllung, wenn sein Kopf in dem Schoß der Geliebten ruht und seine Augen sich am Anblick der weidenden Tiere ergötzen. Sucht ein junger Hirte des Öfteren einen bestimmten Wadi auf, so vermutet man eine Liebesspur.

Doch der Wadi birgt auch Gefahren in sich. Nach heftigem Regen werden in kürzester Zeit aus Rinnsalen reißende Fluten, deren Wellen höher schlagen als die mittlere Zeltstange. Nicht umsonst wird der Respekt vor den Wasserfluten den Kindern von klein auf beigebracht. Wie oft betrachteten wir Kinder vom nahen Hügel aus dieses Naturschauspiel. Noch vergnüglicher und spannender wurde es für uns Kinder, wenn Stammesbewohner den überfluteten Wadi überqueren mussten.

Eines Winters, es war in den Fünfzigerjahren, hatte sich der Regen verspätet. Das Saatgut, das die Vögel übrig gelassen hatten, lag verdorrt in der Erde, die Trockenheit schien kein Ende zu nehmen. Das Verlangen von Mensch und Tier nach Wasser wuchs von Tag zu Tag. Zwar war der Himmel mit dunklen Wolken bedeckt, doch spendeten sie keinen Regen, der Wind trieb sie davon.

Eines Nachts, es mag schon gegen Ende des Winters gewesen sein, setzte der Regen mit aller Kraft ein. Wieder einmal bestätigte sich der Spruch unserer Vorfahren: Der Regen ist wie ein Dieb, man weiß nie, wann er kommt.

Am Abend noch waren wir um die Feuerstelle geschart und bewirteten einen Gast von einem anderen Stamm. Gegen Mitternacht, nachdem dem Gast ein Nachtlager zugewiesen war, löste sich die gesellige Runde auf. Jeder legte sich auf seinen Schlafplatz, und allmählich breitete sich Stille im Zeltlager aus.

Als der erste Hahnenschrei das Morgengebet ankündigte, schien der Himmel sein Krähen zu erhören. Er öffnete seine Schleusen. Der Regen klatschte auf die ausgedörrte Erde und peitschte gegen das Zeltdach.

Im Nu waren alle Zeltbewohner auf den Beinen. Um ein Überfluten des Zeltes zu verhindern, stürzte meine Mutter mit der Hacke in der Hand hinaus und versuchte, die Regenrinne rund um das Zelt zu vertiefen. Währenddessen zurrte mein Vater die schwankenden Zeltseile fest und klopfte die Pflöcke tiefer in die Erde. Doch bald bahnten sich die ersten Rinnsale ihren Weg durch das Zelt und erreichten bereits die Feuerstelle. Das Brennmaterial wurde feucht. Kinder rollten die bunten Teppiche zusammen und stapelten sie in einer trockenen Ecke.

Mein Vater legte ein paar trocken gebliebene Holzscheite aufeinander und fachte das Feuer an, um mit Zimt gewürzten Tee zu kochen. Er überreichte dem Gast das erste Glas: »Der Tee wird dein Herz und deine Hände aufwärmen.« Während er den Kessel am Rand der Feuerstelle abstellte, gab er seiner Freude Ausdruck: »Nun ist der lang ersehnte Regen da, endlich füllen sich die Zisternen wieder mit Wasser.«

Der Gast schien diese Freude nicht ganz zu teilen. »Ich mache mir Sorgen um meine Familie.«

Mein Vater öffnete den Zelteingang. »Schau dir das Wetter an. Reiten kannst du nicht, dein Kamel würde ausrutschen und sich die Beine brechen.«

Der Gast wurde nachdenklich. »Ich werde die Strecke zu Fuß bewältigen. Mein Kamel hole ich bei Gelegenheit ab.«

Ohne weiter Zeit zu verlieren, verabschiedete sich der Besucher und machte sich auf den Weg.

Es dauerte nicht lange, da stand der Gast wieder vor dem Zelt, aufgeregt schnaufend. »Ich benötige eure Hilfe. Der Wadi ist überflutet, die Wellen schlagen hoch.«

»Du kannst auf unsere Hilfe zählen«, beruhigte ihn mein Vater und rief eine Handvoll Männer zusammen. Mit hochgeschürzten Gewändern und Seilen in den Händen stapften sie über den aufgeweichten Boden in Richtung Wadi. Wir Kinder liefen ihnen laut johlend nach.

Mächtige braune Fluten rauschten durch den Wadi, die Wellen brachen sich an der Uferböschung.

Mein Vater, gefolgt von den Männern, lief am Ufer auf und ab, um eine geeignete Stelle für die Überquerung zu finden. »Hier ist der Wellengang am schwächsten«, stellte er fest. Mit seiner rechten Hand griff er nach seiner Kopfbedeckung und schwenkte das weiße Tuch. Auf dieses Signal hin eilten die Männer aus den Zelten am gegenüberliegenden Ufer herbei.

Nachdem sie sich mit Rufen und Gesten verständigt hatten, warf mein Vater mit all seiner Kraft ein Seilende zum anderen Ufer hinüber, das dort geschickt aufgefangen wurde. Ein zweites Seil folgte.

Wir Kinder hockten unterdessen auf dem nahen Hügel und betrachteten das Geschehen mit einer Mischung aus Angst und Faszination.

Der Gast wagte nun das kühne Unternehmen, sich zwischen den zwei gespannten Seilen durch die Fluten hindurch zu hangeln. Die hagere Gestalt, die tapfer gegen die Strömung kämpfte, schwankte hin und her, an der tiefsten Stelle ragte nur noch ihr Kopf aus der braunen Brühe.

Man sparte nicht mit Ratschlägen. Von beiden Uferseiten hörten wir Kinder: »Krall dich fest! Gib nicht auf! Du hast es bald geschafft!«

Der Gast reckte den Kopf und japste nach Luft. In diesem Moment erfasste ihn eine hohe Welle, die Gestalt verschwand.

»Der Gast! Der Gast!«, schrie mein Vater entsetzt. »Gebt nicht nach, haltet die Seile!«

Uns Kindern stockte der Atem.

Einen Augenblick danach tauchte der schwarze Haarschopf des Mannes aus den Fluten auf. Mein Vater atmete erleichtert auf.

Mit letzter Kraft kämpfte der Gast gegen die Wellen.

»Du bist nicht weit vom Ufer«, ermunterten ihn die Männer.

Die Spannung legte sich erst, als die Helfer vom gegenüberliegenden Ufer seine Hand erhaschten und ihn aus dem Wasser zogen.

Der Gast schlotterte. »Meine Kopfbedeckung, meine Kopfbedeckung«, stammelte er.

»Dein Kopftuch schwimmt auf den hohen Wellen des Wadis, es ist auf dem Weg zum Meer.«

»Gut, dass du dich von deiner Kopfbedeckung getrennt hast«, schmunzelte ein anderer, während er seine wunden Finger rieb. Jemand zog seinen Fellmantel aus und legte ihn dem Gast um die Schultern. Dieser bedankte sich nach allen Seiten und winkte uns zum Abschied zu.

Nach und nach hielt die Moderne Einzug in unser Stammesgebiet. Immer mehr Kamele, Pferde und Esel mussten motorisierten Fahrzeugen weichen, die laut ratternd ihre Spuren durch den Sand zogen und stinkende Rauchschwaden und Staubwolken hinter sich ließen. Im Sommer rauschten die Blechkisten mit Vollgas durch die Wadis, die Wasserfluten des Winters jedoch setzten dem Treiben dann ein Ende.

Es kam, wie es kommen musste: Als Mitte der Sechzigerjahre die Verbindungsstraße von Beer-Sheva zum Toten Meer gebaut wurde, streifte sie das Stammesgebiet und unser Hauptwadi wurde mit einer Brücke überspannt. Mensch, Tier und die Blechkisten konnten von nun an den Wadi ungehindert überqueren, die Seile wurden eingemottet.

Es war ein klarer Morgen im Spätsommer des Jahres 1966. Die größte Hitze des Sommers war vorüber, die Nächte wurden kühler, und die Ziegen suchten auf den abgeernteten Feldern nach den letzten Halmen.

Mein Vater schaltete, wie gewöhnlich am frühen Morgen, das große Radio an, um Nachrichten zu hören. Überzeugt davon, man müsse verschiedenen Radiosendern lauschen und ihre Informationen vergleichen, um der Wahrheit nahe zu kommen, suchte er zunächst den ägyptischen, dann den jordanischen und schließlich den israelischen Sender. An dieser Reihenfolge hielt er eisern fest, seit wir den ersten Radiokasten im Scheichzelt hatten.

Aufgrund der Ernsthaftigkeit der Stimme und der Art des Vortrages, hielt er manche Sender für glaubwürdiger als andere und schenkte ihren Worten mehr Vertrauen.

Die Nachrichten des Tages begannen mit dem ägyptischen Sender Die Stimme der Araber.

»Die große Brücke an der Straße zwischen Beer-Sheva und dem Toten Meer im besetzten Palästina wurde in der vergangenen Nacht von einer heftigen Explosion erschüttert«, lautete die erste Meldung.

Mein Vater horchte auf.

»Die im vergangenen Jahr gegründete palästinensische Befreiungsbewegung Fatah hat die Verantwortung für den Anschlag übernommen.«

»Das Radio lügt«, kommentierte der Stammesälteste die Meldung. »Gestern Abend bin ich auf meinem Esel über die Brücke geritten.«

Mein Vater kratzte sich an den Schläfen. »Der Mann im Radio hat von Nacht gesprochen. Warten wir ab, lass uns erst einmal frühstücken«, schlug er vor und reichte dem Stammesältesten ein Stück Fladenbrot. »Nachher hören wir das jordanische Radio.«

Allmählich kam Leben im Zeltlager auf. Rauchschwaden stiegen aus den Zelten empor. Zicklein und Lämmer, die abends von der Herde getrennt wurden, blökten hungrig nach ihren Müttern.

Als mein Vater um Punkt sieben Uhr erneut am Knopf des Radios drehte, war ihm die Anspannung ins Gesicht geschrieben.

»Hier ist die Stimme des haschemitischen jordanischen Königreiches. Seine Majestät, Gott möge ihn beschützen, König Hussein von Jordanien und seine Gemahlin, die Königin, sind von einem Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten von Amerika zurückgekehrt. Seine Majestät hat zahlreiche und erfolgreiche Gespräche geführt.«

Als diese Meldung in aller Länge und Breite noch weiter ausgeführt wurde, riss dem Stammesältesten der Geduldsfaden: »Das ist keine Neuigkeit, diese leeren Worte kennen wir zur Genüge.«

Die Radiosprecherin legte eine Atempause ein.

Mein Vater mahnte mit einem Handzeichen zur Stille.

»Gestern Nacht verübte der palästinensische Widerstand einen Anschlag auf eine Brücke an der Verbindungsstraße zwischen Beer-Sheva und dem Toten Meer im besetzten Palästina. Der Verkehr kam zum Erliegen«, ließ sich die Stimme vernehmen.

»Die Nachricht bestätigt sich«, bemerkte mein Vater.

»Wir müssen wohl unsere Seile wieder auskramen«, folgerte der Stammesälteste trocken.

»Warten wir die israelischen Nachrichten ab«, meinte mein Vater, während er am Radioknopf drehte.

»In der vergangenen Nacht gab es einen Versuch, die Brücke an der Straße zwischen Beer-Sheva und dem Toten Meer zu sprengen. Der Anschlag schlug fehl, der Verkehr fließt ungehindert«, ließ sich die Stimme aus Jerusalem vernehmen.

Die Runde murmelte und blickte meinen Vater fragend an.

Der Scheich wusste auch keine Antwort. »Die Meldungen liegen weit auseinander«, meinte er, »wir müssen die Sache selbst in Augenschein nehmen.«

»Du hast recht«, stimmte der Kadi ihm zu. »Der Tag hat Augen. Das Licht bringt die Wahrheit an den Tag.«

Mein Vater wandte sich an mich: »Schnell, lauf mit ein paar Jungs zur Brücke und schau nach!«

Ohne weiter Zeit zu verlieren, rannte ich mit Said und Josef los. Atemlos erreichten wir einen Hügel, der uns einen freien Blick auf Straße und Brücke bot. Damit uns keiner bemerkte, legten wir uns auf den Boden und beobachteten das Geschehen. Die Brücke schien noch zu stehen. Polizeiwagen mit Blaulicht standen am Rande, Polizisten liefen geschäftig hin und her.

Wir warteten ab.

Es dauerte nicht lange, bis die Polizisten einstiegen und die Wagen in einer Kolonne in Richtung Beer-Sheva davonfuhren. Wir nahmen die günstige Gelegenheit wahr und schossen wie Pfeile den Hügel hinab.

»Ich klettere in den Wadi, um den Bauch der Brücke abzusuchen«, rief Josef, »und ihr beiden untersucht die Oberseite.«

Der Verkehr hatte sich normalisiert, manche Autofahrer drückten auf ihre Hupe, andere winkten uns freundlich zu.

»Kommt runter! Kommt runter!«, hallte Josefs Stimme im Wadi.

Am westlichen Rand der Brücke, wenige Schritte von einem alten Tamariskenbaum entfernt, hatte Josef eine schwarze Stelle entdeckt. Neugierig steckte er seine Hand in die dunkle Vertiefung, dann schnupperte er an seinen Fingern. Er nieste: »Riecht mal, es stinkt nach Pulver.«

»Du hast recht«, nickten wir, »das muss die beschädigte Stelle sein.«

»Lasst uns schnell zum Zeltlager zurücklaufen, mein Vater wartet auf mich«, trieb ich die beiden Freunde zur Eile.

Um schneller laufen zu können, zogen wir unsere Schlappen aus. Said stolperte über einen Steinbrocken und landete beim Fallen auf einem Dornbusch. Er schrie, sein rechtes Knie blutete. Vorsichtig entfernten wir die Dornen, sodass er uns humpelnd folgen konnte.

Im Scheichzelt wurden wir mit neugierigen Blicken empfangen.

»Wir haben die Brücke von allen Seiten gründlich untersucht«, begann Josef.

»Wie eine Mutter den Kopf ihres Kindes nach Läusen«, bestätigte ich.

Der Stammesälteste wurde ungeduldig: »Und? Habt ihr etwas entdeckt?«

»Ich habe die Stelle gefunden«, brüstete sich Josef. »Sie ist rußgeschwärzt, als hätte jemand ein Feuer entfacht. In der Mitte ist eine Vertiefung, so groß wie ein Maulwurfloch.«

»Was habt ihr sonst noch gesehen?«, wollte mein Vater wissen. »Wird die Brücke bewacht?«

»Es waren ein paar Polizeiwagen da, die jedoch Richtung Beer-Sheva wegfuhren.«

»Fahren Autos über die Brücke?«

Ich nickte.

Der Stammesälteste verscheuchte mit dem Zipfel seines Kopftuches eine Fliege. »Worte kosten nichts. Wir vertrauen dem Augenschein mehr als dem Radiokasten«, war sein Fazit.

Der Kadi wirkte nachdenklich. »Letztes Jahr wurde die palästinensische Fatah-Bewegung gegründet, seither gibt es immer wieder Anschläge.«

»Du hast recht«, pflichtete ihm mein Vater bei. »Doch zum ersten Mal erreichen die Anschläge das Stammesgebiet.«

Den ganzen Vormittag über disputierte man über den Zwischenfall, hörte immer wieder die Nachrichten, die jedoch nichts Neues zu verkünden hatten. Besorgnis machte sich breit, was die Zukunft wohl bringen möge.

Doch am Abend rückten die Alltagssorgen wieder in den Vordergrund. Der Preisverfall für Kleinvieh auf dem Beduinenmarkt von Beer-Sheva war ein unerschöpfliches Thema im Scheichzelt.