Die Forelle - Leander Fischer - E-Book

Die Forelle E-Book

Leander Fischer

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Beschreibung

"Und genauso sei es, sagte er. Ein Widerhaken sei widersinnig. Der Fisch habe eine faire Chance. Und fingen wir ihn doch, setzten wir ihn zurück. Nur das Erlebnis zähle, nicht das Ergebnis." In ein oberösterreichisches Provinzkaff hat es Mozarteumsabgänger Siegi Heehrmann verschlagen, wo er als Musikschullehrer für Saiteninstrumente arbeitet. Seine Leidenschaft steckt er dort aber vor allen Dingen in eine andere Kunst, die Kunst, einen perfekten Köder herzustellen. Von Ernstl Thalinger lässt er sich in die Geheimnisse des Fliegenfischens einweihen, wobei er zunächst lernen muss, Fliegen zu binden, die den Fischen als echte Lebewesen erscheinen sollen. Nicht nur in der Dorfwelt sind Siegi und seine Freunde dabei Außenseiter, auch der örtliche Fliegenfischerverein beobachtet ihr Treiben mit feindlicher Gesinnung. Und steht der vorsitzende Obmann Volki nicht Siegis Frau Lena verdächtig nahe? In seinem Debütroman entspinnt Leander Fischer aus dem Fliegenbinden eine ganze Welt, in der Themen wie Kunst und Nachahmung, Natur und Umwelt, Gesellschaft und Politik Österreichs in den 80er Jahren, aber auch die bis in die Gegenwart nachwirkende nationalsozialistische Vergangenheit eine wichtige Rolle spielen. Und dies in einem Stil, der den Leser sofort in seinen Sog zieht. Mittels Rhythmus und Sprachspielen fließen die verschiedenen Ebenen des Textes ineinander, die Sprache ist zugleich überquellend wie ein sprudelnder Gebirgsbach als auch präzise gebunden wie eine der Fliegen - ein außergewöhnlich starkes Debüt voller Sprachspiele und rhythmischer Elemente.

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Leander Fischer

Die Forelle

Roman

Wallstein Verlag

Inhalt

Prolog: Goldkopf

1. Siegi bindet immer wieder viele, viele Fliegen

2. Friedl besetzt das Wasser und Ernstl verhindert das Schlachten

3. Wie Nina diesen Siegi so findet und wie Siegi mit etwas Hilfe die perfekte Goldkopfnymphe bindet

4. Eine pubertierende Teenagerin befindet sich am Flussufer

5. Was die Ritz-D-Nymphe in ihrem Innersten zusammenhält

6. Schuldige werden gefunden

7. Schwarzwichte und Bösefischer werden gebunden

8. Siegi findet den wilden Fleischhacker im zwielichtigen Wald

9. Menschen, die in malerischen Gegenden herumstehen und gegenständliche Malerei bereden

10. Siegi hört eine Radiosendung über Kleinstarbeit am Rasterteil

11. Siegi versucht sich in der ernstllosen Zeit zurechtzufinden

12. Kurti und die Rinder

13. Die Fremden im Dorf

14. Siegi findet sich in der ernstllosen Zeit zurecht

15. Pauli, Kurti, Jochen, Siegi und die Kunst

16. Siegi dröselt seinen Ernstlfaden auf und zwirbelt ihn wieder zusammen

17. Siegi isst mit Frau Thalinger

18. Siegi Heehrmann und die Oberers

19. »Auch ein Polizeirat ist ein Mensch und ist verheirat.« Gerhard Bronner

20. Knoten

21. Siegi holt sich den ultimativen Satansbraten

22. Vier Fliegenfischer ziehen in diesen ihren Krieg

23. Nina findet sich in der ernstllosen Zeit gut zurecht

24. Ein Bindezimmer für sich allein

25. Ernstl und Siegi packeln miteinander

26. Mercedes bringt Siegi die Spinne bei

27. Graf von Kaun und die niedrige Kunst der Ausstellung

28. Siegi bringt dem Grafen die Schlaubergerguldafliege bei

29. Siegi und Archiebald gehen ohne Tschick Ritz-D-Fischen

30. Jean hält Siegi aus

31. Siegi ist ein gefragter Mann

32. Drei Freunde durchstreifen ihrer drei Feinde Revier

33. Obacht, Siegi, picknickende Oberbösewichte zu beobachten

34. Siegi fischt ganz allein mit Charly Fly und Red Tac

35. Siegi sucht und findet Zuflucht nicht nur bei lachenden Haberern

36. Siegi findet sich langsam mit dem Attentat auf sein Auto ab

37. Vier Freunde finden sich zum Umtrunk ein in Harris Stube

38. Siegi versucht den bisher dicksten Fang an den Mann zu bringen

39. Siegi und Archie haben einen Traum

40. Jean boxt Siegi raus

41. In Harris Umtrunkstube warten vier Freunde auf den fünften im Bunde

42. Der Haberer hat sich ausgelacht

Epilog: Zampano-Opas

Dank

Prolog: Goldkopf

»So, pass auf jetzt!«, noch wusste ich nichts über Ernstl, über sein Leben, über seine Ansichten, »setz dich her!«, warum er immer barfuß war, warum seine Hände ständig zitterten, »trink was!«, ob er längst das Delirium tremens oder einfach schon ein tattergreises Alter erreicht hatte. »Gentlemen!«, während Ernstl einschenkte, klackerte der Flaschenhals in solcher Frequenz auf das Glas, dass es fast ein einziger Ton wurde. Kurz trillerte das Geräusch noch im Zimmer, wurde immer leiser, verebbte, Stille. Ernstl knallte die halbvolle Doppelliterflasche auf die Tischplatte, an der wir nebeneinandersaßen, jeder einen randvollen Pokal vor sich, beide den Blick durch das Fenster in den sonnengefluteten Garten gerichtet. Die Farbe des Mittagslichts und des Weins glichen sich. Es war nicht Ernstls erster. »Endlich«, sagte er, als seine Herbergsgeberin Nina draußen an die Grundwasserpumpe trat. Aus dem Hahn schoss sogleich ein glitzernder Strahl in einen Waschzuber. Beim Aufprall spritzten die Tropfen durch die Luft, verwandelten sich in Weißwein und dann zu einem Wirrwarr aus Spektralfarben, fielen auf die Gartenerde, als wäre nichts gewesen. Ernstl nahm einen Schluck, legte einen Köder zwischen uns, flüsterte: »Die Goldkopfnymphe, eines der fängigsten Muster, die wir kennen«, ob Ernstl von sich im Majestätsplural sprach oder die Fliegenfischgemeinschaft meinte oder beides, wusste ich ebenfalls nicht: »Bitte?«, sagte ich. »Bitte fortfahren, oder was?« – »Nein, bitte was, also, was bitte?« – »Ja, was, was bitte? Gold-Kopf-Nymphe! Murmel aus Gold, auf den Haken gefädelt, ist schwer, geht unter, Nymphe, im Gegensatz zur leichten Trockenfliege, die oben schwimmt«, Ernstl hielt währenddessen die Fliege direkt vor meine Augen, wozu er den Hakenbogen zwischen Daumen und Zeigefinger nahm. Seine Hand zitterte so stark, dass ich glaubte, gleich erwache der Köder zum Leben und schwirre durchs Zimmer. Doch dann warf Ernstl ihn wieder auf die Tischplatte, wo er reglos liegen blieb. Ohne dass ich einen Luftzug gespürt, Schritte oder die Türe aufgehen gehört hätte, ging Nina an uns vorbei in das Zimmer nebenan. Ich sagte: »Aber was meinst du mit Muster?« – »Nina, Nina!«, schrie Ernstl durch die Tür. Sogleich erschien sie im Rahmen. »Sie haben uns einen Trottel geschickt, einen völligen Idioten, den geben wir an den Volki ab.« Während Ernstl sein Glas austrank, hob aus einem überdimensionierten Käfig, den Nina unterm Arm trug, ein hohes, vielstimmiges Fiepen an. Es begleitete ihre Antwort, die darunter wie ein Hauchen verklang, dazu ihr Blick, ausdruckslos, nicht gerichtet, in sich gekehrt: »Nimms nicht so schwer!«, womit sie wieder verschwand. Ich wertete das als Zuspruch an mich: »Ist der Köder kaputt? Der hat keinen Widerhaken?« Ernstl trank einen großen Schluck aus der Doppelliterflasche: »Das gehört sich so.« – »Warum?« – »Damit der Fisch leichter entkommt.« – »Ist das nicht widersinnig?« – »Du willst fliegenfischen. Warum?« – »Die Wurftechnik fand ich immer schon toll, so leicht, unbeschwert.« Und genauso sei es, sagte er. Ein Widerhaken sei widersinnig. Der Fisch habe eine faire Chance. Und fingen wir ihn doch, setzten wir ihn zurück. Nur das Erlebnis zähle, nicht das Ergebnis. Eine uralte, quasi humanistische, in England zur Hochkultur perfektionierte Gentlemenbetätigung. Wenn etwas totgeschlagen werde, bloß die Zeit, völlig widerhakenlos, sinnlos, undsoweiter, well, Ernstl deutete mit einem zittrigen, versöhnlichen Schwenken auf die Tischplatte. Mein Blick ging darüber hinaus, durch das Fenster, in den Garten, wo Nina kniete und aus dem Waschzuber den ersten reglosen Katzensäuglingskörper hievte. »Schau nicht so, erschlagen tränkt das Fell mit Blut. Dann sind die Haare für die Katz.« Wieder klackerte das Glas.

»Früher hast du mir wenigstens welche mitgebracht«, als ich noch in dem nahe gelegenen See auf Barsche fischte oder während des Urlaubs in Tiefseen mit lebendigen Ködern auf dreifachen Haken Seeteufel erbeutete, »ab und zu zumindest«, wenn ich welche fing. »Nie bist du da!« – »Er wartet sicher schon.« – »Soll er, bis er alt wird.« – »Ist er. Deswegen ja. Ich muss.« –»Geh bitte!« Wenn ich den Fluss allein hinauffuhr, dachte ich viel an Lena, und erst während meiner Unterweisungen. Sie war eine Goldkopfnymphe, mein Schatz, und ihre Maria, die Jüngste, damals noch nicht geboren, wurde wieder eine. Die Söhne schlugen mir nach, hatten meine Haare und Augen. Sie bekamen meine Abwesenheit nur an den Wochenenden und am Esstisch mit. Das Kartoffelnkochen ließ ich an meinen freien Vormittagen bleiben. Statt gebratener Fleischscheiben lagen Minutenterrinen bereit, sobald Lukas und Johannes nach Hause kamen vom Gymnasium. Meine Arbeit begann, sobald ihre endete. Als Musikschullehrer unterrichtete ich Kinder nach ihrem Unterricht auf den Saiten von Violine, Viola und Gitarre, zeitweise Mandoline, schwer aus der Mode, so gut wie vorbei. Wie der Duft von Hechten und Flundern in unserer Wohnung am Wochenende. Wie es roch, ich wusste es nicht, Lena kochte inzwischen. Ich kam immer später. Oft schlief sie schon. Das Geschirr war bereits kalt, die Küche stets durchgelüftet. Ich zitterte dann am Fenster, stellte auf Kipp, schaute hinaus zum Fluss. Auf der Fensterscheibe spiegelte sich die Kreuzspinne im Eck. Mücken rochen offensichtlich meinen Schweiß, schwärmten in ihr Netz. Äschen, Forellen und Saiblinge, das wusste ich, fressen eben Insekten, und deren detailgetreue Doppelgänger Zeit, dachte ich, überlegte sogar, mich ebenfalls bei Nina einzuquartieren, um die Wege zu verkürzen. Während Ernstl in der Morgendämmerung alle willigen Fische fing, musste ich die Kinder zum Bahnhof chauffieren. Sobald der Zug anrollte, fuhr ich zur Herberge. Meist traf ich ein, als Ernstl gerade zurückkam. Ansonsten wartete ich. Und doch entstand jedes Mal, umso bestürzender, je öfter ich kam, eine seltsame Verwirrung, wer wem den Vortritt über die Schwelle lassen sollte. Wir standen uns dann gegenüber, deuteten gegenseitig mit unseren Handrücken Richtung Tür. »Bitte«, sagte Ernstl, »bitte«, ich, »Herr Heehrmann, nehmen Sie an?« – »Und wie ich annehme, Herr Thalinger«, und ich ging Ernstl hinterher, barfüßige Schritte schmatzten auf den frisch gewischten Eichendielen im Gang. Es klang wie der Nachhall eben gestillten Hungers und das Vorspiel bald wieder unbändigen Appetits.

»Erstens das Köpfchen, die goldene Kugel, durch das Loch auf den Haken fädeln!«, die Öse ganz vorne hielt die durchbohrte Murmel, haargenau und passscharf die Durchmesser, »zweitens den Hakenbogen einspannen!«, der Anblick des Bindestocks auf der Tischplatte überraschte mich, es handelte sich um ein Bleipodest, darauf ein aufrecht stehender, torpedoförmiger Schaft, so lang, breit und hoch wie mein Arm, die Spitze, der Sprengkopf gewissermaßen, war mittig in zwei Hälften geteilt, wie ein Schraubstock funktionierten sie, mit einem Justierrädchen drehte ich die Klemmteile auseinander und zusammen, dass der Haken schwebte vor meiner Brust, »drittens gleich mit dem Faden das Köpfchen fixieren!«, Ernstl dirigierte derart rücksichtslos, dass ich mit dem Binden fast nicht hinterherkam, »viertens jetzt das weiße Katzenfell um den Resthaken wickeln, für den Körper!«, unbefriedigend hässlich gerieten meine ersten Fliegen, ihre Unförmigkeit beschämte mich, »am allerschwierigsten fünftens den Hahnenhalsbalg zur Hand«, die gesperberten Fiebern kitzelten an meinen Fingern, »aus dem Lederfleck eine Hechel reißen«, mit einem Rupfzupfgeräusch, »hinter dem Köpfchen den Nabel der Feder niederbinden«, Hahnenhals an Nymphenkehle, »und den Kiel rundherum schürzen«, der Federschaft lag sodann am Haken an und die Fiebern waren abgespreizt wie eine Halskrause, »das werden die Beinchen. Herrlich, der Hechelkranz!«, er lechzte fiebernd nach dieser Löwenmähne. »Und nun noch. Nina, Nina! Komm!«, mit einer goldenen Nagelschere schnitt Ernstl ihr eine Strähne aus dem Haar, »sechstens, die Flügelchen, exzellent!«, die ich zum Abschluss über das Katzenfell spannte, »siebtens, Schlussknoten!«, schnapp, schnipp, whip finished. Während Ernstl seine zittrigen Hände bewegungslos trank, band ich den halben Vormittag weiter. Niemals gingen Ninas Haare zur Neige. Unerschöpflich war ihr Schopf. Immer besser gelangen die Fliegen.

Ich verfertigte sie ohne Unterlass, fast besessen, außer Rand und Band, eine um die andere, vormittagelang, eingespannt in den Bindestock, ausgespannt nach dem Schlussknoten, stets von Neuem die Gestaltwandelei, bis mir die Hände schwer wurden über der Tischplatte unter Ernstls Anweisungen in der Herbergsküche Ninas. »Erst musst du ein Muster wirklich beherrschen«, ich verstand das, lehrte ich doch meine Musikschüler genauso das Gitarrenspiel, »dann kannst du die Bindeweise variieren«, ich hielt die Kinder dazu an, statt Stücke ständig durchzuspielen, die Melodien zumindest zu Übungszwecken zu zerlegen, in Akkorden zu spielen, Rhythmen zu wechseln, bis sie innigst in den Fingern waren, »wenn die Fliegen nur so aus deinen Händen fliegen, gehen wir fischen«. »Hast du punktiert geübt?«, fragte ich meine Schüler schon streichfähig. »Ja«, sagten sie. »Hast du triolisch geübt?«, fragte ich. »Ja«, die Antwort. »Hast du im Sechsvierteltakt geübt?«, die Frage. »Ja.« – »Und warum kannst du das dann immer noch nicht?«

Nachmittags um eins ließ ich den zehnjährigen Anfängerjungen acht Viertelnoten als vier punktierte Viertel und jeweils anschließende Achtel spielen, sodass die zwei Takte abschließend wieder vollständig waren. Vormittags trank Ernstl ein Achterl nach dem anderen und ließ mich bis elf die Nymphenbeinchen mal wie gehabt mit schwarz-weißer Hahnenhechel binden, mal mit braunen, mal mit schwarzen, den Körper abwechselnd mit weißem Katzenfell, grüner Wolle und aus blauem Flachs, aber nur Ninas Haar, das stets der Flügel war. Das offensichtlich eben pubertierende Mädchen, das sich seit kurzem die Haare mit Tönung und das Gesicht mit Schminke färbte, dass es aussah wie eine gescheckte Katze, ließ ich mittwochs zwölf Viertelnoten triolisch spielen, sodass der im Viervierteltakt geschriebene Marsch wie ein Dreiviertelwalzer klang. Dann fragte mich die Kleine, viel eher zum Tanzen in irgendwelchen Diskotheken als zum Üben aufgelegt, woher die Bogenhaare kämen, und ich sagte für gewöhnlich aus dem Hengstschweif. Als sie, meine langjährigste, fortgeschrittenste und einzige Geigenschülerin, wissen wollte, woraus die Saiten waren und ich Trottel wahrheitsgemäß antwortete, das wäre verchromter Darm, wollte die Bratze nicht mehr spielen und nannte mich Barbar. Ernstl hieß mich hin und wieder, der Goldkopfnymphe zusätzlich einen Rehhaarschwanz anzubinden, mal ließ er es, doch ständig deklamierte er, »aber Vorsicht, Salmoniden beißen zart. Erst bloß, um zu testen. Wie Säuglinge. Die haben mehr Gefühl am Gaumen als in den Händen. Die nehmen statt zu tasten die Dinge in den Mund. Wenn der Schwanz der Fliege zu weit über den Hakenbogen vorsteht und die Forelle sich von hinten nähert, erwischt sie zwar die Schwanzspitze, den Haken jedoch nicht, und wir sind gearscht.« Das pubertierende Mädchen tauchte auch die nächsten drei Mittwoche nicht auf und wollte offenbar nie wieder eine ohnehin bloß von der Musikschule geborgte dreiviertel Übungsgeige anfassen. Weil es so unerhört schade um das nun brachliegende Talent dieses pubertierenden Mädchens war, sah ich am vierten Mittwoch schon die überaus adrette Mutter mit Sonnenbrille, schwarzer Federboa um die champagnercremefarbenen Schultern und Witwenhut über der puderweißen Nase in mein Unterrichtskämmerchen stolzieren und mir ins Gesicht spucken, vor meinem inneren Auge zumindest, woraufhin ich nur sagte, Hahnenfedern, oder, und der Lippenstift, Tran von Moby, nicht wahr, blutleer wäre der. Doch ich blieb allein in meinem Unterrichtszimmer, schloss anschließend die Musikschultüren ab, fuhr zu Ernstl, der mich längst wie selbstverständlich am Windfang in Empfang nahm, sperrte später die Wohnung auf und legte mich nachts neben Lena wieder, die noch wachte. Auf ihren Vorschlag hin rief ich am fünften Mittwochvormittag bei der Pubertierenden zu Hause an. Statt der Eltern ging die Tochter dran. Natürlich schwänzte das Luder die Schule. Und selbstverständlich erzählte ich ihr, sie sei zu gut, um dem Unterricht so lange fernzubleiben, außerdem gelte für diese von der Musikschule zur Verfügung gestellten Leihinstrumente nicht, was ich über Sehnen und Bogenhaare gesagt hatte, das treffe nur auf höchstklassige Konzertviolinen zu, im Falle dieser ihrer Geige handle es sich um Kunststoffimitate. Und, fügte ich noch am Telefon hinzu, sie solle, um das Versäumte nachzuholen, bis zur nächsten Stunde versuchen, die ersten und zweiten drei Viertelnoten triolisch zu spielen, die nächsten zwei Viertelnoten allerdings gerade, undsofort. Wenn es helfe, solle sie Silben zählen, »Ka-me-run, Ka-me-run, Cey-lon«, beispielsweise, oder »E-ben-holz, E-ben-holz, teak-schwarz«, oder »Mis-sou-ri, Mis-sou-ri, Lon-don«. »Streunerin«, sagte Ernstl, »da hilft nur ertränken.«

Wenn wir auf die Wiese gingen, durfte ich seine Fliegenfischstange tragen. »Das Servieren ist schon das grundlegende Erlebnis«, ich führte meinen Arm zurück, »immer in Verlängerung die Rute denken!«, ich verharrte eine Sekunde, solange sich die Schnur hinter meinem Rücken in der Luft streckte, bis ich ein Zucken an der Stange spürte, »Spitze aufgeladen, jawohl, auf eins!«, und meinen Arm vorbewegte wie einen Uhrzeiger, »aus der Schulter werfen wir!«, und wieder zurück, »auf elf, warten, eins!«, und wieder, »Kellner sind wir!«, und, »elf, zwei-und-zwanzig«, wieder, »eins a!«

»Heute haben wir den Volki getroffen am Fluss«, erzählte mir Ernstl, während ich uns chauffierte, »hat uns vollgejammert, vom Sterben der Bachforellen, halten die steigenden Temperaturen, die Kraftwerke und die Klärung nicht aus, brauchen kaltes Wasser, schnelle Strömung, werden impotent wegen der Hormone, vermischen ihr Erbgut, kreuzen sich mit Regenbogenforellen, die vor Jahrzehnten aus den USA eingewandert sind, bald nur noch Hybriden und Bastarde im Wasser. Jetzt rechts rein! Keine reinrassigen Bachforellen mehr. Hat er eh recht. Der alte Haudegen. Aber wirklich. Der schmeißt seinen Vereinskollegen einmal jährlich kreuz und quer mit dem Säbel Narben ins Gesicht. Was für ein Minderwertigkeitskomplexler. Jetzt links rein! Seine Fliegen sehen aus wie der Struwwelpeter. Er macht den Hansschleudererpeppiwurf. Du bist jetzt schon besser. Aussteigen!« Am Schrottplatz angekommen verlangte Ernstl nach einem Radio. »Ein neues oder ein altes Modell?«, fragte die Händlerin. »Ein älteres eher.« – »Aha. Willst du auch einen Empfänger? Heute hat der Volki den letzten gekauft. Vielleicht verkauft er ihn dir.« – »Glauben wir zwar nicht, aber egal. Kann auch ein neueres sein. Hauptsache Kupfer ist drin«, zum Binden verwendete Ernstl wirklich alles. Ich setzte ihn samt erstandenem Radio bei der Herberge ab, fuhr weiter in die Musikschule.

Abends gingen wir zum Fluss. Auf einer Brücke hieß mich Ernstl zu warten. Ruhig war die Wasseroberfläche. Sie spiegelte die grünen Lindenblätter, auf denen wiederum tiefgelbe Reflexe des Sonnenuntergangs spielten. Es roch klar und rein. Plötzlich ein Platschen. Das Schlagen einer Schwanzflosse, ein Fisch, krumm im Flug sein Leib, tauchte wieder ein, »es geht los«, sagte Ernstl, »der Abendsprung!«, griff aus seiner Jackentasche Notizbuch und Stift, die er mir gab, und verschiedenste Fliegen, die er reihenweise auf das Geländer legte, »schreib auf, welche sie nehmen!« Er schnipste sie so schnell hintereinander, »schreib, schreib, verdammt, das währt nicht lang!«, dass ich fast mit dem Notieren nicht hinterherkam, ins Wasser, das voll aufsteigender Sauerstoffblasen brodelte, »die holen sich die unter Wasser schlüpfenden Insekten«, überall zerlegten Wassertropfen das Sonnenlicht in Regenbogengesprenkel. Die Forellen sprangen und tauchten ein, »keine Sorge! Die Haken haben wir abgezwickt«, so viele, so schnell, dass nur Klatschen zu hören war, ein Spektakel, zwanzig Minuten, »vorbei!«, das Schauspiel, tosender als alle Standing Ovations ob aller Abo-Ouvertüren à la Johann Sohn aller Österoperettensaisonen zusammen. »Lass uns essen gehen.«

Beim Wirten setzten wir uns an die Plätze, die am weitesten entfernt waren vom Stammtischeck. Die ersten unserer sogenannten Vereinskollegen rotteten sich dort schon zusammen. Ernstl bestellte eine Flasche Weißwein, Ham & Eggs und Toast Hawaii. Die Bedienung stutzte. Ich widmete mich dem Auswerten des Notizheftes. Als die groben Schweineschnitzel, die hässlichen Humpen aufgetragen wurden, obwohl wir zuerst bestellt hatten, grollte Ernstl, diese Scheißproleten seien nur zum Saufen hier, »wir haben die Zeit nicht.« Trotz des Rückstands schaffte Ernstl den ganzen Liter, während die Stammtischler ihr Bier leerten. »Barfüßiger«, riefen sie, »hält dir der die Stange oder den Speer?«, ich schreckte auf und Ernstl schrie: »Dies ist mein Fähndrich, dies ist meine rechte Hand!«, und als ich vom Tisch hochsah, erblickte ich Ernstls Faust. Er hielt sie dem freudlosen Gelächter entgegen, den hoch- und niedergehenden, eigentlich hängenden Bierbrüsten entgegen, den fetten Daumen entgegen, die Bierdeckel vom Krug hebelten, den auf und ab wogenden Kiefern entgegen, den pusteligen Nasen, den sich plusternden Backen, den belegten Zungen, den aufeinanderschlagenden Zahnreihen, zwischen denen schon die Schnitzelklumpen waren, den schallenden Gurgeln. Wie ein Sturzbach, wie ein Fassanstich Bier schütteten sie uns die Schallwellen entgegen, die auf Ernstl und mich preschten durch die Stube. Wie sonst nur das Poltern zweier gegeneinanderprostender Bierkrüge rollte die grollende Woge daher mit der Gewalt eines Dammbruchs. Tief kam das Brummen erst aus dem Zwerchfell heraus, dann die spitzen, kreischenden Hohnstimmen, wie schäumende, spritzende Gischtzungen, die sich nach uns streckten und in die kalten Eckzähne, Fänge, Lefzen, Masken und Schnauzen einer Schar Schäferhunde verwandelten, die aus der Welle heraushechelten, nach uns lechzend.

Ernstl ballte seine Finger gegen den Eichenholzstammtisch und die Buchentheke, auf der das lediglich aus uns einnebelnden, faulig süß riechenden Zwiebelstücken in Kartoffelsalat und einer Schüssel saftelnden Rotkrauts bestehende Salatbuffet vor sich hin vegetierte. Ernstl schmiss seine Faust noch entschiedener der Walnussanrichte entgegen, ihren nikotingelb angelaufenen Glasscheiben und dem flaschenweise dahinter ruhenden Wacholderbeerschnaps, abgerissen und verkommen, kaum mehr zu entziffern die Etikette, und am allerentschlossensten erhob Ernstl sich und seinen Arm und seine Faust, zitternd und zürnend, gegen die Widersacher, die überall an den Wänden hängenden Präparate. Ausgestopfte kapitale Forellen starrten uns an, gestrandet, vertrocknet aufgelesen, aus noch feuchten Flussuferwiesen, durchstochen von Widerhaken die Kiefer, genagelt auf Schwemmholzplatten mit Gravur, die Art, Datum, oder Stelle des Fangs verschwiegen, einstimmig die Inschriften: Volki. Wie die Schlachtstaccati eines pöbelnden Mobs umringten sie uns. Der beißende Spott streunte um die Tische, unsere Zehen keinen Schritt mehr von den messerscharfen, aber schartigen Reißzähnen. Nicht mal der steigende Pegel schien die Fische wiederzubeleben, nicht mal dieses Rudel blutrünstiger Kreaturen, halb Hunde, halb Hyänen, sie zu ängstigen. Ganz im Gegenteil schwebte Volkis Geist über der Flut und befehligte seine Rotte hohler Schädel, Skelette, gellende Marionetten und geschwätzige Handlanger, Schlafwandler und Opportunisten, befasst mit ihrem Aasfraß, in Bierhumpen gefangen und gedrillt, getauft und eingeschworen.

»Sakrament, verschluck dich nicht!«, flüsterte Ernstl, das Gelächter war versandet. Dann kam unser Essen. Er setzte sich wieder hin, schnitt mir das Starren sowie die Fassungslosigkeit ab, indem er mich hieß, die Notizen weiter mit den gestrigen abzugleichen. Ich tat, was er sagte, während mein Essen auskühlte. So ging es Tag für Tag. An allen Abenden war die Goldkopfnymphe am fängigsten.

Manchmal wies mich Ernstl an, die Hahnenfeder nicht gerade zwischen Kopf und Körper, sondern diagonal, den ganzen Körper entlang um den Haken zu wickeln, so entsteht eine Rippung. Der unter Zug gewundene Federkiel drückt das Katzenfell nieder, oder die Wolle, oder den Flachs, schneidet ein, und ausgleichsmäßig treten zwischen den Hechelfiebern die freien Flächen noch bauschiger hervor. In ein Korsett werde sie ihre Tochter jetzt nähen und zum Ballettunterricht schicken, teilte mir die Mutter der Pubertierenden in einem wutentbrannten Anruf alsbald mit. Ich hielt das für eine recht wirkungslose Drohung wie eine zu lange Schwanzfeder oder ein Lagenwechsel, den es nicht braucht, um den Ton zu greifen, nur dem Schauen des Publikums geschuldet, obwohl es doch hören sollte. Die Tochter jedenfalls spiele zwar wieder, aber was falle diesem System ein, was denke ich mir dabei, als einem Vertreter desselben, sie sagte wirklich desselben, vielversprechende Kinder mit zweitklassigen Instrumenten zu traktieren, und das im Mozart-Beethoven-Haydn-Schubert-Land. Ich sagte ihr, mit der Reihenfolge stimme etwas nicht, und legte auf, musste ich doch schon wieder zu Ernstl, um erstens eine goldene Kugel durch das Loch auf den Haken zu fädeln für das Köpfchen, zweitens den Hakenbogen in den torpedoförmigen und schraubstockmäßig funktionierenden Bindestock einzuspannen, drittens das goldene Köpfchen mit dem Faden zu fixieren, viertens mit dem Faden blauen Flachs niederzubinden, denselben ohne den Faden als langsam entstehenden Körper um den Resthaken zu wickeln, wieder abzuschnüren und überstehenden Flachs abzuschneiden, fünftens eine schwarze Hahnenfeder, die Fiebern in eine Hechelspirale zu Land und zu tanzenden Beinchen im Wasser, den Kiel zu einer Rippung im blauen Flachskörper zu verwandeln, sechstens aus Ninas Haar die Flügelscheide am Rücken der Fliege zu machen und siebtens Rehhaar, das ich zu streicheln liebte, bevor ich eine Brise losschnitt vom Lederfleck, zum Schwänzchen der Goldkopfnymphe zu adeln. Achtens zirkelte ich ihr den Schlussknoten zwischen Körper und Kopf, als legte ich ihr eine Schlinge um den Hals, und wenn es wahr ist, dass Würgen erregt, so vollendete ich diese Fliege mit einem Orgasmus. »Sieh nur, was du getan hast«, und mit dem schnippenden Schrei der Schere, die den Faden final unter Zug mit jenem Sirren abschnitt, zerstreute Ernstl meine Freude wie Staub in den Wind, »du hast Ninas Haar auf den Körper, über die Hahnenfiebern gebunden, sie damit wieder niedergedrückt. Die hättest du vorher auslichten müssen. Jetzt stehen sie wie Schlingen weg! Du hast ein Monster geschaffen, einen Struwwelpeter. Der ist für die Fisch!« Als hieße er Hans, guckte Ernstl zum Plafond. Nina schritt ein: »Das merkt doch kein Fisch.« – »Aber wir«, sagte Ernstl zu ihr, schaute sie an, riss seine Augen auf, blickte zu mir, sagte dann, »bind das nochmal!« – »Spiel das nochmal!«, sagte ich nachmittags lustlos zu dem Achtzehnjährigen, »aber diesmal spiel zu jedem einzelnen Melodieton den passenden Akkord, und zwar in der Lage, dass der Melodieton jeweils der höchste im Akkord bleibt!«, er übte auf sein Abschlusskonzert hin. Er würde es sogar vergeigen, obwohl er, bereits seit er fünf Jahre alt war, bei mir Gitarrenunterricht nahm. Im Werden waren mir die Kinder lieber. Doch jenes pubertierende Mädchen kam nicht wieder in mein Unterrichtszimmer. Auch ans Telefon ging niemand. »Ganz toll, wirklich ganz tolle Idee, Lena, eine weniger.« – »Super, dann kannst du ja noch öfter, und auch beim nächsten Mal einfach zu deinem Ernstl gehen.« – »Das werde ich auch, das war meine beste.« – »Super, er ist ja auch deiner«, sagte sie, schon im Halbschlaf, erst durch mein Eintreten ins Zimmer und mein Schlüpfen unter die Decke des Ehebetts geweckt. Sie war sicher nur traumhappig grantig. »Dann seid ihr alle vereint«, sagte Lena, »eine glückliche Familie, Opa, Papa, Tochter.« – »Lena, es passt eh.«

Im Morgengrauen fischte Ernstl ein, zwei, manchmal auch drei Stunden, taufrisch und unverwunden kämpfte er sich fassadenklettersicher die jenseits des Dorfes gelegenen, verforsteten Böschungen hinab ans Wasser, hie und da an Lianen, Zweige und Büsche fassend, legte er sogleich Finger an seiner Stange Korkgriff und barfüßig Dutzende Meter stromaufwärts zurück, durchs grundgeschotterte Flussbett, mit hochgenadelten, sicherheitsgekrempelten Hosenbeinen, ins hodenkrebskalte Erregungsgewässer hinein, Bisse in den Schenkeln und den Ellen, vorbei an Strömungsschatten stiller Sandbänke, rauschende Kaskadenterrassen entlang und den Katarakt hinauf, rein in die Klamm, zwischen sich verjüngende Geröllwände, kaum ein Quant Lichteinfall, mehrere Mann hoch aufschießend der Stein beiderseits, eingekeilt warf er die Fliegen, fing Fische und bewältigte diese Strecke unverstiegen auf Kies, dirigierte sodann die Köder durch die daliegende Äschenpassage von einsamen Brücken aus, auf deren Geländer er das Licht schon altern sah wie den Himmel, vom althergebrachten Ultramarin zum neugeborenen Babyblau, von Blutopferrot zu heiter bis wolkigem Ausschussentsorgungsorange, so nahm er die letzte Forellenetappe durch den langsam erwachenden, Zierblumenblüten aufschlüsselnden und von Bienensummen umbrummten Kurpark, der sogar den sprudelschreienden Fluss hörbar entspannte, schließlich sichtlich krümmte, sodass Ernstls Gewässer dann doch vorbeiführte, wieder wegnickend und wegknickend, an der Wirtenkreuzung, wo Ernstl gerne innehielt, in den Hocksitz ging, wenn denn da jemand lag.

Der sich herablassende Schatten traf statt des Straßengrabens manches Mal Ernstls Feinde, beispielsweise den Bäckermeister, dem Ernstl sogleich mit der einen Hand die Fransen aus der Stirn schob, um andrer Hand die Haarspitzen schnapp, schnipp etwas nachzubessern, oder Ferdl die drei viertel gerauchte Zigarette aus der klammerreflektierenden Hand zu nehmen und ihm die vergangene Glut ins Gesicht zu reiben, ein schwarzes Kreuz auf die Nasenwurzel zu setzen. Waren weder Haare noch Asche parat, was ab und an vorkam, entfernte Ernstl Ferdl eben den Hemdknopf in der Brusttasche und ließ eine Fliege hineinfallen, freilich mit reichlich angesägter Öse, die Ferdl, sobald er nicht mehr döse, sogleich ans Vorfach binde und beim vorsichtigsten Forellenknabbern verliere. Ernstl selbst führte der Fluss dann am Gasthof vorbei, an der Schonstrecke, am Bahnhof und an des Dorfes letzten zersiedelten Ausläuferhäusern, deren rückseitige Gärten Ernstl kurzerhand betrat, nur durch eine schmale Rehgipswand von den schlafenden Eigentümern getrennt, auch wenn er die Wählscheiben einiger Frühaufsteher schon zum Rasseln brachte und sich Klagen von Hausfriedensverfechtern einfing, während er noch eifrig ein paar letzte Nymphen eintreiben ließ an Stellen, die von andernorts gar nicht anzufischen waren, indes die Anzeigen von Anrufbeantwortern entgegengenommen wurden in der Wachstube, die eher einer Ernüchterungszelle glich, mit Forellen behängt die Aluminiumwände, Geweihe, Prositneutagsfotografien und Verdienstorden, dazwischen der Schreibtisch, dahinter sitzend, Kaffee atmend, Kapuziner draus machend, allmorgendlich angeschottert der Dorfsheriff, dem anspringende Anrufbeantwortung kaum mehr abrang als ein Stirnrunzeln, wann das denn aufhörte, ein Aufstehen dann doch, ein Drehen am Regler, sodass die aufgebrachten Stimmen zwar noch vernehmbar, aber nicht mehr verstehbar waren, leise genug, erträglich für Fredl klangen, zumal Ernstl, das wusste man, schon alle Forellen abgehakt hatte im Wasser, noch nicht mal ins Wasser, dafür war er bekannt, dass er seine willigen Gespielen und besten Freunde an knietiefen, ufernahen Stellen befreite, ohne zu landen, und schon selbst zusah, dass er Land gewann, sich aus dem geenterten Garten schlich, sich vertschüsste die restlichen paar Hundertschritte den Fluss hinauf, sich zu putzen über die Schwelle, um sich zu verziehen ins Zimmer wie hinter Gardinen und unter die Decke jener außerhalb des Dorfes gelegenen Herberge Zum lachenden Haberer, der ich auch schon zustrebte, schleunigst nach dem morgendlichen Lokruf, während Lukas und Johannes von der Elektromotive genau in die andere Richtung gen Horizont gezogen wurden, am Schienenstrang gen Unterland, den Strom entlang ins Oberland, dass ich Ernstl im Flussbett auf Asphaltpiste überholte, nicht ohne das Fenster herunterzulassen und dem Murmeln zu lauschen, das hörbar wurde, schaltete ich bloß hoch, drosselte ich doch die Drehzahl, strengte ich mich nur genug an, das Wasser als Vibrato trullernde und Salti schlagende Operettenaltmutterstimme über der pochenden, kontrapunktierenden Basspassage des Viertaktmotors.

Aus dem Wagen gestiegen schritt ich den Weg durch den Garten ab. Bärlapp und Bärlauch wuchsen bereits wie wild, satt und gesund machend in Wiesengrün, und ein orange gescheckter Kater huschte schnellstmöglich unter der ersten Latte des Zauns hindurch und war weg, verschwunden zwischen den Buchenstämmen außerhalb des Gartens, die jüngeren Brüder der Fassade, auf die ich zumarschierte. Jedes Astloch sah ich an diesem Morgen in dem hellen Holz und hörte fast die säuselnde Säge, die dem Wachstum ein Ende setzte, die fallenden Späne, die heiß werdenden Raspeln, die beinahe schmelzenden Feilen, den Feinschliff und das gemütliche Pfeifen des Meisters, das tumbe Kautabakausspucken des Holzknechts, und ich roch fast den Rauchausstoß, spürte die Lungenflügel der herumlümmelnden Hilfshackler, dann wieder Waldgeruch. Unsäglich klar trug ihn der Föhn heran. Ich blieb vor dem Windfang und den Holzstufen stehen, wandte mich von der Herberge ab und wartete wie so oft auf Ernstl, das Gesicht dem Weg durch den Garten, den auch er gehen würde, zugetan. Die Sonne setzte die jenseitigen Fichtennadeln ins Licht und warf ihren Schatten diesseits des Lattenzauns auf meine Brust. Dazwischen flimmerten gesiebte Sonnenstrahlen, jetzt in der gewöhnlichen und von keinerlei Rot mehr getrübten Farbe, auf meinem flanellenen Hemd. Die abstehenden Fussel leuchteten, zu welchen Fliegen man sie wohl veredeln könnte? Ich nahm den Stoff zwischen die Finger, er griff sich rau und gleichzeitig glatt. »Leg niemals Hand an dein schützend Gewand!«, Ernstls Stimme ließ mich hochschrecken, »Fliegen sind Wegwerfartikel, Hemden nicht.« – »Ich hab dich gar nicht kommen hören.« – »Was glaubst du«, und ging an mir vorbei, die Fliegenfischstange noch hoch erhoben, um den Korkgriff die zitternde Hand. Sie machte die Spitze wankend, als wollte er gerade auswerfen, »warum wir immer barfuß gehen.« – »Ja, warum eigentlich?« – »Wegen der langen Auswanderung nach dem Krieg. Als Südtiroler durften wir uns entscheiden. Entweder blieben wir ansässig. Innerhalb der neuen Grenzen würden wir Italiener. Oder wir gingen nach Österreich. Kontingentsflüchtlinge würden wir dann. Nirgends gehörten wir wirklich hin. Italien hatte gerade rechtzeitig kapituliert. Abgrundtief hassten sie die deutsche Sprache neuerdings. Die nette Nachbarschaft legte uns das Exil nahe. In Graz hatten wir wenigstens entfernte Verwandtschaft. Selbstverständlich spendierte uns der Staat kein Zugticket in die Steiermark. Fünfundvierzig wäre eh niemand freiwillig in einen Waggon gestiegen. Wir waren zu arm für ein Auto. Für Benzin erst recht, versteht sich. Also auch kein Moped. Wir gingen zu Fuß. Die Schuhe überlebten nicht. Es ging auch so. Die ganze Jugend sind wir barfuß gewesen. Und dann haben wir einfach nie angefangen, mit der Mode zu gehen. Außerdem, wer hungert schon und kauft sich Socken? Auf unserer Wanderung passierten wir Höfe. Keinen trockenen Kanten Brot hatten die Bauern für uns übrig. In Graz beäugten uns die Leute missgünstig. Wir lernten schnell, dass in dieser Zeit jeder zusätzliche Mensch ein Fressfeind war, sogar jedes unnütze Tier. Was meinst du, wie oft, barfuß in den rußigen Straßen. Auf den Mülldeponien der alliierten Kasernen. Streunende Katzen und wir. Immer wieder. Im Kampf um die Reste. Ein eh schon abgenagtes Fischskelett. Abschätzige Blicke, für das Tier, für uns, die machten keinen Unterschied, Passanten, genug Geld für Schuhe. Das Stigma wurde zu unserem Markenzeichen. Moralischer Reichtum, du verstehst?« – »Aber zu arm zum Fliegenfischen wart ihr nicht?« – »Seit jeher machen wir das nicht.« – »Sowas lernt man vom Vater oder gar nicht«, sagte ich. Auch mir hatte der Vater das Angeln beigebracht. Ernstl musterte mich, seine Augen blitzten im Frühlingslicht: »Hast du eh recht. Vom Himmelvater. Aber wirklich. Das Hungertuch wurde langsam, aber sicher zum Leichentuch. Hunderte Familien litten drunter. Davon hörte der Bischof. Und dann hörten wir ihn. Über das Radio erteilte er Absolution jedem Mann, der im Wald das Wild schoss. Oder wenn man die Kohlen von den Güterzügen nahm, die unnütz auf Rangierbahnhöfen standen. Schnalzt die Fische aus den Flüssen. Verziehen sei, in oberster, himmlischer Instanz. Doch was wuselte auf Irden herum, oberstes Fußvolk, neue Besatzer, keine Generalabsolution. Frage nicht, wie sie mit den Würmern unter ihren Soldatenstiefeln umsprangen. Vor ihren Augen, in Wilderer, Diebe und Schwarzfischer verwandelten wir uns. Der Fluss lag tief im Wald, weit abseits der Kasernen und Patrouillen, ungefährlicher. Unser Vater schickte uns also nach dem Fisch und ging selbst wegen der Kohlen. Ein Eschenast, biegsam, ein fadenscheiniger Zwirn, so fing das an, der Köder, aus Flicken zusammengetüftelt, ein Käfer voller Knoten und Knubbel. Die Fressfeinde, uneinsichtige Nazibauern von umliegenden Höfen, fett und fett, mit massenhaft Speck schmierten sie die Beamten, Mitläuferscheine für Höfe und Gesindel, Lizenz zum Töten, Fremdlinge wie wir, wen scherts, an schlechten Tagen, die guten, wenn wir hungerten, wenn Franzosen und Amis und Briten in den Auen keine Augen zudrückten. Aber die sicherten ja lieber Kohlen, im Sommer«, seine Hände zitterten noch stärker als sonst.

Die in die unterste Öse der Stange gehakte Fliege wackelte, als wollte sie sich freischlagen, die Flügel mit Luft vollpumpen, spreizen und davonzischen. Das transparente Vorfach band sie aber, hielt sie zurück, straff gespannt, im Sonnenlicht glänzend, noch nass vom Fischen rannen daran die Wassertropfen hinab. Jetzt, in Bewegung versetzt, schleuderte das Vorfach Regenbogenperlen ab und spritzte sie zu allen Seiten wie die vom Tau feuchte Kette eines morgendlich geweckten Wachhundes. Die neongrüne Kunststoffschnur verschwand in der vergoldeten Spule und die Karbonstange wippte wie wild, dahinter die Wipfel der Fichten und Buchen, dahinter die verkarsteten Felswände der Kalkalpen, dahinter die schroffen Grate des Dachsteinmassivs, dahinter erhoben sich im Salzburger Land die zeitlos verfrosteten Tauern, der Großvenediger, von dem man an wolkenlosen Föhntagen am Horizont ein Meer roter Punkte sehen konnte, die aufgespannten Sonnenschirme an der Adriaküste Italiens, und dazwischen Südtirol, die vergletscherten Gipfel, die Gailtaler Alpen, zu ihren Füßen die Täler, durch die Ernstl einst gegangen war, »dann nahm das Wirtschaftswachstum seinen Lauf. Inzwischen können wir uns leisten, die Fische entwischen und wieder freizulassen. Gewissermaßen Reparationszahlungen an die Wildnis, unsere Art, es wiedergutzumachen. Deswegen gehen wir auch so früh los. Wenn wir die Forellen nicht fangen, fangen sie diese geschichtsvergessenen Nichtswisser von Bauerntrottel. Schau sie dir an und ihre Präparate. Volki, Volki, Volki steht drunter. Ein Datum gehört da hin. Aber sie, von der Vergangenheit hinein in die ewige Volkiwart. Aber wir, der letzte Gegenschlag. Fünfundvierzig haben wir die Sauproleten schon in den Fluss gedümpfelt. Untergetunkt, bis ihre Schädel Wasser gegluckert haben statt Bier. Natürlich sind unsere Stangen derweil abgetrieben. Das hat dann die Forellen vertrieben. Wir haben vielleicht dumm aus der Wäsche geschaut. Mit leeren Taschen sind wir nach Haus. Unser Gewand ging zunehmend für neue Köder drauf. Irgendwann blieb nur noch der Lendenschurz. Hat sich niemand mehr umgedreht nach uns. Wir waren das nackte Elend. Die Bauern haben das verbrochen, unsere Stangen mit lachendem Gesicht überm Knie zerbrochen. Das Ergebnis wollten sie nicht sehen. Sie haben es auch schnell vergessen mit Messwein, Wodka und Whiskey. Und wir wie die Kirchenmaus, aus der ein Elefantengedächtnis wächst. Merke dir, wie wir uns merken, was gewesen ist, merken es sich auch die Fische. Keiner fällt zweimal auf denselben Trick rein. Heute hilft ihnen ein Bauernschinken nichts mehr. Da geht keine Maus in die Falle. Da schaut kein Richter weg. Kein Fisch schwimmt deswegen weg von uns. Die Zungen sind feiner geworden. Proletenköder, dieses Elend kennen alle schon. Die Tricks müssen besser, immer ausgefallener werden. Extravaganz, nicht aus Dekadenz, sondern als einziges Rezept, um überhaupt noch zu fangen. Es ist quasi eine Bildungsmaßnahme, die Fische wieder zurückzusetzen. Für uns und für sie. Lernen durch Schmerz. Der Bierblick ist stumpf. Damit hauen sie alles tot. Deswegen müssen wir schauen, dass alle auf uns schauen, weil wir auf sie schauen. In diesem Fluss fangen nur noch wir. Und der Volki, leider. Aber der wird sich auch noch anschauen. Entwicklung in der Köderwicklung. Wir dürfen niemals ruhen. Wir fischen anders, Siegi«, Ernstl war unter dem Windfang der Herberge während dieses Monologs in einem steten sich beschleunigenden Metrum eine Stufe nach der anderen hinaufgestiegen, immer beide Füße nebeneinander setzend, und ich hatte gestaunt, dass die Holzsplitter an seinen Sohlen abknickten, ich keinen darin steckend erblickte, ich hätte sie gesehen, so nah waren wir uns, so hart war er. Er blieb stehen und öffnete die Tür und verkündete: »Bitte«, und schwenkte seinen Handrücken dem Eingang entgegen mit einer Vehemenz, die keinen Widerspruch dulden würde, und es war, als blickte ich jenseits der Holzplanken einer Brücke auf den Fluss im Frühlingsvormittag.

Winternachmittags schmachtete ich in der Musikschule und der Sturm wetterte gegen die Fenster meiner Zelle, häufte Schnee auf den Fensterbänken. Er lag bis zur Querstrebe des Kreuzes schon, worüber in ständigem Vibrato die Scheibe zitterte, dass ich bereits wettete, ob die untere Hälfte vom stetig wachsenden Schneegewicht lawinenartig zu mir hereingepresst oder eher die obere Hälfte von den frostigen Böen zerfetzt und in Scherben zu mir klirrend hereingewichst würde zwischen meine und meines Schülers Schuhsohlen, die im Takt wippten. Ein Allegro assai tippten wir aus den Knöcheln, allerdings alla breve, nur auf die Halben, ansonsten wären uns die Füße abgefallen, nach wenigen Takten sicherlich, nur das Metronom tickte die Viertel, hingestellt auf die innere Fensterbank kontrollierte, es unser sachtes Fersenstampfen, das Hoch und Nieder meines Halbabsatzes, das Auf und Ab seiner Gummisohle, das Bibbern unserer frierenden Oberschenkel, mit dem wir das alla breve aufs Parkett brachten, während der Wind draußen in irgendwelchen Hohlkörpern tanzte und Flocken durch die Luft heulte. Auf der Scheibe spiegelte ich mich, die Kommode gegenüber auch, auf der noch haufenweise Noten lagen, aufgestapelt bis unter die Dachschräge, gelochte, schnellgeheftete Kopien, obenauf das kreisrunde, handflächengroße, von orangefarbenem Kunststoff eingefasste, bernsteinfarbene Stück Kolophonium. Als ich mich so sah, völlig weg von der Musik, hielt ich unser Zucken und Zappeln plötzlich für eine winterliche Zitterpartie. Scheißkalt war es hier drin, weil er sich weigerte, die Heizung weiter aufzudrehen, der Herr Kollege aus dem Untergeschoss, in dessen Klavierzimmer unangebrachterweise der Thermostat angebracht war. Unsachgemäß krass geheizte Zimmer verstimmten den Steinway sicherlich, sagte er immer, gewiss nicht die Kollegenschaft. Und wenn, was machte das schon, er war ja immer noch vom Direktor der Darling und Spion, der jedes Jahr die sogenannten Visionen, Erregungen und Kritzeleien der Eltern auf irgendwelchen Nachfragebogen auswertete, hin und wieder ein bisschen kritisch interpretierte oder Unerfreuliches hinzudichtete.

Da kam ich auch schon aus dem Takt über meinem ganzen Ärger auf dieses Unterlander Kaff, die Schicky-Micky-Mäuschen-Kleinstadt. Mein Oberschenkel zitterte, mein Knöchel erstarrte, mein Halbabsatz verharrte. Entlarvt wurde ich gleich doppelt und dreifach, vom Weitergeigen meines Schülers, vom exakt schlagenden Metronom, von einer mechanisch genau halb so schnell wippenden Turnschuhsohle. Durch den orangefarbenen Nylonsocken sah ich die Sehne arbeiten und den Knöchel vor mich hin rhythmisieren, alla breve wie vorher ausgemacht, allegro assai, wie ausgewiesen in der Partitur, die zwischen mir und meinem Schüler aufgeschlagen am Notenständer lag, der ebenfalls vibrierte, da der Junge zu fest stampfte, ein Auf und Ab der Ferse pro Doppelschlag vom Metronom, indes der Wind wie wild sein Spiel trieb. Schneechaos herrschte nun schon wochenlang, seit der Kleine eingetreten war, die Knöchel geklammert um die kopierten Seiten des Köchelverzeichnisses sechshundertsechsundzwanzig, »Mozarts Requiem«, sagte er, »Sisi«, sagte ich, »jaja, spielen wir im Kirchenorchester, zu Weihnacht«, und ich lachte. »Zweite Geige bin ich«, sagte er, ich lachte abermals, sagte, »erste wirst du sein«, und spielte ihm das Stück vor. Seither kann ich mich keiner Stunde Unterricht ohne Niederschlag entsinnen, ohne dass es schneite.

Die anderen Schüler nahmen sich Kältefrei, während der Kleine, mein Einziger derzeit, mit Ingrimm geigte vor den fallenden Flocken, die selbst aussahen wie das Negativ von Notenköpfen. Es verblieb bloß noch ein schmaler Schlitz Fenster, durch den ich hinaus ins Dezemberschwarz schielte, während darunter, gespiegelt vor den Schneewehen in mein Gesicht, der Aufstrich meines Schülers kam. Er spielte ihn genau wie ich, ein keckes Minimarcato mit Absetzen, starrte derweil wie eine Offenbarung die aufgeschlagene Partitur an. Einen Wimpernschlag verharrte seine Hand, schwebte frei, strich dann ab, nahm alle Töne legato auf einen Bogen, betete brav herunter. Das Metronom auf der Fensterbank verdeckte jetzt seine Knöchel, bis es die Hand mit wildem Schlagen in unerbittlichem Takt wieder nach oben trieb, in diesen mir so lieben Aufstrich. Wieder entfernte sich der mahagonifarbene Bogen von der Saite, ein My nur von Abfedern und Abheben vor dem Fall. Unter dem orangefarbenen Nylonsocken regte sich sein Knöchel, seine Ferse stampfte auf den Boden, schickte den Stoß durchs Parkett in die Füße des filigranen Silbernotenständers hinein, der erbebte und die Partitur bewegte, während die haselnussbraune Pupille eine Zeile nach unten rutschte, die Schulter sich regte, der Oberarm ebenfalls, der Ellenbogen und der Unterarm, daran die Hand, die Finger, Abstrich. Wieder erzeugte das kugelige Metronom das Bild auf der Scheibe, als wäre es des Jungen Hand, schickte dem Bogen den Puls ins Blut und hämmerte den Takt Schlag um Schlag übergelenk den Arm hinauf bis in den Kopf und zu den weit aufgerissenen, rotgeränderten, blau unterlaufenen Augen wieder hinaus, die in die aufgeschlagene Partitur stierten, die Notenköpfe anschauten wie jemand, der nach dem gesehenen Flügelaltar, bepinselt mit Tauben und Engelstrompeten und Jesus und Jungfrau, das geschehene Wunder vergisst. Zu Füßen des Fensterkreuzes glotzte das Metronom wie ein Totenkopf. Er spielte den letzten Aufstrich. Das Kolophonium hockte mitten auf den kopierten Seiten wie ein zwischen Schultern gesackter Schädel. Er strich ab. Der Schnee kleisterte die finalen Millimeter Scheibe. Mein Schüler stand, legte die Geige beiseite, auf die Kommode, nahm von den gestapelten Notenheften das kunststoffummantelte Stück Kolophonium. Mit der bernsteinenen Fläche strich er über das Bogenhaar, von oben herab. Trockenster Staub rieselte grau aufs Parkett. Der Schüler setzte unten ab und oben wieder an. Er ließ die Hand sinken und Partikel aufs Parkett stieben. Seine Finger strichen von der Spitze zum Frosch. Das Kolophonium kroch das Rosshaar runter wie ein Tropfen Harz, der bereits zu trocknen beginnt, eine Baumrinde hinab, bis er ein Insekt erfasst, von Kopf über Thorax bis Abdomen orange ummantelt, erstarrt samt Fühlern und Beinchen und hauchdünnen Hautflügelchen, eingeschlossen die Flügelscheide sowie die brillanten Augen der toten Köcherfliege. Köcheln hörte ich es. Nina hob den Deckel vom Topf. Wasserdampf stieg ihr zu Kopf. Rot wurden ihre Wangen. Ich roch ihren Puls. Die Note erhob sich von ihrem Handgelenk. Aus Parfumalkohol löste sich Duft wie aus Orchestern Klang. Er erfüllte die Herbergsküche. Lenas blonden Schopf umspielten Wolken. Über den Fliegenkopf strich ich einen Tropfen Lack. Das Schlurfen Ernstls, sein Knöchelknacken schlich an mein Ohr, ein Fingerschnipsen im Gehörgang. »Was hast du da getan?« – »Mit einer Violinsaite habe ich gerippt«, ich spannte die Köcherfliegenlarve aus, vernahm sie schon ins Wasser fliegen, spürte sie an meinen Fingern ziehen, gegen die brodelnde Strömung schwimmen, zur Oberfläche kommen, leben. Als die Forelle stieg, biss, fühlte ich meine Zunge zwischen den eigenen Zähnen beben. Du Holzklotz! Verflucht und zugenäht! Was ist denn das? Meiner Seel, das Requiem. Mittendrin im Komponieren hat es da geheißen Wolfgang Ade. Seine Adepten haben es fertig gemacht. Das kann man nicht nach Strich und Beistrich spielen. Du hast jeden Metronomschlag getroffen. Alles nach den Noten. Das ist doch Material. Interpretieren musst du. Und erst die Triolen. Wie sich bei dir drei Achtel aufs Viertel ausgehen. Kein Taschenrechner der Welt hätt genug Nachkommastellen. Bei dir Periodenscheißer geht ja sogar ein US-amerikanischer Supercomputer KO. Selbst der Herr Riemann oder wer auch immer gibt da w. o. So viele Dreien gibts gar nicht, wie dir ins Zeugnis gehören. Und erst die Triller. Immer dasselbe gespielt. Nach Punkt und Faden. Schon mal was gehört von Stuckstücken, von Schmuckierungen und Verzierratur? Wenn alle Zimmer in Wien den gleichen Plafond hätten, im Ohr jedes Strizzis das gleiche Flinserl wär und die Schlagobershaube am Eisbecher immer gleich aussähe, wo kommen wir denn da mit dir Korinthenreiter hin. Beispielsweise die Doppelschläge. Auf eine Viertel, da kommt der Grundton, dann der Ton drüber, dann der Grundton selbst, dann der Ton drunter und wieder der Grundton. Eine Girlande quasi, ein Kranz sozusagen, einen Reigen um den Grundton. Aus Grundton, drunter, Grundton, drüber machst du Erbsenhengst zweiunddreißigstel, und dann wieder den Grundton als Achtel, sodass sich alles ausgeht, voilà, wir haben eine Viertel. Vielleicht hast du einen Plan, und genau deswegen keine Ahnung, nicht den geringsten Schimmer. Du kannst den Doppelschlag verlangsamen, einbremsen und die gestohlene Geschwindigkeit zum Schluss erst, am Grundton wieder, abzwacken. Beschleunigen, geht auch, am Grundton kommst du dann früher wieder an, dann kannst du ihn länger halten, wirklich voll klingen lassen und diese Betonung auskosten, bevor du alsbald nach ausdrucksvollem Bogenstrich, der immer noch andauert, weiterspielst. Schon mal irgendwo im Köchelverzeichnis ein Wiederholungszeichen gefunden. Ebendrum. Ein bisschen Abweichung. Darauf kommt es an, jeden Doppelschlag anders. Wie, das überlegst du dir im Spiel. Nur eine Stütze ist die Partitur; interpunktieren musst du. Für Paragraphenkacker hab ich hier keine Zeit. Das werd ich dir schon beibringen. Hast du ein Glück, dass ich zart besaitet bin. Eine Engelsgeduld hab ich. Aber mit dir i-Tüpferl-Zähler komm ich zum Finis. Das Metronom pochte noch. Der Schüler stockte im Kolophonieren. Meine Hand war erhoben. Ich stand. Aber ich war ja schon abgemahnt seitens der Musikschuldirektion, also ließ ich meine Finger fallen auf die andere Handfläche, dass es schallte. Wie eine Watschen klang das, wenn man vor der Zimmertüre stand. Die Metronomschläge prügelten mich. »Well, pack ma zam, super war das.«

Die Türangeln ächzten zu Hause. Zuallererst suchte ich die Fibel. Dann roch ich gleich das Gas. Das Heft geriet an der blauen Flamme in Brand. Feuerzungen zuckten durch die Luft zum Dunstabzug. Lodernd flog es in die Spüle. Infernalisch flackernd verging das Köcherfliegenverzeichnis und mit ihm und in ihm die sechshundertsechsundzwanzig verkrusteten Muster. Ich lachte. In Schuhen und Mantel, Schnee auf den Schultern, in einer Lache stand ich, schlich ins Bad. Aus dem Abflusssieb fischte ich einen Haarkranz. Lena, Johannes, Lukas, ich wusste es nicht, penultimo. An der Garderobe harrte keine Faser meiner. Die finale Strähne beutelte ich aus dem Kopfpolster. Ich trat rückwärts bis zur Türschwelle, schwenkte den Blick, dachte die eine Betthälfte weg, überlegte, wohin den Bindetisch, an dem ich dann hockte, wie vor einem Schrein, Jahr um Jahr, bis alles Gold verwunden war im blonden Schein der Fliegenbindelampe, die ich umfunktionierte zum Schreibtischlicht.

1  Siegi bindet immer wieder viele, viele Fliegen

»Nun ist es so weit«, mein erster Fischtag stünde kurz bevor, »Muster Nummer zwei«, hatte ich Trottel wirklich gedacht. Ernstl schwang seine tischabgewandte Hand auf die Platte, zwischen den Fingern den Koffergriff eines tragbaren Radios, wie hingezaubert. Beim Wegziehen zitterte Ernstls Hand derart stark, dass sie aus der Geraden geriet und er das nebststehende Weinglas über die Tischkante zu Boden stieß. Es zersprang, und langsam breitete sich eine Weinlatsche in Dutzenden Flüssen zwischen den Dielen aus wie ein Mündungsdelta. Dann zog Ernstl die Teleskopantenne zu voller Länge, und lieber hätte ich die Schäfte einer Fliegenfischstange gesehen. Ernstl justierte die Antenne, indem er sie hin und her bewegte, wie mir schien, Empfang suchend in einem steten Kreissegment zwischen elf und ein Uhr. »Den Sender musst du einstellen«, sagte Ernstl, und ich legte einen Finger an das aus dem Mantel des Geräts hervorstehende, minimal gerillte Rädchen, hakte mit dem Fingernagel in ein Zahnradsegment ein und bewegte die Fingerkuppe nach unten, drehte am Rädchen. »Wie bei der Führerscheinausbildung«, und ich wusste nicht, ob Ernstl jemals Fahrstunden genommen hatte, »erst muss das Handling des Fahrzeugs perfekt sitzen«, ich kannte ihn monologisierend auf dem Beifahrersitz und konnte ihn mir nicht unsicher vor dem Lenkrad neben einem dahinpalavernden Fahrlehrer vorstellen, »dann kann man das Autoradio anschalten, sich etwas zurückgelehnt berieseln lassen«, ob er jemals einen Führerschein gemacht hatte, ob er ihm abgenommen worden war wegen Trunkenheit oder er mich prophylaktisch zu seinen Lieblingsstrecken am Fluss jene weiten Wege fahren ließ, die zu Fuß von der Herberge aus gar nicht zu bewältigen waren, ich wusste es nicht. »Na da schau her.« Aus den Radiolautsprechern drang inzwischen Arik Brauers unverkennbare Stimme, die Interviewfragen stellte und sogleich selbst säuselnd beantwortete: »Wie viele Kraftwerke haben wir am Strom?« – »Du dachtest wohl, wir brauchen das Radio bloß wegen der Kupferspulen, was?«, sagte Ernstl. »Ja, ja, der Löschnak Franzi …«, sang Arik Brauer. »Ein bisschen Demut«, und ich wusste, dass ich mit einem »wie bitte« genauso schlecht fahren würde wie mit einem »was bitte«, also schwenkte ich einfach meinen Handrücken in Ernstls Richtung, der sich zur Decke streckte, seine Brust durchdrückte wie ein Auerhahn balzgefiedert seinen Paarungsruf verkündet, »… und der Sinowatz, und der Wasnawas, alle drei …«, sang Arik Brauer die bekanntesten Namen der amtierenden Bundesregierung, »wie bei einem Schwein, das man vor der Schlachtung anbetet und um Entschuldigung anbettelt«, und Ernstl zog einen filigranen Kreuzschlitzschraubenzieher aus seiner Gesäßtasche, den er vor mich auf den Tisch neben die goldene Nagelschere legte. Sogleich wusste ich, dass mir dieses Instrument in den nächsten Tagen vertrauter werden würde als Geige, Gitarre, Bratsche und Mandoline zusammen, dass ich damit behänder umzugehen lernen würde als mit allen Bindestöcken und Goldköpfen der Welt, und vor allem, dass mich dieses Utensil, falls das überhaupt möglich war, noch weiter, als ich es ohnehin schon war, entfernen würde von der Fliegenfischstange und dem Forellenfluss, »die sagen, die letzten Ecken, sollts mit Zement zudecken«, sang Arik Brauer, und es war, als hätte mich ein Bergquell erfasst, der sich in einen Wasserfall verwandelte, mich die Steilhänge der Alpen hinunterspülte in einen Hochwasser führenden Strom, der mich in eine Staudammluke sog, wo ich feststeckte und aus der ich schließlich wie das Geschoss einer Kanone vom Druck des heranbrandenden und immer höher steigenden Wassers hinausgeschossen wurde, hinweg über alle Alpengipfel hinein ins tiefste Südtirol, woher ich nach einer Bruchlandung eine beschwerliche, barfüßige, arbeitsame und womöglich sogar abenteuerliche Reise auf mich zu nehmen hatte, mich selbst am Schopf ziehend, hinein ins letzte Eck des Salzkammergutes, Haare zwischen meinen Fingern, dass ich dann, vielleicht, endlich, einen selbstgebundenen Köder fischen könnte.

»Die letzten Wochen hast du dich an allen erdenklichen Handgriffen, wir könnten auch sagen Techniken, abgearbeitet, die im Muster der Goldkopfnymphe möglich sind. Also fragen wir dich«, doch ich berappelte mich gerade erst nach meinem Sturz, und Vaterstaat sagte diesseits der Grenze, »geh, denn ich hasse dich«, und jenseits, »komm, doch wir lieben dich nicht. Glaub bloß nicht, dass es hier Happi-Pappi gibt!« – »Wie viele Kraftwerke haben wir am Strom?«, fragte mich Arik Brauer singend und Ernstl streng: »Was ist ein Muster?« Auf beides wusste ich nichts zu antworten, also machte ich mich schweigsam auf den langen Marsch durch das Nichts, durch das wochenlange Und zwischen elf und eins, durch die ewige Zwölf, und Ernstl setzte fort und auseinander: »Ein klar umrissener Bereich im unendlichen Feld der Fliegenbindetechniken ist das Muster. Es definiert, es differenziert, es diskriminiert, ganz im Sinne der lateinischen Wortwurzel, es unterscheidet. Eine Goldkopfnymphe ist eine Goldkopfnymphe und nur sie selbst und nichts davon Verschiedenes und besteht aus nichts anderem als der exakt zu befolgenden Abfolge der anzuwendenden Fliegenbindetechniken, freilich, wie du gelernt hast, mit der Möglichkeit, zu variieren«, die frustrierende und zermürbende Arbeit, ein Motiv in der Musik einzustudieren, »neun, neun haben wir«, raunte Arik Brauer, ich schaute auf die Uhr und war erstaunt, ging aufgestaute, begradigte und unnatürliche Flüsse entlang, betrat auf meiner Wanderung das Naturschutzgebiet Hohe Tauern, barfuß, verletzlich, durch dichtes Geäst, hörte Steinadler rufen, sah Steinböcke klettern und Falter Nektar holen, roch schwarze und rote Waldameisen übermannshohe Berge bauen, die Hohen Tauern, nur um alle diese Arten jenseits der bewahrten Zone nie wieder zu erblicken und zu vergessen, »… aber eigentlich ist das Muster starr. Es schließt aus, und so ist auch jeder Variation, Interpretation und Improvisation das Zaumzeug angelegt. Der Ausritt auf dem Steckenpferd der Freiheit, der Eitelkeit, den Musterzaun zu überspringen, so weit geht er nicht. Freiheit ist nur in Grenzen möglich. In Ketten tanzen hat Nietzsche das genannt«, und ich kam zwischen Kiefernwäldern an Bauernhöfen mit ihren Keuschen und Ställen vorbei, bettelte um Essen und die nettesten Landbesitzer sagten mir, sie hätten nichts, während mir die schadenfrohsten einen Eimer Gülle hinstellten oder mich verhöhnten, indem sie mir einen Platz an ihren Sautrögen anwiesen, nur um ihre Stiere und Schweine wenig später an Wiener Künstler zu verkaufen, die ihnen ein Beil zwischen die Hörner trieben, die Schädel einschlugen und Halsschlagadern öffneten. Bolzen schnalzten, damit Blechmilchkannen randvoll liefen, Serien und Reihen an Bildern entstanden auf den Trottoirs der kopfsteingepflasterten Straßen nahe der Universität, des Ballhofplatzes, des Parlaments, des Heldenplatzes, nahe den Zentren der Macht, Blut gegen die wie Soldaten aufgestellten Staffeleien geschleudert, umringt von kunstgeilem und sensationslüsternem Wiener Kaffeehauspublikum, Tratschweibern und Hintertreppengesindel, ein Skandal für die einen, Avantgarde für die anderen, aber doch ein Magnet, kaum jemandem gleichgültig, immer Publikum dabei, Tierschützer und ehemalige Nazis, die noch einmal den Effekt eines Schlachtschnitts durch die Gurgel sehen wollten, ein Spritzen gegen die Wand, selbst wenn es nur eine Leinwand war. Oder sie beharrten verstockt in neuer Uniform auf dem Untergang des Abendlandes wegen dieser Ferkelei, in der Sau als Schimpfwort immer noch der Jude versteckt, der Fluch über Österreich, und das Schweineblut klatschte auf die Leinwände, wahlweise wurde auch Kot geworfen oder uriniert, »einer Goldkopfnymphe eine Rippung zu verpassen ist eigentlich schon eine Frechheit, ihre Körperfarbe zu variieren zumindest bereits elaboriert, ihr einen Schwanz aufzubinden mit Sicherheit längst manieriert, aber immer noch kein Fauxpas …«, zählte Ernstl auf, »… Jochenstein, Aschach, Abwinden, Ottensheim, Mitterkirchen, Persenbeug liegen an der Donau …«, zählte Arik Brauer auf, und ich schlug mir wieder meinen Weg frei aus den Dachsteintälern hinaus, kletterte über Nacht abgegangene Muren entlang, brachte Katarakte hinter mich und kam an die Ufer des Hallstätter Sees, der die Grenze der salzburgischen Lande zu Oberösterreich markierte, wo auch die Traun entsprang aus Dunkelheit über einem eigentlich bestirnten, aber von Wolken verfinsterten Himmel, »nun, da du in allen Möglichkeiten der Variation firm bist und die Goldkopfnymphe so lange durch alle Spielwiesen der Rekombination gejagt hast, der Quellbereich dieses Musters im endlos großen Teich der Fliegenbindetechniken sozusagen ausgeschöpft ist, um nicht aus der Metapher zu fallen …«, und Ernstl griff nach dem Weinglas am Tisch, das ja längst wie meine Hoffnung, endlich zu fischen, zu Boden lag und dessen Inhalt in eine sich immer weiter ausbreitende Latsche verwandelt war, »… Nußdorf, Freudenau, da steht die lange Lache drin, von Passau bis auf Wien …«, und ich niemand anders als Ernstl war in seiner Jugend, hungrig, ohne Kenntnis, bar jeder Zukunft, mit einem biegsamen Stock bewehrt, »nun ist es an der Zeit, ein zweites Muster zu lernen, ein neues Bündel an Fliegenbindetechniken aus dem unendlichen Meer herauszugreifen und ihm auf den Grund zu gehen, es gründlich von der Goldkopfnymphe zu unterscheiden, denn mit dem neuen Muster kommen nicht nur neue Techniken, sondern auch neue Stoffe ins Spiel, die sich in keiner Weise mit denen überschneiden, die dir von der Goldkopfnymphe her schon geläufig sind. Es gibt einen Grund, warum die Musterlernschritte in der Reihenfolge erfolgen, in der sie erfolgen, es müssen maximal große Lichtkegel in maximal entfernte Bereiche des Feldes geworfen werden, damit die Abschnitte dazwischen dann, am Ende, umso deutlicher zu Tage treten wie scheidende Flüsse, die aus dem Untergrund der Landschaft sprudeln. Das dritte Muster wird dann schon eine Nassfliege sein, eine Arthofer, halbversunken, ein Aufsteiger, etwas völlig anderes, wiewohl zumindest je eine Technik und ein Stoff, die Rippung und die Kupferwicklung, die Kupferrippung sozusagen, sich schon in den beiden vorherigen Mustern finden, der Goldkopfnymphe und der Nymphe des Tages, for today, Ritz D!«, deklamierte Ernstl. »Und dort rinnt sie noch, ein winziges Eckerl, ein klitzekleines Stückchen, das werden wir doch wohl übrig lassen können. Danke!«, schloss Arik Brauer und der Applaus brandete auf. »Gentlemen, bitte!«, sagte Ernstl und flutete zwei Weinpokale. »Cheerioh, Miss Sophie«, sagte er und wir stießen an. Dabei warf Ernstl einen Blick durchs Fenster. Der gescheckte Kater huschte über die ganze Breite der Scheibe durch den Garten, »I will kill that cat«, knurrte er, und mit einer einzigen Bewegung bückte er sich, griff und riss den Stecker des Radios aus der Steckdose, so heftig, dass das Gerät auf der Tischplatte volle Breitseite umstürzte, ein Hund, der sich unterwarf, auf den Rücken drehte, dem Überlegenen die weichen Hautschichten unterhalb des Brustkorbs zum Zerfetzen anbot, hinter denen die Eingeweide schlummern. Auf den Schraubenzieher und auf das Radio, die vier verchromten kreuzschlitzenen Schrauben in den Ecken deutete Ernstl mit seinem Handrücken.

Langsam aber sickerte Blut aus seinen Füßen zwischen die Splitter, in die Dielenritzen, bildete glitzernd das Muster einer Fahne und verwandelte weißen Wein in Rosé, »Monsieur, silvu ples, Ritz D!« Ich roch seine Fahne, und die beiden Fahnen stimmten darin überein, dass sie jemand vor sich hertrug und es allen Umstehenden unangenehm ist. »Warum Ritz D?«, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Na ja, die hat Charles Ritz entwickelt, ein begeisterter Fliegenfischer, wir hatten noch die Freude.« – »Ja, aber warum D?« – »Na, weil Ritz A, Ritz B und Ritz C scheiße waren. Auch die Muster haben ihre Geschichte, müssen eingeübt, an Flüssen ausprobiert, im Zweifelsfall verworfen und modifiziert werden. Es hat den guten Mann Jahre gekostet, Jahre, die du nun in wenigen Wochen in dich aufsaugen wirst«, und irgendwie beschwichtigte mich diese Antwort, vielleicht nur, da mich der lange Marsch in meiner Phantasie schon mundtot gemacht hatte. »Eine Frage noch, Ernstl!«, dazu vermochte ich mich noch aufzuraffen. »Wir hören dich gar nicht schrauben.« – »Sind wir eigentlich Umweltschützer?« – »Mit Sicherheit«, er zog sich einen Glassplitter aus der Ferse und schnippte ihn aus dem Fenster in den Garten hinaus, wo Nina einen faustgroßen Stein nach dem streunenden Kater warf. »Ich meine, sind wir überhaupt auf die Fische bedacht?«, fragte ich und meinte eigentlich vielmehr, ob es sich bei diesem ganzen Gehabe nur um die Marotten, die sich selbst übertreffenden Wunderlichkeiten, die zur Schmierenkomödie verwandelte Tragödie eines alten Mannes handelte. Impotenz, dachte ich, ein Fliegenfischer, der nicht Hand anlegte an Fische, wenn das nicht die Definition von Impotenz war. »Worauf sollten wir denn sonst bedacht sein, wenn nicht auf die Fische?« Und ich fragte ihn, wann wir uns dann endlich den Fischen zuwenden würden, und Ernstls Monolog begann. Einbildung sei eben auch eine Bildung und was ich mir denn einbilde, jetzt schon ans Wasser zu wollen. Was sein vorletzter Schüler, der Fredl, der Herr Polizistentrottel, dieser Bierdümpel, wohl geantwortet habe auf die Frage, warum er Fliegenfischen lernen wolle. Blinkern, Spinnfischen, Reusenlegen, Hochseeangeln, Netzeschleppen, Aalrutenfangen, das könnte er alles schon, wie schwer wäre da schon Fliegenfischen. Und Ernstl hätte ihn die Holzstufen der Herberge hinabgeprügelt. Dann erzählte Ernstl, dass diese Katzenbastarde auch nur deshalb ertränkt werden müssten, weil es sie ohne den Menschen, der die Katze zum Haustier gemacht hätte, gar nicht gäbe. Und sonst würden sie bald der Wildnis ungebührenderweise anheimgegeben, darin herumstreunen, und Streuner zeugen immer nur neue Streuner, und der größte aller heimatlosen, zukunftslosen und herkunftslosen Streuner ist sowieso der Mensch, und im Akt des Wiederfreilassens des gefangenen Fisches mimten wir eine Welt ohne Menschen, aber mit Menschen, viel ausgefeilter als das tumbe Menschenaussperren oder Tiereeinsperren des Naturschutzgebietes, im Angesicht der Forelle und bei der begnadigenden Berührung macht sich der Mensch selbst nichtig, hinterlässt keine Spur, wie Luther meint, im Wissen um die morgige Apokalypse würde er heute noch einen Baum pflanzen, und ich dachte, Ernstl hatte einen Traum. Wir gingen mit der Verleugnung und der Verdrängung produktiv um und so ist das Fliegenfischen stets nur auf die Fische bezogen und auf uns, und diese Verbindung, schloss Ernstl, sei die Fliege, und driftete dann weiter ab, wie ein Boot, das eigentlich schon am Steg festgemacht war, dessen Knoten sich aber löste oder dessen Seil von Verwitterung und Zersetzung malträtiert einfach zerfiel. Ernstl redete irgendetwas weiter, und wenn ich mir irgendetwas davon einprägte, so war es weniger, was er sagte, sondern der Ton, den er im Monologisieren anstieß, das sanfte Dahinschippern eines Kiels, das schwache Schwappen der Wellen, das Sich-wieder-Schließen der Flusswassermassen, auf dem dieses Totenboot hinübergleitet in die Unterwelt, das dem Abtritt vorauseilende und das Absterben geleitende und die Totenglocke läutende, die Tür hinter ihm zuziehende letzte Gebrabbel eines sturmalten Mannes, unter dem ein Fluss murmelt: »Gedenke stets der Ratte!«, Bisamrattenfell bekäme ich wohl noch zum Fliegenbinden, ehe ich zum Fliegenfischen käme. »Und jetzt los! Liebe ihren Schwanz!«, draußen riss Nina handschuhlos eine violett blühende Distel aus. Ich schraubte das Radio auf, während Ernstl die schwarze Kunststoffschatulle öffnete. Wie zwei der Länge nach geöffnete Kadaver schauten mich die Innereien der beiden Hohlkörper an. Den Kupferdraht zu entfernen wies er an, und ich tat, was er mich hieß, wie immer. »Macht, dass ihr rauskommt!«, der Sauerei auf dem Boden wegen, wie ich annahm, schrie Nina. »Was regst du dich …«, brauste Ernstl auf. Aber bevor seine Böe Sturmstärke erreichte, kreischte Nina uns wirbelnder Hände zum Windfang hinaus, woraufhin Ernstl um die Herberge ging, wahrscheinlich beim Fenster einstieg und mit seinen drei Schäften wieder erschien, zu meinem Auto hin, ich hinterher, »sonst haben wir eh alles«, und schmiss seine zerlegte Stange in den Kofferraum, taxierte den Himmel, Schleierwolken und Flaute, »sonst brauchen wir eh nichts«, ich ließ den Motor an.

2  Friedl besetzt das Wasser und Ernstl verhindert das Schlachten