Die Fleischlüge - Hans-Ulrich Grimm - E-Book

Die Fleischlüge E-Book

Hans-Ulrich Grimm

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Beschreibung

Fleisch ist reich an Eiweiß, Mineralien und anderen wertvollen Bestandteilen. Vergleichbares gilt für Milch, Eier und Fisch. Doch zu viel Fleisch schadet. Krebs, Alzheimer, Diabetes sind nur einige Krankheiten, die häufiger Fleischgenuss auslösen kann. Grund für den übermäßigen Verzehr sind die extrem günstigen Preise. Und nicht nur die Mengen stellen ein Problem dar. Denn der überwiegende Teil unserer Nahrungsmittel stammt aus industrieller Erzeugung. Auf Leistung gezüchtete Rassen, aufgezogen mit chemisch angereichertem Futter, routinemäßig mit Medikamenten behandelt, liefern Lebensmittel von bedenklicher Qualität. Hans-Ulrich Grimm prangert die ökologisch und ethisch mehr als fragwürdigen Machenschaften der Tierindustrie an und plädiert für einen überlegten, reduzierten und genussfreudigen Umgang mit Fleisch, Fisch und Co.

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Seitenzahl: 372

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Hans-Ulrich Grimm

Fleisch darf uns nicht wurscht sein

Warum es ein wichtiges Lebensmittel ist und wie uns die Tierindustrie krank macht

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

1. Ohne Licht2. Anhaltende Schmerzen3. Spuk im Regal4. Höchste Vorsicht5. Herrscher der Welt6. Wirres Zeug7. Schöne Belohnung8. Unter Druck9. Den Bach runter10. Jenseits von Eiern11. Völlig angstfrei12. Perfektes IdyllLiteraturA BücherB AufsätzeQuellenhinweis
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1. Ohne Licht

Wie uns die Massentierhaltung krank macht

Schnell, schnell, schnell – als die Krankenschwestern plötzlich nervös wurden / Zuckerkrank durch Wurst und Fleisch / Die Protein-Bombe: Zu viel Eiweiß ist leider schädlich / Total pervers: Jetzt ist Fleisch schon billiger als Gemüse / Macht das Steak in Wahrheit dick statt schlank?

Sie lacht immer noch gern, auch wenn es jetzt ein bisschen nach Galgenhumor klingt, denn sie muss ihr Leben sehr einschränken, einen Bogen machen um das, was sie bisher so geliebt und gern gegessen hat. Dabei wirkt sie eigentlich pumperlgsund, wie man hier sagt. Aber: »Der Schein trügt«, sagt sie und lacht.

Eigentlich lebt sie im Schlaraffenland, und so hat sie sich gefühlt, bevor sie krank wurde: die Würste stets griffbereit, Fleisch, sooft sie wollte. Sie verdreht glückselig die Augen, wenn sie davon erzählt. Doch damit ist Schluss.

Äußerlich ist ihr nichts anzumerken, Irene Huber kommt schick daher, grüner Pullover, passender Schal, blaue Jacke, goldener Armreif. Gut schaut sie aus, rotbraune Haare, gesunde Gesichtsfarbe, kräftig wirkt sie, auch wenn es in ihrem Körper ganz anders aussieht. Sie hat verengte Blutgefäße, und als sie deswegen im Krankenhaus war, schon auf dem OP-Tisch lag, da hat sie einen Herzinfarkt erlitten.

»Ein ganz junger Oberarzt und eine Helferin waren dabei, und dann hab ich gesagt, ich krieg jetzt Schmerzen, das brennt, das brennt, ich halts nimmer aus, macht’s irgendwas. Um Gottes willen, hat er auf einmal geschrien, es pressiert, schnell, schnell, die Schwestern sind umeinand- geschossen, die haben Spritzen fallen gelassen, die waren total nervös und durcheinander.

Und du liegst dann da wie im Film, ich hab gedacht, das ist jetzt das Letzte, Irene, das war dein Leben, du musst jetzt sterben. Du kriegst ja alles mit, du kriegst mit, wie die hektisch werden und wie die um dein Leben kämpfen, um deins, du bist der Hauptdarsteller da. Und der hat sich immer wieder umgeschaut und geguckt, ob ich die Augen noch offen hab. Oder ob ich weg bin. Das werd ich nie vergessen. Du hast ja richtig Todesangst, wenn du da liegst. Das kann sich keiner vorstellen, wie das ist. Todesangst.«

Mit dem Rauchen hatte sie schon aufgehört. Und das Herz, das war ja nur eine der Problemzonen. Die Ursache für ihre Malaise, das konnte sie kaum glauben, sollte sein, was sie immer so gern mochte: »Sie haben nur gesagt: Ernährung umstellen. Keine Wurst, kein Fleisch.« Ohne Wurst und Fleisch ist eine Mahlzeit für sie aber kein richtiges Essen.

Und sie saß ja an der Quelle: Sie haben einen Gasthof, ein Wirtshaus mit eigener Metzgerei. Gleich wenn man reinkommt, ist rechts der kleine Verkaufsraum, neonbeleuchtet der Kühltresen mit all den Würsten, dem Schweinebraten. Was das Herz begehrt, wie man so sagt, obwohl das in ihrem Fall, rein medizinisch betrachtet, natürlich nicht ganz korrekt ist.

Viel Fleisch. Viel Wurst, und das jeden Tag: Was früher das Privileg der Reichen war, und von Metzgern natürlich, das können sich heutzutage, zumindest hierzulande, fast alle leisten. Bisher galt das als Fortschritt. Doch womöglich ist es eher ein Fluch.

Dabei scheint es ja sehr schön, dass es jeden Tag Fleisch geben kann. Das Schlaraffenland ist demokratisiert worden. Das billige Schnitzel, der billige Hamburger – sie galten als Errungenschaften einer Zivilisation, die im Fleischgenuss gipfelte. Als eine Art Menschenrecht.

Und es galt ja auch als gesund.

»So wertvoll wie ein kleines Steak.«

»Fleisch ist ein Stück Lebenskraft.«

»Die Milch macht’s.«

So weit die Werbung. Die Wahrheit ist: Es kann auch zu Problemen führen. Probleme, die man bisher nicht kannte, weil es das ja noch nie gab: so viel Fleisch und so günstig. Das gab es ja noch nie in der Menschheitsgeschichte.

Früher, da musste der Mensch mühsam ein Mammut jagen. Oder langwierig ein Schwein mästen, und einmal im Jahr war Schlachtfest.

Die Massentierhaltung hat Essen vom Tier in Massen verfügbar gemacht. Zu Lasten der Tiere, die leiden in den Massenställen. Jeder kennt die Bilder aus dem Fernsehen, geliefert von Aktivisten, die da nachts heimlich einsteigen. Aber es sind nicht nur die Tiere, die leiden. Es ist auch der Mensch. Sogar die großen Zivilisationskrankheiten werden neuerdings dem Fleisch angelastet. Bis hin zu Herzinfarkt und Krebs. Übergewicht sowieso.

Bisher galt ja Fleisch bei vielen eher als die Lösung. Das Steak zum Salat, oder zumindest der Putenstreifen, das gilt ja eher als Rezept für die gute Figur. Als Kraftspender. Aber jetzt zeigen viele neue wissenschaftliche Untersuchungen: Das Fleisch ist eher Teil des Problems. Genauer: die Überdosis Fleisch.

Jetzt gibt es ja jeden Tag Schnitzel, Hack und Putensteak, dank Sonderangebot bei Rewe und Co. Einen Hamburger zwischendurch. Und in der Mittagspause Currywurst oder Sushi, und den Salat mit Hähnchenbrust. Und Salami auf der Pizza.

Der Körper wird bombardiert. Und kapituliert vor dem Zuviel vom Tier: Weil es das noch nie gab, weiß er damit nichts anzufangen.

Und plötzlich erweist sich als schädlich, was eben noch als total gesund galt: »viel wertvolles Eiweiß«. Manche nahmen es sogar noch zusätzlich, als Fitnesspulver. Was keiner wusste: Im Übermaß kann auch das der Gesundheit schaden. Und es geht bei der Überdosis an Tierischem nicht nur um den Protein-Schock. Es geht auch um Hormone, um Botenstoffe, um Giftstoffe, um Ablagerungen in den Blutbahnen, im Gehirn. Und um das, was den Krebs entstehen lässt. Oder um Antibiotika, die eingesetzt werden, weil in den Massenställen ständig Krankheiten drohen – und die dazu führen, dass bei den Menschen immer öfter die Arzneien nicht mehr wirken.

Mit den bäuerlichen Traditionen haben die Methoden der globalen Tierindustrie nicht mehr viel zu tun. Sie operiert auch mit besonderen Wesen, die es in der Natur gar nicht gibt, speziell gezüchteten Geschöpfen für die Fleischproduktion, für Eier, für die Milch, oder besser: für den Profit. Manche bezweifeln schon, ob man diese Wesen überhaupt noch Tiere nennen sollte. Sie können ja in der Natur gar nicht mehr überleben, kommen mit natürlicher Nahrung nicht zurecht, brauchen besondere, chemisch aufgerüstete Mixturen. Sie können sich oft nicht einmal mehr fortpflanzen. Es sind Wesen aus den Laboren der Tierindustrie, geschaffen und optimiert auch mit Hilfe staatlicher Einrichtungen, den Hochschulen und ihren Professoren. Gefördert werden diese Praktiken auch noch mit stattlichen Subventionen aus Steuergeldern – obwohl die Öffentlichkeit dem ganzen Treiben eher skeptisch gegenübersteht.

Dass mit dieser Industrie etwas nicht in Ordnung ist, schwant dem Publikum immer, wenn wieder einmal Skandalzeit ist. Da geht es dann ums Gammelfleisch, das einfach verkauft wird, obwohl es schon verdorben ist, ums Pferdefleisch in der Lasagne und anderen Fertiggerichten, um die immer wiederkehrenden Dioxinskandale, wenn sich das Gift in Eiern oder Fleisch findet, weil die Tiere obskures Futter bekamen. Oder es geht um mafiöse Strukturen in der Lieferkette zum Supermarkt, wie bei jener Krise, bei der eine »schwammartige Gehirnkrankheit der Rinder« im Zentrum stand, offizielle Bezeichnung bovine spongiforme Enzephalopathie, kurz: BSE. Damals grassierte in ganz Europa die Furcht vor dem Rind und dass dessen »schwammartige Gehirnkrankheit« auch die Menschen treffen könnte, als sogenannte Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Als Auslöser der Krankheit gilt die Verfütterung von Tiermehl und Tierfett. Die Massentierhaltung geriet damals zum ersten Mal in Verruf.

Der hierzulande bislang folgenschwerste Skandal brachte 53 Menschen den Tod – und im Zentrum stand ausgerechnet eine deutsche Bio-Gärtnerei, die vegan produziert, aber über ihre weithin versandten Sprossen auch kleine Lebewesen mitlieferte, Bakterien vom Typ E. coliO104:H4. Insgesamt 3842 Leute waren erkrankt, die näheren Umstände wurden nie ganz geklärt.

Diese kleinsten aller Lebewesen haben die größten Folgen: Jedes Jahr werden allein in Deutschland Hunderttausende krank durch solche Mikroben, zumeist aus dem Fleisch, aus Eiern oder aus anderen Produkten der Tierindustrie. Sie heißen: Salmonellen, Campylobacter. Oder Listerien. 2014 waren in Dänemark zwölf Menschen gestorben, an Wurst, die solche Bakterien enthielt.

Die wechselnden Skandale zeigen, dass nicht das Fehlverhalten Einzelner das Problem ist. Skandalös ist die Normalität. Die alltägliche Art der massenhaften Fleischproduktion, unter der die Tiere leiden, die Umwelt und auch die Menschen.

Bei Irene Huber hat sich das schon früh gezeigt, weil sie ja sozusagen an der Quelle sitzt. Sie lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Dingolfing, rund hundert Kilometer nordöstlich von München. Der Unterschied von Stadt und Land scheint indes irgendwie aufgehoben. Klar, es gibt noch die Kirchen mit ihren Zwiebeltürmen. Die schöne niederbayerische Hügellandschaft. Doch zwischen alten Bauernhäusern stehen auch coole weiße Neubauten mit großen Glasflächen. Schicke Häuser, mutige Architektur, inmitten von Wiesen. Und immer wieder dann taucht ein BMW-Werk auf, auch draußen in der Landschaft. Die Produktionsstätte in Dingolfing ist das größte Werk im ganzen Konzern.

Auch ernährungsmäßig haben sich die Unterschiede zwischen Stadt und Land verwischt. Am Ortseingang von Dingolfing: ein Lidl, dann ein riesiger Norma, ein McDonald’s und ein Burger King. Und Develey, ein gigantisches Werk mit Aluminium-Fassade, silbrig matten Tanks. Hier machen sie den Senf zur Wurst. In der Umgebung drumrum stehen immer wieder diese Ställe, die zunächst gar nicht als solche zu erkennen sind. Sie sehen ganz ähnlich aus wie eine Lidl-Filiale, nur ohne Logo, ganz ohne Firmenschild, oft auch ohne Fenster. Sie stehen isoliert, irgendwo in der Landschaft. An der Autobahn. Oder am Waldrand. Nur der Stall. Ohne zugehörigen Bauernhof. Weitab von der Kirche mit ihrem Zwiebelturm. Nur eine langgezogene Baracke. Die Massentierhaltung breitet sich aus übers Land. Und erdrückt die Menschen mit Massen von Fleisch.

Irene Huber hat jetzt ein ganzes Sortiment von Krankheiten. Nicht nur die Sache mit dem Herzen, die »koronare Herzkrankheit«, wie die Diagnose lautet: »Verengung der Herzkranzgefäße durch Ablagerungen«. Sie leidet auch an Bluthochdruck. Und an den Ablagerungen in ihren Adern: »Periphere arterielle Verschlusskrankheit«, sogar die Abkürzung kennt sie auswendig: PAVK. Das Leiden wird auch »Schaufensterkrankheit« genannt, weil die Leute beim Stadtbummel immer nach ein paar Metern stehen bleiben, was so aussieht, als ob sie die Auslagen ausgiebig besichtigten.

Neuerdings hat Irene Huber auch noch die Zuckerkrankheit, Diabetes Typ 2, das ist die »erworbene« Variante, während Typ 1 als angeboren gilt.

Zuckerkrank? Durch Fleisch und Wurst?

So sieht das jedenfalls Frau Hubers Ärztin, Dr. Gabriela Hang. Sie ist dunkelhaarig und schlank, wiegt 54 Kilo bei einer Größe von 1,62 Meter, sie trägt eine weiße Hose, eine tiefrote, gemusterte Bluse, eine randlose Brille, hat dezent Lippenstift aufgetragen. Sie betreibt eine schicke Praxis, ganz in der Nähe des großen BMW-Werks, geschmackvoll gestaltet: Kunst an den Wänden, eine Neonleuchte über der Patientenliege, hinter ihrem Schreibtisch ein beruhigend grünes Bücherregal.

Die Ärztin führt zahlreiche Beschwerden ihrer Patienten auf Fleisch- und Wurstkonsum zurück: »Viele essen ja dreimal am Tag Fleisch oder Wurst, morgens, mittags und abends.« Die Folge: »Schlaganfälle. Herzinfarkt. Fettleber.« Und dazu, sagt die Medizinerin, eine »Explosion der Zahl der Diabetiker«.

Wieso soll denn Fleisch zur Zuckerkrankheit führen? Diabetes entsteht doch durch Zucker, Weißbrot?

Hang: »So denken die Patienten auch. Und wenn man ihnen in der Ernährungsberatung sagt, sie sollen weniger Zucker essen, weniger Weißbrot, dann essen die Leute immer noch Wurst. In der Früh auf die Vollkornsemmel, mittags gibt’s dann Schweinebraten, dann essen sie halt nur einen Knödel statt zwei oder drei, aber die Fleischportion bleibt unverändert. Und abends wieder Wurst. So kommen die nie runter mit ihrem Zucker. Auch wenn die Kohlenhydrate reduziert werden, sehen wir keine Veränderung in den Blutzuckerwerten und auch keine beim Gewicht.«

Also ist das Fleisch schuld?

Hang: »Der Körper kann ja nur Zucker verwerten, als Energiequelle, das heißt, alles, was zugeführt wird, um verbrannt werden zu können, muss in Zucker umgebaut werden – auch Fleisch und Wurst, die Fette und die Proteine. Das Endprodukt, das der Stoffwechsel verbrennt, ist der Zucker, und wird er nicht verbraucht, dann wird er halt als Fett gespeichert oder in der Leber eingelagert.«

Die Wurst auf dem Brötchen wird genauso in Blutzucker verwandelt wie das Brötchen selbst?

Hang: »Genau. Das Eiweiß aus dem Fleisch oder der Wurst kann direkt nicht verbraucht werden für die Verbrennung. Das Gehirn zum Beispiel, das braucht ja in der Regel ausschließlich Zucker.«

Die Vorgänge sind noch nicht bis ins Detail erforscht, denn das Ausgangsphänomen ist völlig neu: Fleisch im Überfluss. Aber tatsächlich bestätigen Forscher in aller Welt die Folgen des Fleischverzehrs. Sogar das britische Gesundheitsministerium rät zur Mäßigung: Maximal 490 Gramm rotes Fleisch pro Woche sollten es sein.

Die Schweizerische Ernährungskommission warnte im Jahr 2014: Rotes Fleisch kann gefährlich sein. Zu viel Wurst, Hamburger, aber auch Fleisch vom Schwein, Rind oder Kalb können »gesundheitlich negative Langzeitwirkungen« heraufbeschwören: Es drohten Krebs, Diabetes, Herzprobleme oder sogar ein früher Tod.

Im Oktober 2015 hat sogar eine Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) rotes Fleisch als »wahrscheinlich krebserregend« eingestuft – ein zweifelhaftes Prädikat, das normalerweise eher Gifte bekommen, etwa aus der Agrarindustrie. Und bei der Wurst sehen die Experten ein noch größeres Risiko. Die Datenlage rechtfertigt diese Einstufung, urteilten die 22 WHO-Experten nach ausgiebiger Lektüre von 800 Studien aus verschiedenen Ländern, mehreren Kontinenten, mit unterschiedlichen Volksgruppen und Ernährungsweisen.

So hatte die Harvard School of Public Health in Boston im US-Staat Massachusetts schon 2012 auf erhöhte Krebsrisiken hingewiesen – und nicht nur das: Auch das Risiko für Herzkrankheiten sei erhöht, unter anderem. Sogar ein früherer Tod drohe durch rotes Fleisch: »Unsere Studie bringt weitere Hinweise auf die Gesundheitsrisiken, wenn man große Mengen roten Fleisches isst, das in Verbindung gebracht wird mit Typ-2-Diabetes, Herzkrankheiten, Schlaganfall und mehreren Arten von Krebs«, so Studienleiter An Pan.

Auch eine amerikanisch-chinesische Studie vom Mai 2015, erschienen in der Zeitschrift Public Health Nutrition, ergab ein erhöhtes Risiko für vorzeitiges Ableben, Herzkrankheiten und Krebs durch rotes Fleisch und Wurst. Rot ist beispielsweise das Fleisch von Rind, Lamm und Schwein. Weißes Fleisch ist Geflügelfleisch, es gilt – bisher – als relativ unproblematisch, wobei es natürlich auch die Proteinzufuhr erhöht und womöglich auch den Blutdruck.

Die Forscher von der WHO-Expertengruppe wollten in ihrer Expertise vom Oktober 2015, wie auch schon die Kollegen vom World Cancer Research Fund and American Institute for Cancer Research (WCRF/AICR) im Jahr zuvor, überzeugende Zusammenhänge allerdings nur bei Darmkrebs sehen, bei anderen Krebsarten gebe es »ungenügende Beweise«. Beim Darmkrebs wiederum erhöhe vor allem Rindfleisch das Risiko, so eine Studie des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), die im Januar 2015 im International Journal of Cancer erschien.

Fleischesser sterben früher: In einer Studie von verschiedenen amerikanischen Regierungsinstituten, die unter Leitung des Wissenschaftlers Rashmi Sinha über zehn Jahre mit über einer halben Million Teilnehmern lief, hatte die Gruppe mit dem höchsten Verzehr an rotem und verarbeitetem Fleisch im Vergleich zur Gruppe mit dem niedrigsten Verzehr eine zumindest leicht erhöhte »Gesamtmortalität«.

Kalifornische Forscher um Valter Longo sind gar der Überzeugung, dass eine Ernährung mit hohem Proteinanteil so gefährlich ist wie das Rauchen. Hoher Proteinverzehr erhöhe das Krebsrisiko und verkürze das Leben. So sehen das auch die Fachleute vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke. 150 Gramm rotes Fleisch am Tag seien so gefährlich wie zwanzig Zigaretten pro Tag – auch als Risikofaktor für Diabetes. Die Forscher um Clemens Wittenbecher und Matthias Schulze hatten in ihrer Studie, die im Juni 2015 im American Journal of Clinical Nutrition erschienen ist, die sogenannten Biomarker im Blut identifiziert, die »für einen kausalen Zusammenhang sprechen«.

Warum aber essen die Leute plötzlich so viel Fleisch? Ganz einfach: weil es so billig ist. Und wer ist schuld daran? Die Supermärkte natürlich, die das so billig verkaufen, und ihre Lieferanten von der Tierindustrie, die das möglich machen.

»Pervers«, nennt das der renommierte Schweizer Konsumforscher David Bosshart, Chef des Gottlieb Duttweiler Institute (GDI): »Wie pervers die Ernährungssituation bereits ist, zeigt sich daran, dass Fleisch in vielen Ländern mittlerweile deutlich billiger ist als Gemüse.«

Aber so pervers das sein mag, es hat Folgen – denn die Leute reagieren auf das Angebot völlig vernünftig: Sie kaufen das, was billig ist – und essen sich krank. Jetzt, da bei Edeka das Kilo Schweinenacken mitunter nur 2,22 Euro kostet, mithin weniger als Paprika, ist der Fleischkonsum sozusagen ein Gebot der privaten Ökonomie – und die Überdosis Tierprotein die logische Folge.

So ist der Konsum von tierischen Lebensmitteln in Europa von 1961 bis 2007 um 50 Prozent gestiegen, der Verzehr von Schweinefleisch sogar um 80 Prozent, der Geflügelkonsum hat sich vervierfacht. 85 Prozent der deutschen Bundesbürger essen täglich oder beinahe täglich Fleisch. Der Durchschnittsmann verspeist mehr als ein Kilo Fleisch pro Woche, die Durchschnittsfrau knapp 600 Gramm.

Mit herkömmlichen Methoden sind solche Mengen nur schwer zu erreichen. Für die Menschen früherer Zeiten, die das Tier erst mühsam jagen und erlegen mussten, war die Gefahr gering, dass sie eine solche Überdosis trifft. Nur die Adligen frönten der Fleischvöllerei – die normalen Leute nicht. Bei der traditionellen Landwirtschaft war das Tier über Tausende von Jahren keine Ware, sondern ein Mitbewohner, der irgendwann einmal gegessen wurde. Früher gab es auch keine Unterscheidung zwischen Haustier und Nutztier. Die Schweine, die Kühe, die Hühner, sie haben mit den Menschen zusammengelebt, auf engem Raum. Noch heute haben Bauern, richtige, traditionelle Bauern, ein quasifamiliäres Verhältnis zu ihren Tieren. Geändert hat sich das mit der Massentierhaltung.

»Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen« heißt ein Buch der amerikanischen Tierrechtlerin Melanie Joy. Es geht um das zwiespältige Verhältnis des Menschen zum Tier und warum manche als Freunde gelten, andere als Nahrungsmittel. Das ist in der Tat schwer zu verstehen, warum die einen Tiere verhätschelt, die anderen misshandelt werden. Irgendetwas muss sich da verändert haben. Denn früher gab es diesen Unterschied nicht. Früher wurden auch die Nutztiere nicht misshandelt, sie lebten mit den Menschen zusammen.

Das ist das historisch Neue an der Massentierhaltung: Sie hat die enge Verbindung zwischen Mensch und Tier gelöst. So wurde es möglich, Tierisches in riesigen Massen zu erzeugen.

Die Tierindustrie hat die traditionellen Formen des Zusammenlebens zwischen Mensch und Tier gesprengt, die über Jahrtausende gepflegt wurden. Ins Dorf passen die riesigen Anlagen nicht mehr. Deshalb haben sie die Tiere aus der menschlichen Gesellschaft verbannt, an den Rand gedrängt, in riesige Ställe, irgendwo im Wald, an der Autobahn. Ohne Fenster, ohne Tageslicht und frische Luft, ohne Menschen auch, die mit ihnen zusammen sind. Mit der Massentierhaltung ist eine neue Dimension erreicht. Die Tiere werden zusammengepfercht zu Tausenden, ja Hunderttausenden. Die Profitgier diktiert ein ausgeklügeltes System, bei dem die Bedürfnisse der Tiere nichts zählen.

Die Beziehung zwischen Mensch und Tier ist in eine neue Epoche eingetreten. Während die Öffentlichkeit sich noch der Illusion hingibt, Lebensmittel kämen vom Bauern, hat hinter den Kulissen längst ein Systemwandel stattgefunden. Riesige, weltweit operierende Konzerne beherrschen die Produktion, sie sorgen für einen globalen Tsunami, der die Supermärkte mit billigen tierischen Nahrungsmitteln überschwemmt.

Deutsche Geflügelkonzerne dominieren den Weltmarkt für Hühner, die Eier legen, für Hähnchen und Puten. Fast alle diese Tiere stammen aus den Labors und Brutstätten weniger Konzerne. Auch Milchkonzerne sind mittlerweile global operierende Organisationen, mit Nestlé als größter Molkerei der Welt an der Spitze. Amerikanische und chinesische Giganten sind die Weltmarktführer bei Schweinen.

Die größte Fleisch-Company der Welt sitzt nahe den Soja-Futterquellen in Brasilien, eine Firma namens JBS. Firmengründer José Batista Sobrinho (JBS) hatte 1953 mit fünf Rindern am Tag angefangen. Heute kann der Konzern jeden Tag 72000 Schweine schlachten, 100000 Rinder, dazu unglaubliche 13 Millionen Hühner. JBS hat 200000 Mitarbeiter in 24 Ländern auf allen fünf Kontinenten, er exportiert in 150 Länder. Die Familie zählt zu den reichsten Brasiliens.

Die Massentierhaltung macht Profit, sonst gäbe es sie nicht. Auch in Deutschland, etwa in Niedersachsen: Die Bürgermeister dort erzählen gern vom Besuch eines amerikanischen Reporters. Der habe nach einer Weile gefragt: »Hier leben ja nur Millionäre. Habt ihr denn gar keine Arbeiter?« So berichtete es die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Das ist der Industriezweig, der dafür sorgt, dass die Menschen mehr Tierisches essen, als ihnen – und den Tieren – guttut.

38,4 Millionen Legehennen leben allein in Deutschland. Dazu kommen fast 100 Millionen Masthähnchen. 58 Millionen Schweine werden im Jahr in Deutschland geschlachtet. Weltweit lag die Fleischproduktion im Jahr 2011 bei knapp 300 Millionen Tonnen, bis 2050 werden es nach Prognosen 460 Millionen Tonnen jährlich sein.

Zweieinhalb Stunden musste ein Durchschnittsdeutscher im Jahre 1960 für ein Kilo Schweinekotelett arbeiten, 2012 war es noch gut eine halbe Stunde. Der Aufwand fürs Brathähnchen sank von über zwei Stunden auf zwölf Minuten, für zehn Eier von 49 auf sieben Minuten. Im Durchschnitt isst der Deutsche im Laufe seines Lebens 1094 Tiere: vier Rinder, 46 Schweine, 945 Hühner. Statt höchstens 90 Gramm am Tag, wie Mediziner empfehlen, sind es in den Industrienationen im Schnitt 224 Gramm Fleisch am Tag.

Die »Tierproduktion«, die hierzulande die Menschen krank macht, verändert die Umwelt im globalen Maßstab. Millionen Hektar Wald werden in Südamerika gerodet, um Soja anzubauen, als billiges Futter fürs Vieh hierzulande. 80 Prozent der Rodungen im Amazonasgebiet dienen der Neuschaffung von Weideland. 1250 Millionen Tonnen Pflanzenfutter fressen die Schweine und Hühner weltweit pro Jahr.

Und auch, was hinten rauskommt, versaut die Umwelt.

Allein im Jahr 2012 sind etwa in Niedersachsens Tierfabriken und Agrarbetrieben 38,7 Millionen Tonnen Gülle, 8,1 Millionen Tonnen Festmist und 9,9 Millionen Tonnen Gärrückstände aus Biogasanlagen angefallen. Auf »Güllebörsen« werden die Endprodukte an Käufer abgegeben und so übers Land verteilt.

Die Gülle führt zu einer bedenklichen Nitratbelastung des Grundwassers. Nach einer EU-Untersuchung lag der Wert an jeder zweiten gemeldeten Messstation über der geltenden Grenze von 50 Milligramm pro Liter. Greenpeace sprach schon von einer »Zeitbombe im Trinkwasser«.

Zunächst leiden die Tiere. Die Hühner, zum Beispiel, häufig unter Herzproblemen. Die Schweine haben es in den Gelenken. Die Puten können schon gar nicht mehr laufen, kippen nach vorn, wegen der überdimensionierten Brust. An Sex ist bei den überzüchteten Rassen ohnehin nicht zu denken, das übernimmt der Besamer.

So hat, meint die Monatszeitung Le Monde diplomatique, »selbst der Begriff ›Tier‹ seine Gültigkeit verloren: Würstchen werden wie Autos produziert, ausgehend von den Rohstoffen. Dass es sich um lebende und häufig leidende Rohstoffe handelt, wird ausgeblendet. De facto sind diese Tiere keine eigenständigen Lebewesen mehr, sondern pure Resultate agrarwissenschaftlicher Forschung. Durch jahrzehntelange Selektion wurden sie so gezüchtet, dass ihre Muskelmasse sich immer schneller entwickelt und sie eine erhöhte Fortpflanzungsleistung erbringen. Im Gegenzug sind ihre Vitalorgane auf ein Minimum reduziert und oft nicht mehr in der Lage, ihre Funktionen zu erfüllen. Die Tiere sind extrem anfällig für Infektionen. Deshalb werden die Mastställe beheizt. Dennoch brechen regelmäßig Krankheiten aus, die dann mit Antibiotika bekämpft werden.«

Je mieser das Leben der Tiere, desto schlechter ist das für die menschliche Gesundheit, sagt Tracey Jones, Direktorin der Vereinigung für Mitgefühl in der globalen Landwirtschaft (Compassion in World Farming): Das »Verlangen nach billigen Hühnern« drücke die »Preise nach unten« und treibe die Produzenten an, Hühner zu verwenden, die schneller wachsen, und zugleich die Zahl der Tiere im Stall zu erhöhen. Beides sei schlecht fürs Wohlergehen der Tiere und erhöhe die Wahrscheinlichkeit für Krankheiten bei Menschen, etwa durch Bakterien vom Typ Campylobacter, die für Hunderttausende von Krankheiten jedes Jahr und sogar für Todesfälle verantwortlich sind.

Eine wachsende Zahl von Hähnchenbrüsten enthält diese Krankheitserreger. Und weil die Tierbarone mit Antibiotika dagegen angehen, wachsen die Resistenzraten – und die Arzneien, auch für die Menschen, verlieren ihre Wirkung.

Die größte und bislang völlig unterschätzte Bedrohung der Gesundheit für Menschen liegt aber womöglich ausgerechnet in jenen Substanzen, die bisher als besonders segensreich galten: den sogenannten Proteinen, dem »Eiweiß« in den tierischen Produkten: Fleisch, Milch, Butter, Käse. Und natürlich Eiern.

Das ist die spektakulärste Wende, die es in der Geschichte der Nahrungsaufnahme gegeben hat. Ein Stoff, der bislang als wertvoller Nahrungsinhalt galt, soll plötzlich zerstörerische Folgen haben. Dabei hat er nicht etwa seinen Charakter verändert. Nur seine Verfügbarkeit hat sich erhöht. Und plötzlich löst dieser Stoff ganz andere Folgen im Körper aus.

Ausgerechnet eine der Hauptstützen beim Produktmarketing: das »wertvolle Eiweiß«. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass diese Proteine jemals zum Problem werden könnten. Die Wissenschaft erkennt erst jetzt, wie die Überdosis Protein auf den Organismus wirkt.

Das Tierprodukt ist zum Sattmacher geworden – und dadurch zum Krankmacher. Und zum Dickmacher. Tatsächlich kann eine hohe Aufnahme von tierischem Eiweiß unter anderem die Wirkung des Insulins verschlechtern und so das Diabetesrisiko erhöhen, wie neuere Studien ergaben, etwa eine umfangreiche Erhebung von europäischen Wissenschaftlern unter Leitung von Monique Vannielen von der Universität im niederländischen Wageningen, die 2014 in der Zeitschrift Diabetes Care erschienen ist.

Auch die Studien am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke (DIfE) hätten gezeigt, »wie eine eiweißreiche Kost«, so der Hormonforscher Martin O. Weickert, »das Diabetesrisiko erhöhen kann«.

Wer viel tierisches Protein isst, hat ein um 118 Prozent höheres Risiko einer Diabeteserkrankung, im Vergleich zu den Wenigessern. Das legte die Wissenschaftlerin Yvonne Sluijs vom University Medical Center im niederländischen Utrecht in einer 2010 in der Zeitschrift Diabetes Care erschienenen Studie dar.

Das ist auch so eine erstaunliche neue Erkenntnis. Gemeinhin gelten Kohlenhydrate, also Zucker, Pasta, Kartoffeln, als problematisch, weil sie den Blutzuckerspiegel erhöhen und damit zum Ausstoß des »Masthormons« Insulin führen. Jetzt zeigt sich: Zur Insulinausschüttung führen auch Steaks, Milch und vor allem die üblichen Kombinationen der Speisen. Das ergab eine umfangreiche Erhebung zu den Insulin-Effekten verschiedener Nahrungsmittel von Wissenschaftlern aus Harvard und Sydney im Jahr 2011.

Der Food Insulin Index (FII) gibt diese Effekte an. Weißbrot ist dort beispielsweise mit einem Index von 100 geführt, Beefsteak mit Kartoffeln liegt schon knapp dahinter bei 88, und Pizza mit Coca-Cola bei 85 Indexpunkten. Und ein fettarmer »Fruchtjoghurt« aus dem Supermarkt, Geschmacksrichtung Erdbeere, wird mit 84 geführt.

Das bedeutet: Bei allen modernen Zivilisationskrankheiten, bei denen bisher die Kohlenhydrate im Vordergrund standen, insbesondere der Zucker (siehe Hans-Ulrich Grimm: »Garantiert gesundheitsgefährdend«), können auch die tierischen Produkte eine Rolle spielen, weil sie – vor allem in Verbindung mit den Kohlenhydraten – den Insulinspiegel in die Höhe treiben.

Die Proteine haben, im Übermaß, aber noch weitere Effekte. So ergab eine 2013 veröffentlichte Studie der Johns Hopkins School of Medicine in Baltimore im US-Staat Maryland, dass die Nierenfunktion beeinträchtigt werden kann, wenn bei der Ernährung viel tierisches Eiweiß im Spiel ist.

Sogar das Risiko für manche Arten von Nierenkrebs steigt, wie der Epidemiologe Mohammed El-Faramawi von der University of North Texas in Fort Worth herausgefunden hat. Eine Gruppe brasilianischer Forscher wies 2015 auch auf steigenden Blutdruck durch erhöhten Proteinverzehr hin – jedenfalls bei Diabetikern.

Dass es so etwas wie »Proteinmast« geben könnte, war bislang den wenigsten bekannt. Der deutsche Professor Lothar Wendt hatte zwar das Konzept der »Eiweißspeicherkrankheit« in den 1940er Jahren entwickelt, doch gleich darauf geriet es in Vergessenheit. Dabei hatte schon Wendt einen Zusammenhang gesehen zwischen Protein-Überversorgung und Folgen wie Übergewicht, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Rheuma, Gicht, Nierenentzündung und Diabetes Typ 2.

»Proteine sind primär keine Brennstoffe, sondern Baustoffe und werden nur in geringen Mengen benötigt«, sagt der Arzt und Autor Ludwig Manfred Jacob, der aus seiner Kritik an Fleisch und anderer Zivilisationskost gleich ein ganzes Alternativ-Imperium aus Gesundheitspülverchen und Ersatznahrungsmitteln erwachsen ließ (Buchtitel: »Dr. Jacobs Weg«).

In China liegt die tägliche Aufnahme von tierischem Protein bei sieben bis elf Gramm, in Europa bei 47 bis zu 80 Gramm, in Deutschland bei 62.

»Eine Ernährung mit einem hohem Proteingehalt, etwa aus magerem Fleisch, kann nach einigen Wochen sogar tödlich enden«, sagt Jacobs. Man nennt das »Rabbit Starvation« (»Kaninchenhunger«). Es ist eine Form von Mangelernährung, die entsteht, wenn man zu viel mageres Fleisch isst. Amerikas Ureinwohner kannten das Problem, wenn sie mal bei der Jagd nur Kaninchen erlegt hatten: Sie litten an Durchfall, Kopfschmerzen und dauerndem Fetthunger.

Bisher galt das Steak zum Salat als Schlankheitsgarant. Aber: Zu viel Eiweiß kann auch dick machen. Das fand die Wissenschaftlerin Antonia Trichopoulou von der Universität Athen heraus, bei einer Untersuchung mit 27862 Freiwilligen im Alter von 25 bis 82 Jahren, die schon 2002 im European Journal of Clinical Nutrition erschienen ist. Ergebnis: Diejenigen, die am meisten Protein verzehrten, waren am dicksten. Ähnliches ergab eine Studie von Michael Hermanussen, veröffentlicht im Jahr 2008.

Die Massentierhaltung erhöht aber nicht nur die Fleischmenge. Sie verändert auch die Qualität, die Zusammensetzung, und damit die Folgen für den Körper.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Glück der Tiere und der Qualität von Schnitzel, Milch und Steak? »Machen die Haltungsbedingungen einen Unterschied?«, fragte die Los Angeles Times den berühmten Harvard-Experten Walter Willett. »Das wissen wir nicht sicher«, sagte dieser. »In unserer Studie hatten wir uns mit dem roten Fleisch beschäftigt, so wie es in den Vereinigten Staaten gegessen wird.« Und es gebe schlicht zu wenige Menschen, die Fleisch von glücklichen Tieren essen, um das beurteilen zu können, von Rindern etwa, die noch grasen dürfen.

Dabei gibt es sie wirklich, solche Rinder, die glücklich sind, auch Schweine, die wohlig grunzend im Erdreich wühlen, und Hühner, die da gackern und – täglich ein Ei legen, die Enten und Gänse drunten am Bach. All das gibt es tatsächlich. Auch heute noch. Aber nur außerhalb der Welt der Supermärkte. Die brauchen die Massen. Und die kommen aus den Fabriken der Tierindustrie.

Das meiste rote Fleisch liefert bei uns: das Schwein. Es trägt mithin, man muss es leider so sagen, die Hauptverantwortung für die Krankheiten, die damit verbunden sind. Ausgerechnet das sympathische Tier, das doch eigentlich als Glücksbringer gilt. Jetzt hat es Pech – wenn es in diese Maschinerie gerät. Und die anderen Beteiligten auch. Manchmal wird dabei einer so gereizt, dass er zum Messer greift.

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2. Anhaltende Schmerzen

Arme Schweine: Mit Gewalt zur Überdosis Wurst und Schnitzel

Schock für Currywurstfans: Schon ein Würstchen am Tag kann zu viel sein / Schlimme Schmerzen: Die Wirtin konnte kaum noch das Bier zapfen / Die Wurst ist die Zigarette der Zukunft / Salami und Schinken können Ihre Fruchtbarkeit gefährden / Glückliche Schweine beißen nicht

Das Messer lag bereit, als Werkzeug, nicht als Waffe. Es war »ein Schlachtermesser mit orangefarbenem Griff und einer sehr schmalen Klinge«, 14 Zentimeter lang, Identifikationsnummer 17146. Irgendwann hatte sich zu viel aufgestaut. Er nahm es. Er stach zu »und zog dann das Messer sofort wieder heraus«. So steht es im Gerichtsurteil. Nur dank einer Notoperation endete der Stich nicht tödlich.

Sie standen zusammen am Fließband, zehn auf der einen, zehn auf der anderen Seite. Zwischen ihnen das Band, an dem das Fleisch seinen Weg zum Schnitzel nimmt. Jeder hatte einen eigenen Korb mit Messern. Rustikale Umgangsformen sind hier üblich, es ist schließlich ein Schlachthof. Auch Streitereien, Hänseleien. Gelegentlich bewarf der Vorarbeiter seine Leute mit Fleischstücken oder Eiswürfeln, aus »Spaß«. So steht es in den Gerichtsakten. Manchmal zog er unter dem Gelächter der Kollegen seinem Untergebenen eine Folie über den Kopf.

Es ist Stress, klar, wenn das Schnitzel so billig werden muss. Das Schlachten eines ganzen Schweines kostet ja, alles in allem, nur 1,03 Euro. Pro Schwein, wohlgemerkt, nicht pro Kilo.

»Wir stehen unter Druck, und den gebe ich weiter«, sagte Piotr, der Vorarbeiter, der aus Polen stammt und der schließlich das Messer zwischen den Rippen stecken hatte, genauer: in der linken Thoraxflanke, zwischen der zehnten und elften Rippe, geführt von Andrzej, gleichfalls ein Pole, »in einem großen Halbbogen«, mit »großem Schwung« und »einiger Kraft«, so der Urteilstext.

Andrzej wurde zu einem Jahr und zehn Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, von der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Halle. Aber selbst der Anwalt des Messerstechers, Janusch Nagel, stellt die Frage: »Wer ist hier Täter, wer Opfer?« Und wer Gewinner, wer Verlierer?

Verlierer sind zunächst die tausend Polen, die hier schuften müssen, im ostdeutschen Weißenfels, inmitten der Zone mit den monströsesten Tierfabriken Europas.

Auf der Gewinnerseite steht, rein geschäftlich betrachtet, natürlich der Besitzer der Tötungsanlage, Clemens Tönnies, der größte Schlachtfabrikant Deutschlands. Allein 17 Millionen Schweine schlachtet er im Jahr, 5,6 Milliarden Euro Umsatz macht er damit insgesamt. Er ist ein angesehener Mann, Deutschlands Supermarktkonzerne kaufen gern bei ihm. Auf dem Gelände des Schlachthofs stehen große Trucks mit Werbung drauf: »Toasty: Don’t call it Schnitzel«. Das ist ein Erfolgsprodukt des Hauses, überall zu haben, bei Rewe, bei Edeka. Im Fernsehen machen sie Werbung dafür. Aldi und Lidl beliefert er natürlich auch.

So scheint auch der Verbraucher zu den Gewinnern zu gehören. Jedenfalls solange er noch keine Symptome zeigt. Denn rotes Fleisch ist, glaubt man Wissenschaftlern und auch Behörden, inzwischen als Gesundheitsrisiko einzustufen, mitverantwortlich für die großen Zivilisationskrankheiten. Und zu den Betroffenen gehört, tragischerweise, womöglich auch Fleischkönig Tönnies.

Rotes Fleisch, das klingt nach Rind oder Lamm. Hierzulande ist es aber vor allem: Schweinefleisch. Und, fast wichtiger noch: die Wurst.

Das will nun, im Lande der Currywurstkultur, nicht jedem gefallen. Und noch weniger einleuchten. Schließlich gibt es die Wurst seit Menschengedenken, und das Schwein ist schließlich Begleiter und auch Fleischlieferant des Menschen seit Jahrtausenden.

Bisher galt es ja sogar als Glückssymbol. Ein sympathisches Tier, lustig, intelligent, einfühlsam, flink. Rennen kann es auch, und glücklich grunzen dazu. Schweinernes, Wurst, Wammerl, Braten, Haxen, all das war so etwas wie ein kulinarisches Kulturgut. Und das soll plötzlich zum Gefahrgut geworden sein?

Das nun hat tatsächlich viel zu tun mit den Verhältnissen wie in jenem Schlachthof, in dem die Messerstecherei stattfand. Verhältnisse, in denen unter hohem Druck, in optimierten Verfahren, aus lebendigen Wesen Waren gemacht werden, die zu Billigpreisen verramscht werden, in irren Mengen.

Mit herkömmlichen, traditionellen Zucht- und Schlachtmethoden wäre das gar nicht möglich. Mit herkömmlichen Methoden könnte also gar nicht so viel produziert werden, dass es schadet, den beteiligten Schweinen, den Beschäftigten im Schlachthof und der Gesundheit der Konsumenten.

Die Tierindustrie schafft das. Mit »industrieller Mast«, zum Beispiel. So hieß das hier früher, in Deutschlands Osten, wo auch der Schlachthof liegt, in dem es zur Messerstecherei kam. Industrielle Mast, das bedeutet: riesige Ställe, dunkle, fensterlose Baracken, irgendwo im Wald oder auf weiter Flur versteckt. Niemand hört die Tiere, die hier eingepfercht sind. Diese Produktionsbedingungen haben es überhaupt erst möglich gemacht, so viel Fleisch zu produzieren, dass es ungesund wird.

Für Schweine-Kritiker ist das keine Überraschung. Denn nicht nur die kulinarische Liebe zum Schwein hat Tradition, sondern auch die Skepsis. Dass Schweinefleisch nicht gut sei, das glaubten viele Kulturen. Der Sage nach soll Buddha an einer »Überladung des Magens« mit Schweinebraten gestorben sein – was allerdings bei seinen Anhängern umstritten ist. Juden und Muslimen ist der Verzehr von Schweinefleisch verboten. »Der Herr redete mit Mose und Aaron und sprach zu ihnen: Redet mit den Kindern Israel und sprecht: Dies sind die Tiere, die ihr essen sollt« (Levitikus 11, 1–47). Vom Schwein sollten die Gläubigen »nicht essen«, denn es sei »unrein«. Auch im Koran (2. Sure, Vers 173) stehen Schweine auf dem Index, es ist »untersagt«, sie zu essen.

Als Grund für die Ächtung gelten die sogenannten Trichinen, kleine Fadenwürmer, die beim Menschen zu Erbrechen und Durchfall, aber auch zu Schwindel, bei Immunschwäche sogar zum Tod führen können. Das Trichinenproblem gilt mittlerweile als gelöst; es scheint nur noch eines auf manchen Kleinbauernhöfen zu sein, vor allem in armen Ländern mit mangelhafter Hygiene, wie in Rumänien.

Die Tierindustrie hat das Trichinenproblem im Griff – aber dafür neue Probleme geschaffen. Durch die schiere Masse. Zum Beispiel die Krankheiten, die die bayerische Wirtin Irene Huber plagen, und viele mehr, vor denen Wissenschaftler und Behörden in Europa und Amerika warnen: Herzprobleme, Übergewicht, Diabetes, Nierenleiden, sogar Krebs. Womöglich ist sogar Großschlächter Tönnies ein Opfer: Er litt an einem Nierentumor. Und solche Krankheiten könnten, meinen jedenfalls manche Wissenschaftler, auch mit dem roten Fleisch, etwa vom Schwein, zusammenhängen.

Auch der neue Überschuss an Proteinen, dem tierischen Eiweiß, stammt zum großen Teil von Schnitzel, Braten, Wurst. Das sogenannte L-Carnitin etwa ist so ein Fleisch-Eiweiß, das bisher als sehr gesund galt, sogar als Nahrungsergänzungsmittel verkauft wurde, aber nach einer US-Studie von 2013 die Bildung von Ablagerungen in den Adern und damit Herzkrankheiten begünstigen kann – wie die, an der Frau Huber leidet.

Hinzu kommen die Leiden, für die speziell das Schweinefleisch steht. Wie zum Beispiel die Schmerzen an den Gelenken. Irene Huber hat sie vor allem am Daumen: »Der tut mir immer unwahrscheinlich weh.« Sie kann im Wirtshaus das Bier kaum noch zapfen. Manchmal wacht sie nachts auf vor lauter Schmerzen.

Zu den Krankheiten, bei denen das Schwein eine besondere Rolle spielt, gehört die Gicht. Zu erkennen ist sie oft an hohen Harnsäurewerten, wie sie auch bei Frau Huber gemessen wurden. Das Fleisch enthält sogenannte Purine, die wandelt der Körper in Harnsäure um. Gicht ist eine besonders schwere Form der Arthritis. Allein an der sogenannten Polyarthritis sollen 800000 Menschen in Deutschland leiden – mit zunehmender Tendenz. Und auch hier stehen Schweinefleisch-Bestandteile am Pranger, wie auch bei der sogenannten Fibromyalgie, einer besonders lästigen Krankheit. Ihr »Leitsymptom« ist – der Schmerz. Wie bei einer Betroffenen namens Emilia, die im Internet schreibt:

»Ich habe schon viele Jahre Fibromyalgie. Immer wenn ich Schweinefleisch esse, habe ich einen Tag später einen starken Schmerzschub. Weil ich zu wenig Blut habe, sollte ich ab und zu Fleisch essen. Was ist im Schweinefleisch, dass dieses so starke Schmerzen auslöst? Schmerzen habe ich jeden Tag, am ganzen Körper, doch ein Schmerzschub ist sehr schlimm und dauert dann einige Wochen.«

Was drin ist? Vor allem die sogenannte Arachidonsäure, von der besonders viel in tierischen Produkten enthalten ist – an der Spitze steht dabei das Schwein: Mageres Schweinefleisch enthält davon 120 Milligramm pro 100 Gramm, ebenso viel die Fleischwurst, bei Schinken sind es 130, bei Schweineleber 870 Milligramm. An der Spitze steht Schweineschmalz mit 1700 Milligramm pro 100 Gramm.

Aus der Arachidonsäure bildet der Körper Eicosanoide, Botenstoffe. Davon benötigt der Körper etwa 50 Milligramm am Tag, bekommt aber in Deutschland durchschnittlich 300 bis 350.

Früher gab es nicht so viele von diesen Eicosanoiden. Es gab auch keinen übermäßigen Fleischkonsum. Früher gab es auch noch keine Tierindustrie. Mensch und Schwein, sie lebten zusammen, waren über Jahrtausende eine Schicksalsgemeinschaft. Das Schwein ist, neben dem Hund, das älteste domestizierte Haustier. Der Mensch hat dem Schwein viel zu verdanken – sogar die Sesshaftigkeit, meinen jedenfalls manche Forscher. Denn: Schweine zu halten sei einfacher, als Weizen anzupflanzen. Weil: Getreide muss man nicht nur anpflanzen, sondern auch weiterverarbeiten, mahlen, backen. Das Schwein hingegen muss man nur in den Wald treiben, Eicheln fressen lassen, später schlachten, fertig. Womöglich hätten die Menschen vom Schwein sogar die Technik des Pflügens abgeschaut, als jene mit dem Rüssel den Boden aufwühlten. In der sogenannten akkadischen Keilschrift aus dem alten Mesopotamien jedenfalls, dem Gebiet des heutigen Irak, seien sogar die Wörter für Schwein, Umwühlen und Pflügen ähnlich. Dort im Vorderen Orient stand die »Wiege des Hausschweins«, wie es gern formuliert wird. Die ältesten Funde, die auf eine frühe Schweinehaltung deuten, stammen aus der Osttürkei, aus einer 10000 Jahre alten Siedlung. Weltweit erfreuten sich die Schweine früher Beliebtheit. In China gab es schon im 4. Jahrtausend vor Christus eine florierende Schweinemast, auch in Ägypten hatten sie schon Hausschweine, auf Zeichnungen aus jener Zeit waren sie am Ringelschwänzchen von der Wildsau zu unterscheiden. Im antiken Griechenland sowie im alten Rom gab es zeitweilig sogar »Stadtschweine«, ebenso im europäischen Mittelalter – als Müllverwerter: Sozusagen als Mitarbeiter der Stadtreinigung vertilgten sie Abfälle und Essensreste. Urban Farming mit Schweinen: Das gab es bis ins 19. Jahrhundert sogar in New York City.

Also: ein durchaus sympathisches Tier. Auch hierzulande. Und die aus seinem Fleisch geformten Produkte genießen auch heute noch Kultstatus, die Currywurst etwa, die seit Jahrzehnten die Hitlisten der beliebtesten Kantinengerichte anführt.

Und so gilt selbst der Wurstfabrikant bisher durchaus als Ehrenmann. Ein berühmter Vertreter seiner Gattung namens Uli Hoeneß, Lieferant für den Billighändler Aldi und lange Manager des Fußballvereins FC Bayern München, musste ja nicht wegen seiner Wurst ins Gefängnis, sondern wegen Steuerhinterziehung.

Fußballfunktionär ist auch der Besitzer des blütenweißen Schlachthofes, in dem die Bluttat am Schnitzelband stattfand, Clemens Tönnies, Aufsichtsratsvorsitzender bei Schalke 04. Und auch wenn er vor Gericht steht, dann geht es nicht um Gesundheitsschäden durch sein Fleisch, sondern in der Regel um eine Familienfehde, die sich rankt um Anteile, um Stimmrechte, undurchsichtige Firmengeflechte, auch im Steuerparadies Liechtenstein. Sein Bruder Bernd war früh gestorben, dessen Söhne streiten mit Onkel Clemens um die Macht im Konzern.

Natürlich steht auch der unter Druck, er ist im globalen Maßstab ja nur ein kleiner Fleisch-Krösus. Der weltgrößte Fleischkonzern JBS zum Beispiel sitzt in Brasilien, schlachtet neben Hunderttausenden anderen Tieren 72000 Schweine am Tag. Die US-Gesellschaft Tyson Foods, nach JBS zweitgrößter Schlachter der Welt, knapp 56000, ebenfalls pro Tag. Und jetzt haben sich auch noch Amerikaner und Chinesen zusammengetan, zum größten Schweine-Imperium der Welt: Die US-Firma Smithfield, der größte Schweinefleischproduzent der Welt, tötet täglich 113000 Schweine, beliefert Weight Watchers und McDonald’s und verkauft auch nach Europa, weltweit insgesamt drei Millionen Tonnen pro Jahr. Geschluckt wurde sie von einem chinesischen Konzern namens Shuanghui International, der 2,7 Millionen Tonnen Fleisch pro Jahr produziert.

So gibt es eigentlich keine persönlich Schuldigen, die dafür verantwortlich sind, wenn jetzt die Menschen an den Fleischfolgen leiden. Es ist sozusagen das ganze globale Schweinesystem, das dazu führt, dass immer mehr Schwein im Angebot ist, immer mehr Wurst und Arachidonsäure und Proteine, all die Substanzen, die jetzt in wachsendem Maße zu Problemstoffen werden.

Allein der Verbrauch von Schweinefleisch hat sich in Deutschland seit 1950 fast verdreifacht. Die Zahl der Schweine, die gehalten werden in Deutschland, hat sich mehr als verdoppelt: Von 12 Millionen im Jahr 1950 auf 28 Millionen im Jahr 2014.

Der weltweite Schweinefleischverzehr, 1961 im Schnitt bei acht Kilo pro Kopf, stieg bis zum Beginn des neuen Jahrtausends auf 15 Kilo. Europa liegt weit darüber, ganz vorne mit dabei stets Deutschland und Österreich, mit einem Pro-Kopf-Verzehr von um die 40 Kilo pro Jahr.

Kein anderes Land in Europa erzeugt Schweinefleisch so billig wie Deutschland. »Kostenführerschaft« nennen das die Branchenprofis. Deutschland produziert schon mehr, als es braucht: Es ist hinter den USA der weltgrößte Schweineexporteur. 2,6 Millionen Tonnen werden ins Ausland verkauft.

Ein Glück war für den Schweine-Krösus Tönnies, dass sich für ihn und die anderen Tierindustriellen Europas eines Tages eine einmalige Chance bot: Ein ganzes Land tat sich auf, von vielen seiner Bewohner verlassen, aber bestens vorbereitet für Schweinebarone und Wurstkönige, auch für Hühnerbarone, für die ganze Tierindustrie: der Osten Deutschlands.

Die ehemalige DDR war zwar bei vielen ihrer Einwohner nicht sehr beliebt, hatte aber in den Augen der Massentierhalter bezwingende Vorzüge: riesige Tierfabriken, Modellbetriebe sozusagen für die industrielle Tierhaltung nach amerikanischem Vorbild. Selbst die Fachvokabeln stammten von drüben, der »Broiler« zum Beispiel, eigentlich der amerikanische Ausdruck fürs Masthähnchen, wurde zur DDR-Spezialität, sogar als »Goldbroiler« erhältlich, und im Westen immer ein bisschen belächelt.

Jetzt lächelt niemand mehr, jetzt ist der Broiler Standard für ganz Deutschland, erhältlich in allen Supermärkten des Landes, nur Broiler heißt er nicht mehr. Und an den Baracken und den eisernen Toren steht jetzt nicht mehr »Kombinat Industrielle Mast«, sondern zum Beispiel: Wiesenhof.

So ist das in einem Ort namens Möckern, Landkreis Jerichower Land, in Sachsen-Anhalt, 80 Kilometer westlich von Berlin. Möckern ist ein Ort mit 27 Teilgemeinden, 14000 Einwohnern – und 1624000 Hühnern, nach einer amtlichen Aufstellung des zuständigen Ministeriums.

An der Zufahrt zum Headquarter des Kombinats, das jetzt nicht mehr so heißt, steht ein riesiges Kunstwerk aus Edelstahl, eine Skulptur, die den Stolz des Ortes auf die Hühnerfabrikation zeigt, mit langen, mattsilbrigen Stäben, die senkrecht in die Höhe ragen, und an einem von ihnen steht »KIM« für »Kombinat Industrielle Mast«. So hieß das damals, ehrlich, nichts beschönigend. Als die Hühnerbarone aus dem Westen kamen, haben sie dann gleich ihr Logo danebenschweißen lassen: »Wiesenhof«. Klingt wie eine Lüge, ist aber eine Marke, die erfolgreichste in Deutschland.

Das gehört zu den Erfolgsrezepten: Die Massentierhaltung ist unsichtbar geworden, wird versteckt hinter idyllischen Bezeichnungen. Und auch Tiermassen sind unsichtbar. Auf der »Mecklenburger Broilerfarm« zum Beispiel, in einem Ort namens Jörnstorf, 30 Kilometer von Rostock. Da leben 830000 Masthähnchen, ausweislich amtlicher Unterlagen, in einem Gewerbegebiet, ein paar hundert Meter abseits der Hauptstraße, in der Nachbarschaft gibt es noch ein Hotel, eine Spedition, einen Campingbedarfshändler. Und dann die Anlage, am Waldrand. Wieder eine dieser Baracken, Solaranlagen auf dem Dach. Und eine merkwürdige Stille. Nur die Blätter rascheln im Wind, kein Hahn kräht, kein Huhn gackert.

Den Zugang zum Gelände versperrt ein Zaun mit elektrisch betriebenem Tor, darauf ein rotes Schild:

»Mecklenburger Broiler Farm GmbH

Unbefugten ist das Betreten

des Firmengeländes verboten!«