Die Fremde im Haus - Lea Steinberg - E-Book

Die Fremde im Haus E-Book

Lea Steinberg

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Beschreibung

Eine Mutter ist schwer psychisch krank - sie hat Borderline und ist narzisstisch persönlichkeitsgestört. Was bedeutet das aber für das Kind, das in dieser Familie heranwächst? Wie geht man mit einer Bezugsperson um, die nicht gesund ist? Das Buch "Die Fremde im Haus - Überleben mit der Borderline-Mutter" schildert anschaulich den Alltag der jungen Tochter einer Borderlinerin und wie sie es geschafft hat, ohne fremde Hilfe ein eigenständiges Leben aufzubauen.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 582

Veröffentlichungsjahr: 2024

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„Ich schreibe allein, weil in mir eine Stimme ist, die will nicht schweigen.“

Sylvia Plath

Trigger-Warnung:

Dieses Buch ist nicht politisch korrekt. Es schildert Missstände und benennt Täter und Tätergruppen gemäß der persönlichen Erfahrung der Autorin. Es enthält Schilderungen von verbalem, emotionalem und psychischem Missbrauch, körperlicher und sexueller Gewalt.

Lea Steinberg

Die Fremde im Haus

Überleben mit der Borderline-Mutter

© 2023 Lea Steinberg

ISBN

Softcover:

978-3-347-90045-5

ISBN

Hardcover:

978-3-347-90047-9

ISBN

E-Book:

978-3-347-90057-8

ISBN

Großschrift:

978-3-347-90059-2

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Namen und Orte sind im Interesse des Schutzes der Privatsphäre geändert. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhlat

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Nach dem Grauen

Unterwegs zum Horrorhaus

Brief an die Mutter

I. An der Schwelle: Vision im Himmel

II. Eintritt ins Horrorhaus: Frühe Kindheit

Die Borderline-Hexe

Flammensäulen von Hass

Die Hölle der Projektionen

Misshandlung „just for fun“

Pictures of you

Gefangen im Kinder-KZ

Wohnorte als Tatorte

Mommy dearest oder Ein Film meines Lebens

Vogelperspektive

Interview mit Manuela Rösel

III. Gefangen im Horrorhaus: Schulzeit

Kein Brot der frühen Jahre

Gewalt durch Mittäter

Der narzisstische Vater

Unfrohe Weihnachten

Allein mit der Borderline-Hexe

Chronik eines aufgeschobenen Mordes

Die Fluchten meiner Feindin

Rettungsanker

Vogelperspektive

Interview mit Manuela Rösel

IV. Keller im Horrorhaus: Jugend

Außenseiter

Die Paranoia der Borderline-Hexe

Sie macht mich krank

Wie sie Gefahren erzeugt

Die böse Königin als Rivalin

Morgenröte und die Göttin des Verderbens

Schulmobbing und Hausverlust

Scheidungsterror

Das Kind als Geisel

Das fingierte Verbrechen

Internat: Aufatmen auf Zeit

Vogelperspektive

Interview mit Manuela Rösel

V. Auszug aus dem Horrorhaus: Junges Erwachsenenalter

Sündenbock

Volljährig in Isolationshaft

Die Abi-Feier oder Keine Reifeprüfung

Entbehrungs-Studium

Kein Urlaub vom Drama

Die Eifersucht der Borderline-Hexe

Vogelperspektive

Interview mit Manuela Rösel

VI. Das Horrorhaus stürzt ein: Erwachsenenalter

Alte, kranke Eltern

Die Fremde

„Sprecht, wenn ihr eine Sprache habt“: Einschub über die Stummheit angesichts der Borderline-Hexe

Die Erbschaft

Ein eiskalter Betrug

Trauma-based Mind Control

Aufzug abwärts – Kindheit mit psychisch kranken Eltern

VII. Nachspiel in der Hölle

Bye, bye Borderline-Hexe

Der Vater im Traum

Metaphysik des Missbrauchs

Geistersuche

Zeit ist wie ein Traum

VIII. Anhang

Glossar

Literatur und Hilfsadressen

Die Fremde im Haus

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Urheberrechte

I. An der Schwelle: Vision im Himmel

VIII. Anhang

Die Fremde im Haus

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Nach dem Grauen

„Eine Wahrheit, die verschwiegen wird, wird giftig.“

Alice Miller

Wenn ich das schreibe, bin ich endlich in Sicherheit. Ich bin erwachsen, und sie ist tot. Nur erwachsen zu sein reichte noch nicht, um endlich in Sicherheit zu kommen – sie musste auch tot sein, damit ihre Nachstellungen aufhörten, damit ich nicht immer zu flüchten brauchte, und ich bin meinem Glücksstern dankbar, dass nicht ich sie in den Tod befördern musste, sondern der Dämon Alkohol das seinige getan hat. Es war ein Glück, dass sie sich selbst hinrichtete, wenn auch viel zu spät, und dass nicht ich in einem Aufflackern der Verzweiflung einen schweren Gegenstand auf ihren Kopf habe fallen lassen müssen, um ihren Terror zu beenden, gerade weil sie mich oft in Situationen gebracht hat, die lebensgefährlich für mich waren und in denen es hieß: sie oder ich, Gegenwehr oder Tod, ihr Wahn gegen mein Leben.

Sie – das war eine Borderlinerin und kontrollsüchtige, maligne Narzisstin, die „Mutter“ zu nennen grundfalsch gewesen wäre als Ehrentitel für eine, die versucht hat, ihrem Kind nach dem Leben zu trachten und sich daran zu ergötzen. Sie hörte nicht auf, mir zu schaden, solange sie lebte, es war wie eine Sucht für sie, mir wehzutun, sie war wie besessen davon: sie liebte es, mich zu schlagen, zu beleidigen, zu bedrohen, zu täuschen, Leute gegen mich aufzuwiegeln – sie versuchte, mich zu verstümmeln, ja, sie ging so weit, Beweise zu fälschen und Urkunden zu manipulieren, um mir Nachteile zuzufügen und bewusst meine Zukunft zu ruinieren.

Wenn ich in diesem Moment die folgenden Seiten lese, die ich schon vor einigen Jahren geschrieben habe als Dokument gegen das Vergessen, überfällt es mich wie ein Alpdruck, dass ich all das wirklich erlebt habe – es ist mir, wie einen Schauerfilm zu sehen, und doch ist mir völlig bewusst, es ist wahr. Ich bin wie eine Überlebende eines Kriegs oder einer Geiselhaft. Mein Körper erinnert sich, und mein Bewusstsein wirft Bildsequenzen aus im Traum und am Tag an das Horrorhaus und ihre unablässigen Attacken auf mich. Die feigen Zeugen, die den Mund gehalten haben, obwohl sie es wussten, erinnern sich insgeheim auch und werden sich vielleicht irgendwann vor einem Richter verantworten müssen, der nicht so befangen ist wie die irdischen.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um dem Kind Lea die Würde zurückzugeben im Wissen, dass das Aufwachsen mit einer schwer persönlichkeitsgestörten Mutter wie der meinigen zwar schlimm, aber leider kein Einzelfall ist. Damit andere Überlebende sich auch gesehen fühlen und das Schweigen aufhören kann, das uns erstickt.

Lea Steinberg, im Oktober 2023

 

Hinweis zum Sprachgebrauch:

Dieses Buch verwendet wiederholt den Begriff „psychisch kranke Eltern“. Auf die heute gängige Bezeichnung „psychisch erkrankte Eltern“ wurde hier verzichtet, da es sich beim Typus Borderline – dem klinischen Störungsbild von Leas Mutter – um eine sehr schwere Persönlichkeitsstörung handelt, die nicht vorübergehender Natur ist, sondern dauerhaft.

In diesem Buch wird ferner häufig die Bezeichnung „Borderline-Hexe“ statt „Borderline-Kranke“ oder „Borderlinerin“ verwendet. Diese Bezeichnung ist nicht als Beleidigung gedacht, sondern schildert den Terror, den eine solche Person im Leben ihres Kindes anrichten kann. Wer Probleme damit hat, den Begriff „Borderline-Hexe“ zu lesen und Lea dafür verurteilen will, sollte nicht weiterlesen. Lea bezieht sich auf Christine Ann Lawsons Buch „Die Borderline-Mutter und ihre Kinder“ (2000) und versteht sich als Anwältin von Kindern, die von einem schwer gestörten Elternteil missbraucht werden. Wie Lawson klassifiziert sie Typen von Borderline-Müttern, und die Bezeichnungen „Borderline-Königin“ und „Borderline-Hexe“ beziehen sich auf den Umgang solcher Mütter mit ihren Kindern. Die Borderline-Mutter in ihrem Subtypus „Königin“ ist herrschsüchtig und dominant, oft auch narzisstisch persönlichkeitsgestört, die Borderline-Mutter vom Subtypus „Hexe“ hasst das Kind, sie projiziert ihre Wut und Aggression auf es und versucht es im Extremfall sogar zu töten. Insofern sei die Bezeichnung „Hexe“ auch hier statthaft, weil sie das authentische kindliche Entsetzen und den kindlichen Vorstellungshorizont spiegelt angesichts eines klinisch motivierten Verhaltens der Aggression und Niedertracht, das noch Erwachsene ängstigen kann.

Die Borderline-Mutter, von der hier die Rede ist, litt an einer antisozialen Ausprägung der Borderline-Störung mit narzisstischen Zügen und Sucht, welche dazu führten, dass sie sowohl das eigene Kind, als auch andere Kinder wiederholt misshandelt hat, dass sie jahrelang Behörden betrog, Urkunden manipulierte, Rufmordkampagnen gegen das eigene Kind startete und nie ein Unrechtsbewusstsein entwickelte. Diese massive Störung im Sozialverhalten entspricht sicherlich dem, was Gesellschaft und Moral als „hexenhaft, antisozial und böse“ definieren. Manch einer mag sich nun fragen, ob eine diagnostiziert persönlichkeitsgestörte Mutter schuldfähig ist für das, was sie ihrem Kind antut, wobei die Frage nach der Schuldfähigkeit des Täters aber nicht über dem Schutzrecht der Opfer stehen sollte.

Eine Krankheit, auch eine Persönlichkeitsstörung in gefährlicher Ausprägung kombiniert mit einer Suchtmittelabhängigkeit, entbindet den Erkrankten und ersatzweise den Staat nicht von seiner Verantwortung.

 

„Schweigen sollst du, böses Kind“:

Interview mit Anima Sola über Borderline-Mütter und die gesellschaftliche Verdrängung der Wahrheit

Lea: „Mein Buch wurde schon im Vorfeld von mehreren Seiten unterdrückt, weil die Wahrheit über Borderline-Mütter und ihre Kinder, und deren Kindheit, offenbar gesellschaftlich unerwünscht ist.“

Anima Sola: „Der stereotype „Nestbeschmutzer“-Vorwurf wird immer gern hervorgeholt, um kindliche Opfer mundtot zu machen. Das sehen wir bei Opfern von sexuellem Kindesmissbrauch, aber auch bei Kindern psychisch kranker Eltern, die schonungslos berichten, was die massive Krankheit der Eltern bei ihnen, in ihrer eigenen Kindheit und Jugend, angerichtet hat.“

Lea: „Es wird immer gefordert, dass Kinder Rücksicht nehmen auf psychisch kranke Eltern, die sich selbst doch oft völlig rücksichtslos zugemutet haben.

Es werden sogar Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kinder geäußert, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“.“

Anima Sola: „Diese Täterentlastung einerseits („die „gute Mutter“, auch wenn sie alles andere als das war) und die Opferdiffamierung andererseits (das „böse Kind“) ist typisch dafür, wie heuchlerisch unsere Gesellschaft auch heute noch mit dem Thema „psychisch kranke Eltern“ umgeht.

Der Befehl einer heuchlerischen Gesellschaft, die sich nicht der unbequemen Einsicht stellen will, dass psychisch kranke Eltern dem Kind tatsächlich schaden, lautet dann oft, in völliger Verkennung der Tatsachen: „böses Kind, du sollst schweigen“.“

Lea: „Und dieses Schweigen bringt sie um. Durch dieses gesellschaftlich auferlegte Schweigen werden die Kinder psychisch kranker Eltern erst recht in die Defensive, und oft sogar selbst in die Sucht oder Psychose gedrängt.

Die Heuchelei von der angeblich heilen Familie, die auch noch von Außenstehenden getragen wird, verhindert jeden klaren Dialog, der heilsam sein könnte. Ich denke jedoch auch, diese Heuchelei kommt daher, dass die Täter-Opfer-Rollen in solchen Familien nicht durchschaut werden wollen.“

Anima Sola: „Die Kinder solcher Eltern sind fast immer auch Opfer, wie Statistiken belegen: Vernachlässigung und Misshandlungen aller Art kommen in Familien mit psychisch kranken Eltern viel häufiger vor. Es mangelt gesellschaftlich aber oft schon an der Einsicht in diese grundlegende Tatsache, dass psychisch kranke Eltern auch Täter sein können und es in vielen Fällen sind. Dann werden Mechanismen der Verdrängung und Schuldprojektion eingesetzt, um diese Einsicht wegzuschieben, indem man den Kindern suggeriert, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimme, und dass die Eltern schon irgendwie ok seien.“

Lea: „Das heißt im Klartext, die Misshandlung der Kinder durch die Eltern setzt sich fort durch eine Gesellschaft, die den Kindern zusätzlich auch noch die Verantwortung für ihre eigene Misshandlung zuschieben will und die Täter stereotyp weißwäscht.

Diese Praxis der Verdrängung muss aufhören – wir Kinder psychisch kranker Eltern brauchen Mut, um die Wahrheit zu sagen über das, was wir erlebt haben, und die Öffentlichkeit braucht Mut, um hinzuhören.“

Anima Sola: „Dazu soll dieses Buch beitragen.“

Laut offizieller Schätzung sind derzeit in Deutschland 2,65 Millionen Kinder von der Suchtkrankheit eines Elternteils betroffen. Zwei bis drei Millionen Kinder leben mit einem Elternteil zusammen, der psychisch krank ist.1 Oftmals sind psychisch kranke Eltern zudem auch suchtkrank oder umgekehrt. Das Elend dieser Kinder wird erst allmählich von Forschung und Gesellschaft erkannt und zum Thema gemacht.

Unterwegs zum Horrorhaus

„Wappne dich, denn niemand hier wird dich schützen.“

Chris Cornell, „You know my name“

Es ist Allerheiligen. Zarte Nebelschwaden ziehen am kühlen Morgenhimmel über fast entlaubten Bäumen vor meinem Fenster vorbei, einige orangerote Blätter hängen noch an den Zweigen. Im Zimmer stehen Kerzen, wie man sie in den Geschäften kurz vor Allerheiligen überall kaufen kann – rote und weiße Kerzen mit bronzenem Metalldeckel für den Friedhof. Doch ich weiß bereits jetzt, ich werde keine Kerze für sie anzünden, ich werde nicht zum verödeten Grab gehen, in dem sie bestattet liegt, und er daneben, der alles wusste und nicht eingriff. Geschichte wird von den Siegern geschrieben; im Fall einer Familientragödie gibt es jedoch in Wahrheit keine Sieger, nur Überlebende. Die traurige Geschichte, die ich jetzt erzählen will, ist zu wichtig, um in Vergessenheit zu geraten, wie es alle die wünschten, die sie kannten und totschwiegen, als sie sich ereignete, und die erst recht nichts von ihr wissen wollten, als Schweigen Geld brachte. Es ist die Geschichte einer Wahnsinnigen, die ihr eigenes Kind opfern wollte auf dem Altar ihrer perversen Lust und Geisteskrankheit. Es ist auch ein Krimi – zwei Leichen und ein Betrug. Er dauerte 25 Jahre, und die habgierigen Mitwisser haben zuletzt ein falsches Zeugnis abgelegt, um sich schamlos an den Hinterlassenschaften der Wahnsinnigen zu bereichern.

Die Leichen meiner Peinigerin und ihres Beihelfers liegen heute auf der lichten Anhöhe unter Kiefern auf einem Waldfriedhof, anonym verscharrt, denn die Mitwisser, die von der skrupellosen Täterin noch auf dem Sterbebett zur Grabsorge eingesetzt wurden, hatten es sehr eilig, alles, was an die Identität ihrer Gönnerin erinnerte, zu vertuschen. Übrig bin ich. Ich habe überlebt, um die Geschichte zu erzählen; vielleicht nur deshalb, damit die Nachwelt die Wahrheit erfährt. Ich bin die Letzte, die noch die Stellen kannte, an denen die Gräber waren, ich bin die Letzte, die die Toten so kannte, wie sie wirklich waren, und ich bin die Letzte mit dieser DNA der Täterin und ihres Beihelfers, einer Genetik, die irgendwann im Blau des Morgenhimmels versickern wird, wenn auch ich tot bin. Vielleicht kann bis dahin mein Leben als ein Leben, das durch ein Vierteljahrhundert ihres Betrugs gewaltsam niedergedrückt wurde, durch die Wahrheit wieder aufgerichtet werden. Ich erzähle jetzt die Wahrheit, die keiner wissen wollte.

Ich nenne mich hier Lea. Alle Namen und Orte in diesem Buch sind geändert, damit ich nicht noch mehr Nachteile erfahre, als ich es zu Lebzeiten meiner Peinigerin bereits hatte, aber es ist mir ein tiefes Bedürfnis, mich mitzuteilen, da ich weiß, dass meine Geschichte zwar sehr extrem ist, aber nicht einzigartig. Es ist mir bewusst, dass es sehr viele Betroffene gibt, die noch immer schweigen, und dieses Schweigen tut nicht gut – ihnen selbst nicht und der Gesellschaft nicht.

Mein Thema, unser Thema unter uns Angehörigen, ist ein sehr wichtiges Anliegen, das nicht durch Schweigen verdrängt werden kann, und das leider bestehen bleibt durch alle gesellschaftliche Vertuschung hindurch. Es ist ein Thema, das uns alle angeht.

Ich bin ein erwachsenes Kind von zwei psychisch kranken und suchtkranken, teils gewalttätigen und kriminellen Eltern.

Mein schöner und gebildeter, charmanter, aber eiskalter Vater Herrmann war spielsüchtig. Er hatte außerdem eine vom Neurologen diagnostizierte narzisstische Persönlichkeitsstörung, was sich herausstellte, als er mit Mitte 50 eine Frühform von Alzheimer bekam und neurologisch untersucht wurde. Damals kam ich in den Semesterferien nach Hause und sah auf dem Frühstückstisch unverhofft einen mehrseitigen Diagnose-Bericht vom Neurologen über den komplizierten Befund meines Vaters, unter anderem stand da auch „narzisstische Persönlichkeitsstörung“. Da hatte ich es schwarz auf weiß – die Gewissheit, wenn auch spät. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die er aufwies, hatte bereits meine Kindheit und Jugend geprägt: er war ein zynischer Vater, der kaum Anteil an mir, seinem einzigen Kind, nahm und mich wie Luft behandelte.

Meine wenig attraktive und hysterische Erzeugerin Judith war – außer während ihrer Schwangerschaft mit mir – meines Wissens immer alkohol- und tablettenabhängig und eine Kettenraucherin. Ich glaubte als Kind, „Judith“ sei die weibliche Form von Judas. Judas hatte Jesus mit einem Kuss verraten – Judith hatte mich zwar nie geküsst, aber ein Leben lang verraten. Sie war psychisch krank, wobei ihre klinische Diagnose auf eine Borderline-Schizophrenie und ebenfalls auf Narzissmus lautete. Ihre seelische Störung hat sich, ihren eigenen Aussagen nach, schon im Kindesalter bei ihr gezeigt, als es ihr einfiel, Nachbarskinder sadistisch zu quälen, und sie ihren besorgten Eltern Rätsel aufgab, welche die damaligen Anlaufstellen nicht lösen konnten. Sucht kam in der Jugend hinzu und blieb eine Lebensgewohnheit.

Paranoia, Wutanfälle und Gewalt machten später den Umgang mit ihr zu einer unberechenbaren und grausamen Herausforderung. Erst mit über 50 Jahren, als sie schon berufliche Konsequenzen erlebte wegen ihres gewalttätigen Verhaltens im Dienst, wurde sie psychiatrisch behandelt, ambulant und stationär.

Wie kam es dazu, dass eine derart kranke Frau und ein Mann, der ihr Diener war, mein Leben missbrauchen durften? Es fing alles damit an, dass ich mich zu Tode ängstigte. Sie machte mir Angst, nicht Furcht – Todesangst. Sie war so völlig anders als gesunde Menschen, doch sie war stark, und – als ich klein war – riesengroß, turmhoch ragte der Wahnsinn vor mir auf, und ich hatte keine Wahl, als mich in die Kissen meines Gitterbetts zu krallen in der Hoffnung, nicht von ihr angepackt zu werden. Wohin sie auch ging, brachte sie eine elektrische Welle der Hochspannung, die ihr vorausging, eine Ladung des Risikos, Wetterleuchten kommender Ereignisse, die von jähem Wahn und Gewaltaufflackern begleitet waren. Ich zitterte. Es fing so früh an! Ich war so klein. Kurz nachdem ich geboren wurde, kam eine unheimliche Person auf mich zu, die mir das ganze Haus fremd machte, und die selbst immer die Fremde im Haus war, die ich nicht verstand und auch nicht einschätzen konnte, von meinen ersten tastenden Wahrnehmungen bis heute nach ihrem Tod, der für mich eine Erlösung war, für die ich dem unbekannten Gott Altäre bauen würde, so erleichtert bin ich.

Die Fremde im Haus war meine Erzeugerin, ein fratzenschneidendes Wesen mit eckigen Bewegungen, das in seiner eigenen Welt lebte, einer Welt, die mir fremd und unheimlich erschien und die doch mein Leben durchzog wie eine giftige Säure, die unvermittelt in klares Wasser gegossen wird. Sie war eine erschreckende und abweisend kalte Erscheinung, die mir so unendlich fremd war, dass ich nie dachte, wirklich von ihr abstammen zu können, eine Person, die ich mein ganzes Leben lang fassungslos von der Seite anschaute, während ich mich fragte, womit ich das verdient habe, dass dieses Wesen, das so gar keine innere Verbindung mit mir und der Familie zu haben scheint, wie ein Alpdruck durch meinen Alltag geistert. Dämonisch, wechselbalgartig, befremdend – das sind meine intensiven Eindrücke von ihr vom Beginn bis zu ihrem frühen Ende mit Mitte 60, denn sie wirkte in ihrer unheimlichen Abgeschlossenheit und aggressiven Haltung auf mich bizarrer und unvertrauter als die nächste Unbekannte auf der Straße. Ich nenne sie im Folgenden oftmals meine „Erzeugerin“, denn sie hat in keiner Kultur der Welt das Prädikat „Mutter“ verdient, denn sie war kein Quell der Ruhe, sondern unendlicher Anlass zu Unruhe, Unfrieden, Wut, Hass und Gewalt.

Die Fremde im Haus, die mir so ganz unverständlich war und blieb und meiner Kindheit einen Hauch des Unwirklichen gab, litt unter einer massiven psychischen Persönlichkeitsstörung, die heute von den meisten Psychiatern als „Borderline“, eine Form von Schizophrenie, bezeichnet wird. Borderline-Patienten sind laut heutiger psychiatrischer Auffassung im ICD-10 in ihrer Wahrnehmung, ihrem Denken, Fühlen und Sprechen so weit gestört, „dissoziiert“, dass ein normaler Kontakt mit ihnen oftmals nicht möglich ist. Was bereits für den Kontakt unter Erwachsenen gilt, gilt in noch stärkerer Weise für den Kontakt eines solchen Erwachsenen mit einem Kind, oder für einen Borderliner in der Elternrolle: es ist ein unnennbares Drama für das Kind, quasi eine lebendige Hölle. Und dennoch sind nicht alle Borderline-Eltern gleich und somit nicht alle Kindheitsgeschichten von den Kindern, die mit einem solchen Erwachsenen, der oft genug die Bezeichnung nicht verdient, ihr frühes Leben verbringen mussten. Bei mir kamen erschwerende Faktoren hinzu: ich hatte keine Großeltern mehr, und nur für sehr kurze Zeit Pflegeeltern, die mir Schutz gaben. Es gab also keinen Helfer in der Not: meine Welt war gefährlich eng mit ihrem Wahnsinn verschmolzen, und ich brachte eine Herkuleskraft auf, um mich aus der Umschlingung zu retten, die mich Verstand und vielleicht das Leben gekostet hätte. Extrem war das, aber nicht selten.

Eine Borderline-Mutter kann im Verhältnis zu ihrem Kind tatsächlich verschiedene sehr dysfunktionale Rollen einnehmen, die von Christine Ann Lawson in vier Typen unterschieden werden: das vernachlässigte Kind, die Einsiedlerin, die Königin und die Hexe.2 Bei meiner Erzeugerin hatte ich oft den Eindruck, sie sei alle vier Typen abwechselnd: mal wehleidig wie das vernachlässigte Kind, mal isoliert und abgeschieden wie die Einsiedlerin, mal herrschsüchtig und im Befehlston herumkommandierend wie die Königin, dann wieder heimtückisch, brutal, pervers, gewitterartig umschlagend in ihren jähen Launen und in ihrem schadenfrohen Sadismus geradezu blutrünstig wie die sogenannte „Hexe“. Im Grund war sie wirklich die Borderline-Hexe, denn diese Charakteristik war die am stärksten hervortretende, die am beängstigendste und die gefährlichste. Manche Borderline-Hexen können ihre Kinder ermorden, ohne nur mit der Wimper zu zucken, und viele tun es tatsächlich – körperlich oder seelisch.

Selbst wenn sie ihre Kinder zugrunde gerichtet haben, steht für sie nichts im Mittelpunkt als ihr gestörtes, krankes Ego, das alle Aufmerksamkeit fordert und nie Unrechtsbewusstsein zeigt, egal, wie ihr Opfer leidet.

Ich habe unter meiner Borderline-Hexe gelitten, abgrundtief, wie nur einer leiden kann, dessen Glück, Ruf, Ansehen, Reputation, Vermögen und in jungen Jahren sogar das Leben selbst von einer Wahnkranken abhing, der es diebischen Spaß machte, Schaden zu stiften, ja, die nicht nur psychisch gestört und süchtig, sondern auch hochgradig kriminell war.

Lea Steinberg, Allerheiligen 2023

Brief an die Mutter

Liebe Mama,

Du warst keine Mama. Und nicht lieb. Du bist ein Phänomen: spricht man dich mit „liebe Mama“ an, hat man gleich zweimal gelogen.

Ich hatte Angst vor Dir. Ich fragte mich oft „Wer ist diese fremde Frau?“, denn Du kamst mir unendlich fremd vor. Du hast Grimassen geschnitten, hast ohne erkennbaren Grund geschrien oder geweint, hast mich urplötzlich für etwas beschuldigt, was ich gar nicht getan hatte, und Du warst so unheimlich eiskalt. Ich wusste nie, was in Dir vorging, es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich benennen konnte, was mit Dir los war: Du warst Borderline-gestört, narzisstisch und Alkoholikerin. Als kleines Mädchen wusste ich nur, dass Du anders warst als andere Mütter, dass Du mir Angst einjagst. Mit dieser Angst war ich allein, und es sollte bis in mein reifes Erwachsenenalter dauern, bis ich den Mut und auch schlicht die richtigen Worte gefunden hatte, um über Dich zu sprechen. Du hast mir so viel Angst gemacht, dass ich sogar nicht über Dich sprechen wollte, aus Furcht vor Deiner Rache – denn Du hast Dich selbst zu der unantastbaren Figur im Haus stilisiert, zur Heiligen, zur launischen Königin, und mein Vater und ich mussten Dir dienen.

Ich weiß nicht, warum Du so viel Hass auf Dein kleines Mädchen hattest, warum Du Dein einziges Kind nicht lieben konntest, sondern als Fußabtreter benutzt hast. Ich weiß nicht, warum Du nie das Funkeln in den Augen hattest, das andere Mütter hatten, wenn sie stolz von ihren Kindern erzählen, warum Du alles als eine Last empfunden hast, was mit Deiner Tochter zu tun hatte. Warum gab es mit Dir keine einzige nahe, gefühlswarme Mutter-Tochter-Situation in über 30 Jahren? Ich verstehe nicht, warum Du niemals ein emotionales Band zu mir geformt hast, warum Du unaufhörlich Terror verbreiten und mir Angst einjagen musstest durch Dein Verhalten, Deine Wutausbrüche. Ich weiß nicht, warum Du Deinen Alltag praktisch einzig um Dich selbst herum gestaltet hast, warum Du nie etwas Schönes mit Deiner Tochter unternommen hast, ihr nie die Angst vor Dir genommen hast. Vielleicht, weil Du krank warst.

Du hattest absolut keine Geduld für mich, keine Liebe, keine Rücksicht. Ich war Dein Sündenbock, Dein „schwarz besetztes Kind.“

Und ja, Du hast es irgendwie auch absichtlich gemacht. Du warst nicht „überfordert“ und wie andere gängige Ausreden heißen, Du warst erwachsen und Du hattest die Verantwortung, und Du hast Dir nie Hilfe gesucht für Deine Probleme, obwohl Du die Mittel dazu hattest. Statt Dich darum zu kümmern, dass Du seelisch gesund wirst, hast Du Deinen ganzen Ballast auf mich projiziert und mein junges Leben als die Leinwand missbraucht, die Du beschmieren und Dich dahinter verstecken kannst, damit niemand Deine eigenen Defizite sieht. Du warst Akademikerin und Du wusstest genau, dass Du Deinem Kind schadest, wenn Du es brutal schlägst, beschimpfst, bedrohst und ihm den Vater entfremdest. Ich habe das geile Glitzern in Deinen Augen gesehen, wenn Du mir wehgetan hast, die Lust, Deine Macht gegenüber einer viel Schwächeren auszukosten. Es war wie eine Sucht für Dich, mir wehzutun, ja, sogar Dritte gegen mich aufzuwiegeln. Du warst gefährlich für mich.

Es ist bitter, wenn man als Einzelkind zeitlebens um die Liebe, ja sogar um die Aufmerksamkeit seiner Eltern kämpfen muss. Und es ist noch bitterer, wenn man diesen Kampf verliert, weil ein Elternteil pausenlos um sich selbst kreist und der andere um den, der um sich selbst kreist. Ich wurde in diesem Haushalt übersehen, weil Du rund um die Uhr zwanghaft im „Spotlight“ stehen musstest. Und weißt Du was? Du kennst mich überhaupt nicht. Ich bin mir sicher, dass Du nicht drei Fragen über meine Person richtig beantworten könntest, weil es Dich nie interessiert hat, wer ich wirklich bin.

Du hast niemals Verantwortung übernommen für all das, was Du angerichtet hast bei mir, meinem Vater und in unserem Umfeld, hast jederzeit mit dem Finger auf mich, Kind Sündenbock, gezeigt. Du hast Dich nie freiwillig therapieren lassen – erst, als Du auch andere Kinder misshandelt hast, wurdest Du von Amts wegen aus dem Verkehr gezogen. Da war meine Kindheit längst vorbei.

Deine Krankheit war meine Kindheit.

Lea

1 Vgl. Lenz, Albert, Riskante Lebensbedingungen von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern - Stärkung ihrer Resilienzressourcen durch Angebote der Jugendhilfe. Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung 2009

2 Christine Ann Lawson, Borderline-Mütter und ihre Kinder, deutsche Übersetzung: Gießen 2013

I. An der Schwelle: Vision im Himmel

Ich habe Angst. Todesangst. Schrecken, der mir den Atem nimmt, Schrecken, und der keine Worte findet, verrinnt ins Innere wie eine Blutspur von Grauen, namenlos, denn sprechen kann ich noch nicht, sagen, was mir geschieht, ist unmöglich. Ich bin anderthalb Jahre alt, es ist der zweite Winter meines Lebens, meines jungen Lebens. Mitten im Sommer geboren, war ich im ersten Winter sechs Monate alt, im zweiten ein und ein halbes Jahr, und ich bin mir recht sicher, dass es der zweite Winter war, den ich auf dieser Erde verbrachte und in dem die jähe Angst mich erstmals erfüllte wie ein implodierender Ball im Innern. Draußen ist es kalt, eisiger Schnee liegt ringsum wie eine tödliche Matte, eine Kälte, die mir in die noch weichen Knochen steigt, durchdringt mich. Ich kann noch nicht selbständig laufen, weil mein Körper mir noch nicht richtig gehorcht, und auch obwohl alles in mir schreit „weg von hier!“, kann ich mich nicht vom Platz bewegen. Sie ist nicht da, hat mich alleingelassen, vergessen, sie ist irgendwo in dieser weißen unendlichen Kälte, schwirrt in ihrer aufgescheuchten Zerstreutheit irgendwo herum, und ich weiß: sie sieht mich nicht, sie hört mich nicht, sie kommt nicht, ich bin völlig allein. Ich sitze festgezurrt in einem Buggy mitten in der eisigen Kälte des Januars und trage ein gestricktes weißes Mützchen auf dem Kopf, weiß wie die Schneedecke ringsum, die glitzert und mich blendet mit ihrer Helle, so dass ich schmerzvoll die Augen zukneifen muss. Ich bin allein. Allein. Allein.

Angst steigt in mir hoch, durchzieht meinen kleinen Körper, bis sie zum Kopf, oben, wieder austritt und mich mit einem Gefühl der Schwerelosigkeit erfüllt wie mit einem Betäubungsmittel, das mich bleischwer macht und meine Wahrnehmung verändert. Ich bin plötzlich außerhalb meines Körpers, draußen, oben.

Von Oben herab sehe ich auf einmal den kleinen verlassenen Kinderkörper im Wagen mit dem weißen Mützchen auf dem dunklen Haar, und ringsum kein Mensch, nur Schnee und grellweiße Wege. Von Oben herab sehe ich mich und verhandle, erbittert, eindringlich, um mein Leben, verhandle, verhandle… Mit wem verhandelte ich eigentlich? Das habe ich mich später natürlich oft gefragt, ohne eine Antwort zu finden. Diese Erinnerung ist so real, sie ist eingebrannt in mein Gedächtnis wie eine tiefe Frostwunde, die nie mehr heilt.

Ich bin kein religiöser Mensch, aber vielleicht – nur vielleicht – verhandelte ich in diesem Moment mit den Engeln. Ich hatte Angst vor meinem Leben und bat mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand, wieder zurückgehen zu dürfen in den Himmel. Ohne es beschreiben zu können, wie, wusste ich genau, was mir bevorstand, ahnte mein Leben, ohne es zu sehen – es war keine kaleidoskopartige Schau von konkreten Ereignissen und kein chronologisch richtiger Lebensfilm, wie ihn die Sterbenden angeblich sehen, es war mehr ein unnennbares Gefühl, alle Zeiten zugleich zu erleben, also auch alles im Voraus zu wissen, was noch kommen sollte in dieser Existenz, und eine namenlose Angst davor zu haben. Ich wollte nicht dortbleiben, wo sie mich hingestellt hatte und meinem Schicksal überließ, wollte nicht zurück in meinen kleinen frierenden Kinderkörper, der noch zu schwach war, um davonzurennen. Irgendwann, nach einer langen Verhandlung im Himmel, sehe ich mich nicht mehr von außen und Oben, denn plötzlich, ohne wirklich zu wissen wie, bin ich wieder in meinem schwachen Körper, balle die kleinen kalten Fäuste, bin endlich wieder richtig „da“. Ich bin beruhigt worden, dort Oben, dass ich dieses Leben überstehe, habe etwas Zuversicht getrunken wie eine Woge warmen Wassers, welche die Eiseskälte in mir fast vertreibt, mir die wohlige Gewissheit einflößt, dass ich groß werden kann, lernen, leben, überleben, überleben lernen.

Irgendwann dann taucht sie wieder auf, wild zerstreut, fahrig, hysterisch, wie immer nur mit sich selbst beschäftigt, mich in meinem Wagen anstoßend und grob verfrachtend wie ein Paketstück, wie ein Objekt. Irgendwie komme ich aus der Kälte plötzlich zurück in ein Haus, in dem die Fremde herrscht… ich habe tatsächlich überlebt, nachdem mir der Lebenswille dort, wo es schön und schmerzfrei ist, wiedergegeben worden ist.

Ein kleines Stück der durchdringend scharfen Kälte dieses Tages mit dem blendend glitzernden Schnee ist jedoch für immer in mir geblieben, wie ein verhärteter Kristall des Schmerzes in meinem Auge, meinem Herz.

II. Eintritt ins Horrorhaus: Frühe Kindheit

„Denn die Kindheit ist der Quellenfinder der Trübsal…“

Walter Benjamin

Es fing an mit Grauen, Grauen war das Urmotiv. Meine frühesten Erinnerungen an sie sind ein willkürlich Grimassen schneidendes, hektisch mit den Händen fuchtelndes, schwankendes und schreiendes Monster, das mir eine Himmelangst einjagte. Angst, Kälte, nicht wissen, was das ist. Es war der gewaltsame Riss im Bild meiner Kindheit, das niemandem mitteilbare Verbrechen meiner ersten Fühlung mit der Welt, der lastende Alpdruck – unfassbar, verstörend, aber auch unausweichlich real. Ein Verbrechen war es, weil es die Ordnung der Dinge total sprengte, weil es immer wieder, in abrupten Abständen, die unvorhersehbar und zerstörerisch waren wie ein Erdbeben und die ich maßlos fürchtete, mein Leben gewalttätig durcheinanderwirbelte und nichts zurückließ als den namenlosen Schrecken eines Kindes und das um sich greifende Wahn-Gespenst einer Erwachsenen, die sich schwer lastend auslebte wie eine Naturgewalt.

Ich war zwei Jahre alt und lebte zeitweise im Haus meiner Pflegeeltern auf dem Lande, wo ich fern von ihr war, und mich deshalb sicher fühlte. Meine Pflegeeltern waren liebe, ältere Leute, entfernte Verwandte meines Vaters, die rund zwanzig Jahre älter waren als er: Tante Ingrid und Onkel Ferdinand. Sie war eine dicke und sehr gemütliche Frau mit Goldzähnen und hochtoupierten Haaren, die immer dabei war, irgendwas zu essen zu besorgen oder zu kochen, und er war ein immer sehr laut sprechender, hünenhafter Mann, der mich gern auf seinen Schultern trug. Manchmal spielte er mit mir, setzte mich auf seine Knie und sang:

„Hoppe, hoppe, Reiter,

wenn er fällt, dann schreit er“

Ich fiel aber nicht. Nie. Fühlte mich geborgen bei diesem Hünen von Mann und der runden Frau, in diesem warmen und dämmrigen, immer nach Essen riechendem Haus. Die Zeit verging wie im Traum, wenn ich bei ihnen war; ich fühlte mich geborgen und bewegte mich wie eine Entdeckerin zwischen dem Sofa, massiven Holztischen und bizarren Bodenvasen, in denen hohe Schilfgräser steckten. Das Einzige, was mich in diesen glücklichen Tagen ängstigte, war die Decke: Onkel Ferdinand hielt mich manchmal so hoch, dass ich mit den Händen an die Decke greifen konnte und mir vorkam, als ob das Zimmer unter mir verschwamm. Dann lachte er, und ich lachte nach einem ersten Schreck mit, denn ich hatte unendliches Vertrauen zu diesem großen Mann, der mit mir so spielerisch umgehen konnte. Zwar wusste ich insgeheim, dass Onkel Ferdinand und Tante Ingrid nicht meine leiblichen Eltern waren und ich immer nur auf Zeit dort war, doch ich fühlte mich wohl in ihrer Gegenwart, und genoss ihr friedliches Zuhause und ihre Familie, in der es noch drei Teenager-Jungs gab, die ich aber nur sehr selten sah, weil sie morgens in der Schule und nachmittags mit dem Moped unterwegs waren.

Tante Ingrid und Onkel Ferdinand hatten Glück: sie besaßen ein kleines Haus auf dem Land, einen großen Obstgarten mit Kirschbäumen und Stachelbeeren, einen Teich mit Forellen im Garten – eine Idylle, die für mich ein verzaubertes Land war. Die Stachelbeeren hatten einen Pelz wie Tiere, und ich ging morgens zur Hecke und kniete mich ins Gras, um sie zu streicheln. Warteten sie schon auf mich? Die Kirschen waren rot oder gelb, und ich dachte, die Kronen wüchsen in den Himmel. Warum gab es rote und gelbe Kirschen? Rätsel! Tante Ingrid und ihr kleiner Hund Bodo begleiteten mich, wenn ich die Stufen zum Garten hinuntertrippelte. Konnte der Hund nur das Deutsch verstehen, das Tanze Ingrid sprach? Mich verstand er nicht. Schmetterlinge schaukelten über den violetten Blütenkugeln von blühendem Schnittlauch – irgendwo flatterte weiße Wäsche an einer Leine im Sommerwind, hoch aufgehängt, viel zu hoch für meine Kinderhände. Stimmen, Gerüche, Farben sagten mir: es ist gut, hier zu sein, du bist in Sicherheit, und doch gibt es viel zu entdecken. Aber diese ländliche Idylle, die fast zu schön schien, um wahr zu sein, wurde oft jäh getrübt, wenn sie vorbeikam, wie ein grell zuckender Blitz im Paradies – und dann war schlagartig alles vorbei.

Von Zeit zu Zeit kam plötzlich eine böse Person zur Tür hereingestürmt, hielt sich wie schwankend im Türrahmen fest, grimassierte und kreischte oder weinte, ohne dass es einen Grund gab. Sie hatte ein widerliches, verquollenes rotes Gesicht und eckige angsteinflößende Bewegungen, und wenn sie abrupt ins Wohnzimmer kam, war der ganze Raum atmosphärisch vollgepackt mit ihrem Wahn, ihrer Bosheit, ihrer Übergriffigkeit. Sie feixte und weinte ohne erkennbaren Grund, lallte dummes Zeug – sogar ich als Kleinkind verstand, dass es dumm war – kurz, sie war völlig unbeherrscht, unkontrolliert und ich hatte unendliche, mich verzehrende Angst vor ihr, fühlte mich bedrängt, brüsk aus der Sicherheitszone gebracht. Einmal presste sie mich so an sich, dass ich kaum Luft holen konnte, und als ich mich aus ihrem Gewaltgriff herauswinden wollte, plärrte sie protestierend auf: „Es ist gar nicht mein Kind!“ „Es“ war ich, Neutrum, Objekt. Warum sprach diese Eindringlingin so von mir? Ich war stolz. Ich wollte mich nicht umarmen lassen von einer Person, die mich schlug, denn damals schon hatte ich Gewalterfahrungen mit ihr. Mir dämmerte: entweder bekam ich Gewalt und Erstick-Umarmungen, oder nur Gewalt. Ich wählte, nur Gewalt zu bekommen, und entzog mich wenigstens ihren verhassten Umarmungen. Für einen kurzen Moment war mir klar, dass ich noch mehr Kälte wählte. Ich wollte, dass sie weg ist. Wenn sie endlich verschwand, atmete ich auf und meine Welt war wieder in Ordnung – jedoch nur bis zur nächsten Attacke, von der ich nie wissen konnte, wann sie wieder über mich hereinbrach. Sie machte mir unendliche Angst. Ich verstand nicht, weshalb meine lieben Pflegeeltern mich diesen Überfällen auslieferten, warum sie es zuließen, dass diese Verrückte mich angriff, denn dass sie irgendwie verrückt war, spürte ich. Es gab etwas so Selbstfixiertes an ihr, in ihr, dass es mich schauderte, wenn sie in der Nähe, ich war mir bewusst, dass ich für sie gar nicht zählte, dass überhaupt nichts für sie zählte als ein Wahn, der ihren Körper beherrschte, ihren Blick starr machte und all ihre abrupten Handlungen diktierte. Die Fremde sah durch mich hindurch, irgendwohin in weiter Ferne, wo nur sie sich auskannte. Sie griff mich fest an und packte mir die Krallen ins Fleisch, wie ein Raubvogel, wie eine Maschine. Es gab keine Verbindung zwischen ihr und mir, kein natürliches Band, das man hätte „mütterlich“ nennen können. Die Fremde hätte mich skrupellos geopfert und sich selbst dafür bedauert, mich verschlungen und über ihr Bauchweh geklagt. Ihr Herz war eiskalt. Sie war böse – so sehr, wie das Böse für mich Gestalt haben konnte, sie war der Inbegriff des Abgrunds, das alles mitreißt. Tatsächlich riss sie alles an sich, was sie erreichen konnte, wie ein vernichtender Strudel, ein Maelstrom der Grausamkeit, der alles in die Tiefe zieht und vielleicht irgendwann zerfetzt wieder ausspuckt.

Sie mutete sich einfach zu, penetrant und rücksichtslos, und ich hatte solche Angst vor dieser schreienden und feixenden Gestalt, versteckte mich ängstlich hinter meiner Pflegemutter und wollte, dass die böse Hexe weggeht. Tante Ingrid schaute dann oft milde auf meinen dunklen Kinderkopf, streichelte mich und beschwichtigte mich mit den Worten: “Lea, du musst keine Angst haben, sag doch mal was, das ist doch deine Mutter.”

Eine Borderline-Mutter leidet, klinisch gesehen, an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung. Der ICD-10, die internationale Klassifizierung von seelischen Störungen mit Krankheitswert, benennt folgende Symptome von Borderline: eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit, impulsives Verhalten zu kontrollieren, eine Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und Aggressionen und zu Konflikten mit anderen, insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden, unbeständige Beziehungen und manchmal auch eine Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen.

Es mag sein, dass ich als Kleinkind eine andere, feinere und intuitivere Wahrnehmung von dieser Frau hatte als irgendwann später. Ich nahm Menschen noch ohne die Filter der rationalen Beurteilung und der Analyse wahr, erspürte ohne Worte mehr, als ich wissen konnte – und das, was ich bei ihr erspürte, erfüllte mich mit namenloser Angst, einer Angst, die absolut berechtigt war, wie die folgenden Jahre zeigen sollten.

Die Borderline-Hexe

„Psycho killer – qu´est-ce que c´est?“

(Was ist ein Psycho Killer?)

Talking Heads, „Psycho killer“

Für mich war diese schwankende Ruine keine “Mutter”. Sie hatte nichts Mütterliches in ihrem Wesen, in keiner geltenden Definition von „Mütterlichkeit“ in den Kulturen der Welt passte sie dazu, sie war vielmehr das genaue Gegenteil. Sie war ein Wrack und mutete sich nur zu, immer wieder, auf Kosten anderer. Sie kam nicht etwa zu meinen Pflegeeltern, um mir etwas zu geben, um eine Beziehung zu mir aufzubauen und mich zu versichern im Sein, sondern vielmehr um sich selbst etwas zu nehmen, ja: um alles brutal an sich zu saugen wie ein überdimensionierter menschlicher Staubsauger, in dessen nimmersatten Schlund das ganze Wohnzimmer, Onkel und Tante und ich verschwand, während ich mich verzweifelt wehrte, mit hineingezogen zu werden. Sie brach nur deshalb ein in unsere Häuslichkeit, um sich selbst penetrant in den Mittelpunkt zu zwängen, alle zu nötigen, nur sie zu beachten und ihre theatralischen Gefühle zu teilen. Sie kam mir nicht wie eine Erwachsene vor in all ihrer Schwäche und sinnlosen Dramatik, sondern wie ein unnormal unreifes, unfertiges, hilfsbedürftiges, unterentwickeltes Wesen. Ich dachte sogar eine Zeit lang – und das war ein sehr düsteres Geheimnis, das ich mit niemandem teilen konnte – sie sei eine Art drittes Geschlecht.3 Diese Vorstellung hatte ich, weil sie so völlig anders wirkte wie andere große Leute, die ich schon einordnen konnte in meinem damaligen Horizont: es gab Frauen wie meine Pflegemutter und mich, es gab Männer wie meinen Pflegevater und die Söhne meiner Pflegeeltern, und es gab sie, das Es, das Monster, das zuweilen den hochroten Kopf zur Tür hineinsteckte und Grimassen zog. Sie war für mich gar nicht in das Schema Mann-Frau einzuordnen, sie sprengte die Kategorien, und ich wusste nicht, was sie war. Sie war für mich nicht nur keine Mutter, sondern irgendwie auch keine richtige, erwachsene Frau, denn sie war offensichtlich nicht wie andere Frauen. Sie war anders, abgrundtief unnormal und machte mir Angst.

Leser fragen immer gern, „wie Leute aussehen.“ Es ist aber schwer zu sagen. Hätte ich die Borderline-Hexe erst kennengelernt, als ich erwachsen war und meine Wahrnehmung schon gefestigt, hätte ich mit Sicherheit ein ganz anderes Bild von ihr, doch diese Art der Wahrnehmung ist nun einmal mit den eigenen Eltern unmöglich – man trifft sie natürlich nicht, wenn man schon 18 ist, sondern wächst mit ihnen auf und die eigene Wahrnehmung wächst mit. Ich erinnere mich genau, dass ich Menschen als Kleinkind emotional und atmosphärisch wahrgenommen habe: nicht wie sie aussahen, sondern welche Gefühle sie bei mir auslösten, machte für mich ihre Erscheinung und ihren Wert aus. Sie waren schön, wenn sie eine freundliche Aura hatten, und sie waren hässlich, wenn sie mir Angst machten. Und keiner machte mir mehr Angst als die Borderline-Hexe, die von einer Sekunde zur anderen den Gesichtsausdruck ändern und böse Grimassen schneiden konnte (für sie selbst war das aber wahrscheinlich ein logisches Verhalten), und die mich darüber hinaus gern schlug, misshandelte und bedrohte. Erwachsene hätten und haben sie sicher anders wahrgenommen. Sie war mittelgroß, burschikos und trug ihre extrem dünnen dunklen Haare, seit ich mich erinnern kann, immer streichholzkurz und auf dem Oberkopf wasserstoffblondiert. Im Gesicht hatte sie ein haariges Muttermal, das sie sich aber wegoperieren ließ, als ich etwa fünf Jahre alt war, und ihre Haut war aufgrund ihres Alkohol-Konsums stets von roten Äderchen durchzogen, was man aber nicht mehr sah, wenn sie sich gut schminkte. Judith war wie ein plakatives Vorher-Nachher-Bild für die Kosmetik-Werbung: vorher Ruine, nach dem Auftragen hilfreicher Cremes mit abdeckender Wirkung aber durchaus vorzeigbar. Als Kettenraucherin hatte sie fast permanent eine Zigarette im Mund, und ich hatte sie als Kleinkind auch mal so gezeichnet, wie ich sie immer sah, nämlich als Kopf mit Kippe. Sie warf das Werk verächtlich weg. Obwohl sie schlank war, wirkte ihre Figur recht unvorteilhaft, denn sie hatte die Form eines Rechtecks – keine Taille, ihre Knochen waren „stark“, Füße in Größe 39 im Verhältnis zur Körpergröße von nur etwas über 1,60m und sehr große grobe Hände, und die Handgelenke anderthalbmal so breit wie meine, noch als ich erwachsen war. Ketten trug sie dreifach übereinander und immer mehrere Ringe an den Händen, darunter einer mit einer Perle und einer mit einem roten Granat oder Rubin, die manchmal tiefe Abdrücke hinterließen, wenn sie mir damit unbeherrscht ins Gesicht schlug, um sich abzureagieren, weil es ihr selbst dann besser ging.

Zu Hause zog sie fast immer maskulin wirkende T-Shirts und Hosen an, wie um klar zu demonstrieren, dass sie auch im übertragenen Sinn die Hosen anhatte, doch in der Öffentlichkeit verstand sie es durchaus, sich auch etwas eleganter zu kleiden. Ich erinnere mich an einen schicken teuren Pullover mit Leder-Applikationen in den Achtzigern, einen exquisiten bordeauxroten Hosenanzug mit senfgelbem Top und ein brandrotes Luxus-Kostüm mit schwarzen Kontrast-Paspeln in den Neunzigern, sowie ein schwarzweißes Kostüm mit Samtkragen komplett mit Pumps mit metallenen Absätzen. Zuletzt weiß ich noch von einem roten Mohair-Strickkleid mit Applikationen und einem Hollywood-haften blauen Woll-Swingermantel mit integriertem Schal, den sie aber nur einmal getragen hatte, weil sie beim Anziehen plötzlich die Lust verlor, passende Strümpfe und Schuhe dazu zu suchen, und dann alles in die Ecke warf und schließlich im Schrank versperrte für viele Jahre. Diese teuren und manchmal völlig sinnlosen Kreationen entstammten einem Konsum-Tempel mit Spiegeltüren in der nahegelegenen Kleinstadt, in dem gleich mehrere Priesterinnen der Mode devot um sie herumstanden und jedes ihrer Worte bestätigten, bis die Kasse klingelte. Nein, ich will hier nicht andeuten, dass sie kaufsüchtig war, denn das war sie nicht, es gab sicher viele Frauen, die mehr Geld für Mode ausgaben als sie, und ihre eigenen Süchte waren definitiv andere: Alkohol, Tabletten, Zigaretten und die Lust, Kinder zu misshandeln. Es war vielmehr so, dass sich die Welt hier schon teilte, als ich noch sehr klein war, und der Spiegeltempel mir deutlich zeigte, dass ich nicht dazugehörte. Mir war damals schon klar, dass das dort eine für mich verschlossene Welt war, auch wenn ich manchmal mitgenommen wurde, um still auf dem kleinen Hocker zu sitzen, bis sie fertig war mit Aussuchen. Ich lernte so bedeutungsvolle Sätze von den Priesterinnen wie „Schwarz passt zu allem!“ und nagte an meiner Unterlippe vor Langeweile, stillschweigend, denn jeder laute Protest hätte mir einen Schlag ins Gesicht eingebracht. Der Kontrast war zu krass: sie shoppte gern nach Lust und Laune, doch für mich wurde zögernd Geld ausgegeben, denn ich war eine Art Untermensch.

T-Shirts aus dem Dreierpack vom Discounter ILDA waren für mich genug, und wenn ich zwei kurze Baumwoll-Sommerkleidchen von A & C im Sonderangebot bekommen sollte, trippelte sie vor hysterischer Ungeduld und Ungehaltenheit von einem Fuß auf den anderen, bis sie mich endlich wieder herrisch aus dem Billigladen herauszerren konnte. Normale Mutter-Tochter-Aktivitäten wie einfach mal zusammen unbeschwert Kleider einkaufen waren zeitlebens ganz undenkbar, denn sie hasste es, sich mit dem blöden Blag, also mir, abzugeben und ihre kostbare Zeit und Ressourcen für meine Wenigkeit statt für sich selbst auszugeben. Doch das war nur ein Aspekt und nicht der wichtigste zwischen ihr und mir. Vielleicht hatte ich als Kind aber ganz Recht mit meiner intuitiven kindlichen Wahrnehmung von Menschen: Aussehen, Ausstrahlung, Kleider und Verhalten einer Person hingen zusammen.

Die Borderline-Hexe tyrannisierte meine Pflegeeltern mit ihren hysterischen Szenen, ihrer gespielten Wut, ihren falschen Tränen und ihren widerlichen Ego-Touren. Obwohl ich noch keine Worte dafür hatte, war mir klar, dass Tante Ingrid diese schwankende Ruine hasste, die zuweilen zu Besuch kam, und dass auch die Ruine Tante Ingrid hasste, und dass es überhaupt ein Zerren zwischen den beiden um das Kind war, wie bei den beiden Frauen in Salomos Erzählung in der Bibel. Diese Legende ist folgende: zwei Frauen behaupteten, die Mutter eines Kindes zu sein, und der weise König Salomo, der auch Richter war, schlug vor, das Kind in zwei Hälften zu teilen. Jedoch bekam bei Salomo die echte und gute Mutter das Kind, und die falsche und böse nicht. Denn die böse hatte dem listigen Rat zugestimmt, das Kind in zwei gleiche Hälften zu teilen, und sich dadurch zu erkennen gegeben. Salomo entzog ihr das Kind und gab es der guten, die es lieber am Leben gelassen hätte, als es zu teilen. In meinem Fall war es leider umgekehrt als in der biblischen Story, denn es war auch kein Salomo da. Eines Tages – ich war vielleicht fünf – gaben meine Pflegeeltern offenbar dem Terror meiner Erzeugerin nach oder sie hatten den Widerstand gegen sie aufgegeben (sie konnte Menschen sehr gut erschöpfen): ich kam endgültig “nach Hause.” Niemand hatte mich darauf vorbereitet, was nun plötzlich folgte. Ich wurde in ein kaltes fremdes Haus zu fremden Personen gebracht und vor allem zu der unerträglichen Person, die mich bei Tante und Onkel schon jahrelang mit ihren Überfällen, ihren unbeherrschten Wutanfällen, ihrem jähen Weinen und Schreien geängstigt und geekelt hatte. Es war bestimmt das Schlimmste, was mir passieren konnte, und ich war wehrlos dagegen. Mir wurde langsam klar, dass das neuerliche Bei-der-Borderline-Hexe-sein kein kurzer schlimmer Aufenthalt, sondern für immer war; mir dämmerte unheilvoll, dass meine Pflegeeltern mich verraten hatten. Ich war praktisch in zwei Hälften geteilt worden, wie in Salomos berühmter Erzählung, ich war zerrissen. Es lähmte mich, machtlos ihr ausgeliefert zu sein, der unheimlichen Fremden, die nicht ganz normal im Kopf war, ganz ohne meine Pflegeeltern, die mich vielleicht geschützt hätten. Ich war wie zu Stein erstarrt, fassungslos vor Angst und Verlorenheit, wie eine Art Geisel ausgerechnet der Person, die ich auf der ganzen Welt am meisten fürchtete. Mir kam es vor, als ob eine Urgewalt mich entführt hätte.

Ich weiß nicht mehr, warum ich auf einmal aus meiner Pflegefamilie herausgerissen wurde. Ich kann mich auch bewusst nicht daran erinnern, dass jemand sich in diesen Zeiten darum bemüht hätte, eine echte liebevolle Beziehung zu mir aufzubauen und mir alles zu erklären.

Es gab keinen Übergang, es ging Schlag auf Schlag. Plötzlich war mein kleines heiles Universum mit blühenden Kirschbäumen, Forellenteich, freundlichen Pflegeeltern und dem Hund Bodo weg, ersatzlos, wie untergegangen. Ich verstand diese Welt nicht mehr. Ob damals ein Gerichtsverfahren um das Sorgerecht im Hintergrund stand, weiß ich ebenfalls nicht; die abrupte Umkehr meiner kindlichen Lebensbedingungen war eher so wie die Mafia vorgeht, die neben dem Staat ihre eigene perverse und unaufhaltbare Ordnung darstellt, die „cosa nostra“, als Gewalt innerhalb der Gesellschaft, als geschlossene Gesellschaft oder als Mikrokosmos mit eigenen Regeln, scheinbar oberhalb des Gesetzes und ohne Notwendigkeit, sich vor den Opfern zu rechtfertigen. Sie haben mich wie ein Paket verschickt. Ein Verbrechen am Seelenleben eines Menschen: Kaspar Hauser. Onkel Ferdinand und Tante Ingrid, bei denen ich mich sicher fühlte, waren plötzlich weg und kamen nie wieder. Allein unter Fremden, Verrat. Warum haben meine Pflegeeltern mich weggegeben? Wissen sie nicht, dass ich bei ihnen bleiben will? Vermissen sie ihr kleines Mädchen nicht? Es gab keine Antwort darauf, und ich starrte oft abends, wenn ich nicht einschlafen konnte, an die Wand im Kinderzimmer, über die sich leise Schatten zogen, die vom Türspalt herrührten, Tränen im Hals: ich hatte all meine Sicherheiten verloren und war ausgeliefert.

An meinen Vater kann ich mich in dieser Zeit gar nicht erinnern. Er schien sich nicht sonderlich dafür zu interessieren, den Kontakt zu mir aufzubauen, jetzt, da ich wieder bei ihm war. Als ich ein Kleinstkind war, hatte er mich stolz im Kinderwagen gefahren. Es gibt Fotos, auf denen er seine Baby-Tochter im Arm hält, die ihn zufrieden anlächelt. Er wirkt auf diesen Fotos zuversichtlich, glücklich und souverän, als ob ihm das Vater-Sein neue Bestätigung gegeben hätte. Doch diese Zeit war nun lange vorbei und wie von einer gläsernen Wand abgetrennt von der öden Gegenwart: Herrmann war zu einem Schatten geworden. Er lebte zwar im selben Haus, im Haus der Fremden, jetzt, doch ich erinnere mich kaum, ihn gesehen zu haben, er verschwand fast in der Wand, sichtbar war allein sie – und ihre ständigen Dämonen. Unternommen hat mein Vater mit mir nichts, zeitweise redete er gar nicht mit mir – und da war nichts Besonderes vorgefallen, es war „normal.“ Auch an schöne Weihnachten oder schöne Geburtstage kann ich mich nicht erinnern, weder damals im Kleinkindalter, noch später irgendwann. Doch es gab sie. Es gab praktisch nur sie. Sie war außer sich vor Unwilligkeit, Zeit mit mir zu verbringen. In ihrer Sprache hieß das “sich mit der dummen Nuss abzugeben”: die “dumme Nuss” oder “dumme Tussi”, das war ich. Bis zu meinem Entkommen aus dem Haus mit knapp zwanzig Jahren sollte ich kaum meinen Vornamen hören.

Flammensäulen von Hass

„O verwünschte, verderbt, Kinder der leidigen Mutter, mitsamt ihm, und zugrunde gehe das Haus ganz!“

Euripides, „Medea“

Sie hasste es einfach, wenn sie mit mir spazieren ging. Blieb ich stehen, zerrte sie mich rücksichtslos weiter; fiel ich unter ihrem unbeherrschten Zerren hin, wartete sie nicht, bis ich aufgestanden war, sondern schleifte mich auf meinen Knien hinter sich her. Damit prahlte sie gern vor anderen, dass sie so konsequent war, und sie ließ sich bedauern, dass das blöde Kind es mal gewagt hatte, stehenzubleiben, um ein Blatt zu betrachten, und dass sie unnötige Sekunden mit dem Blag vergeudet hatte. Andere Mütter hätten sich gefreut über ein aufgewecktes Kind – sie sah auf die Uhr und fühlte eine Majestätsbeleidigung, weil ich mal nicht unison ging mit ihrem herrschsüchtigen Willen. Für mein Klagen, dass sie mir wehtat mit ihrem Zerren und Schütteln, war sie taub, wurde nur noch immer brutaler, wenn ich es wagte, auf meinen schmerzenden Körper zu hören und innezuhalten, schwach ein Aufhören zu fordern. Ihr eiserner Griff in meine Kinderarme war für mich atemberaubend: ich hielt die Luft an, fühlte oft direkt Todesangst, denn mir war klar, dass hier ein Stärkerer sich wie ein Eisendorn einfrisst, immer weiter, ohne dass ich ihn stoppen konnte. Die harten, starren Eisengriffe der Borderline-Hexe und ihre violetten Abdrücke auf meinem Körper waren für mich wie die Klauen einer Harpyie, die sich schrill schreiend ins Fleisch ihrer Opfer krallt und stolz mit ihrem blutzerfetzten Beutestück fortfliegt. Noch als Erwachsene triggerte mich die Erinnerung an ihren groben, brutalen Stahlgriff wie von einem Gefängnis-Aufseher in mein zartes Fleisch heftig. Sie war wahnsinnig: fanatisch und geradezu besessen davon, mir wehzutun, ohne die geringste Einfühlung, und ich war ihr Objekt.

Erwachsene Kinder einer Borderline-Mutter/ malignen Narzisstin berichten oft, in ihrer Kindheit ohne Empathie und wie ein Objekt behandelt worden zu sein. Experten nennen diese missbräuchliche Behandlung „Objektifizierung“: Objektifizierung tritt dann ein, wenn eine Person (hier: Kind) zum Spiegelbild einer anderen Person (hier: Elternteil) gemacht wird, die nur sich selbst in ihr sehen will.

Die Borderline-Hexe lebte völlig eingekapselt in ihrer eigenen, offensichtlich düsteren und wahnsinnigen Welt, und sie hasste es natürlich extrem, mit mir irgendetwas zu unternehmen. Ein einziges Mal saß sie mit mir im Kino der nächsten Kleinstadt und war dabei eine Flammensäule von Hass; es war mein erster und zugleich auch letzter Kinobesuch mit ihr, ich war etwa drei Jahre alt, und es wurde das „Dschungelbuch“ von Rudyard Kipling gespielt. Niemals habe ich in einem Sessel gesessen, der so sehr mit unsichtbaren Eisennägeln gespickt war wie der große Sitz neben der Borderline-Hexe, die jederzeit so aussah, als wolle sie gleich explodieren. Es kam so: die Fremde im Haus entschied sich plötzlich, mit mir ins Kino zu gehen. Unterwegs hatte sie eine andere Idee, oder sie wollte auf einmal nicht mehr in dieser Situation sein. Sie ließ den Frust komplett an mir aus. Ich rutschte hin und her und schwitzte vor Aufregung und hörte mein kleines Herz überlaut pochen, so viel Angst hatte ich vor diesem Fanal der Rache, des Hasses und der wahnwitzigen Gewalt, das da neben mir saß und mir mit jeder Fiber seines Körpers, mit der unheimlichen Anspannung einer Giftschlange vor dem Zuschießen auf ihr Opfer, klarmachte, dass sie diese Situation hasste (die sie ja selbst herbeigeführt hatte), sowie auch mich, und dass bald etwas Schreckliches geschehen würde. Es war im Grund nichts Bestimmtes vorgefallen – es war einzig, wie sie sich damals wohl ausgedrückt hätte, “die Zumutung, mit der dummen Sorte Zeit zu vergeuden.” Sie strömte lodernden Hass aus wie eine Flammensäule und zeigte durch ihre gesamte aggressive, wie sprungbereite Körpersprache, dass sie zum Bersten gefüllt war mit explosiver Gewalt und überall lieber gewesen wäre als gerade hier mit mir. Vom ganzen Film „Dschungelbuch“ habe ich nichts wirklich mitbekommen, und ich lernte von diesem Tag an auch instinktiv, Rudyard Kipling zu hassen, obwohl der gar nichts dafür konnte, weil Hass eben die vorherrschende Emotion gewesen war, in die diese ganze erste Erfahrung mit seinem Werk getaucht war wie in stinkendes rotes Blut. Später, viel später erst, schon als Erwachsene, sollte ich erfahren, dass Kipling selbst einst ein Opfer von schwerem Kindesmissbrauch und Vernachlässigung gewesen war. Das Leben ist manchmal so ungewollt ironisch: musste es sein, dass ein missbrauchtes Kind diese Erfahrung über Generationen weitergibt, bis die nächste Opfer-Generation damit konfrontiert wird? Doch ich stelle wohl die falschen Fragen. Die für mich wichtigste Frage, und ich denke auch allgemein die wichtigste Frage für Opfer, ist es, warum sie einem Täter ausgeliefert waren und niemand sie beschützt hat. Nicht, dass das Trauma der Opfer immer weitergegeben wird, sondern, warum es weitergegeben wird, warum die Gesellschaft nicht wachsamer wird, das ist die Frage.

Beim „Dschungelbuch“ oder dem atmosphärisch schlimmsten Film meines Lebens – mit der leibhaftigen Schlange Kaa auf dem Nebensitz – sollte es jedoch nicht bleiben. Meine frühe Kindheit war überschattet von Erlebnissen, die vergiftet sind von der Intensität des wahnwitzigen Hasses, den eine gestörte Erwachsene auf ein kleines Mädchen ausstrahlte wie radioaktive Frequenzen. Immer wieder gab es Hass-auf-das-Blag-Sequenzen, während zugleich irgendein Verhalten in der Öffentlichkeit gemimt wurde. Ein anderes Mal zwang sie mich spontan, in der ersten Reihe eines Straßen-Kasperletheaters Platz zu nehmen, wie es sie in den achtziger Jahren vereinzelt noch gab. Ich wollte das eigentlich nicht, doch ich hatte schon gelernt, mich ihrer Willkür zu unterwerfen und nahm gehorsam Platz. Sie beäugte mich wie ein Vampir und machte Bewegungen, als ob sie mich zerreißen wollte, wenn ich vielleicht irgendeinen Mucks machte oder mich zu bewegen wagte.