Von schlechten Eltern - Lea Steinberg - E-Book

Von schlechten Eltern E-Book

Lea Steinberg

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Beschreibung

Allein in Deutschland leben heute, offiziellen Schätzungen zufolge, rund 3,8 Millionen Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil zusammen. Noch immer werden diese Kinder zu wenig gesehen - obwohl sie eine in ihrer Entwicklung und seelischen Gesundheit stark gefährdete Risikogruppe sind. Dieses Buch soll dazu beitragen, typische Lebenssituationen und Belastungen von Kindern psychisch kranker Eltern zu verstehen, sowie auch Defizite der Hilfen aufzuzeigen. So soll für Betroffene ein Raum der Solidarität, und für Fachleute eine tiefe Verständnisbasis geschaffen werden.

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Seitenzahl: 247

Veröffentlichungsjahr: 2020

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„Eine Kindheit mit psychisch kranken Eltern ist wie ein überfüllter Aufzug. Man möchte, dass er sich endlich in Bewegung setzt, aber immer wieder geht die Tür auf, und neue Personen kommen herein, und man bleibt stehen, wo man ist. Das Unbehagen steigt, man steht schon buchstäblich mit dem Rücken an der Wand, und noch immer öffnet sich die Tür, und noch immer kommt jemand herein. Wenn sich der Aufzug endlich, nachdem man schon nicht mehr daran geglaubt hat, ruckend in Bewegung setzt, fährt er – abwärts.“

Lea Steinberg

INHALT

Vorwort

Aufzug abwärts: Kindheit mit psychisch kranken Eltern

Misshandlung und Trauma

Was geschehen ist und wie ich es merkte

Meine Eltern als Beispiel einer Missbrauchsfamilie

Er

Sie

Die Borderline-Mutter: Interview mit Manuela Rösel

Die Beiden

Ich heirate (k)eine Familie“: Interview mit Anton, Leas Partner

Offene Briefe an Menschen, die heute Eltern sind

Eltern mit psychischen Störungen

Alkoholiker-Mütter

Spieler-Väter

Leben im Käfig

Leas Wort

„Die Kraft der Selbsthilfe-Gruppe“: Interview mit Petra O., Arbeitskreis Kinder psychisch kranker Eltern

Härten einer Kindheit mit psychisch kranken Eltern

Leben mit Borderline-Mutter und narzisstischem Vater

Das Wohngrauen

„Gaslighting“

Die „flying monkeys“

Kinder ohne Stimme

Kein rosa Pony

Risiken für Kinder psychisch kranker Eltern: Infocheck

Folgen einer Kindheit mit psychisch kranken Eltern

Angst

Existenzangst

Erschöpfung

Erwartungsfehler

Altersangst

Kinder

Room 101

Die Sehnsucht nach einem Zuhause

„Treib keine brotlosen Künste“: Interview mit Lea über Studien- und Berufswahl von Kindern psychisch kranker Eltern

Hindernisse durch die Herkunftsfamilie

Isolation

Die Notwendigkeit der Verstellung

Das Tal des Misstrauens

Zeitverzögerung

Dichtung und Wahrheit

Die Masken des Bösen

Das Böse als Möglichkeit menschlichen Handelns“: Gespräch mit Lea

Was fehlte?

Interview mit Lea: Die „vergessenen Kinder“ im Umfeld von Medizin, Forschung und Therapie

Mängel in der Hilfsstruktur

Das soziale Kreuz

Schweigende Nachbarn

Amtliche Wohltäter

Helfer und Heiler

Trialog als Trivialität im schlimmsten Fall

„Weshalb sollte jemand einem Kind Böses antun?“: Einschub über den Rückzug der Fachleute

Der Abbau von modernen Mythen in der Psychologie

Interview mit Dieter Leidenroth: Schwarzbuch Psychiatrie

Dialog mit anderen Überlebenden

Miriam

Kerstin

Sylvana

Severin

Marius

Eine Schlussfolgerung

Verletzte Söhne, trauernde Töchter und ihre psychisch kranken Eltern: Infocheck

Schicksale und die Zukunft einer Bewältigung

Aussichten für Überlebende

Überlebende verbünden sich

Eine Parabel der Gerechtigkeit

Interview mit Anima Sola: Das Ende der Nazisse

Umgang mit dem Tod der Eltern

Wenn böse Eltern sterben: Gespräch mit Lucrezia

Heilung ist möglich

Glossar

Verzeichnis der verwendeten Literatur

Vorwort

„Bei der Auswahl der eigenen Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein.“

Satirisches Sprichwort

„Das ist nicht von schlechten Eltern“1 – so sagen wir im Deutschen, wenn wir etwas loben oder als vorbildlich herausstellen wollen. Das Sprichwort soll hier jedoch umgedreht werden „Es ist von schlechten Eltern“, denn es geht hier um psychisch Kranke, die Eltern sind und in ihrer Funktion oft versagen, und um ihre Kinder. Aktuell gibt es allein in Deutschland rund 3,8 Millionen Kinder von Eltern, die psychisch krank oder persönlichkeitsgestört sind.2 Diese Kinder erleben häufig Situationen, die so einzigartig und belastend sind, dass die Erfahrung sie von anderen Kindern trennt, die eine „glückliche Kindheit“ hatten. Der deutsche Begriff „glückliche Kindheit“ enthält ein Stück Wahrheit: es ist ein „Glück“, hier geboren worden zu sein und nicht dort, wo der Narzissmus oder die Borderline-Störung von Eltern regiert – ein vager Zufallsverteiler entscheidet offenbar über Lebensläufe, Schicksale. Kinder, die mit einer persönlichkeitsgestörten Mutter heranwachsen, die emotional nicht für sie verfügbar ist und kaum auf ihre Bedürfnisse reagieren kann, oder mit einem Vater, der aufgrund einer seelischen Störung völlig unberechenbar ist, erleben oft eine unfassbare Kälte, Einsamkeit und Isolation, die sie von anderen Kindern, sowie auch oft von anderen Mitgliedern der eigenen Familie trennt.

Mein Name sei Lea Steinberg. Ich beziehe mich hier auf meine eigene Borderline-Mutter,3 und auf meinen narzisstischen Vater – denn dass meine Eltern tatsächlich schlechte Eltern waren, hat Erfahrungen ausgelöst, die einzigartig sind, weil sie in dieser Art nur die Kinder schlechter Eltern machen. Mein erstes Buch „Mutterland Nirgendwo“4 war der Selbsthilfe und Selbsterfahrung für Kinder psychisch Kranker gewidmet, dieses zweite Buch ist mit teilweisen Überschneidungen ebenfalls für Betroffene geschrieben, die sich hier wiedererkennen können, aber auch für Menschen, die mit den (erwachsenen) Kindern psychisch kranker Eltern arbeiten. Viel ist bereits geschrieben worden über die „vergessenen Kinder“ psychisch kranker Eltern von Autoren, die dieses Dilemma nur vom Hörensagen kennen. Es braucht aber auch Berichte aus erster Hand, damit Kinder nicht Opfer bleiben.

Ich bin als Erwachsene oft gefragt worden – zuerst von einer Trauma-Therapeutin, dann in einer Selbsthilfegruppe für Kinder psychisch kranker Eltern – warum ich mich nicht früher „gewehrt“ habe, warum ich so unauffällig war, warum ich nicht rebelliert hätte gegen den Terror einer Borderline-Mutter und eines narzisstischen Vaters. Diese Fragen verraten eine fundamentale Unkenntnis über die Situation des Kindes: wer mit einem psychisch kranken Elternteil (oder, worst case, mit zweien) aufwächst, ist in der Regel sehr unauffällig, angepasst, bescheiden. Warum? Weil solche Eltern ihr Kind einfach ganz massiv einschüchtern können, und nichts ist einschüchternder für ein Kind als ein psychisch kranker Elternteil, der alle paar Minuten ein anderes Gesicht zeigt, das gar nicht zur Situation passt, der vielleicht wirklich zuschlägt, vielleicht auch nur sinnlos vor sich hin lallt und jammert.

Wer sich hierbei noch ernsthaft fragt, warum ein Kind in einer solchen Klemme schweigt und schüchtern ist gegenüber Außenstehenden, verkennt die Realität eines kindlichen Opfers absolut; versteht nicht, dass dessen ver-rückter Alltag von extremer Zurückhaltung, ständiger Rücksichtnahme auf den kranken Erwachsenen, Selbstversorgung und oft auch der Rollen-Umkehr zwischen Eltern und Kind geprägt ist. Fürs Rebellieren braucht es Platz, Macht, Aufmerksamkeit – und das ist im gestörten System allein dem kranken Elternteil vorbeihalten, wo die Launen des psychisch kranken Elternteils mitunter wichtiger sind als die Grundbedürfnisses des Kindes: wie innerhalb einer Sekte, wo alle Ressourcen dem Guru zufallen und keine dem Diener.

Ich schreibe die nun folgenden lebensnahen Kapitel auch deshalb, weil mich diese wiederkehrende und naive Frage: „Warum haben Sie nicht früher rebelliert, warum waren Sie nicht auffälliger?“ im Laufe meiner eigenen Trauma-Bewältigung massiv geärgert hat, beweist sie doch schlüssig, wie wenig von der Wirklichkeit geschädigter Kinder aus psychisch kranken Familien öffentlich bekannt ist, und wie wenig taktvolle Einfühlung und auch faktisches Wissen herrscht und wie sehr sich Außenstehende noch immer in der anmaßenden Rolle verstehen, dem Kind generell die Schuld in die Schuhe zu schieben für alles, was in dysfunktionalen Familien anders ist und sich anders dynamisiert. In diesen Kapiteln berichte ich daher offen, was ich erlebt habe: Trauma und Misshandlung und wie ich es merkte. Doch das Buch ist nicht nur ein kurzer Abriss meiner Primärerfahrung als Opfer einer Borderline-Mutter, die oftmals gewalttätig war und eines narzisstischen Vaters, der stets dabei wegsah, es ist auch ein Selbsterfahrungsbuch, das ich anderen Betroffenen aus Solidarität gern mitgeben möchte.

Außerdem soll dieses Werk den wohlwollenden und wissbegierigen beruflichen Helfern bei der Verbesserung ihrer professionellen Arbeit helfen, wenn sie in Kindergarten, Schule, Hochschule, Praxis, Klinik oder Beratungsstelle mit den Opfern einer Sozialisation mit psychisch kranken Bezugspersonen zu tun haben. Mir ist häufig aufgefallen, dass Berufsgruppen, die mit den (erwachsenen) Kindern psychisch kranker Eltern arbeiten, weder über eigene Erfahrung mit Borderliner- oder narzisstischen Eltern verfügen, noch das Vorstellungsvermögen besitzen, sich einen buchstäblich ver-rückten Alltag in einem solchen Familiensystem vorzustellen. Das ist eine Feststellung, keine Kritik – wie soll sich ein Erwachsener, der sein Leben lang keine Berührung damit hatte, die Hölle eines Borderline-Elternhauses vorstellen und das zudem aus der Sicht eines Kinds? Die Verständigungs-Barriere ist sowohl individuell als auch strukturell, zeigt persönliches Unvermögen einzelner Fachleute ebenso wie Mängel der derzeitigen Hilfsagenda – negative Erfahrungen, die etlichen Kindern psychisch kranker Eltern ebenfalls als prägende Erinnerung vertraut sind auf ihrem Weg zur Heilung und mit denen sie oft allein gelassen werden. Das vorliegende Buch soll einen Finger in diese Wunde legen und Defizite der Hilfen aufzeigen, aber auch den Blick professioneller Helfer öffnen für das verletzte Kind im Klienten, für seine typischen Lebenshürden, sowie auch für seine Stärke. Es ist zwar keine wissenschaftliche Arbeit, kann jedoch wissenschaftliche Studien zum Thema um die Primärerfahrung bereichern und auf Erfahrung basierende Tipps zur Weiterentwicklung der Hilfen geben, die gern weitergedacht werden können. Zuletzt will ich Ihnen einige noch unvollständige ethische Perspektiven aufzeigen, die mit Bewältigung und Gerechtigkeit zu tun haben.

Lea Steinberg, im Mai 2020

1 Das Wortspiel „Nicht von schlechten Eltern“ wurde von Prof. Fritz Mattejat und Beate Lisofsky aufgegriffen als Herausgeber von ihrem gleichnamigen Sammelband über Kinder psychisch Kranker, der 2008 in Köln erschienen ist (A.d.A.).

2www.fruehehilfen.de: Publikation_NZFH_Eckpunktepapier_Kinder_psychisch_kranker_Eltern

3 Ich nenne meine Borderline-Mutter im Folgenden auch häufig „Borderline-Hexe“ nach der Studie der Sozialarbeiterin Christine Ann Lawson über Borderline-Mütter, die vier Typen unterschieden hat: Einsiedlerin, Verwahrloste, Königin und Hexe. Quelle: Christine Ann Lawson, Borderline-Mütter und ihre Kinder, deutsche Übersetzung: Gießen 2013

4 Lea Steinberg, Mutterland Nirgendwo, Norderstedt 2020

Aufzug abwärts–

Kindheit mit psychisch kranken Eltern

Eine Kindheit mit psychisch kranken Eltern ist wie ein überfüllter Aufzug. Man möchte, dass er sich endlich in Bewegung setzt, aber immer wieder geht die Tür auf, und neue Personen kommen herein, immer wieder und immer wieder, und man bleibt stehen, wo man ist. Schließlich ist schon gar kein Platz mehr da, und noch immer öffnet sich die Tür, und neue Personen quetschen sich in den verbleibenden Raum. Man bekommt es mit der Angst zu tun und würde gern wieder aussteigen, aber das ist einfach unmöglich, denn die vielen Personen blockieren den Ausgang. Und damit ist es noch nicht zu Ende, denn auf wundersame Weise ist der Betrieb an der Tür nie vorbei: manche, die vorn im Aufzug stehen, steigen aus, aber dafür kommen von Draußen im gleichen Atemzug neue Personen herein, und die Kapazität des engen Raums wird immer wieder bis zum Bersten ausgelastet. Das Unbehagen steigt, denn man steht schon buchstäblich mit dem Rücken an der Wand, und noch immer öffnet sich die Tür, und noch immer kommt jemand herein. Wenn sich der Aufzug endlich, nachdem man schon nicht mehr daran geglaubt hat, ruckend in Bewegung setzt, fährt er – abwärts.

Die vielen Persönlichkeitsanteile des psychisch kranken Elternteils, des Borderliners oder malignen Narzissten, sind wie rücksichtslose Leute, die sich in einen ohnehin schon überfüllten Aufzug drängen: sie rauben ihrem Kind den notwendigen Raum zum Leben, die Luft zum Atmen, die Ressourcen zu seiner eigenen Entfaltung, und pressen es derart gewaltsam an die Wand. Das Kind müsste ausweichen, kann es aber nicht – und das ist ein unhaltbares Dilemma. Der Ausstieg ist ebenfalls meist unmöglich, zumindest, solange das Kind noch keine eigenen Ressourcen hat zum Überleben, oder, wenn, wie so oft, ein „wissender Zeuge“, ein hilfreicher Freund oder Mentor fehlt. Gefangen im Borderline-Fahrstuhl, der meist direkt in die Hölle fährt, kann das mitgefangene Kind nur überleben, wenn es sich mäuschenstill verhält, sich unsichtbar macht, und eine Art angstvolle Mimikry betreibt mit den Teilpersönlichkeiten des gestörten Elternteils, damit es ihm nicht auffällt, oder aber, wenn es den Alarmknopf drückt. Um den zu finden, muss es jedoch verstehen, welche Maschinerie überhaupt im Gange ist: Information und Beistand tut hier Not, besonders den Jüngsten.

Jede Familie mit psychisch kranken Eltern ist auf andere Art gestört. Ich beschreibe im Folgenden meine Familie: welche Persönlichkeiten und Abspaltungen meine Eltern tagtäglich in den überbordend vollen Aufzug schickten, in dem ich keinen Raum mehr hatte.

I. Misshandlung und Trauma

„Der Traum des Jägers, das Trauma des Wildes.“

Walter Ludin

Das alte Wort „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet dort Wunde. Eine Wunde am Körper sieht man. Eine Wunde in der Seele sieht man nicht, man spürt sie, aber – und das ist das Besondere – man spürt sie oft zeitversetzt, nicht direkt nach dem Ereignis oder der Ereigniskette, sondern Jahre, oder erst Jahrzehnte später. Wenn man traumatisiert und missbraucht worden wird, ist es der erste Schritt zur Erleichterung und Ich-Orientierung, überhaupt zu verstehen, dass man missbraucht wird. Ich selbst war jedoch offenbar früher nicht sehr scharfsinnig, denn ich habe bis ins Erwachsenenalter hinein nicht begriffen, was mit mir angestellt worden war, dass ich ein Opfer war, und wie weit der Missbrauch tatsächlich reichte. Dabei spielte jedoch auch die gesellschaftliche Wahrnehmung eine Rolle, mein naives gutbürgerliches Umfeld, das alles bagatellisierte und es beschönigend als „Generationenkonflikt“ abtat mit mir natürlich in der Rolle des „bösen Kindes“, während eine klinische Diagnose meiner Erzeugerin die Wahrheit offenbarte: Borderline. Eine große, verwirrende Rolle spielten damals auch die Medien, die das Thema „Kinder psychisch kranker Eltern“ nirgendwo aufgriffen. Als ich selbst noch Jugendliche war – in den frühen 1990er Jahren – gab es noch nicht überall Internet und somit viel weniger Möglichkeiten, sich zu informieren, und das Internet war auch bei weitem nicht so inhaltsreich und gut strukturiert wie heute. Ohne rasch verfügbare Informationen waren die Opfer abgeschnitten, rätselten herum, verstanden ihr Leben nicht. Heute ist vieles weitaus besser – wenn auch noch nicht alles gut. Der Weg, den ein Einzelner zurücklegen muss, um zu verstehen, dass er oder sie missbraucht worden ist, ist heute kürzer, doch es ist ein individueller und tief einsamer Weg, den jeder für sich gehen muss. Die geprüfte Information aus dem Internet, die hochwertigen Foren, in denen sich Opfer und betroffene Angehörige in einem virtuellen Schutzraum austauschen können, und die Kontakte zu qualifizierten Experten, können helfen, diesen Weg zu bewältigen und schlussendlich auch zu erkennen, dass man zwar immer allein war in seiner Kindheit und Jugend, es aber jetzt als erwachsenes Opfer vielleicht nicht mehr ist.

Was geschehen ist und wie ich es merkte

Ich, Lea, wurde 1977 geboren als einziges Kind zweier Akademiker. Nach außen hin stimmte die Fassade: gutsituierte Eltern, ein schönes Haus mit Garten. Doch hinter geschlossenen Türen tobte ein Krieg, den ich jahrelang nicht verstand und der mir Angst machte. Meine psychisch kranke Mutter führte fast täglich Selbstgespräche, fühlte sich von unsichtbaren Tonbandgeräten abgehört und trank zeitweise so stark, dass sie völlig die Kontrolle verlor.

Sie schnitt fortwährend Grimassen, die nie zur Situation passten, da sie völlig in ihrer eigenen Welt lebte, und schlug mich heftig wegen geringfügigen Kleinigkeiten, manchmal buchstäblich auch wegen nichts. Ich bemerkte früh, dass es ihr sadistische Freude machte, etwas Schwächeres zu quälen – sie war wie besessen davon, mir Schmerz zuzufügen, und sie prahlte sogar gern vor Bekannten mit den Drangsalierungen, die sie mir antat, unverkennbar große Schadenfreude im Gesicht. Mein Vater war zwar zurückhaltend und nicht gewalttätig, aber er schien unnatürlich kalt und desinteressiert an seinem einzigen Kind – narzisstisch gestört. Er war auch spielsüchtig, und als ich 15 Jahre alt war, machte er so viele Spielschulden, dass wir zuletzt das Eigenheim verkaufen mussten.

Danach trennten sich meine Eltern und zogen auseinander, und mein Vater nahm ein Jahr lang überhaupt keinen Kontakt mehr mit mir auf, während ich allein war mit einer verrückten Frau, die oft schon zum Frühstück Jack Daniels trank. Die Situation eskalierte, als meine oft betrunkene und zeitweise direkt wahnkranke Mutter mich in meiner aufblühenden Jugend als ihre verhasste Konkurrentin wahrnahm und versuchte, mich zu verstümmeln und fürs Leben zu schädigen. Ich konnte ihren Attacken mit knapper Not entgehen, doch sie drehte die Situation eiskalt um, spielte vor anderen das arme unschuldige Opfer und behauptete mit perfider Schadenfreude, ich hätte sie angegriffen, und ihr wurde mehr geglaubt als mir. Hilfe von Verwandten, Nachbarn oder auch Vertrauenslehrern in der Schule erhielt ich zeitlebens nicht. Nach vielen Misshandlungen durch die Borderline-Hexe, die bis in mein Erwachsenenalter reichten, verwirklichte ich mit Anfang Dreißig „no contact“ und wurde von ihr deshalb als böse Tochter diffamiert.

Mein dement gewordener Vater starb, erst 71, an den Folgen einer Lungenentzündung im Pflegeheim. Meine Borderline-Mutter hat sich kurz darauf eine Überdosis gegeben. Zurück blieb ein Haufen wirrer Testamente, in denen ihre Mitwisser als Erben eingesetzt wurden.

Zeitlebens fühlte ich mich von meinen Eltern verraten. Was ich nicht wusste als Kind, und was mir auch später niemand erklärte, bis ich erwachsen war, war die Tatsache, dass meine Mutter psychisch krank war: Borderline, und dass auch mein Vater, als der Ermöglicher ihres Wahns, eine psychische Störung hatte, Narzissmus.

Wurde ich misshandelt und missbraucht? Ja, aber ich wusste es nicht. Ich hatte damals die undefinierte und verschwommene Vorstellung, Kindesmisshandlung finge erst bei Knochenbrüchen an, alles andere sei irgendwie noch „normal“, und wenn mich heute jemand fragt, war dieser mein Denkfehler kein Zufall, sondern Effekt einer falschen Darstellung des Themas „Kindesmisshandlung“ in den Medien. Es war so, dass die Medien damals noch sehr beschönigend berichteten, so dass auch bei den Opfern eine Art Grauzone als Endeindruck blieb und die bange Frage, ob sie denn wirklich „echte“ Opfer seien, oder einfach, wie eine damals oft gehörte perfide Unterstellung nahelegt, hypersensibel. Genau diese diffuse Grauzone der Wahrnehmung wollte eine Gesellschaft meines Erachtens auch erzeugen, die die Täter schützte. Deshalb wusste ich lange Zeit nicht genau, ob ich wirklich misshandelt wurde, und wenn mir selbst mal die Idee kam, dass es sich bei dem tyrannischen Fordern und Einschüchtern, dem Dauergeschrei und Poltern, den Beleidigungen unter der Gürtellinie, den Schlägen, die ohne Grund auf mich einprasselten und sich exzessiv steigerten, wenn ich Widerstand leistete, den Bedrohungen und Ausbeutereien meiner Person um Misshandlung handelte, wurde ich wieder unsicher und fragte mich, wo die Grenzlinie zur Misshandlung eigentlich beginnt, denn sie war für mich nirgendwo klar definiert, und sie wurde auch nicht als Problem benannt.

Das Gesetz zur gewaltfreien Kindererziehung ist in Deutschland seit 2000 in Kraft. Mir persönlich hat es nichts mehr gebracht, denn im Jahr 2000 war ich schon erwachsen, schwer traumatisiert und hatte gerade eine Kindheit und Jugend des Grauens hinter mir, nicht um endlich aufzuatmen, sondern vielmehr, um im Studium nochmals eine Hölle zu durchleben. Ich hoffe ausdrücklich, dass das Gesetz zur gewaltfreien Kindererziehung für andere Menschen, die heute Kinder oder Jugendliche sind, besser wirkt und in ihrem Leben einen echten Schutzraum entstehen lässt. Die Chance besteht, dass zumindest Außenstehende früher aufmerksam werden, und Alkoholiker- oder Borderline-Eltern schneller identifiziert werden, da der gewaltsame Umgang mit dem Kind auch Symptom einer schweren psychischen Störung bei den Eltern sein kann. Es ist ein großer Fortschritt, dass das Schlagen, Beschimpfen und Bedrohen von Kindern eben nicht mehr – verwirrend für die Opfer – wie früher als „Erziehung“ ausgelegt wird, sondern allmählich ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür entsteht, dass Kindesmisshandlung ganz andere Gründe haben könnte als die vielzitierte angebliche „Überforderung“: Alkoholismus oder Borderline bei den Eltern etwa. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass den Kindern solcher Eltern heute früher geholfen wird, wenn sie sich über die missbräuchliche Behandlung im Elternhaus beklagen. Ich weiß jedoch auch aus eigener Erfahrung, dass Eltern, die ihr Kind misshandeln und sich dabei völlig im Recht fühlen, noch zu ganz anderen Dingen fähig sind – zumal, zumal wenn das alles nichts mit Erziehung in irgendeinem noch so verqueren Sinn zu tun hat, sondern nur mit dem hemmungslosen Sich-Abreagieren eines Kranken, der impulsiv seine übertriebenen Launen auslebt. Gewaltschutz für Kinder ist schon viel, aber leider noch nicht alles; es kommt auch anderes hinzu, was dort den Alltag durchzieht wie eine giftige, eklige Farbe: die feindselige Atmosphäre in solchen Häusern, die ständige Anspannung vor der kommenden Attacke, die völlige Nicht-Einschätzbarkeit der Borderline-Hexe, wann sie buchstäblich wieder zuschlägt, was von einer Laune abhängt – und Launen hat sie bekanntlich viele.

Meine Eltern haben mich isoliert, beleidigt, vernachlässigt, hungern lassen, grob geohrfeigt (nur die Borderline-Hexe), geprügelt (nur die Borderline-Hexe), durch fingierte Dokumente und falsche Urkunden geschädigt (nur die Borderline-Hexe), sexuell gedemütigt (nur die Borderline-Hexe), meiner Mittel beraubt, öffentlich lächerlich gemacht. Dieser Terror gegen mich vollzog sich über 30 Jahre lang, im Fall der Borderline-Hexe kann ich sogar sagen: mit ausdrücklichem Genuss. Wer die Täter wirklich waren, dem gehe ich im Folgenden nach: ich male ein Porträt der beiden und ihrer Beziehung zueinander, damit ersichtlich wird, wie gestört das Familiensystem schon war, bevor ich zur Welt kam, aber auch, um zu zeigen, wie schwierig es für mich war, zu entkommen. Es soll jedoch auch anderen Betroffenen Mut machen, ihre eigene Lebensgeschichte aufzuschreiben und genau hinzusehen, wer etwas verursacht hat – und wie sie sich heute, hoffentlich mit Abstand zu den Tätern, selbstbestimmter definieren können. Durch meinen eigenen häufigen Perspektivenwechsel versuche ich im Folgenden, die steile Gratwanderung zwischen Erfahrungswissen und fachlichen Tipps zu meistern und möchte so das problematische Lebensbild „Kind psychisch kranker Eltern“ anschaulicher machen für diejenigen, die es nicht kennen, und es auch solidarisch verkraftbarer machen für diejenigen, die es kennen.

II. Meine Eltern als Beispiel einer Missbrauchsfamilie

Er

Mein Vater.

Mir fällt auf, dass ich “Vater” sage und nicht Erzeuger. Denn meine Erzeugerin kann ich nicht anders nennen als so, ich kann es eben nicht. Aber meinen Vater nenne ich schon so, “Vater”. Ich glaube nämlich, er hat mir das Leben gerettet, als ich noch ein Säugling war.

Mein Vater war es, der eine Pflegefamilie für mich suchte, als ich etwa zwei Jahre alt war, weil sie, seine psychisch kranke Gattin, mit meiner Pflege offenbar rettungslos überfordert war, mehr noch: weil sie schon angefangen hatte, mich zu quälen und Spaß daran zu finden. Ein Familiengericht war hier meines Wissens nie eingeschaltet – leider, denke ich heute, denn außerhalb der objektivierenden Öffentlichkeit eines Gerichts, in aller Heimlichkeit, konnten meine Eltern willkürlich mit mir verfahren, wie willkürlich sie nur wollten. Doch zunächst war der Aufenthalt bei meinen Pflegeeltern5 gut und vielleicht hat er mir das Leben gerettet – von meiner Erzeugerin wusste ich nämlich, dass sie es ablehnte, mich zu versorgen und mich stundenlang allein im dunklen Zimmer liegen ließ und nicht reagierte, angeblich um mich nicht zu “verwöhnen”. Später hat sie selbst mehrfach vor Verwandten und Bekannten mit ersichtlichem Stolz erzählt, dass sie damals so stark war, sich von “der dummen Sort´ nicht manipulieren zu lassen”, wie die Borderline-Hexe sagte, also auf mich als Kleinkind einfach nicht zu reagieren. Der Einzige, der vernünftig war, mein Vater also, brachte mich besorgt von ihr weg, zu Leuten, die Kinder mögen und gut behandeln, doch leider hielt diese seine Vernunft nicht an, als ich Jahre später wieder in die leibliche Familie zurückkommen musste, denn nun herrschte dort sie, unerbittlich, und er hatte es offensichtlich völlig aufgegeben, ihr Widerstand zu leisten oder mich zu beschützen.

Mein Vater war ein recht gebildeter Mann und hatte unter anderem in Frankreich studiert, wobei man sagen muss, dass seine vielseitige Begabung – er war Sternzeichen Zwilling – schon dort Ausblühungen zeigte und für einige Abwege sorgte. Seine raren Erzählungen vom Studium endeten immer in Monaco, im Spielcasino von Monte Carlo, wo ihn angeblich Fürst Rainier persönlich begrüßte; natürlich war das nur „Seemannsgarn“ eines Narzissten. Mein Vater war der geborene Show-Man; alle hielten ihn für etwas Besonderes, obwohl er nur ein einfacher Beamter war, aber dieses schillernde Spiel mit der Identität hat er offenbar schon sehr früh beherrscht. Tatsache war, wie mir seine Studienfreunde später, als sie alle alte Männer waren und bei irgendeinem 60. Geburtstag die Rede darauf kam, erzählten, dass mein Vater sein Stipendium „verzockt“ hatte und zuletzt mittellos am Strand von Monaco stand, die Lichter des Spielcasinos hinter sich und die Frage im Herzen, wie er das Rückticket bezahlen sollte. Immerhin, sein Studium (das er später ohne ein Stipendium in Deutschland fortsetzte) hatte doch einen gewissen Einfluss auf seine Lebensart; er besaß tatsächlich viele gute Bücher, vor allem über Kunst, Theater und Philosophie und anspruchsvolle Romane, er konnte angeblich Klavier spielen, aber er tat es nie und brachte es mir auch nicht bei, er war auch angeblich mal sehr sportlich. Wie sah mein Vater aus? Er war ein wirklich hübscher Mann, blondlockig und blauäugig, in den letzten Tagen des Dritten Reichs 1944 geboren, und sein Vorname „Herrmann“ (der Cherusker) war offengesagt auch noch eine subtile politische Reminiszenz, denn seine Mutter, eine recht einfache Frau, glaubte naiv an den „Endsieg“, wie damals viele, und es war sicherlich ein Schock für sie, dass kurz darauf alles in Luft aufging, Führer, Sieg-Fantasien, heroische Namen und all das. Mein Vater hatte zudem einen neun Jahre älteren Bruder, der einen noch viel heroischeren Namen bekommen hatte als er selbst (ich glaube, er war „Lohengrin“ nur knapp entronnen), und dieser Bruder sollte später als mein Onkel eine gute, aber leider nur vorübergehende Rolle in meinem Leben spielen, denn er starb sehr früh. Mein Onkel hinterließ eine blonde Witwe, in deren Augen ständig Dollarzeichen aufleuchteten, weil sie sich buchstäblich für nichts interessierte als für anderer Leute Geld und wie sie etwas davon abbekommen könnte (selbst gearbeitet hat sie eigentlich nie), und zwei Söhne, Axel und Olaf, meine einzigen Cousins, die sich nur wenig aus mir machten, zumal sie deutlich älter waren. Interessant war bei der Familie meines Vaters, dass die Eltern offenbar sehr getrennte Wege gingen, was die Politik anging: während seine Mutter ernsthaft glaubte, ihre beiden Söhne heroisch taufen und zu deutschen Helden erziehen zu müssen, war sein Vater Pazifist aus Überzeugung und weigerte sich strikt, auf Menschen zu schießen. Das ging seinerzeit nicht gut, denn deshalb wurde er von den Nazis als Deserteur in irgendein Gefängnis gebracht und starb kurz nach Kriegsende, einen viel zu ernsthaften Teenager hinterlassend und einen verwöhnten Erstklässler, dem die Vaterlosigkeit nicht guttat.

Obwohl mein Vater hochintelligent war, was man ihm trotz seiner Spielernatur nicht aberkennen konnte, war er sein ganzes Leben lang mit Oberflächlichkeit beschäftigt und hielt sein eigenes Äußeres für umwerfend, was natürlich nur eine andere Facette seines Narzissmus war. Eitel war er: er benutzte Männerkosmetik, bevor “Metrosexualität” ein Trend war (ich erinnere mich an ein schlammfarbenes Seesand-Peeling von Yves Rocher, das er mit Kennermiene sorgfältig vor dem Badspiegel applizierte, bevor er morgens zur Arbeit ging), er trug gern Maßschuhe aus grauem Schlangenleder und auffällige Hemden, und überhaupt war er eine Gestalt mit Allüre, obwohl er kein Schauspieler oder ähnliches war. Manche Frauen fanden ihn sehr attraktiv und umgarnten ihn, wie einige Mütter meiner Schulfreundinnen, die mir immer verstohlen ausrichteten, ich sollte doch bitte meinen schönen Vater grüßen (was ich nie tat), doch soweit ich weiß, war er seiner Gattin treu, treuer vielleicht als sie ihm, die bei jeder Gelegenheit nach einer anderen Partie Ausschau hielt. Und: er war ein pathologischer Spieler, er “zockte”, beim Pferderennen, und mit Aktien, immer auf der Suche nach dem „hasard“, dem Glück. Darüber vergaß er alles.

Aber wer war er, Hermann, Vater, Fremder, Freund, Feind? Vielleicht war er mal der Retter meines Lebens, weil er damals die Pflegefamilie arrangierte, meinen ersten Lichtblick. Aber seit meiner frühen Kindheit hat er kaum mehr mit mir geredet, mich ignoriert und keine Beziehung zu mir aufgebaut, wie es viele narzisstische Väter tun. Er verweigerte die Beziehung zu mir, und doch war er noch besser als die Borderline-Mutter, weil er mir zumindest nicht aktiv schaden wollte. Durch seine extreme Passivität war ich ihr ausgeliefert, denn wie einst der Jäger der bösen Königin in „Schneewittchen“, brachte er mich nicht um, aber überließ mich meinem Schicksal. Im Haus herrschte – sie.

5 Vom zweiten bis zum fünften Lebensjahr lebte ich zeitweise in einer Pflegefamilie, weil meine leibliche Mutter die Pflege ablehnte und begonnen hatte, mich zu quälen. Nach dem fünften Lebensjahr wurde ich unvermittelt aus der Pflegefamilie herausgerissen und gezwungen, wieder mit meiner Borderline-Mutter zu leben, die jeden Widerstand mit Gewalt und fanatischer Dominanz brach (A.d.A.).

Sie

Meine Erzeugerin.

Mein Partner Anton hat sie einmal meine “Todfeindin” genannt. Das stimmt auch. Es ist die treffendste und richtigste Bezeichnung, die es gibt.

Ich glaube nicht, dass mir ein anderer Mensch in meinem Leben so geschadet hat, mit so viel Vorsatz, wie meine Erzeugerin. Ich glaube auch nicht, dass ein anderer Mensch mir so sehr schaden kann, hier und heute; ich bin abgehärtet, aber nicht abgestumpft.

Sie hieß Judith und war Sternzeichen und Aszendent Steinbock: hart wie Granit. In der Schule lernte ich die Figur Judas aus der Bibel kennen und dachte als Kind ernsthaft, Judith sei die weibliche Form dieses Namens. Judas hatte Jesus mit einem Kuss verraten; Judith hatte mich nie geküsst, mich aber mein Leben lang verraten.

Von ihr weiß ich eigentlich nicht viel Biografisches, denn da sie ein Einzelkind war, hatte sie keine Schwestern und Brüder, die mir als Tante oder Onkel hätten Auskunft geben können. Sie hat sich stets geweigert, mir, der “dummen Nuss”, irgendetwas von sich zu erzählen und sich so zu mir niederer Lebensform herabzulassen. Ich weiß von ihrer Familie folglich nur Bruchstücke und nur aus zweiter Hand, da meine beiden Großeltern mütterlicherseits schon tot waren, als ich zur Welt kam. Was ich weiß, stammt von der alten Haushälterin Apollonia, einer verhärmten Arbeiterfrau in Schwarz, die mir viel erzählt hat, als ich im Alter von 13 Jahren einmal an ihrem Haus vorbeikam und sie mich erkannte. Meine Erzeugerin war das einzige Kind und ihre Eltern waren Immobilienunternehmer, die Geschäfte mit der lokalen Industrie machten, und daher vermögend wurden, mit Pferden und Land (so konnten sie sich auch die Haushaltshilfe leisten). Meine Großeltern mütterlicherseits waren ganz anders strukturiert als die Eltern meines Vaters, denn als Unternehmer hatten sie einen viel kritischeren Blick auf Gesellschaft und Politik und glaubten, dass das Dritte Reich nur ein kurzfristiger schlechter Witz sein könnte. Meine Großmutter pflegte zu sagen: „Der Kaiser macht uns arm und die Kirche dumm“, und obwohl es zu ihrer Zeit ja eigentlich schon keinen Kaiser mehr gab, galt dieses Misstrauen pauschal für alle, die sich Obrigkeit nannten.