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Mutterland Nirgendwo – Wenn die Mutter persönlichkeitsgestört ist, gibt es für die Kinder keinen normalen Alltag und keinen sicheren Ort. Noch als Erwachsene leiden Kinder psychisch kranker Eltern am Verlust von Vertrauen, an der Schwierigkeit von Beziehungen und an der Gleichgültigkeit der Umgebung. Gut für sich selbst zu sorgen wird zu einer Überlebensmaxime – doch wie macht man das, wenn man es nie gelernt hat? Die Autorin nimmt ihr eigenes Überleben mit einer an Borderline-Störung leidenden Mutter und einem narzisstischen Vater engagiert zum Anlass, um offen über Probleme der Selbstsorge, Trauma-Aufarbeitung und Anpassung zu sprechen, aber auch über kreative Wege der Selbsthilfe und Selbsterkenntnis.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
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„Das Mutterland Nirgendwo war für mich eine Eiswüste, in der ein unberechenbares gefährliches Wesen hauste, das nur darauf lauerte, mich zu schlagen, zu bedrohen oder infame Lügen über mich zu verbreiten, um sich damit aufzuspielen: es war das Sperrgebiet meiner Feindin, und ich wusste im Grund nie, was ich ihr eigentlich getan hatte, dass sie mich so behandelte.“
Lea Steinberg
Vorwort
Einführung
Schweigen sollst du,
böses Kind: Interview mit Alter Ego über Borderline-Mütter und die gesellschaftliche Verdrängung der Wahrheit
Was geschehen ist
Checkliste: Die Borderline-Mutter
Checkliste: Der narzisstische Vater/
Die narzisstische Mutter
Brief an die Mutter
Das Mutterland Nirgendwo
Ein Wort an Eltern
Eltern mit psychischen Störungen
Alkoholiker-Mütter
Spieler-Väter
Leben im Käfig
Leas Wort
Infocheck: Verletzte Söhne, trauernde Töchter und ihre psychisch kranken Eltern
Hilfreiches Wissen von Überlebenden
Beziehungen leben
Das heiße Eisen (Sexualität)
Der Wert der Selbstachtung
Achtsamkeit
Die Masken des Bösen
„
Das Böse als Möglichkeit menschlichen Handelns“: Gespräch mit Lea
Was aus Erfahrung gut tut
Disziplin
Gesund leben
Pflege für die Seele
Alte und neue Bücher, die unsere Augen öffnen
Trauma-Therapien und wie man die Spreu vom Weizen trennt
„Die Kraft der Selbsthilfe-Gruppe“: Interview mit Petra O., Arbeitskreis Kinder psychisch kranker Eltern
Spuren von Glück
Förderliches
Lebensretter
Körpergefühl
Kreativität
Dankbarkeit
Spruch-Weisheiten
Heilende Märchen
Aussichten
Der gesellschaftliche Abbau von Mythen
Interview mit Anima Sola: Die Nazisse
Überlebende verbünden sich
Eine Parabel der Gerechtigkeit
Metaphysik des Missbrauchs
Umgang mit dem Tod
Bye, bye Borderline-Hexe (und Traum)
Der narzisstische Vater im Jenseits
Wenn böse Eltern sterben: Gespräch mit Lucrezia
Heilung ist möglich
Nachwort
Buchempfehlungen, Definitionen und Internetlinks
Mein Name sei Lea. Ich bin die überlebende Tochter einer Borderline-Mutter, die sich eine Überdosis gegeben hat, und eines narzisstischen Vaters, der mich zeitlebens ignoriert hat und zum ersten Mal kurz vor seinem Tod sagte, dass er stolz auf mich sei (und das ist viel – manche Kinder von Narzissten hören das nie). Ich bin heute in der Mitte meines Lebens und schreibe mit diesen Zeilen das Buch, das ich mir selbst gewünscht hätte zu haben vor 10, 20, 25 Jahren. Es hätte mir die Augen geöffnet und mir viel Zeit und Leid erspart. Mein Buch handelt davon, was ich selbst erlebt habe in einer Kindheit und Jugend ohne Liebe und Mitgefühl, aber noch mehr, wie ich mich als Erwachsene wie Münchhausen an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf der Eltern-Krankheit gezogen haben. Doch ist es kein Heldenbericht: ich habe vieles falsch gemacht. Das „Mutterland Nirgendwo“ – es ist kein Ort, es ist ein Zustand, eine innere Kälte, die uns erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern1 oft ein Leben lang nicht verlässt. Und doch gibt es Glück und Auswege – deshalb soll mein Buch eine Sammlung von Selbsterkenntnis und Selbsthilfe sein.
Ich habe mir gut überlegt, wie ich Sie, meine Leserin, meinen Leser, ansprechen soll. Gern hätte ich „Du“ gesagt, denn Du und ich, wir sind Überlebende, wir kennen uns, auch wenn wir uns vielleicht noch nie gesehen haben – unsere Lebenserfahrungen, unsere Narben auf der Seele sind gleich. Doch dann habe ich mich daran erinnert, wie sehr narzisstische Eltern täglich ihre Kinder abwerten und wie wenig Würde sie ihnen zumessen, und dass die Kinder immer „Du“, aber im negativen Sinn: Untertan, Nicht-gut-genug, Fußmatte sind. Deshalb habe ich nicht die vertrauliche Anrede „Du“ gewählt, sondern „Sie“. Das „Sie“ soll Ihre Würde betonen und Ihnen zeigen, dass ich Sie nicht nur verstehe, denn ich habe das Gleiche erlebt, sondern auch hochachte für Ihre Lebensleistung, die Sie als Kinder und Jugendliche durch Ihr bloßes Über-Leben in verrückten Alltagsituationen erbracht haben. Ich bitte Sie darum, dass Sie diese Hochachtung auf sich selbst zurückspiegeln, denn Sie sind heute Herren und Damen, nicht mehr herabgewürdigte kleine Kinder und narzisstisch missbrauchte Jugendliche. Deshalb sage ich „Sie“, aber auch „wir“ und „unser Weg“/ “unser Buch“.
Unser Buch schildert nun meine persönlichen Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Perspektive der Tochter einer Borderline-Mutter und eines narzisstischen Vaters, da mein Leben mir reichhaltige Erfahrung aus erster Hand mit zwei schwerwiegenden Störungsbildern beschert hat. Ich schreibe also für Sie als Überlebende, als Mensch, und als Frau. Ist das, was ich als Tochter psychisch kranker Eltern sage, deshalb nur für ein weibliches Lesepublikum gedacht? Nein, denn unser Buch ist, wie es der Untertitel sagt, für „erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern“ konzipiert, also für Söhne und Töchter. Psychologische Studien haben jedoch erwiesen, dass psychisch kranke Eltern sich oftmals stärker mit dem gleichgeschlechtlichen Kind identifizieren. Das bedeutet, manche Borderline-Mutter lebt sich hemmungsloser an der Tochter aus, als am Sohn: die Tochter ist für eine psychisch schwer gestörte Mutter oft eine Art „Mini-Me“, ein Spiegelbild, das sie zerbrechen will. Es gibt viele Borderline-Mütter, die genaue Unterscheidungen machen hinsichtlich der eigenen Behandlung ihrer Söhne und Töchter. Dasselbe gilt übrigens auch für narzisstische Eltern, die meist ein gefeiertes „goldenes Kind“ haben und einen negativ besetzten „Sündenbock“, auf den alles Störende projiziert wird. Ich schreibe also wohl wissend, dass manches Erlebte eher typisch ist für die Mutter-Tochter-Beziehung. Die Mutter-Sohn-Beziehung im Mutterland Nirgendwo ist oft nicht weniger gestört, aber anders, da hier andere Projektionen zum Tragen kommen. Das Folgende ist also auch ein Lesebuch für überlebende Söhne, nur bin ich mir sicher, dass mancher Konflikt bei Männern und ihren persönlichkeitsgestörten Eltern anders stattgefunden hat. Dennoch können erwachsene Söhne durchaus Wissenswertes aus meinen Seiten schöpfen, was das allen Kindern psychisch Kranker Gemeinsame angeht: Trauma, gaslighting,2 Verleugnung, Vertrauensverlust, Beziehungen...
Die nächsten Seiten sind nicht nur Überlebenden psychisch kranker Eltern gegeben, sondern auch ihren Freunden, Verwandten, wohlwollenden Kollegen und natürlich ihren Partnern, die besser verstehen wollen, warum der Mensch, den sie lieben, plötzlich traurig ist oder welche Bedürfnisse er hat. Unser Buch soll das Verständnis erweitern für die Erfahrungswelt und Gefühlsintensität von Menschen, die in ihrer Kindheit den maximalen Unfrieden erlebt haben und heute noch Spätfolgen tragen, aber auch zeigen, dass es Rettung aus der Seelennot gibt und Resilienz.3 Eine Warnung vorweg: unser Buch kann triggern. Jeder Satz und jedes Wort in den kommenden Kapiteln kann bei Überlebenden einer Kindheit mit Bezugspersonen, die keine waren, schlechte Erinnerungen und dadurch auch Wunden aufreißen. Das ist unvermeidbar – wenn ich aus einem Buch für erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern im Voraus alles potentiell Schmerz Auslösende löschen würde, gäbe es vor lauter Vorsicht nur noch leere Seiten. Zudem ist jede persönliche Leidensgeschichte anders: Sie haben solche Szenen erlebt, ich jene. Da ich also nicht im Voraus weiß, was Sie persönlich triggert, muss ich mit einer gewissen chirurgischen Kühnheit vorgehen und schnell, hart und effektiv in Worte fassen, was uns verletzt hat, in der Hoffnung, dass es heilt. Meine kurzgefassten Lebenserfahrungen sollen hierbei als motivische „Aufhänger“ dienen, um Ihnen die Möglichkeit zur Identifikation zu geben und zu zeigen, wovon man ausgeht und wie man sich selbst dennoch lieben kann, wenn man eine Kindheit im Käfig der Elternpsychose überlebt hat. Mir ist bewusst, dass manche Themen, die ich hier aufgreife, heiße Eisen sind. Aber gerade deshalb muss man darüber reden: Wie gehen erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern heute mit Beziehungen, Sexualität, Geld, Angst, Älterwerden, Trauer und Tod um? Diese Fragen sind zwar leise, doch sie können detonieren wie Bomben, wenn wir sie nicht aufrichtig beantworten. Im Folgenden stelle ich mich zuerst selbst vor und beschreibe mein Überleben, dann zeige ich Ihnen praktische Methoden, die mir geholfen haben, und öffne zuletzt den Blick für eine kritische Perspektive auf Narzissten und Borderliner, Therapie und Gesellschaft – subjektiv und jederzeit durch Ihre eigenen Meinungen korrigierbar.
Wie lesen Sie unser Buch? Wie und wo Sie wollen natürlich. Doch am besten ist es, Sie suchen sich spontan die Kapitel aus, die Sie ansprechen und die Sie jetzt für Ihre Selbsthilfe und Selbsterkenntnis brauchen. So ist dieses Werk auch aufgebaut: es folgt Motiven, um die sich verschiedenartige Texte zu einem Thema gruppieren. Nichts von meinen Ausführungen ist dabei streng wissenschaftlich, es ist selbsterlebt, und vieles kann Ihnen als Denkanstoß gelten. Ich bin mir sicher, Sie verstehen den Unterschied zwischen Selbsthilfe und Psychotherapie und wissen, dass nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden soll, sondern beides sich im Idealfall ergänzen kann.
Lea Steinberg, im Januar 2020
1Hinweis zum Sprachgebrauch: Dieses Buch spricht durchweg von „psychisch kranken Eltern“. Auf die gängige Bezeichnung „psychisch erkrankte Eltern“ wurde verzichtet, da es sich bei Borderline – dem Störungsbild der Mutter der Verfasserin – um eine schwerwiegende Persönlichkeitsstörung handelt, die nicht vorübergehend ist.
2gaslighting: hinterhältige narzisstische Kommunikationsform: das Opfer wird solange mit Schuldprojektionen und verdrehten Tatsachen konfrontiert, bis es seiner eigenen Wahrnehmung misstraut.
3Resilienz: psychische Widerstandskraft.
Lea: „Mein Buch wurde schon im Vorfeld von mehreren Seiten unterdrückt, weil die Wahrheit über Borderline-Mütter und ihre Kinder, und deren Kindheit, offenbar gesellschaftlich unerwünscht ist.“
Alter Ego: „Der stereotype „Nestbeschmutzer“-Vorwurf wird immer gern hervorgeholt, um kindliche Opfer mundtot zu machen. Das sehen wir bei Opfern von sexuellem Kindesmissbrauch, aber auch bei Kindern psychisch kranker Eltern, die schonungslos berichten, was die massive Krankheit der Eltern bei ihnen, in ihrer eigenen Kindheit und Jugend, angerichtet hat.“
Lea: „Es wird immer gefordert, dass Kinder Rücksicht nehmen auf psychisch kranke Eltern, die sich selbst doch oft völlig rücksichtslos zugemutet haben. Es werden sogar Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kinder geäußert, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“.“
Alter Ego: „Diese Täterentlastung einerseits („die „gute Mutter“, auch wenn sie alles andere als das war) und die Opferdiffamierung andererseits (das „böse Kind“) ist typisch dafür, wie heuchlerisch unsere Gesellschaft auch heute noch mit dem Thema „psychisch kranke Eltern“ umgeht. Der Befehl einer heuchlerischen Gesellschaft, die sich nicht der unbequemen Einsicht stellen will, dass psychisch kranke Eltern dem Kind tatsächlich schaden, lautet dann oft, in völliger Verkennung der Tatsachen: „böses Kind, du sollst schweigen“.“
Lea: „Und dieses Schweigen bringt sie um. Durch dieses gesellschaftlich auferlegte Schweigen werden die Kinder psychisch kranker Eltern erst recht in die Defensive, und oft sogar selbst in die Sucht oder Psychose gedrängt.
Die Heuchelei von der angeblich heilen Familie, die auch noch von Außenstehenden getragen wird, verhindert jeden klaren Dialog, der heilsam sein könnte. Ich denke jedoch auch, diese Heuchelei kommt daher, dass die Täter-Opfer-Rollen in solchen Familien nicht durchschaut werden wollen.“
Alter Ego: „Die Kinder solcher Eltern sind fast immer auch Opfer, wie Statistiken belegen: Vernachlässigung und Misshandlungen aller Art kommen in Familien mit psychisch kranken Eltern viel häufiger vor. Es mangelt gesellschaftlich aber oft schon an der Einsicht in diese grundlegende Tatsache. Dann werden Mechanismen der Verdrängung und Schuldprojektion eingesetzt, um diese Einsicht wegzuschieben, indem man den Kindern suggeriert, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimme, und dass die Eltern schon irgendwie ok seien.“
Lea: „Das heißt im Klartext, die Misshandlung der Kinder durch die Eltern setzt sich fort durch eine Gesellschaft, die den Kindern zusätzlich auch noch die Verantwortung für ihre eigene Misshandlung in die Schuhe schieben will und die Täter stereotyp weißwäscht. Diese Praxis der Verdrängung muss aufhören – wir Kinder psychisch kranker Eltern brauchen Mut, um die Wahrheit zu sagen über das, was wir erlebt haben, und die Öffentlichkeit braucht Mut, um hinzuhören.“
Alter Ego: „Dazu soll dieses Buch beitragen.“
Mein Leben
„Wer wir sind, hängt entscheidend davon ab, wem wir begegnen.“
Thomas Berger
Ich nenne mich hier Lea. Das ist nicht mein echter Name – alle Namen und Orte in diesem Buch sind geändert. Ich will anonym bleiben, aber es ist mir ein Bedürfnis, mich mitzuteilen, da ich weiß, dass es viele Überlebende gibt, die schweigen, und dieses Schweigen tut nicht gut – ihnen nicht und der Gesellschaft nicht. Mein Thema, unser Thema unter uns Angehörigen, ist ein wichtiges und schmerzhaftes Anliegen. Ich bin ein erwachsenes Kind von zwei psychisch kranken und suchtkranken Eltern.
Geboren bin ich 1977 in Deutschland. Als ich Kind war, war es noch alltäglich, dass Kinder geschlagen, ja sogar geprügelt wurden. Was meine Borderline-Mutter machte, war jedoch purer Sadismus, und sie genoss es: sie schlug oft grundlos zu und wurde zuweilen so heftig, dass sie in Raserei geriet wie in Euphorie und sich immer weiter steigerte, bis sie müde war – jede Gegenwehr wäre lebensbedrohlich gewesen. Ich bin noch heute überzeugt, dass es ihr auch sexuell wohltat, ein schwächeres Wesen zu misshandeln und ihre wahnsinnige Macht auszuspielen. Sie schlug unbeherrscht und mit Schadenfreude zu und prahlte sogar damit, als sei es ihr Verdienstorden, und sie genoss es, mich lächerlich zu machen und sogar meine Verwandten gegen mich aufzuwiegeln und mich zu isolieren. Ihre Gewalt richtete sich auch gern gegen Gegenstände – einmal schlug sie eine Tür ein, hinter der ich mich in Sicherheit bringen wollte, ein andermal fuhr sie mit dem Hammer gegen einen Spiegel los – oder sie griff andere Kinder an, zog sie an den Haaren, ohrfeigte sie und zwang sie, im kalten Luftzug zu sitzen. Sie bekam zuletzt Klagedrohungen wegen Misshandlung von Schülern, denn, um das Klischee, aber leider auch die Wahrheit komplett zu machen, sie war Grundschullehrerin und brüstete sich mit Ergötzen damit, dass die „dumm´ Sort“, wie sie Kinder zu nennen pflegte, vor ihr Angst hatte. Sie gehörte zu der autoritären Sorte Grundschullehrerinnen, die Kinder für Untermenschen hielten und sich selbst für Gottes Ebenbild auf Erden. Zuweilen bezeichnete sie sich ohne Ironie – denn zur Ironie oder gar Selbstironie war sie gar nicht fähig – als „Madonna“.
Ich war für sie nur die „dumm Supp´“, und sie nannte zwanzig Jahre lang nie meinen Vornamen, ja sie verlangte einmal sogar, dass ich sie wie die vor ihr kuschenden Kinder in der Schule devot als „Frau Steinberg“ titulieren sollte, denn ich sei ja „nicht ihresgleichen“ (zum Glück). Der Kasernenton beherrschte die Familie, denn obwohl sie völlig unfähig war, ihren Alltag zu gestalten, hielt sie sich für berechtigt, alle mit eisernem Besen zu scheuchen und zu kommandieren – meinen Vater inklusive. Mich schob sie in die Ecke, denn sie machte keinen Hehl daraus, dass es ihr zuwider war, sich mit mir abzugeben. Oft trank sie auch unbeherrscht und fiel daraufhin in eine Art Wachstarre oder Koma, oder starrte stundenlang regungslos an die Decke – völlig in ihrer eigenen bizarren Welt lebend. Als ich klein war, machte mir das Himmelangst.
Während ich heranwuchs, verstand ich mit wachsendem Grauen, dass sie irgendwie verrückt ist, folglich dass sie nicht richtig denken kann: sie hatte Paranoia und sah Einbrecher im Vorgarten, obwohl niemand da war. Einfache und harmlose Signale in der Natur deutete sie in der denkbar bizarrsten, bedrohlichsten Art – ein Blatt vom Feuerdorn im Wind war ein „Zigeunerzeichen“, dass sie bald überfallen würde.
Als ich Teenager wurde, blitzte in ihr der Hass auf mich als vermeintliche Rivalin auf; sie unterdrückte mich noch gewalttätiger und beschimpfte mich jeden Tag als Nutte (ich hatte zu der Zeit gar keinen Freund) und behauptete, ich würde stinken, weil meine Hormone sich änderten. Als sie mich im Alter von zarten 16 einmal gegen den Küchenschrank presste und versuchte, mir die Pulsadern abzudrücken, wehrte ich mich heftig gegen sie; sie schwor mir ewige Rache und fuhr Schmierkampagnen und Rufmord gegen mich auf, immer wilder, immer bösartiger, bis ich dann mit Anfang 30 auf null Kontakt ging, was eine der besten Entscheidungen meines Lebens war.
Niemand hat mich je informiert, was mit ihr los war, und vor allem: niemand hat mich vor ihr geschützt. Als Kind wusste ich nicht, dass sie psychisch krank ist. Als ich Jugendliche war, gab es noch kein Internet und auch später war das Internet noch nicht halb so gut mit Daten bestückt wie heute. Erst, als ich schon Studentin war, erfuhr ich in der Uni-Bibliothek vom Krankheitsbild Borderline und Narzissmus. Ich habe abends als einer der Letzten noch in der dämmernden Bibliothek gesessen und Tränen rannen mir übers Gesicht, denn ich las da, in dieser klinischen Fachliteratur, den Alptraum meiner Familie. Ein entsetzlicher Aha-Moment folgte auf den anderen, bis mir der Kopf schon schwirrte: ihre Symptomatik war meine Kindheit.
Und nein, ich behaupte hier nicht pauschal, jede Borderline-Mutter sei so wie sie. Aber ich stelle fest: sie war so, sie war völlig uferlos, da sie zudem narzisstisch war, und ich war ihr ausgeliefert. Meine einzige Chance war, zu entkommen. Es gab drei Lichtblicke in meinem Leben: eine kurze Zeit als Kleinkind, als ich vorübergehend Pflegeeltern hatte, mein Studium, für das ich sofort nach dem Abitur auszog, um einmal meine Ruhe haben zu können, und endlich, mit über 30, null Kontakt, die Erleichterung. Doch es war ein weiter Weg bis dahin, vor allem deshalb, weil sie so unglaublich gut abgeschirmt und mit Alibis und Verdrängungen wattiert war wie ein Michelin-Männchen mit Speck. Man kam nicht an sie ran, und sie hatte eine Gefolgschaft von Jasagern und Speichelleckern, während ich isoliert wurde. Zuweilen fragte ich mich auch, ob ich in Wahrheit die Bekloppte bin und ob ich wirklich das mit ihr erlebt habe, was ich erinnere, weil mir das alles derart surreal vorkam. Erst viel später sollte ich lernen, dass das ein typischer Effekt des „gaslightings“4 ist.
Doch mein Körper konnte nicht lügen. Ich hatte Trauma im Körper, Angstzustände. Wenn ich schlafen wollte, fielen mir Erinnerungen wieder ein – als ich noch ein Kind war und ein Nachbarskind mir vom Film „Mommy dearest“ 5 erzählte, und ich wütend wurde, weil ich in Wirklichkeit genau das erlebte. Ich wusste früh, dass etwas nicht stimmt in meiner Familie, dass sie nicht stimmt, aber das durfte ich niemals sagen. Ihre falschen Versprechungen, ihr Wahn und ihre Gewalt zerschnitten den Tag und gaben jeder Situation eine unheilvolle Spannung. Sie schaffte es aber im Nachhinein, die Dinge umzudrehen und sich selbst als armes Opfer auszugeben, während sie es war, die mich aus dem Haus trieb und meinen Vater zum seelischen Krüppel machte. Erst mit über 50 Jahren, als sie schon berufliche Konsequenzen erlebte wegen ihres gewalttätigen Verhaltens gegen Kinder, wurde sie psychiatrisch behandelt, ambulant und stationär. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits erwachsen und hatte einen langen lebendigen Alptraum mit ihr erlebt. Freiwillig in eine Therapie begeben hat sie sich natürlich nie, denn Schuld an allem waren ja die anderen. Und dennoch schaffte sie es, mich, die überlebende Tochter, vor Verwandten und Fremden als die „Verrückte“, „Böse“ und „Kranke“ auszugeben, und es brach mir das Herz, dass ihr mehr geglaubt wurde als mir. Ich verstehe es offengesagt bis heute nicht.
4gaslighting: (Wiederholung) hinterhältige narzisstische Kommunikationsform: Tatsachen werden verdreht und dem Opfer wird die Schuld gegeben, bis das Opfer seinen eigenen Wahrnehmungen misstraut.
5 „Meine liebe Rabenmutter“/ Mommy dearest (1981), Film über Joan Crawford.
Haben Sie eine Borderline-Mutter?
Vielleicht ist Ihre Mutter nicht einfach ein sehr schwieriger Charakter, aufbrausend oder launisch – sie könnte in Wahrheit psychisch krank sein. Das, was Ihre Kindheit verletzt hat, hat vielleicht einen Namen, genauer eine Diagnose. „Borderline“ ist eine schwerwiegende psychische/psychiatrische Krankheit, die heute im sogenannten ICD-10, der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten, unter die Persönlichkeitsstörungen eingeordnet wird.6 Sie ist eine sogenannte „emotional instabile Persönlichkeitsstörung“, die mit einer gravierenden Störung von Denken, Fühlen und Handeln einhergeht. Typische Borderline-Symptome sind: impulsives Verhalten, Streitsucht, verzerrtes Selbstbild, Störung der Impulskontrolle (die Person kann sich nicht beherrschen), oft gepaart mit Alkohol-, Drogen-, Kauf- oder Sexsucht, bis hin zur Suizidneigung. Charakteristisch ist, dass die Symptome häufig, unvorhersehbar, aber dauerhaft auftreten. Es gibt Übergänge zur paranoiden und antisozialen, sowie zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Doch Borderline ist nicht gleich Borderline – es gibt eine Diagnose und mehrere Subtypen, also Unterformen dieser Störung. Die amerikanische Autorin Christine Ann Lawson unterscheidet in ihrem Buch „Die Borderline-Mutter und ihre Kinder“ (Gießen: Verlag Psychosozial 2006; 2012) vier Typen von Borderline-Müttern:
Das verwahrloste KindDie EinsiedlerinDie KöniginDie HexeAllen gemeinsam ist, dass sie keine echte emotionale Bindung zu ihren eigenen Kindern aufbauen können. Borderline-Mütter vom Typus „verwahrlostes Kind“ sind weinerlich und unselbstständig und bürden anderen (sogar ihren eigenen Kindern) die Verantwortung auf, der Typus „Einsiedlerin“ ist misstrauisch und zurückgezogen, die „Königin“ glaubt, über alle herrschen zu können und Sonderrechte zu besitzen, und die Borderline-Hexe ist antisozial, manchmal tatsächlich kriminell.
Mit meinem Vater war es eine andere Sache. Er war ein intelligenter und attraktiver Mann, der in seiner Jugend viel gelesen hatte, weit gereist war und immer etwas Interessantes zu erzählen gehabt hätte, wäre er denn zu Wort gekommen. Das war das Problem: sie machte, dass er verstummte. Der alte Witz „Es heißt Muttersprache und nicht Vatersprache, weil der Papa nichts zu melden hat“ ist nirgendwo wahrer als in einer Familie mit einer Borderline-Mutter, die alle Aufmerksamkeit an sich reißt. Mein Vater verstummte nicht nur in ihrer Anwesenheit, er verblasste, er verschwand sozusagen in der Wand, und irgendwann hatte er den aufreibenden Widerstand gegen sie aufgegeben und flüchtete sich ersatzweise immer mehr in seine Spiel- und Traumwelten, unerreichbar für mich. Er war der Diener meiner Borderline-Mutter und hatte mit der Zeit nur noch gelernt, Ja und Amen zu sagen, egal, was sie aufführte, und alles zu decken und zu beschönigen, was sie auch tat. Mich schützte er nicht. Mein Vater war schon immer spielsüchtig, was sich in der Ehe nur gesteigert hat, und irgendwann geriet das Spiel ums große Geld außer Kontrolle – er „verzockte“ das Haus, in dem wir wohnten, als ich 15 Jahre alt war. Meine Eltern trennten sich, und „Frau Steinberg“ gab sich ganz dem Suff hin. Ich hatte ab da Angst, von der Schule nach Hause zu kommen, weil ich nie wusste, was mich erwartet, doch keiner meiner Vertrauenslehrer sah einen Grund, das Jugendamt einzuschalten.
Ich habe es meinem Vater nie verzeihen können, dass er mich mit einer kranken und gewalttätigen Frau alleinließ, gerade als ich mein Zuhause verloren hatte und derart verletzlich war. Damit konfrontiert, pflegte er im Nachhinein alles zu bagatellisieren. Er hatte auch eine neurologisch diagnostizierte narzisstische Persönlichkeitsstörung, was sich herausstellte, als er mit Mitte 50 eine Frühform von Alzheimer bekam und vom Nervenarzt intensiv untersucht wurde. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die er aufwies, hatte da bereits meine Kindheit und Jugend geprägt, indem er kaum Anteil an mir, seinem einzigen Kind, genommen hatte.
Als er mir im Altersheim einmal sagte, er sei stolz auf mich, konnte ich das nicht fühlen; er war schon fast 70, es war das allererste Mal in meinem Leben, dass er das sagte, und es kam zu spät. Außerdem glaubte er in diesen Tagen auch, dass Gazellen durch den Altersheimflur sprängen und Verstorbene auf dem Balkon säßen, denn er war schon hochgradig dement und die Psychopharmaka, die man ihm dort verabreichte, waren offenbar ein tolles Zeug. Ich weiß also bis heute nicht sicher, ob er seinen einzigen lobenden Satz für mich ernst gemeint hat oder ob das auch eine Halluzinationsfolge war.
6https://www.icd-code.de/icd/code/F60.3-.html
War (oder ist) ihr Vater Narzisst?
Man sagt umgangssprachlich heute oft „der ist ein Narzisst“ – man spricht vom narzisstischen Chef, vom narzisstischen Ex-Partner, von narzisstischen Politikern. Das Wort „narzisstisch“ hat eine sehr große Verbreitung, auch im Internet, doch nicht immer stimmt die Zuordnung. Wahrer Narzissmus ist mehr als ein egoistisches Verhalten und Ellbogen-Mentalität. Narzissmus ist eine Persönlichkeitsstörung.
Auch vom Narzissmus spricht der ICD-10 als einer klinischen Persönlichkeitsstörung, die das Denken, Fühlen und Handeln dauerhaft beeinträchtigt und verzerrt. Typische narzisstische Symptome sind Egozentrik, Größenwahn, Arroganz, Empathiemangel, ständiges Abwerten anderer Menschen, auch notorisches Lügen kann dazu gehören.
Es gibt Übergänge zur antisozialen Persönlichkeitsstörung, die gewalttätiges und kriminelles Verhalten zeigen kann, sowie auch zum Suchtverhalten.7
Wenn Ihr Vater narzisstisch persönlichkeitsgestört war, hatte er in Ihrer Kindheit wahrscheinlich folgende Verhaltensweisen gezeigt:
Überzogenes GeltungsbedürfnisMassives KonkurrenzverhaltenAusbeutendes VerhaltenManipulatives VerhaltenSkrupelloses LügenKritikunfähigkeitMangelndes EinfühlungsvermögenStändiges Abwerten anderer, bis hin zum MobbingMassiver Neid auf andere – sogar auf die eigenen KinderIdealisierung der eigenen Kinder – aber nur, solange sie funktionierenMit einem narzisstischen Vater aufzuwachsen, bedeutet für das Kind, dass es nicht um seiner selbst willen geliebt wird – und womöglich, dass es gar nicht geliebt wird.
Der Narzisst ist emotional hochgradig unreif und benimmt sich auch entsprechend – er ist oft gleichsam das „Kind“ der Familie.
7 Vgl. https://www.therapie.de/psyche/info/index/diagnose/persoenlichkeitsstoerungen/narzissmus/
Die narzisstische Mutter hat prinzipiell dasselbe Symptombild wie der narzisstische Vater, denn die Persönlichkeitsstörung ist dieselbe – eine Diagnose macht nicht vor dem Geschlecht Halt. Auf die Frage, ob es überhaupt narzisstische Frauen gibt, muss man klar mit „Ja“ antworten. Narzissmus ist in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet und betrifft Männer und Frauen, und da nicht alle kinderlos sind, entstehen naturgemäß narzisstische Väter und Mütter. Auch der häufig gehörte Einwand, mehr Männer als Frauen seien narzisstisch, ist nicht unbedingt haltbar und nicht durch konkrete Daten belastbar.