Die Freischwimmerin - Preethi Nair - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Freischwimmerin E-Book

Preethi Nair

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Roman wie ein Sari: sinnlich, farbenfroh und vielschichtig »Die Freischwimmerin« ist ein ebensogefühlvoller wie spitzzüngig-witziger Roman über Ehe, Familie und den Mut, dein Leben in die eigenen Hände zu nehmen.   Wie die Lagen eines Saris breitet die 59-jährige Bhanu ihr Leben vor uns aus und erzählt vom viel zu frühen Tod ihrer Mutter, dem Verschwinden ihres Vaters und ihrer Kindheit bei Onkel, Tante und Großmutter in einer indischen Gemeinde in Tansania. Dort entdeckt sie nicht nur ihre Liebe zur Poesie, sondern auch zu Deek. Doch die beiden werden getrennt, als Bhanus Familie nach England übersiedeln muss. Schließlich hört sie, dass Deek geheiratet hat, und willigt in die Ehe mit Hiten ein. Bhanu empfindet viel für ihren Mann und liebt ihre beiden wundervollen Kinder – aber führt sie wirklich das Leben, das richtig für sie ist?   Die britisch-indische Autorin Preethi Nair lässt Bhanu ihre Geschichte mit einer gehörigen Portion Selbstironie erzählen. Einfühlsam und humorvoll zugleich widmet ihr Roman sich den großen Lebensthemen vieler Frauen: Liebe und Ehe, Mutterschaft und die Sehnsucht nach einem Leben, das sich richtig anfühlt.   Entdecken Sie auch Preethi Nairs Mutter-Tochter-Roman »Koriandergrün und Safranrot« über die Magie des Kochens und die heilende Kraft köstlicher Speisen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 385

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Preethi Nair

DieFreischwimmerin

Roman

Aus dem Englischenvon Karin Dufner

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Von Sehnsucht, Familie und der Freiheit, du selbst zu sein ...

Wie die Lagen eines Saris breitet die 59-jährige Bhanu ihr Leben vor uns aus und erzählt vom viel zu frühen Tod ihrer Mutter, dem Verschwinden ihres Vaters und ihrer Kindheit bei Onkel, Tante und Großmutter in einer indischen Gemeinde in Tansania. Dort entdeckt sie nicht nur ihre Liebe zur Poesie, sondern auch zu Deek. Doch die beiden werden getrennt, als Bhanus Familie nach England übersiedeln muss. Schließlich hört sie von Deeks Hochzeit und willigt in die Ehe mit Hiten ein. Bhanu empfindet viel für ihren Mann und liebt ihre beiden wundervollen Kinder – aber führt sie wirklich das Leben, das richtig für sie ist?

Einfühlsam, sinnlich und klug: Preethi Nair erzählt von der Suche nach einem Leben, das sich richtig anfühlt, und der Befreiung aus alten Mustern.

Inhaltsübersicht

BAHN EINS

BAHN ZWEI

BAHN DREI

BAHN VIER

BAHN FÜNF

Liebe Leserin, finde den Mut, der Ausweglosigkeit zu trotzen und aufzublühen.

Der Sari für meinen vierzigsten Hochzeitstag wurde während einer unserer kürzlichen Reisen in Mumbai gekauft. Obwohl der Ladenbesitzer Stein und Bein schwor, es seien der Schweiß von zwanzig Frauen und über einen Monat Handarbeit in diesen Stoff geflossen, nahm ich ihm das nicht ganz ab. Inzwischen wittere ich eine Lüge meilenweit. Insbesondere dann, wenn sie von einem Mann mit einem dicken Augenbrauenbalken kommt, denn die durch mangelnde Wahrhaftigkeit erzeugte Anspannung staut sich zumeist unmittelbar darüber.

»An Ihrem vierzigsten Hochzeitstag müssen Sie sich etwas ganz Besonderes gönnen, Madam. Die Farbe steht Ihnen ausgezeichnet«, verkündete er und drapierte einen weiteren Sari auf mir. »Fühlen Sie: Seide aus Benares, nur das Allerbeste für Ihren hohen Festtag.«

Es war ein wunderschön bestickter, himmelblauer Sari. Dennoch schüttelte ich den Kopf.

»Zehn Frauen haben ihn von Hand bestickt. Schauen Sie.« Geschickt entfaltete er den Sari-Zipfel, sodass eine Kolonne kunstvoll gearbeiteter Elefanten in Sicht kam.

»Kein Brokat bitte. Und auch kein Blau.«

»Aber die Farbe passt so gut zu Ihrem Teint, Madam.«

An diesem Punkt ist eine Erklärung angebracht: Nach den Maßstäben der aufsteigend sortierten indischen Hautfarbentafel, ein lebenswichtiges Kriterium in der Themenwelt der Eheanbahnung, würde man meinen Teint als »weizenfarben« bezeichnen. Dieser Begriff umfasst sämtliche Personen, die nicht unter »hellhäutig« eingruppiert werden können, steht jedoch für eine höhere Qualitätsklasse als »dunkel«. Ein weiterer Hinweis an alle, denen das Konzept einer arrangierten Ehe fremd ist: In Indien wird die Tragfähigkeit einer potenziellen Verbindung anhand einer Farbskala ermittelt. Sie müssen sich das wie die Dulux-Farbpalette vorstellen – die Wohlhabenderen unter Ihnen, wie meine Tochter zum Beispiel, können sich ja an der Skala von Farrow and Ball orientieren. Je heller der Hautton, desto besser die Heiratschancen. »Hell« bringt sogar mehr Punkte ein als ein Hochschulstudium. Wenn in den Biodaten (sprich, dem Lebenslauf der zu verheiratenden Person) »dunkel, aber Akademikerin« steht, kann man sicher sein, dass die Bedauernswerte ganz unten im Stapel landet.

Doch obwohl ich eine »weizenfarbene« Haut habe, wäre ich auf dem traditionellen Heiratsmarkt wohl ebenso in diesem Stapel versauert oder gleich als Ladenhüter geendet wie ein Sack abgelaufenes Chapati-Mehl, denn familiärer Hintergrund und gesellschaftliche Stellung spielen bei der Partnersuche eine nicht minder tragende Rolle. Ein gefälliges Horoskop gehört selbstverständlich auch dazu, eine weitere Hürde, an der ich wohl gescheitert wäre. Ich leide nämlich am sogenannten Marsdefekt, dessen nahezu zwangsläufige Folgen der frühe Tod des Ehemannes und der Untergang der gesamten Familie sind. Allerdings habe ich mich am System »arrangierte Hochzeit« vorbeigemogelt und bin stattdessen im kalten, klammen Büro eines Standesamts eine hastige »Liebesehe« eingegangen.

»Nein, dieser Sari nicht«, beharrte ich.

Hastig griff der Verkäufer nach dem nächsten. »Ein prachtvolles Grün, Madam, gegen Unfruchtbarkeit.«

»Sehe ich etwa aus, als wolle ich in meinem Alter noch einmal schwanger werden?«

Ich bin neunundfünfzig. Ich sehe aus wie neunundfünfzig. Ich bin keine vom Zahn der Zeit unbenagte Promi-Tussi, die gerade Zwillinge erwartet.

Mein Mann lachte. Ich lachte ebenfalls und grinste ihn an. Gerade wollte ich noch einen witzigen Spruch vom Stapel lassen, als der Verkäufer in olympiaverdächtiger Geschwindigkeit zur Glasvitrine und wieder zurück sprintete.

»Das ist genau der Richtige für Sie«, verkündete er, ein Keuchen unterdrückend, und streckte mir den Sari hin.

Ich wusste auf Anhieb, dass er ins Schwarze getroffen hatte. »Das, was du suchst, sucht dich ebenfalls«, lautet ein Aphorismus des Dichters Rumi. Und als ich diesen Sari sah, erkannten wir einander sofort.

»Georgette«, erklärte der Verkäufer und legte ihn mir um. »Für Sie und nur für Sie allein geschaffen von den Händen von zwanzig Frauen.« Gekonnt entrollte er den Stoff. »Schauen Sie – wie die aufgehende Sonne. Sie sind eine aufgehende Sonne, Madam.«

Unter gewöhnlichen Umständen hätte mir die Sache mit der aufgehenden Sonne eine lästerliche Bemerkung entlockt, aber der Sari war einfach atemberaubend. Er war mit Pailletten aus Kristall besetzt, in denen sich das Licht fing. Doch noch schöner war die Erinnerung, die diese aufgehende Sonne für einen Moment in mir wachrief.

Meine Großmutter und ich saßen auf dem roten Fliesenboden in ihrem Schlafzimmer, wo sie vorsichtig ihren Hochzeitssari auspackte, um ihn mir zu zeigen. Es war ihr zweiter Hochzeitssari, denn sie war Witwe gewesen und hätte sich deshalb eigentlich nicht wiederverheiraten dürfen. Aber sie pfiff auf die Konventionen und heiratete trotzdem.

»Ich hab mich aus Trotz für Rot entschieden, weil die Sonne immer wieder aufgeht. Immer, mein Kind, ganz gleich, wie dunkel die Nächte auch sein mögen. Vergiss das nie.«

Kurz vor ihrem Tod schenkte sie mir diesen Hochzeitssari und bat mich, ihn bei meiner eigenen Hochzeit zu tragen. Damals dachte ich noch, dass das der Tag sein würde, an dem ich Deepak, meine erste Liebe, heiratete. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Nun, eigentlich war es nicht das Schicksal, sondern meine Schwester. Andere Menschen haben leider die Macht, dein Leben auf den Kopf zu stellen, wenn du es zulässt. Also wurde der rote Hochzeitssari ordentlich weggepackt und diente später meiner Tochter als dekoratives Tischtuch anlässlich der Feier ihres einundzwanzigsten Geburtstags.

Ja, dieser orangefarbene »Sonnenaufgangssari« war eindeutig der Richtige. Ich griff mit den Händen in den Stoff und schnupperte daran. Fast rechnete ich damit, dass er nach meiner Großmutter riechen würde, doch er roch nur muffig, als hätte er zu lange in einem Schrank gelegen. Er roch, als wollte er, dass man ihn nach Harrow on the Hill brachte und ihm neues Leben einhauchte.

Der Verkäufer zog eine Seite seiner pelzigen Augenbraue hoch und wandte den Kopf geschmeidig in Richtung meines Mannes Hiten.

»Dieser Sari passt Ihrer Frau wie eine zweite Haut, Sir, und bei einem Anlass wie diesem sollte Geld keine Rolle spielen.«

Noch ehe ich Gelegenheit zu einer Antwort hatte, zückte Hiten die Brieftasche. Schnell wie der Blitz schnappte sich der Verkäufer das Geld aus seiner Hand. »Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen noch weitere gemeinsame vierzig Jahre, Sir.«

Dann wäre ich ja fast hundert. Ich will aber nicht hundert werden. Und ich will nicht, dass sich diese Falten noch tiefer in mein Gesicht eingraben. Meine linke Gesichtshälfte ist bereits schief wie nach einem Schlaganfall. Nein, ich hatte keinen. Allerdings haben die vielen mit einem leicht verkniffenen Lächeln verbrachten Jahre ihren Tribut gefordert. Laut meiner Freundin Pushpa liegt es daran, dass ich hauptsächlich links kaue. Sie hat mir sogar einen Link zu einem Video über Gesichtsyoga auf YouTube geschickt, damit ich etwas dagegen unternehme. Ich habe den Link noch nicht einmal geöffnet. Pushpa reibt sich außerdem das Gesicht mit Crème de Mer ein. Die kostet etwa zweihundert Pfund pro Tiegel, eine ziemliche Geldverschwendung, wenn man sich Pushpas Gesicht ansieht. Guter alter Kurkuma wirkt genauso. Aber selbst der wird inzwischen zu winzigen Portiönchen verpackt und ist ein Vermögen wert. Diese Vertriebsleute finden einfach immer einen Weg, ihren Mitmenschen in die Tasche zu greifen. Allerdings brauche ich mir ums Altern keine allzu großen Sorgen zu machen. In meiner Familie wird niemand sehr alt. Mit fünfundsechzig kriegen alle ihr One-Way-Ticket ins Jenseits.

In Hitens Familie sieht es anders aus. Meine Schwiegermutter ist achtzig, und nichts weist darauf hin, dass sie sich so bald im Transitbereich einfinden könnte. Ich will wirklich nicht hundert werden. Gebt mir einfach noch zehn oder vielleicht fünfzehn schöne Jahre.

Langsam legte ich meinen Sonnenaufgangssari an, um mich für die »Überraschungsparty« zu Ehren meines vierzigsten Hochzeitstags und der Bekräftigung meines Eheversprechens in Schale zu werfen. Der Sari war wirklich eine Pracht – nur, dass ich mich alles andere als prächtig fühlte. Wieder starrte ich in den Spiegel, ohne die Frau zu erkennen, die meinen Blick erwiderte. Ich sah eher aus wie ein Sonnenuntergang. War mein Dutt möglicherweise zu groß und wirkte deshalb lächerlich? Gerade wollte ich ihn lösen, als Hiten ins Schlafzimmer marschiert kam und mir eine Diamanthalskette überreichte. Sie war nicht aus einem seiner eigenen Juwelierläden, sondern von Tiffany.

»Du bist wunderschön, Bhanu. Noch immer wunderschön.«

Nein, das stimmt nicht. Ich sehe aus wie eine alternde Tunte, hätte ich am liebsten protestiert. Außerdem … bin ich über die Hochzeitszeremonie und die Party im Bilde. Können wir es nicht einfach lassen? Ich glaube, das stehe ich nicht durch.

Stattdessen lächelte ich. »Ist die wirklich für mich?«

»Für wen denn sonst?«, erwiderte er und öffnete routiniert die Schließe. Nachdem er mir die Kette umgelegt hatte, standen wir vor dem Spiegel.

»Sie ist wunderschön. Danke«, sagte ich und berührte seine Hand. Die Kette war tatsächlich ein Gedicht.

»Wie du«, beharrte er. »Du bist noch immer eine heiße Braut.«

»Und das nicht nur wegen der Hitzewallungen«, meinte ich in dem Versuch, die Stimmung aufzulockern.

Hiten lachte laut. Gerne hätte ich noch den Satz »Und findest du nicht auch, dass die Kette von meinem dicken Hintern ablenkt?« hinterhergeschickt. Aber er hätte den Zusammenhang nicht verstanden, und der Scherz wäre ins Leere gelaufen. Ich kenne die Grenzen meines Mannes.

»Vierzig Jahre! Weißt du noch, damals? Und jetzt schau uns an. Nicht schlecht, oder, Bhanu?« Er lachte noch immer.

Damals. 1978 auf der Party zu Pushpas einundzwanzigstem Geburtstag. Sie hatte einige ihrer Freunde zum Bowling eingeladen. Ich kam zu spät und trug einen orangefarben und grün geblümten Minirock. Da ich mir außerdem die Haare abgeschnitten hatte, drehten sich alle nach mir um und starrten. Einige der Mädchen schnappten nach Luft. Stolz stellte mich Pushpa als »die asiatische Twiggy. Leute, das ist Bhanu. Meine Freundin aus dem College« vor.

Ich lächelte verlegen.

Einige ihrer männlichen Freunde scharten sich um mich, um mir eine Bowlingkugel zu reichen und mir ihre Technik vorzuführen. Eines der Mädchen, Manju, bot mir netterweise den langen Schal ihres Salwar Kameez an, damit ich ihn mir über den Rock wickeln konnte.

Ich spürte seine Anwesenheit. Er beobachtete mich aus der Entfernung. Und dann sah ich ihn aus dem Augenwinkel. Mit seinem pechschwarzen Haar und dem frisch gestärkten weißen Kragen – geformt wie die Flügel einer Concorde – war er John Travolta wie aus dem Gesicht geschnitten. Eindeutig ein Mann von Welt. Er stand auf, rollte die Kugel, warf alle Kegel um und blickte mich an.

»Drei Treffer in Folge bezeichnet man als ›Turkey‹«, verkündete er.

Ohne auf ihn zu achten, nahm ich mir eine kleinere Kugel. Mir war bewusst, dass seine Augen auf mir ruhten. Da ich mich in meinen Klamotten nicht tief bücken konnte, traf ich keinen einzigen Kegel.

Selbstbewusst marschierte er an mir vorbei und räumte erneut ab.

»Ich stehe zu meinem Wort. Wenn ich also sage, dass ich dich heiraten werde, werde ich dich heiraten.«

»Greased Lightning« setzte ein, und er fing an mitzusingen. Ihm war es egal, was die anderen dachten, und als die Textstelle mit der »Power« kam, die angeblich von mir ausging, vollführte er wippende Hüftbewegungen in meine Richtung.

»Los, Bhanu, tu etwas«, feuerte Pushpa mich an.

Ich hatte keine Ahnung, ob sie von mir erwartete, dass ich die Rolle von Olivia Newton-John sang. Jedenfalls hielt ich es für an der Zeit, mich zu verabschieden.

Ich holte meine Jacke und ging die Schuhe wechseln. Er folgte mir. Nachdem er sich für seine seltsamen Bewegungen entschuldigt hatte, wies er auf die Lücke zwischen uns. »Du musst zugeben, dass es da knistert«, meinte er.

Ich zog schweigend weiter meine Schuhe an.

»Darf ich dich wenigstens nach Hause bringen? Es ist spät.«

»Nein danke.« Ich kramte meinen Schlüsselbund aus der Handtasche. Ich hatte nicht vor, ihn damit anzugreifen. Mit den Schlüsseln in der Hand fühlte ich mich einfach besser vorbereitet und sicherer, wenn ich allein unterwegs war.

»Ich begleite dich zum Bahnhof.« Er ließ einfach nicht locker.

Da mir gefiel, dass er das Wort »begleiten« benutzte, nickte ich.

»Ich hab’s gewusst, ich hab diesen Blick gesehen. Also besteht noch Hoffnung!«, rief er aufgeregt aus.

»Da war kein Blick.«

»Klar war da einer.« Er lächelte.

Hiten haben die Jahre weniger anhaben können als dem echten John Travolta, und das sogar ohne Schönheitsoperationen. Er ist eben von Natur aus attraktiv: grau meliertes Haar und noch immer ein spitzbübisches Funkeln in den Augen. Er und meine Tochter Anita haben die Hindu-Überraschungs-Hochzeitszeremonie und die Party im The Grove in Herfordshire organisiert. Obwohl wir offiziell nie eine Hindu-Hochzeit hatten. Deshalb handelt es sich genau genommen nicht um eine Bekräftigung unseres Eheversprechens, sondern um unsere Hindu-Hochzeit an sich. Das The Grove war ein Hochzeitslokal, das ich eigentlich für Anita entdeckt hatte. Doch da sie nicht dort geheiratet hat, habe ich es mir für die Hochzeit meines Sohnes vorgemerkt.

Obwohl Anita »hell« ist, studiert hat und als Investmentbankerin arbeitet, war sie im traditionellen Eheanbahnungszirkus nicht sehr erfolgreich. Nicht, dass da jemand etwas missversteht: Es liegt nicht daran, dass ich mir keine Mühe gegeben hätte. Ich arrangierte jede Woche Dates für sie wie eine Reinkarnation von Cilla Black. Die Heiratswilligen standen Schlange. Aber Anita schickte sie samt und sonders in die Wüste und heiratete Hugh, einen Weißen. Uneingeweihte könnten jetzt Jackpot! denken. »Weiß« ist auf der Farbskala doch noch besser als »hell«. Aber weit gefehlt. Einen weißen Angelsachsen (oder eine Angelsächsin) zu ehelichen ist für viele Mitglieder der indischen Gemeinde eine noch größere Sünde, als einen dunkelhäutigen Partner zu erwählen.

Jedenfalls habe ich das The Grove gegenüber Pushpa erwähnt und hinzugefügt, dass ich dort gern die Hochzeit meines Sohnes Hari mit der wundervollen Sarah (ebenfalls weiß) veranstalten würde. Und dann, man sehe und staune, hat Pushpa im letzten Sommer die Hochzeit ihres Sohnes dort ausgerichtet. Es war eine arrangierte Ehe in dem Sinne, dass Pushpa die beiden durch das Netzwerk unserer Gemeinde zusammengebracht hat. Dieses besteht aus indischen Frauen mit flinken Fingern, die innerhalb eines Sekundenbruchteils nach links oder nach rechts wischen und sich die Biodaten jedes unserer Landsleute ins Gedächtnis rufen können, einschließlich sämtlicher Marotten, und zwar schneller, als das jemals mithilfe künstlicher Intelligenz möglich wäre. Es ärgert mich, dass Pushpa mir nichts davon erzählt hat, sodass ich es erst durch die Einladung erfuhr.

»Was spielt das für eine Rolle, Bhanu?«, fragte sie mich. »Dein Hari ist so tiefenentspannt, der heiratet sicher frühestens in fünf Jahren. Außerdem regeln Engländer die Dinge lieber selbst und wollen nicht, dass wir uns einmischen. Das hast du ja bei Anita gemerkt.«

Ich verriet ihr nicht, dass Sarah sich eine Hindu-Zeremonie gewünscht hatte. Man muss ja nicht alles gleich an die große Glocke hängen.

Man hätte meinen können, dass es Pushpas eigene Hochzeit war. Als es Zeit zum Fotografieren wurde, hastete sie hinter dem Fotografen und dem glücklichen Paar her. Später gesellten sich Anita und unsere Enkelin Leyla zu uns. Wir saßen da, lauschten dem Streichquartett, das Melodien aus Bollywood-Filmen spielte, und bewunderten den Zierbrunnen. »Ich dachte, wir würden hier unsere Hochzeit feiern.« Ich seufzte. Damit meinte ich, dass ich gehofft hatte, Anita würde ihre Hochzeitsfeier im Grove abhalten, und ich hätte mich deshalb umgehend verbessern müssen. Allerdings wurde ich von Leyla abgelenkt, die versuchte, sich ins Wasser zu stürzen. Anita verstand mich natürlich falsch und glaubte, ich spräche davon, dass meinem Mann und mir eine traditionelle Hindu-Hochzeit verwehrt geblieben war, weshalb ich sie hier nachholen wollte.

Und ehe ich michs versah, verbündete sich Anita heimlich mit meinem Mann und reservierte die Lokalität, bestellte einen Partyservice und heuerte ein Bollywood-Orchester an. Außerdem kümmerte sie sich um einen Priester und um die Gästeliste. Typisch meine Tochter: Stelle ihr eine Aufgabe, und sie wird prompt erledigt.

Zufällig hörte ich auf dem Raumlautsprecher mit, als sie mit meinem Mann Pläne schmiedete.

»Daddy, Daddy, ich hab mir überlegt, ob ich die Tische nach den Reisezielen benennen soll, wo du und Mummy in den letzten Jahren gewesen seid: Costa Rica, Mauritius, Hawaii.«

»Aber lass bloß die Karibikkreuzfahrt weg«, erwiderte er.

Ich stellte mein Schälchen mit Ballaststoffflocken auf den Tisch. Normalerweise belausche ich keine Telefonate, aber ich musste mich vergewissern, dass ich mich nicht verhört hatte.

»Na klar, Daddy.«

Auf besagter Karibikkreuzfahrt hatte es ihm nämlich gar nicht gefallen.

»Hari hat versprochen, für die Musik zu sorgen.«

Mein Sohn Hari ist ein begabter Rapper und DJ und überhaupt ein Unterhaltungskünstler. Hinzu kommt sein Händchen für IT und PowerPoint.

»Den Priester hab ich schon, und für das Feuer haben wir auch die Erlaubnis«, fügte sie hinzu.

Ich erstickte fast an meinen Frühstücksflocken. Ein Priester? Ein gottverdammter Priester? Man möge mir die Ausdrucksweise verzeihen.

»Mum wird total überrascht sein! Sie wird vor Freude Luftsprünge machen. Schließlich hat sie vierzig Jahre darauf gewartet.«

Tja, offen gestanden liegt sie da völlig falsch. Ich empfand es sogar als ziemlich erleichternd, dass wir unsere Ehe nie in einer Zeremonie besiegelt haben, denn so sind mein Mann und ich in den Augen Gottes oder der Götter gar nicht offiziell verheiratet. Eine Hindu-Ehe gilt nur dann als geschlossen, wenn man bei der Trauung bestimmte Riten wie das Saptapadi, die sieben Schritte, ausführt. Das heißt, Braut und Bräutigam müssen sieben Schritte um das heilige Feuer (Agni) gehen und sieben Eide ablegen, die grob lauten:

Einander körperlich, geistig und spirituell Kraft zu geben.

Aneinander zu wachsen und dem Partner treu zu sein.

Wohlstand und Vermögen zu mehren.

Freud und Leid zu teilen.

Kinder und Eltern zu versorgen.

Für immer zusammenzubleiben.

Ein Leben lang Freunde zu sein.

Erstens bin ich mir absolut sicher, dass ich mich nicht auf Nummer fünf festnageln lassen will. Ich weigere mich, seine Mutter zu versorgen. Sie tut, als hätte sie Alzheimer, und hat angeblich die vor dreißig Jahren getroffene Abmachung zwischen uns vergessen: Nämlich, dass ich sie nie werde pflegen müssen. Allerdings bin ich sicher, dass das nur ein fauler Trick ist, denn sie lässt überall in meinem Haus ausgefüllte Sudokos herumliegen – Rätsel, an denen sich selbst Carol Vorderman mit ihrer Mathe-Quizshow die Zähne ausbeißen würde.

Wie schon gesagt, sind die Eheversprechen sehr frei übersetzt. Die wörtliche Übersetzung von Punkt drei würde beispielsweise »das Vieh und den landwirtschaftlichen Betrieb schützen« lauten. Apropos Vieh: Bei einigen dieser Gelöbnisse (insbesondere Nummer zwei) kann man mit Fug und Recht behaupten, dass der Esel inzwischen mitten auf dem Eis steht. Damit meine ich die Seitensprünge meines Mannes.

Nicht, dass ich frei von Tadel wäre. Die meiste Zeit meiner Ehe habe ich mir ein Paralleluniversum mit Deepak, meiner ersten Liebe, zusammenfantasiert. Nur so habe ich es überhaupt geschafft, das Verheiratetsein zu überleben. Ich habe Gespräche mit Deep geführt, als sei ich mit ihm verheiratet. Wenn es schwierig wurde, habe ich mir vorstellt, er wäre an meiner Seite.

Und gestern bin ich ihm zufällig über den Weg gelaufen. Obwohl ich mir unsere Begegnung sooft ausgemalt habe, habe ich nie wirklich geglaubt, dass er wieder in meinem Leben auftauchen könnte. Und ganz gewiss nicht am Vortag der Bekräftigung unseres Eheversprechens. Es war absolut nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte Kurkumaflecken and den Händen, trug eine Jogginghose mit Gummizug und sah insgesamt ziemlich vergammelt aus. Deep schien das nicht zu stören.

»Geh mit mir fort«, flüsterte er, als er bei Starbucks nach meiner Hand griff.

Dass ich mit neunundfünfzig mit einem anderen Mann durchbrenne, das kommt überhaupt nicht in die Tüte! Was würden denn die Leute sagen? Und meine Familie? Außerdem liebe ich meinen Mann. Ja. Wirklich. Ich bin keine naive Zwanzigjährige, die in kitschigen Liebesträumen schwelgt. Diese Zeit ist vorbei und im bereits erwähnten Eis eingebrochen. Nein, ich bin in meiner Ehe glücklich. Natürlich haben wir unsere Meinungsverschiedenheiten, so wie alle anderen Paare auch. Aber ich bin glücklich und werde nicht mit einem anderen davonlaufen. Das Problem ist nur, dass ich vor dem heiligen Feuer nicht lügen darf. Das ist der Teil der Zeremonie, vor dem ich am meisten Muffensausen habe. Vielleicht ist »Muffensausen« ja nicht das richtige Wort. Scheißangst würde es besser treffen. Agni, der Feuergott, hat mir noch nie auch nur die kleinste Flunkerei durchgehen lassen. Andererseits symbolisiert das Feuer das Ausbrennen aller Unreinheiten, die zwischen dem Paar bestehen, sodass die Wahrheit sie vereinen kann, eine Geste, die sich möglicherweise auszahlt.

Am Ende der Saptapadi-Zeremonie steht ein Gebet, in dem man darum bittet, dass die Verbindung für immer halten möge. Ich glaube, damit ist die Ewigkeit gemeint (was Punkt sechs bestätigt), und auch das hält mich nachts wach. Wird mein Mann mich nach meiner Wiedergeburt finden wie eine Brieftaube ihren Taubenschlag? Ich habe mich schon gefragt, ob ich mit meiner Tochter sprechen und ihr verraten soll, dass ich über die Feier im Bilde bin. Ich könnte sie ja bitten, diesen Teil der Zeremonie unter den Tisch fallen zu lassen und einfach mit der Party loszulegen. Nun stehe ich vor der Wahl, entweder Anita zu kränken oder eine Ewigkeit mit meinem Mann zu riskieren. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich schließlich für ihn und die Ewigkeit entschieden.

»Bhanu, ich muss Mummy abholen«, sagte mein Mann und küsste mich.

Mummy. Wenn ich sie schon vor der Hochzeit gekannt hätte, hätte ich ihn vermutlich nicht geheiratet. Ich habe viel mit ihr mitgemacht. Deshalb möchte ich allen Leserinnen einen Rat mit auf den Weg geben, der einer Frau viel Leid ersparen kann: Wer seine zukünftigen Schwiegereltern grässlich findet, nehme schleunigst die Beine in die Hand.

Letzte Woche hat mein Mann angekündigt, dass sie zu uns ziehen wird. Ihr anderer Sohn kann sie nicht aufnehmen. Angeblich hat seine Frau Depressionen. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien: Niemals, verdammt! Ich lasse mir von ihr nicht meine besten Jahre kaputt machen! Doch ich riss mich zusammen, da sie gerade zu Besuch war und bei uns am Küchentisch saß, als er mir diese Mitteilung machte.

»Ich dachte, Mummy könnte ja nächsten Monat einziehen. Bis dahin schaffen wir es, die untere Etage für sie auszuräumen.«

Ich konnte nicht mehr klar denken. Sie scheinbar auch nicht.

»Mag ich lieber Kaffee oder Tee, mein Sohn?«, fragte sie mit einem tückischen Seitenblick auf mich. Dabei umkrallte sie ihre Handtasche, die ein Sudoku-Heft enthielt.

»Kaffee, Mummy«, antwortete mein Mann. »Du magst lieber Kaffee.«

Gerade war ich im Begriff, die Sprache wiederzufinden, als mein Sohn erschien.

»Spitze, dass du bald hier wohnst, Nanima«, sagte er und beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie umklammerte ihn fest, griff in ihre Handtasche, holte einen Fünfzig-Pfund-Schein heraus und reichte ihm das Geld.

»Nimm das, beta. Bitte. Ich werde immer für dich sorgen.« Wieder ein Blick in meine Richtung.

Mein Sohn protestierte zwar, steckte das Geld jedoch ein. Als ihr das Sudoku-Heft aus der Tasche fiel, hob ich es auf und blätterte es durch, um den beiden zu zeigen, dass sie geistig noch voll auf Zack war. Nur, dass sie in diesem Heft Sätze wie Wer bin ich? Oder Wie heiße ich? mit großen Buchstaben quer über die Seiten geschrieben hatte.

»Mummy braucht uns mehr denn je«, flüsterte mein Mann, als er mir über die Schulter spähte.

Seine Mutter grinste mich verschlagen an.

»Hast du Kaffee aufgesetzt, Mum?«, fragte mein Sohn, während er auf den Kühlschrank zusteuerte. Derzeit ist mein Sohn auf Jobsuche und deshalb tagsüber viel zu Hause.

Um auf Saptapadi Punkt fünf zurückzukommen: Eigentlich habe ich auch keine große Lust, nach vierunddreißig Jahren weiter für meinen Sohn zu sorgen.

»Bhanu, Bhanu, hast du mir zugehört? Ich sagte, ich fahre rasch Mummy abholen«, meinte mein Mann. Seine Mutter weiß sicher, dass ich weiß, dass sie weiß, dass wir heute eine Überraschungs-Hochzeitstagsfeier haben. Und dass wir nicht im Taste of Taj zu Mittagessen werden (die Tarnung, damit das mit dem The Grove nicht auffliegt).

»Ja«, erwiderte ich.

»In anderthalb Stunden bin ich zurück. Hoffentlich schon früher, falls es keinen Stau gibt.«

Es war die optimale Gelegenheit zur Flucht. Um einfach die Tür aufzumachen und loszugehen. Ich hielt mir vor Augen, was für ein großes Glück ich gehabt hatte. Ich habe einen netten Mann, tolle Kinder, eine reizende Enkelin und ein Traumhaus. Was mehr kann man sich wünschen? Ich griff nach meinem Telefon und bemerkte die vielen verpassten Anrufe und Nachrichten von Deep. In zwei Stunden würden unsere sämtlichen Freunde und Verwandte im The Grove eintrudeln. Ich legte das Telefon mit dem Display nach unten weg, trug mit langsamen Bewegungen noch einmal Rouge auf und konzentrierte mich auf die Feier.

Autos mit personalisierten Nummernschildern wie KI5H, VI5H oder NI5H würden den Parkplatz mit Beschlag belegen. Ein personalisiertes Nummernschild mit einem indischen Namen soll im Grunde genommen ausdrücken, dass wir alle irgendwann aus einem Boot oder Flugzeug gestiegen sind und Monate oder Jahre in beengten Verhältnissen gelebt haben. Wir haben gelogen oder sind belogen worden, doch schließlich haben wir triumphiert. Und schaut nur, wie weit wir es inzwischen gebracht haben! Eine Party im The Grove ist so etwas wie der alles überstrahlende Beweis dafür. Eine Ankündigung vor versammelter Gemeinde, dass wir es geschafft haben. Ja, wir haben es eindeutig geschafft.

Meine Adoptivschwester Gauri (oder Goggles, wie ich sie hinter ihrem Rücken nenne) wird in ihrem verdreckten blauen Datsun, dem Symbol ihres Martyriums, aufkreuzen und sich schief in eine der Parkbuchten stellen. Sie hätte das Geld, um sich ein besseres Auto zu leisten, aber sie will nicht. Alle sollen wissen, dass sie Opfer gebracht, nie geheiratet und nie Kinder bekommen hat. Stattdessen hat sie unsere Eltern gepflegt. Gauri hat den wundervollen Süßwarenladen der Familie geerbt und ihn in die Pleite gewirtschaftet. Doch da meine Eltern das offenbar vorausgeahnt haben, haben sie dafür gesorgt, dass sie gut abgesichert ist.

Nachdem ich Rouge aufgetragen hatte, ging ich ins Bad, um zwei Aspirin zu nehmen. Ich habe Probleme mit dem Rücken. Und schließlich will ich mich nicht in Schale werfen und dann riskieren, dass mein Rücken Mucken macht und mich verrät. Denn in diesem Fall wird irgendein Adlerauge unter den weiblichen Mitgliedern unserer Gemeinde diese Abweichung von der Norm sofort und zielgenau entdecken.

Adlerauge A startet Scanner: »Hmm. Haare in Ordnung, Fingernägel in Ordnung, Sari in Ordnung, aber, Moment mal … da stimmt doch etwas nicht. Schauen wir mal.«

Sie wirft ihre eingebaute Suchmaschine an.

»Ja! Ich hab’s! Der Rücken. Probleme mit dem Rücken!«

Und dann stürzt sie sich auf mich. »Hare Bhanu! Ist schon ein Kreuz mit dem Kreuz, was?«

Nein, es ist alles bestens. Ich krümme mich nur spaßeshalber. Natürlich würde ich das niemals aussprechen. Stattdessen werde ich sie nur lächelnd darauf hinweisen, dass das Essen allmählich kalt wird.

Als wir vor etwa einem Monat von unserer Karibikkreuzfahrt zurückkamen, hat meine Tochter Anita mir wegen meines Rückens einen Termin bei einer Physiotherapeutin besorgt. Ich war nach Kew gefahren, um ihr Essenspakete zu bringen. Zur Begrüßung küsste sie mich wie eine Französin auf beide Wangen. Obwohl Anita recht zurückhaltend sein kann, wenn es darum geht, Gefühle auszudrücken, mag sie diese Geste. Sie hat ihren Master in Betriebswirtschaft in Paris gemacht.

»Ach, Mum, ich kann ja gar nicht mitansehen, wie du dich abplagst. Deshalb habe ich für dich einen Termin in der Harley Street vereinbart.« Meine Tochter ist manchmal sehr mitfühlend.

»Nur, um dich zu warnen, die Therapeutin ist vielleicht ein bisschen alternativ«, fügte sie hinzu.

Anita ist so etwas wie die indische Version von Gwyneth Paltrow. Chakraheilung, Soundsoheilung, und hören Sie mir bloß mit dem Essen auf: glutenfrei, laktosefrei, fettfrei. Wer versucht, ein Chapatti für sie zu backen, merkt rasch, dass dazu Konfliktmanagement auf gehobenem Niveau vonnöten ist.

»Danke, Mum«, sagte sie, als ich ihr die Pakete mit dem Essen überreichte. »Bist du sicher, dass du auch alles aus Buchweizen gemacht hast?«

»Ja.«

»Mum, nach Auffassung der Therapeutin stecken hinter allen Schmerzen unterdrückte Emotionen.«

»Anita, welche Emotionen könnte ich schon unterdrücken?«, erwiderte ich und wich dabei ihrem Blick aus, weil die Chapattis aus Weizenmehl bestanden. »Ich bin wie ein offenes Buch. Du kriegst, was du siehst.«

Das entspricht nicht der Wahrheit. Inzwischen habe ich mir nämlich so viele Geschichten erzählt, dass ich selbst nicht mehr weiß, welche davon stimmt. Und sogar das ist gelogen. Denn wenn ich mir die Wahrheit oder auch nur meine Version der Wahrheit eingestehen würde, dann … dann müsste ich alles verändern.

BAHN EINS

DAS GÄSTEHAUS

 

Das Menschsein ist ein Gästehaus.

Jeden Morgen ein Neuankömmling.

Die Freude, der Tiefschlag, die Gemeinheit.

Ab und zu schaut auch überraschend

die Geldsorge vorbei.

Willkommen, immer hereinspaziert!

Selbst wenn sich die Widrigkeiten drängeln

und einem ruck, zuck das Haus ausräumen,

bis man keine Möbel mehr hat.

Sei trotzdem höflich zu jedem Gast.

Vielleicht schafft er ja Raum

für eine schöne Überraschung.

Der dunkle Gedanke, die Scham, die Heimtücke,

empfang sie alle lachend an der Tür und bitte sie herein.

Sei dankbar für jeden, der kommt.

Denn jeder ist ein Wegweiser, ein Abgesandter

aus dem Jenseits.

Rumi, Jelál ad-Dín

Bhanu, das klingt alles so sachlich. Als hätte es nichts mit Ihnen zu tun. Ich möchte jetzt, dass Sie sich in das siebenjährige Mädchen von damals zurückversetzen. Stellen Sie es sich vor. Stellen Sie sich vor, wie Sie seine Hand halten. Jetzt kann ihm nichts mehr geschehen. Wie fühlt es sich, als man ihm sagt, dass seine Mutter gestorben ist?« Die Therapeutin neigte den Kopf nach vorn. Die Lesebrille saß ihr absturzgefährdet auf der Nasenspitze. Mit ihrem runden Gesicht und den erhitzt geröteten Wangen wirkte sie wie die Knuddeloma aus einem der Märchen, die ich meiner Enkelin vorlese. Eigentlich hatte ich mit einer Physiotherapeutin für meinen Rücken gerechnet, doch diese hier wollte lieber reden.

Da ich mich nicht in meine Kindheit zurückversetzen konnte, tat ich so, als ob. »Ich war sehr traurig.« Rasch verbesserte ich mich. »Ich bin sehr traurig.«

Sie beugte sich vor. »Sie ist einen tragischen Tod gestorben. Das tut mir sehr leid.«

Ich nickte.

Sie nickte ebenfalls und notierte sich ein paar Stichwörter in ihr Buch. Verlegen saß ich da und hielt Ausschau nach etwas, über das ich einen Witz machen konnte. Aber ich hatte immer nur ihren gemütlichen Lehnsessel aus grünem Samt vor Augen. Also malte ich sie mir mit einer gehäkelten Patchworkdecke auf dem Schoß aus, wie sie aufgeregt auf ihre Enkelin mit dem Picknickkorb wartete.

»Wo waren Sie gerade, Bhanu? Sie sind doch irgendwo gewesen.«

Ich konnte ihr unmöglich von dem Picknickkorb erzählen. »Nirgendwo«, entgegnete ich deshalb beklommen.

»Flüchten Sie sich öfter darin, dass Sie sich von der Realität abspalten, wenn Sie sich emotional überfordert fühlen?«

»Eigentlich nicht«, meinte ich. Meine Fantasiegespräche mit Deep und mein seit fünfunddreißig Jahren bestehendes Paralleluniversum mit ihm gingen sie nichts an. Ich hätte Monate gebraucht, um ihr das zu erklären. Sie wäre darüber steinreich geworden.

»Sie verbergen Ihre wahren Gefühle. Ihre Gefühle werden weder gehört noch gesehen …« Sie hielt inne. »Fühlen Sie sich unsichtbar?«

Ich schüttelte den Kopf, doch plötzlich hatte ich einen dicken Kloß in der Kehle. Also versuchte ich, ihn hinunterzuschlucken, und biss mir auf die Lippe, um die Tränen zurückzuhalten. Doch sie fingen einfach an zu fließen. Ich war machtlos dagegen.

»Unterdrücken Sie sie nicht«, sagte sie sanft und reichte mir eine Schachtel Papiertaschentücher.

»Niagarafälle«, scherzte ich, als die Fluten endlich versiegten.

Die Therapeutin lachte nicht. Ihr freundliches, rundes Gesicht war absolut reglos.

Ich betrachtete den schneeweißen Haufen aus Papiertaschentüchern, die sich auf meinem Schoß türmten. »Everest«, sagte ich.

Sie lachte immer noch nicht.

»Halten Sie es aus. Lenken Sie nicht mit Witzen ab. Mit den körperlichen Schmerzen will Ihr Unterbewusstes Sie davor schützen, sich mit den emotionalen Schmerzen auseinandersetzen zu müssen. Diesen Schutzmechanismus verwendet es deshalb, weil es glaubt, dass Sie damit überfordert wären. Halten Sie Ihre Gefühle einfach aus. Spüren Sie sie.« Sie holte tief Luft.

Ich wischte mir das Gesicht ab. »Ich kann nicht. Ich muss mich mental auf eine Hochzeitszeremonie vorbereiten. In einem knappen Monat ist mein vierzigster Hochzeitstag, und ich heirate noch einmal.«

»Wenn Sie wollen, dass die Schmerzen aufhören, müssen Sie sie spüren.«

Genau das sagt der Dichter Rumi auch, dachte ich. »Das Mittel gegen den Schmerz ist der Schmerz.«

»Nicht jetzt«, erwiderte ich und sammelte die Taschentuchlawine ein. »Vielleicht nach der Zeremonie. Ich muss sie durchstehen. Sie haben ja gar keine Vorstellung davon, was das für mich bedeutet.«

»Sagen Sie es mir.«

»Ich muss allen beweisen, dass es die Mühe wert war. Dass wir es geschafft haben. Dass wir ein tolles Leben hatten, ja, haben.«

»Und stimmt das auch?«, entgegnete sie.

»Das ist unwichtig. Ich möchte Ihnen etwas erklären, das Sie vielleicht nicht verstehen werden. Die Meinung anderer Leute ist in unserer Kultur enorm wichtig. Noch ehe man einen Gedanken auch nur denkt, denkt man daran, was die Mitmenschen denken könnten. Ich muss allen zeigen, dass es sich gelohnt hat.«

»Ich finde das sehr traurig.« Sie musterte mich.

Ich gab mir die größte Mühe, nicht wieder loszuweinen, und grub den Fingernagel in meinen Daumen.

»Wer sind denn ›die anderen‹?«, hakte sie ruhig nach.

»Die Leute. Die Gemeinde. Sie bewerten mich.«

»Vielleicht bewerten Sie sich ja selbst?«

»Nein. Es sind eindeutig sie, die mich bewerten.« Offenbar war sie noch nie einem Mitglied unserer Gemeinde begegnet – bewaffnet mit einer Zunge, so scharf wie ein Profi-Küchenmesser.

»Gibt es in Ihrem Leben jemanden, der Sie unterstützt? Fürsprecher, die diesen bewertenden Stimmen etwas entgegensetzen?«

Ich überlegte kurz. Natürlich war da Deep. Seine Stimme in meinem Kopf munterte mich stets auf und gab mir Mut. Aber ihn konnte ich ja schlecht erwähnen. Die wundervolle Sarah. Aber die war aus meinem Leben verschwunden. Anita – nicht wirklich. Pushpa – nein. Goggles – eindeutig nein. Schwiegermutter – ebenfalls eindeutig nein. »Ich muss darüber nachdenken«, antwortete ich.

»Wir haben Zeit«, meinte sie mit einem raschen Blick auf die Uhr.

Ich hatte zu viel geredet. Es war peinlich, und ich wollte nur noch raus. Ich stand auf.

»Bleiben Sie.« Sie forderte mich auf, wieder Platz zu nehmen.

»Nach der Hochzeitszeremonie nehme ich es richtig in Angriff. Jetzt muss ich wirklich los. Meine Tochter und meine Enkelin warten auf mich.« Ich warf die Taschentücher in den Papierkorb.

»Sie leiden an einem posttraumatischen Stresssyndrom mit Wurzeln in der Kindheit, Bhanu. Die nächsten Wochen werden nicht einfach. Vieles wird an die Oberfläche kommen. Die äußere Welt hat die seltsame Eigenschaft, die innere widerzuspiegeln.« Sie legte das Notizbuch weg und rückte ihre Brille zurecht. »Ich würde vorschlagen, dass Sie nächste Woche wiederkommen.«

Ich zog es kurz in Erwägung, entschied mich aber dagegen. Vier Wochen vor dem Hochzeitstag war nicht der richtige Zeitpunkt, einen Dammbruch zu riskieren.

»Ich vereinbare einen Termin«, log ich.

Sie stand auf und berührte mich am Arm. »Und bis dahin würde ich mich freuen, wenn Ihnen ein Unterstützer einfiele. Eine aufmunternde Stimme, die Sie hören, wenn Sie Zweifel bekommen oder bewertet werden. Können Sie das tun?«

Ich nickte.

»Ansonsten rate ich Ihnen, bei Ihren Gefühlen zu sein. Wenn Ihnen der Rücken wehtut, bitten Sie ihn, Ihnen den Schmerz zu zeigen. Wenn sich emotionale Schmerzen regen, spalten Sie sie nicht ab.«

»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.« Ich griff nach meiner Jacke. Sie brauchte ja nicht zu wissen, dass ich mich erst in einem Monat damit befassen würde, wenn die Zeremonie vorbei, ich offiziell mit meinem Mann verheiratet und unsere Familie gerettet war.

Beim Hinausgehen bemerkte ich ein Schild an ihrer Wand.

Die Schmerzen, die du spürst, sind Boten. Hör auf sie.

Ich blieb stehen. »Rumi. Er ist mein Lieblingsdichter«, sagte ich und starrte auf das Zitat.

Ich hatte an Rumi gedacht, und hier war er. An ihrer Wand. Wenn ich Romantikerin wäre, hätte ich das vielleicht als Zeichen gedeutet. Als Ruf des Universums, das mich genau dorthin geleitete, wo ich hingehörte. Früher einmal hätte ich das möglicherweise sogar getan. Aber jetzt musste ich mich auf eine Hochzeitszeremonie vorbereiten.

 

Ich habe mich selbst so gut dressiert, dass ich gar nicht mehr weiß, wie meine ehrliche Reaktion eigentlich aussehen würde. Oder vielleicht weiß ich es ja doch, schätze die Situation aber rasch ein und bügle meine Gefühle nieder. Als ich meine Enkelin Leyla in ihrem Hochstühlchen und Anita sah, die mit ihr spielte, wäre ich am liebsten auf die beiden zugestürmt und hätte mich, mir auf die Brust schlagend und schreiend, auf den Boden geworfen. Allerdings befanden wir uns in einem Café in der Harley Street.

Anita betrachtete mich und erkundigte sich, wie es gelaufen sei. Ich brachte nur den Satz »Sie war keine Physiotherapeutin« heraus. Und dann traten mir die Tränen in die Augen, ohne dass ich etwas dagegen hätte unternehmen können. Anita machte ein verlegenes Gesicht. Sie kann nicht gut mit Gefühlen umgehen. Insbesondere nicht mit meinen.

»Oh, Mum, ich weiß, wie das sein kann.« Als sie meine Hand berührte, legte ich die andere darauf.

Sie zuckte leicht zusammen.

»Seit wann klappt es nicht mehr zwischen uns?«, fragte ich.

Keine Antwort.

»Muss lukrativ für die Therapeutin sein, alles auf die Mutter zu schieben«, erwiderte ich und füllte so das Schweigen.

Anita ging nicht auf meine Bemerkung ein. Sie griff nach ihren Feuchttüchern. Ich wischte mir die Tränen ab.

Anita und mein Sohn Hari kennen meine Familiengeschichte nicht. Ich habe ihnen erzählt, meine Eltern seien bei einem Rikschaunfall ums Leben gekommen, und mir eingeredet, ich wolle sie damit nur schützen und ihnen Geborgenheit vermitteln. Aber möglicherweise war der Grund dafür, dass ich mich zu sehr schäme.

»Ist es okay für dich, mit Leyla in den Park zu gehen? Ich müsste nämlich noch ein paar Besorgungen machen, wenn wir schon einmal hier sind.« Anita stand auf und begann, den Tisch mit einem Feuchttuch abzuwischen.

Nichts hätte mich davon abhalten können, mit Leyla etwas zu unternehmen. Selbst wenn ich mit ausgekugelten Armen in jener frei erfundenen Rikscha gelegen hätte, hätte ich ihren Kinderwagen noch mit dem Fuß angeschoben.

»Wir haben noch gar nicht über eure Kreuzfahrt geredet.« Sie förderte ein weiteres Feuchttuch zutage.

»Daddy war die meiste Zeit seekrank«, teilte ich ihr mit.

Aber das war ihr sicher nicht neu. Mein Mann und meine Tochter telefonieren jeden Tag.

»Ja, das hat Daddy gesagt.« Sie wienerte das Tablett von Leylas Hochstühlchen.

»Ich hab eine tolle Frau aus Deutschland kennengelernt. Sie heißt Helga und …«

Helga! Genau! Helga konnte die Fürsprecherin sein, die die teure Therapeutin mir angeraten hatte.

»Das musst du mir später näher erzählen«, erwiderte sie, als das Tablett blitzblank war. »Vergiss nicht, dass sie keine Kekse essen darf. Und wenn es gar nicht anders geht, nimm die Biokekse von hier und nicht die aus deiner Handtasche.«

Ich habe immer McVitie’s Teegebäck in der Handtasche.

»Und sie soll nicht einschlafen.« Anita hob Leyla aus dem Hochstühlchen. »Sonst schläft sie mir später nicht«, fügte sie hinzu. »Bist du in zwei Stunden zurück?«

»Lass dir ruhig Zeit«, meinte ich.

»Nein, Mum. Bitte sei in zwei Stunden wieder da. Ich hab ein Meeting.« Sie setzte Leyla auf meinen Schoß, küsste sie auf den Scheitel, suchte ihre Sachen zusammen, hauchte mir französische Küsschen auf die Wangen und ging.

Ich hielt Leyla fest in den Armen und brach wieder in Tränen aus. Leyla fasste mir ins Gesicht. »Dumme Nanima«, sagte ich. »Ich weiß gar nicht, was heute mit Nanima los ist. Sie hat ein bisschen Angst und weiß nicht genau, warum. Aber damit brauchst du dich nicht zu beschäftigen. Wo ist denn dein liebstes Humpty-Buch? Humpty-Dumpty? Schauen wir doch mal in diese Tasche.«

Wir holten das Buch heraus und setzten uns wieder wie Humpty auf seine Mauer: wackelig und absturzgefährdet. Anders als wir legte er jedoch eine Bruchlandung hin, und niemand konnte ihn wieder zusammenfügen. Nun, vielleicht hätte es die Therapeutin gekonnt, insbesondere wenn sie in seiner Kindheit herumwühlte und seine Mutter ausfindig machte. Leyla lachte, als ich ihr wieder und wieder Humpty vorlas, ein Versuch, mich von einem ausgesprochen unbehaglichen Gefühl abzulenken.

»Schau, Leyla, das ist ein jambischer Pentameter wie bei Shakespeare. Wenn du ein bisschen älter bist, lese ich dir Shakespeare und Rumi vor. Rumi ist Nanimas Lieblingsdichter. Ein ganz besonderer Mensch hat mich mit ihm bekannt gemacht. Ich glaube, es ist Zeit, dass Nanima diesen ganz besonderen Menschen loslässt, weil sie bald heiratet. Ob ich es am heiligen Feuer symbolisch tun könnte? Ja, vielleicht ist das ja der richtige Weg, auf Wiedersehen zu sagen.«

»Auf Wiedersehen«, wiederholte Leyla.

»Ja, auf Wiedersehen, Deep. Das ist die richtige Entscheidung. Und weißt du, was Rumi über Humpty sagen würde? Wen kümmert es, ob du zerbrochen bist, Humpty? ›Die Wunde ist der Ort, an dem das Licht in dich eindringen kann.‹ Das ist so richtig, Leyla, nur, dass man bereit sein muss, die Wunde zu spüren. Ich glaube, Nanima hat zu viel Leim genommen, als sie sich selbst wieder zusammengeklebt hat.«

Ich setzte Leyla in ihren Kinderwagen und schob sie in den Regent’s Park. Dabei erinnerte ich mich daran, wie ich mit meiner Tochter in den Park gegangen war, um die Enten zu füttern. Anita hatte gejuchzt und gelacht, und mir war vor Liebe zu ihr das Herz übergeflossen. Alles hatte sich ausgezahlt, jede meiner falschen Entscheidungen hatte sich gelohnt, denn ich hatte Anita und später meinen Sohn. Als Hari zur Welt kam, glaubte ich, mein Herz sei nicht in der Lage, sich noch weiter auszudehnen. Und trotzdem schuf es Platz für ihn, und so fütterten wir zu dritt die Enten. Hari fürchtete sich vor ihnen, klammerte sich an seine Schwester oder versteckte sich hinter mir. Die Zeit vergeht sehr schnell, die Liebe wandelt sich. Sie entwickelt sich. Leyla war eingeschlafen.

Nun war die Frage, ob ich sie wecken sollte. Es war zwar nicht Zeit für ihr Mittagsschläfchen, aber sie sah so friedlich aus. Was also tun? Meiner Tochter beichten, dass sie geschlafen hatte, oder wie immer lügen und mich den Konsequenzen später stellen? In diesem Moment fiel mir Helga wieder ein. Helga wäre es schnurzegal gewesen, was irgendjemand dachte. Sie hätte das Kind schlafen lassen und das ihrer Tochter klipp und klar gesagt. Deshalb beschloss ich, Leyla nicht zu wecken und bei der Wahrheit zu bleiben.

Gerade waren wir am Teich, als ich einen Anruf von Anita bekam: Sie habe umdisponiert, und Hugh sei unterwegs, um Leyla abzuholen. Also kehrte ich zurück zum Café, wo er mich bereits erwartete. Unser Gespräch war kurz und höflich, so als hätte ich ihm gerade den bestellten Latte serviert.

»Vielen Dank, Bhanu.«

»Kein Problem. Immer gern. Sie ist eingeschlafen. Tut mir leid.«

»Aha. Kleines Problem. Kläre ich später. Und los geht’s, Leyla.«

Auch er hauchte mir französische Küsschen auf die Wangen und verschwand mit Leyla.

Hugh verhält sich stets sehr förmlich. Offen gestanden wäre er nicht meine erste Wahl für Anita gewesen. Wir haben nie Druck auf unsere Kinder ausgeübt, damit sie heiraten. Gut, ich habe durch unser Netzwerk ein paar Dates für sie vereinbart. Doch die Entscheidung, ob mehr daraus werden sollte, lag ganz allein bei ihnen. Natürlich wurden alle von uns ausgesuchten Kandidaten abgelehnt. Wie ich zugeben muss, fing ich an, mir Sorgen zu machen, als meine Kinder die dreißig hinter sich hatten.

»Ihr könnt mitbringen, wen ihr wollt«, ermutigte ich sie. Obwohl ich eigentlich nicht sehr religiös bin, könnte ich sogar ein paar pujas gebetet und Fastentage eingelegt haben, um die Dinge zu beschleunigen.

Wenn das eigene Kind erst einmal fünfunddreißig ist und man alle Hoffnung aufgegeben hat, dankt man Gott für jeden, den sie anschleppen. Hugh wurde uns in einem Restaurant vorgestellt. Mein Mann überschlug sich beinahe vor Freude, sodass ich schon glaubte, er werde sich vor Hugh in den Staub werfen. Stattdessen küsste er ihm die Hand, als hätte er gerade den Segen des Papstes empfangen, und bedankte sich ein ums andere Mal. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass ich ja hinter ihm stand.

»Hugh, das ist meine Frau Bhanu.«

Wir pfeifen nicht aus dem letzten Loch, und Hugh sollte bloß nicht glauben, dass ihm jemand zweitklassige Ware andrehen wollte. Außerdem fühlte ich mich ehrlich gesagt ein wenig beklommen, als er einen forschenden Blick über meinen Sari (den für besondere Anlässe) schweifen ließ. Er ahnte ja nicht, dass ich mich seinetwegen fünfmal umgezogen hatte. Ich befürchtete, einen modischen Fehlgriff begangen zu haben, und wollte ihm unbedingt beweisen, dass ich eine gebildete Frau und nicht nur ein Muttchen in einem Sari war. Der Fairness halber muss man Hugh zugutehalten, dass sein Blick auch an der Farbkombination – Neongrün und Pink – hätte liegen können.

Ich streckte ihm die Hand hin. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Hugh.« Und dann fügte ich hinzu: »Grün ist das erste Gold der Natur. Die Farbe, sie schwindet in Kürze nur. Denn Goldenes kann niemals bleiben.«

Schweigen entstand. Seine Reaktion war nur schwer zu deuten. Eher verdattert als beeindruckt, würde ich sagen.

»Mummy liebt Gedichte«, erklärte Anita rasch.

»Wie charmant«, antwortete Hugh.

Keine Ahnung, warum ich so etwas gesagt habe. Oder vielleicht doch. Jedenfalls war es mir einfach so herausgerutscht.

»Anita ist Gold für uns. Ich hoffe, dass Sie nicht so schnell verschwinden, Hugh.«

Anita starrte Hiten mit großen Augen an. Er bewahrte sie sonst immer vor Peinlichkeiten.

»Habt ihr schon Pläne für die Hochzeit?«, erkundigte er sich.

»Eigentlich, Daddy, wollen wir nur eine ganz bescheidene Feier. Nur ein paar Freunde und die Familie.«

Bescheiden? Bescheiden?!, hätte ich am liebsten geschrien. Bescheiden kommt überhaupt nicht infrage. Was sollen denn die Leute denken? Wir haben jahrelang auf diese Hochzeit gewartet. Trotz meiner Bestürzung hielt ich den Mund.

Anita und Hugh heirateten in einer traumhaften Burg in der Toskana. Nur im Kreis ihrer engsten Freunde und ihrer Familie. Da wir die Hochzeit nicht bezahlen durften, hatten wir auch kein Mitspracherecht in Sachen Gästeliste. Natürlich waren unsere Freunde und die Verwandtschaft tief enttäuscht, und Pushpa reibt es mir bis heute unter die Nase. Erst bei der Hochzeit lernten wir Hughs Eltern kennen. Wir haben nicht viel Kontakt mit ihnen.

Malcolm, Hughs Vater, hat ein vom übermäßigen Alkoholkonsum gerötetes Gesicht. Er kennt sich gut mit Hochgeschwindigkeitszügen aus, und sein Hobby ist Trainspotting. Auch Hugh weiß eine Menge über Züge. Wahrscheinlich findet Anita das bis jetzt noch niedlich. Doch in einigen Jahren wird sie ihn, abhängig von vielen Variablen wie Mithilfe bei der Kindererziehung, Karriere, hormonelle Veränderungen und Familienbande, auffordern, sie mit Vorträgen über den 6:40er aus Brighton oder den 18:13er nach Bristol Parkway zu verschonen – oder ihn gleich in einen dieser Züge setzen, um ihn endlich loszuwerden.