Die fünfte Braut - Julianna Grohe - E-Book

Die fünfte Braut E-Book

Julianna Grohe

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Beschreibung

In Wahrheit hat sich Rapunzel selbst aus dem Turm befreit …  Sag nicht ›teuflisch‹, zeige niemandem, dass du kämpfen kannst, und verliebe dich auf gar keinen Fall in einen der Prinzen!  Dummerweise habe ich jede einzelne dieser Regeln gebrochen.  Als ihre Räuberbande die Kutsche eines arroganten Herren überfällt, ahnt Frederica noch nicht, dass sie sich mit einem der wichtigsten Männer von ganz Fairona anlegt. Doch als sie ihm auf Wondringham Castle wiederbegegnet, wo die vier Prinzen nach geeigneten Ehefrauen suchen, stehen drei Dinge fest.  Erstens: Frederica hat vielleicht ein klitzekleines bisschen unterschätzt, was es bedeutet, an einer königlichen Brautschau teilzunehmen. Zweitens: Der Fremde mit den stahlblauen Augen, der ihr Herz zum Rasen bringt, ist einer der vier Prinzen und dazu noch verdammt attraktiv. Drittens: Die explosive Spannung zwischen ihnen wird unaufhaltsam zu einem Desaster führen.  Aber eine Räubertochter lässt sich von solchen Dingen nicht ins Bockshorn jagen. Sie wird tun, was sie tun muss: die Zähne zusammenbeißen und kämpfen. 

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 552

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die fünfte Braut

JULIANNA GROHE

Copyright © 2025 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Julia Adrian

Korrektorat: Lillith Korn

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-248-8

Alle Rechte vorbehalten

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining

im Sinne von §44b UrhG ausdrücklich vor.

Inhalt

1. Henry

2. Frederica

3. Frederica

4. Frederica

5. Frederica

6. Frederica

7. Henry

8. Frederica

9. Henry

10. Frederica

11. Frederica

12. Henry

13. Frederica

14. Frederica

15. Henry

16. Frederica

17. Henry

18. Frederica

19. Frederica

20. Henry

21. Frederica

22. Frederica

23. Frederica

24. Henry

25. Frederica

26. Henry

27. Frederica

28. Frederica

29. Frederica

Henry

Danksagung und Geburt eines (Buch-)Babys:

Personen

Drachenpost

EINS

Henry

Name: Philippa Este, 17 Jahre stand auf dem Bewerbungsbogen.

Ich runzelte die Stirn. Das war auf keinen Fall ihr wahrer Name. Ich war sicher, dass sie log, denn es bestand eine frappierende Ähnlichkeit zu einem gewissen Räubermädchen aus dem Talewood Forest.

Doch wie war eine Gesetzlose an eine Einladung zur Brautschau der Prinzen gelangt, die ausschließlich an die adligen Familien des Landes gegangen waren? Täuschte ich mich? In ihrem Kleid sah sie überhaupt nicht mehr wie eine kleine Diebin aus und ihr dunkles Haar war länger als bei unserer ersten Begegnung.

Missmutig rieb ich mir über den Bartschatten und las weiter.

Besondere Fähigkeiten: Ich bin eine gute Reiterin.

Auch diese Information passte. Ich würde sie auf die Probe stellen und dafür sorgen müssen, dass man sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Dann würde sich sehr schnell zeigen, ob ich recht hatte mit meinem Verdacht.

Grund, weshalb die Prinzen mich auswählen sollten: Weil ich das Leben der Königlichen Hoheiten aufregender machen würde.

O ja, das glaubte ich unbesehen. Eine junge Lady, die in der Lage war, zehn kampferprobte Soldaten an der Nase herumzuführen, sollte man besser nicht unterschätzen.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir sie hochkant herausgeworfen, aber Darion gefiel ihr Kampfgeist – und vermutlich auch ihr hübsches Gesicht –, also bestand er darauf, dass sie bleiben und an der Brautschau teilnehmen durfte.

Ich stieß einen Fluch aus. Diese Frau würde uns noch einen Haufen Ärger bereiten …

ZWEI

Frederica

SECHZEHN MONATE ZUVOR …

Ein spätsommerlicher Wind rauschte durch die Blätter des Waldes und ließ flirrende Lichtmuster auf dem Boden tanzen. Es roch nach dem Regen, der heute Nacht gefallen war, nach Laub, Baumharz und Pferd. Ich sog den Duft tief ein und hätte am liebsten gejubelt, denn heute war mein neuer Lieblingstag. Heute würde ich ein vollwertiges Mitglied der Räuberbande werden.

Im gesamten Süden Faironas – weit über den Talewood Forest hinaus – waren die Gentleman-Räuber als ausgesprochen ehrbare Diebesbande bekannt. Zwar hatten wir Fitzgeralds kistenweise Beute nach Hause geschleppt, aber noch nie war bei einem unserer Überfälle jemand ernsthaft verletzt worden. Darauf legten wir Wert. Zusätzlich stahlen wir nie von den Armen. Die Herrschaften, die das Vergnügen unserer Bekanntschaft machten, waren ausnahmslos derart reich, dass es sie kaum kratzen dürfte, einen winzigen Teil ihres Vermögens mit uns zu teilen. Kam uns jedoch jemand Bedürftiges über den Weg, konnte es schon einmal geschehen, dass derjenige mit mehr Geld von dannen zog, als er zuvor besessen hatte. Da ließen wir uns nicht lumpen.

Umso stolzer war ich, endlich Teil dieser wilden Truppe zu sein, die aus meinem Onkel, meinen Brüdern und meinen fünf Cousins bestand. Zufrieden summte ich im Takt der Tritte meiner Fuchsstute Whiskey und blickte nach vorn, wo mein Onkel unseren Zug anführte.

»Hey, Freddy, bist du dir wirklich sicher, dass du heute mitmachen möchtest?«

Ich warf meinem ältesten Bruder James, der neben mir ritt, einen verächtlichen Blick zu. James war mal wieder überängstlich. Mutter sagte, es sei seine Pflicht als zukünftiges Familienoberhaupt, für mein Wohlergehen zu sorgen, ich jedoch fand, dass er diese Aufgabe zu ernst nahm.

»Noch kannst du umkehren«, fügte er in diesem weichen Tonfall hinzu, der verriet, dass er längst wusste, wie ich reagieren würde.

»Wenn du glaubst, dass ich noch mal zu Hause in meinem Kämmerlein hocken bleibe, während ihr fette Beute macht, hast du dich geschnitten.« Nachdrücklich spie ich eine Ladung Spucke an den Wegrand zwischen die Bäume. Zumindest das gelang mir genauso gut wie meinen Brüdern.

»Ich kann Tom bitten, dich heimzubringen.«

»Und mir währenddessen sein Gejaule anhören, dass er den ganzen Spaß verpasst? Niemals!«

»Kindermund tut Wahrheit kund. Räuberkind lügt ganz geschwind«, brummte mein mittlerer Bruder Michael. Er liebte Sprichwörter, die er gern auf Räuberart verschandelte. Zusammen mit meinem dritten Bruder Tom, der nur zwei Jahre älter war als ich, war er zu uns aufgerückt.

Ich funkelte auch ihn wütend an.

»Schon gut, schon gut.« James trieb sein Pferd neben das meines Onkels, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

»Ein Kampf kann mich nicht abschrecken«, rief ich ihm hinterher.

Unsere Eltern hatten mich wie einen Sohn aufgezogen. Sie hatten mich mit den anderen kämpfen, Bogenschießen üben und reiten lassen. Und da ich nur die abgelegten Kleidungsstücke meiner älteren Brüder trug, war ich auch bei unseren Ausflügen in die Stadt als Junge durchgegangen.

Es war einfacher, unauffällig zu bleiben, wenn es in der Familie kein Mädchen gab, das in die Gesellschaft eingeführt werden musste.

Außer meiner Familie wusste niemand, dass ich kein Bursche war, und in der Nähe unserer Burg lebten glücklicherweise keine neugierigen Menschen, die sich hätten wundern können, weshalb der jüngste Sprössling der Familie Fitzgerald noch nicht in den Stimmbruch gekommen war und kein einziges Haar am Kinn trug.

Wie eine Frau sah ich auch gar nicht aus. Meine gelockten Haare waren kurz, meine Brüste nicht übermäßig groß und ich trug die gleiche grobe Hose und Jacke wie die Jungs. Und wenn es nachher richtig losging, würde ich, so wie sie, ein hellgrünes Tuch vor Mund und Nase tragen – das Markenzeichen der Gentleman-Räuber.

»Freddy kämpft wirklich gut«, sagte Michael zu Tom. »Letzte Woche hat sie mich im Nahkampf besiegt.«

»Ja, weil sie mit Tricks gearbeitet und dich reingelegt hat!«

»Mag sein, aber das konnte sie nur, weil sie ihr Hirn benutzt. Wenn du glaubst, dass deine Gegner immer fair kämpfen werden, dann bist du noch ein größerer Strohkopf, als ich dachte.«

Noch während sie stritten, erreichten wir die Stelle, an der der Überfall stattfinden sollte, und banden die Pferde in einiger Entfernung fest, damit sie uns nicht verraten konnten.

»Freddy, du kletterst in die Bäume und befestigst die Seile«, befahl mein Onkel, ein gedrungener, gutmütiger Mann von vierzig Jahren mit dunklem Vollbart. Dann wandte er sich an alle: »Wenn ihr etwas hört, verschwindet ihr sofort im Gebüsch. Tom, du hältst Ausschau nach unliebsamem Besuch.«

»Jawoll, Sir!« Mein Bruder machte sich davon, um von einem günstig stehenden Baum aus den Weg zu überwachen. Es sah lustig aus, wie er mit seinen schlaksigen Gliedmaßen den Stamm erklomm.

Die Stelle war perfekt gewählt. Sie lag auf einem Hügel, an dem sich der Weg in weiten Schwüngen emporschlängelte. So sah man schon aus der Ferne, was für ein Gefährt nahte. Ein einfacher Karren auf dem Weg zum Markt nutzte uns schließlich wenig.

Um vorbeifahrende Kutschen zum Anhalten zu zwingen, versperrten wir den Weg mit einem Baumstamm, den wir so präparierten, dass er wie von einem Sturm abgeknickt wirkte.

Meine Aufregung wuchs.

Behände bestieg ich ebenfalls einen Baum, um Seile im Geäst zu befestigen. Daran würden wir auf beiden Seiten des Weges dünne Stämme knoten, die nachher hinunter zu den Speichen der Kutschräder schwingen sollten, um diese zu blockieren.

Gerade kümmerten wir uns um die letzten Knoten, als Toms Ruf ertönte. »Da kommt eine Privatkutsche! Prächtiges Ding. Vierspännig. Drei bewaffnete Reiter und zwei Mann auf dem Kutschbock.«

Hektik brach aus. Drei Reiter? Das war zu schaffen, schließlich waren wir in der Überzahl.

»Maskiert euch und alle auf ihre Plätze«, befahl mein Onkel. »Freddy, du bleibst in der Baumkrone. Wage es ja nicht, herunterzukommen.«

»Das hatte ich auch nicht vor«, murmelte ich, während ich auf einen starken Ast kletterte, auf dem mich das dichte Laub vor Blicken verbarg, und meinen Bogen bereit machte. Unter mir im Gebüsch sah ich den Haarschopf von einem meiner Cousins. Er hatte die gleiche braune Haarfarbe wie meine Brüder. Nur meine Locken waren noch dunkler.

»Beten wir, dass es zu keinem Kampf kommt«, brummte mein Onkel und schob sein grünes Tuch vor Mund und Nase. »Und jetzt still und keine Bewegung mehr.«

Ich verdrehte die Augen, denn schließlich war jedem von uns klar, dass der Überraschungseffekt flöten ging, wenn auch nur ein Kutschpferd nervös den Hals hochriss.

Mucksmäuschenstill hockten wir in unseren Verstecken, allein mein Herz klopfte verräterisch laut.

Die Chancen standen gut, dass die Reisenden ganz von allein aufgeben würden, wenn sie erst unsere hellgrünen Tücher sahen. Die meisten atmeten auf, kaum dass sie uns erkannten, und rückten brav ihre Wertsachen heraus. Niemand würde leiden, niemand würde unsittlich bedrängt werden, dafür waren die Gentlemen-Räuber bekannt. Man munkelte sogar, dass die jungen Damen unter den Reisenden es still und heimlich genossen, wenn sich meine gut aussehenden Brüder und Cousins mit einem charmanten Augenzwinkern oder gar einem Handkuss für die Übergabe ihrer Halsketten bedankten.

Pferdehufe und das Knirschen von Kutschrädern ertönte und ich hielt den Atem an. Es war so weit. Das Gefährt stoppte vor dem Baumstamm.

»Bleibt wachsam«, sagte einer der Reiter leise, anscheinend der Anführer. »Das hier gefällt mir nicht.« Seine Stimme klang ruhig, doch ich sah, wie sein Blick unablässig die Umgebung absuchte und wie seine Hand an der Hüfte lag, wo er einen Säbel trug. Sein schwarzer Hengst tänzelte nervös.

Er ahnte etwas. Hoffentlich blickte er nicht nach oben, denn dort hockte ich auf meinem Ast und richtete einen Pfeil genau auf sein Herz.

Jetzt stiegen zwei Männer vom Kutschbock. Während der Kutscher die Pferde hielt, versuchte sein Gehilfe, den Stamm zur Seite zu zerren. Einer der bewaffneten Reiter saß ab und half ihm.

Das war unser Zeichen. Schlagartig wurde es hektisch. Die Kutschpferde rissen erschrocken die Köpfe hoch, als unsere Jungs die Räder mit den Stämmen blockierten und die Kutsche umzingelten. Eilig griffen die Reiter nach ihren Säbeln und bemühten sich gleichzeitig, ihre tänzelnden Pferde im Griff zu behalten.

»Waffen weg, dann wird Ihnen nichts geschehen«, dröhnte die Stimme meines Onkels.

Für einen Moment herrschte Stille, die so gespannt war wie eine Schnur kurz vorm Zerreißen. Dies war der Moment, in dem sich entschied, ob die Sache unblutig ausging.

»Sie haben unser Ehrenwort«, fügte mein Onkel hinzu. »Geben Sie uns einfach das Geld und die Wertsachen und Sie können unversehrt weiterreisen, meine Herrschaften.«

Gewiss wäre alles gut gegangen, wenn der junge Bursche, der neben dem Kutscher gesessen hatte, nicht die Nerven verloren hätte und in den Wald gerannt wäre.

Mein jüngster Cousin hetzte hinterher, was ziemlich dumm war, denn nun wendete der Anführer unter mir sein Pferd, um den beiden zu folgen. Die Sache eskalierte.

Im Bruchteil einer Sekunde fällte ich eine Entscheidung. Mein Bogen war nutzlos, wenn ich nicht gerade auf ein Pferd schießen wollte.

Hastig schwang ich mich von meinem Ast herab und ließ mich fallen. Wie geplant landete ich hinter dem Reiter und klammerte mich an ihm fest, obwohl sein Pferd vor Schreck einen Satz machte. Mein Bogen fiel zu Boden.

Ich riss mein Messer heraus und hielt es dem Mann an den Hals. »Sofort die Waffe fallen lassen«, befahl ich, während James den anderen Reiter vom Pferd zog und ihn in einen Zweikampf verwickelte.

»Junger Mann, denken Sie wirklich, Sie können mich so einfach überwältigen?«, knurrte der junge Herr vor mir.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen, Sir. Wir werden Sie unbeschadet gehen lassen. Wir wollen nur das Geld.«

»Aber was, wenn ich es euch nicht geben will?«

Ja, war der Kerl denn von allen guten Geistern verlassen? Wollte er denn gar nicht die Damen, oder wer da auch immer in der Kutsche saß, beschützen?

Ich umfasste das Messer fester. »Ich lasse mich nicht gern veralbern«, zischte ich in sein Ohr.

Er roch ziemlich gut – für solch einen Dummkopf.

Im selben Moment sprang sein Pferd nach vorn und ich musste das Messer wegnehmen, um mich mit aller Kraft am Reiter festzuklammern. Bevor ich mir darüber klar werden konnte, ob es tatsächlich durchging oder ob der Herr es absichtlich angetrieben hatte, waren wir schon in den Wald hineingeschossen.

Teufel auch. Jetzt hatte ich ein Problem.

»Halten Sie sofort an«, brüllte ich.

»Ich … kann nicht.« Seine Stimme klang merkwürdig.

»Nun machen Sie schon, das kann doch nicht so schwer sein!«

»Ich habe keine Kraft«, keuchte er.

Wie bitte? Der Kerl machte überhaupt nicht den Eindruck, als wäre er schwächlich. Er war hochgewachsen, drahtig und besaß ziemlich beeindruckende Bauchmuskeln, wie ich unter meiner Hand fühlte. Außerdem war er jung und ein hervorragender Reiter. Wollte er mich hereinlegen?

Jetzt fing er auch noch an, unkontrolliert hin- und herzuschwanken.

Zum Glück wurde das Pferd langsamer.

»Hilfe«, hauchte der Reiter. »Ich glaube, ich werde …« Ohne den Satz zu vervollständigen, kippte er aus dem Sattel, sodass ich loslassen musste. Er fiel der Länge nach in den Farn, wo er reglos liegen blieb.

Verflucht! Was sollte ich tun? Absteigen wäre zwar ziemlich dumm, aber ich konnte ihn unmöglich einfach so zurücklassen. Also rutschte ich vom Pferd und trat näher. Die Nadeln der umstehenden Fichten dämpften meine Schritte.

Misstrauisch stupste ich ihn mit meiner Fußspitze an. »Sir? He, Sir, nun wachen Sie schon auf!« Keine Reaktion. Mit dem Messer in der Hand kniete ich neben ihn, um seinen Puls zu fühlen. Sein Herz würde doch nicht etwa vor Schreck aufgehört haben zu schlagen? »Sir?«

Ehe ich wusste, wie mir geschah, packte er meine Handgelenke, warf mich auf den Rücken und setzte sich rittlings auf mich. Das Messer entglitt mir.

»Es war teuflisch dumm von Ihnen, davonzureiten, obwohl Sie eine Waffe an der Kehle hatten«, fauchte ich ihn an und starrte zu seinem fein geschnittenen Gesicht auf, das von zerzausten dunklen Haaren umrahmt wurde.

»Du bist keine Mörderin«, antwortete er schlicht und drückte meine Hände über mir ins Moos, sodass ich mich kaum rühren konnte.

»Pah!« Ich stutzte. »Sie haben gemerkt, dass ich kein Junge bin?«

Das war bisher noch nie passiert. Zumal mein Tuch nicht verrutscht war, sondern nach wie vor Mund und Nase bedeckte.

»Nun, es hat ein wenig gedauert, muss ich gestehen, aber du riechst zu gut.« Er plinkerte mit seinen verwirrend langen dunklen Wimpern.

Ich runzelte die Stirn. »Ich rieche gut?« Das war sein Beweis?

»Das und deine … äh … anderen beiden Argumente.« Er wirkte ein wenig verlegen.

»Hä?«

»Nun ja. Du hast dich nicht wie ein Mann angefühlt, als du dich an mich geklammert hast.« Mit leicht gequältem Blick schaute er an mir herab.

»Oh!« Die Erstarrung fiel von mir ab und ich begann, mich aus Leibeskräften zu wehren. »Machen Sie, dass Sie von mir runterkommen, Sie … Sie Unhold!«

Er lachte auf, ohne seinen Griff zu lockern. »Unhold?«

»Ja, Sie Schuft. Alles, was ich Ihnen sonst noch an den Kopf werfen will, würde Sie wirklich in Ohnmacht fallen lassen.«

Seine erstaunlich sinnlichen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.

Ha! Das würde ihm schon noch vergehen. Ich nutzte seine Unachtsamkeit, packte seinen linken Arm und wickelte gleichzeitig meinen linken Fuß um sein Bein. Dann riss ich die Hüfte hoch, sodass er das Gleichgewicht verlor und ich mich aus seinem Griff rollen konnte. Kurz darauf war ich diejenige, die auf ihm saß, während er mich mit verdattertem Blick anstarrte.

Drohend legte ich die Handkante an seinen Hals. »Mal im Ernst. Sie müssen wirklich lebensmüde sein, wenn Sie sich mit jemandem anlegen, der ein Messer in der Hand hält. Sie kennen mich nicht. Wie wollen Sie wissen, dass ich nicht womöglich kurzen Prozess gemacht hätte?«

»Intuition«, antwortete er leichthin.

Es wirkte so dahingesagt, aber ich hatte den Verdacht, dass er in Wirklichkeit ein erfahrener Kämpfer war, der viel Übung darin besaß, derartige Situationen einzuschätzen. Daher brummte ich nur etwas Abfälliges in meinen nicht vorhandenen Bart und bereitete mich darauf vor, so schnell wie möglich abzuhauen.

Doch da hatte ich mich verrechnet, denn schon hatte der Fremde mich von sich gestoßen – als würde ich nichts wiegen, war er aufgesprungen und stand in abwartender Haltung vor mir. »Könnten wir bitte mit dem Unfug aufhören, kleine Räubertochter?«

Ich verdrehte die Augen. »Wir sind keine Räuber. Wir verteilen die Reichtümer nur ein wenig … um. An die Bedürftigen.«

»Womöglich an euch selbst?«, erkundigte er sich süffisant und versuchte, mein Handgelenk zu packen.

Hastig wich ich aus, sodass er ins Leere griff. »Nun, wie ich schon sagte: an die Bedürftigen.« Ich grinste entschuldigend.

Wieder versuchte er, mich zu erwischen, aber ich warf mich nach vorn, sodass meine Schulter seinen Bauch traf. Er gab ein dumpfes Geräusch von sich und taumelte nach hinten, wo er, wie von mir geplant, über eine hervorstehende Wurzel stolperte und zu Boden ging. Rasch lief ich zu seinem Rappen, der friedlich in der Nähe graste.

»Stopp! Der Hengst ist …« Aber da hatte ich bereits die Mähne gepackt und mich auf den Rücken des Tieres geschwungen.

»Leben Sie wohl, mein Herr«, rief ich dem Fremden zu, während er sich aufrappelte. »Der Spaziergang wird Ihr Gemüt ein wenig abkühlen.« Im Davonreiten hörte ich ihn fluchen.

Aus unerklärlichem Grunde musste ich den ganzen Rückweg über lächeln.

»Was hast du mit dem Herrn gemacht?«, fragte mein Onkel, als ich zurückkehrte.

Mittlerweile war unser Sack mit Wertsachen gefüllt und die Wachen und eine schimpfende Dame fortgeschrittenen Alters saßen verschnürt am Wegesrand. Eine hübsche junge Lady stand mit weit aufgerissenen Augen daneben und zitterte.

»Ach, der Herr hatte Lust auf einen Spaziergang.« Ich sprang vom Hengst und kraulte ihm lobend den Hals. Wunderbares Tier.

Meine Brüder und Cousins lachten und Michael spottete: »Hochmut kommt vor dem … Überfall.« Er hatte bereits unsere Pferde geholt, damit wir uns auf und davon machen konnten.

»Euch wird das Lachen schon noch vergehen«, zeterte die Dame. »Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um euch zu fassen, Lumpenpack!«

Es fiel mir außerordentlich schwer, sie ernst zu nehmen, denn sie war von Kopf bis Fuß in Rosa gekleidet. Selbst die Haube samt Federn war passend eingefärbt. Das aufgebauschte Kleid, welches sich im Eifer des Gefechtes bis zu ihren Knien hochgeschoben hatte, enthüllte dürre Beine. Sie erinnerte erschreckend an das kolorierte Bild eines Flamingos, das ich einmal in einem Buch gesehen hatte.

Die junge Dame neben ihr stand stocksteif da, als sich Michael näherte und mit einem gewinnenden Augenzwinkern ihre Hand ergriff. Er hauchte einen Kuss darauf, während er ihr tief in die Augen blickte. »Ihre Schönheit wird mich noch in meine Träume begleiten, Mylady«, säuselte er, um dann ebenfalls auf sein Pferd zu steigen und ihr zum Abschied eine Kusshand zuzuwerfen.

Die Wangen der jungen Dame überzogen sich mit Röte.

»Wie kannst du es wagen, du Strolch!«, kreischte der Flamingo. »Ihr werdet allesamt in die Hölle kommen. In die Hölle!«

Wir winkten ihr freundlich zu und ritten davon.

Auch wenn ich meine Fuchsstute liebte, war ich für einen Moment versucht gewesen, auf dem Hengst des Edelmannes sitzen zu bleiben. Aber diesen Herrn wollte ich lieber nicht zum Feind haben, und ich hatte so eine Ahnung, dass es ihm weniger ausmachte, wenn wir einen kleinen Teil seines Vermögens entwendeten, als wenn er seinen wunderbaren Rappen verlöre.

James trabte neben mich. »Warum bist du nicht einfach abgesprungen, als das Pferd losgelaufen ist? Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was alles hätte passieren können! Gegen diesen Herrn bist du ein Fliegengewicht.«

»Er wollte mit seinem Säbel hinter Nick her, da musste ich doch eingreifen! Und dann ging alles so schnell.« Ich seufzte, denn mir war bewusst, wie viel Glück ich gehabt hatte. »Es tut mir leid.«

»Aller Anfang ist hart – mit und ohne Räuberbart«, philosophierte Michael. »Du warst heute auf jeden Fall eine große Hilfe.«

»Danke«, murmelte ich.

»Freddy war ein verteufelt gutes Bandenmitglied«, stimmte mein jüngster Cousin Nick zu, der ebenfalls zu uns aufgeschlossen hatte. Er grinste anerkennend und ich spürte, wie ich innerlich um mehrere Zentimeter wuchs.

»Aber ihr Bartwuchs lässt ein wenig zu wünschen übrig«, konnte Tom sich nicht verkneifen. Alle lachten.

Ich verdrehte die Augen. Manchmal war es wirklich eine Plage, das Nesthäkchen zu sein.

Tief im Herzen des riesigen Talewood Forest durchbrach ein einzelner mächtiger Turm aus Stein mit einer wehrhaften Mauer und ein paar kleinen Nebengebäuden den grünen Baldachin aus Blättern und Zweigen: unsere Burg.

Ein Pfad schlängelte sich zwischen moosbedeckten Felsen und wilden Brombeeren entlang bis zum massiven Eingangstor, durch das wir nun ritten.

Zwölf Generationen meiner Familie hatten hier bereits gelebt und die steinernen Mauern waren von der Zeit gezeichnet. Efeu und wilde Blumen hatten sich in den Rissen festgesetzt, als ob auch die Natur Interesse daran hätte, die Burg verborgen zu halten. An einigen Stellen fehlten Dachschindeln und von den Fensterläden blätterte der Lack ab.

Seit dem Krieg gegen unser Nachbarland Lemorien vor vierzehn Jahren, der Unsummen an Steuern, Korn und Menschenleben verschlungen hatte, standen zahlreiche Adelsfamilien am Rande des Ruins. Auch uns war es so ergangen. Im Grunde waren uns nur die Burg, der Titel und die Verantwortung für die Menschen geblieben, die seit Generationen für und mit uns gelebt und gearbeitet hatten.

Der Großteil unserer Beute war für sie bestimmt: die Kriegswitwen und -waisen, die versehrten Veteranen und die Alten, die ihre Söhne an der Front verloren hatten. Die dringend notwendigen Instandsetzungsarbeiten an der Burg mussten warten.

Trotz allem war es das glücklichste Heim, das man sich denken konnte. Bei einer großen Familie mit zahlreichen Sprösslingen war immer Leben im Haus. Außer meinen Eltern und meinen drei Brüdern lebte dort auch noch die Familie meines Onkels väterlicherseits. Nach dem Tod seiner Frau im Kindbett war er mit seinen fünf Söhnen zu uns gezogen.

Nach unserer Ankunft zog ich mich bald zurück und stieg die Stufen zum obersten Stockwerk des Turms hinauf. Die anderen feierten unten in der Halle unseren erfolgreichen Raubzug und der Alkohol floss in Strömen, aber ich musste dringend über die Geschehnisse des Tages nachdenken.

Tief in Gedanken versunken betrat ich meine Kammer und hüllte mich in eine Decke, welche die abendliche Spätsommerkühle fernhalten sollte. Hier gab es keinen Kamin, aber das machte mir nichts. Im Gegensatz zu meinen Brüdern und Cousins besaß ich als Einzige ein Zimmer für mich allein. Da unsere Burg praktisch nur aus dem Turm und ein paar kleineren Nebengebäuden bestand, war das keine Selbstverständlichkeit. Die gesamte Familie teilte sich die Räumlichkeiten im Bergfried. In den Nebengebäuden und über den Stallungen lebten noch vier Wachmänner und unsere Köchin Beth.

Personal hatten wir ansonsten keines, was bedeutete, dass wir alle im Haushalt unterstützen mussten, aber auch, dass wir Lohn sparten.

Ich ließ mich auf dem abgewetzten Kissen der Fensterbank nieder und lauschte dem Wind in den Baumwipfeln und dem Ruf des Käuzchens. Ringsherum sah man weit und breit nur Mischwald. Wenn man den Talewood Forest einmal durchqueren wollte, benötigte man einen Tagesritt, so groß war er.

Dieser Fremde ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Sein intensiver Blick hatte sich in meinen Kopf eingebrannt. Ziemlich gut hatte er ausgesehen und sein selbstbewusstes Auftreten, aber auch sein trockener Humor hatten mir gefallen.

Ich schreckte aus meinen Gedanken auf, als es an der Tür klopfte und meine Mutter eintrat. Draußen hatte der Wind aufgefrischt.

»Na, Freddy, möchtest du morgen in die Stadt mitkommen, um die Wertgegenstände zu Geld zu machen?« Liebevoll fuhr sie mir durch die Haare. »Ist alles in Ordnung? Liegt dir der Raubzug auf dem Herzen?«

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, beruhigte ich sie. »Es ist nur …« Ich kratzte mich am Nacken. »Was hältst du davon, wenn ich meine Haare ein wenig wachsen lasse?«

Sie hob die Augenbrauen. »Du möchtest wie ein Mädchen aussehen?«

Verlegen nickte ich.

»Das scheint mir keine gute Idee, wenn du auf Raubzug gehst.«

»Ich könnte es flechten und unter einer Kappe verstecken.« Meine letzten Worte wurden vom aufheulenden Wind übertönt. Ich sprang auf, schloss das Fensterchen und zog den schweren Vorhang zu.

»Möchtest du lieber mit nach unten kommen?«, fragte meine Mutter behutsam. Sie wusste von meiner Angst vor Sturm.

»Zum Teufel, ich bin kein kleines Kind mehr«, maulte ich.

»Man sagt nicht ›zum Teufel‹.« Meine Mutter lächelte milde und ging zur Tür. »Du weißt ja, wo du uns findest.«

Draußen krachte es und ich zuckte zusammen. Anscheinend hatte der Sturm einen Baum gefordert. Meine Hände waren schweißnass und ich hatte Mühe, das Zittern zu unterdrücken.

Hastig folgte ich meiner Mutter hinab in die große Halle, wo der Rest der Familie fröhlich beisammensaß. Mittlerweile war die Feier etwas außer Kontrolle geraten, jedenfalls tanzten zwei der Jungs auf dem Tisch. Nick trug aus unerklärlichen Gründen mehrere Perlenketten um den Hals, während Tom sich ein Diadem in die Haare gesteckt hatte. Offenbar hatten sie die Beute gesichtet. Die anderen Jungs feuerten sie grölend an.

Wortlos setzte ich mich gegenüber von Michael zwischen James und meinen Vater, der gerade mit meinem Onkel anstieß.

»Na, hast du immer noch Angst vor Sturm?«, neckte mich James und knuffte mich in die Seite.

»Warte nur, bis ich dich wieder beim Bogenschießen fertigmache!«, maulte ich zurück, woraufhin Michael mir beipflichtete: »Wer zuletzt lacht, freut sich diebisch.«

DREI

Frederica

Ich ließ mein Haar wachsen, was natürlich nichts, absolut gar nichts mit dem attraktiven Reiter auf schwarzem Hengst zu tun hatte. Als es lang genug war, flocht ich es zu einem Zopf und versteckte ihn unter einer Kappe, sobald wir die Burg verließen. Die Jungs belächelten mich und rissen Witze auf meine Kosten, aber ich ließ mich nicht beirren.

Hinter meinem Rücken hörte ich sie flüstern:

»Ich glaube, für Freddy ist diese Räubersache nichts. Sie hat sich wirklich verändert, seit sie mit auf die Raubzüge geht.«

»Denkst du, sie hat beim ersten Mal einen Schock erlitten?«

»Sie ist eben doch kein echter Mann.«

Ich tat, als würde ich es nicht hören. Wie sollten sie auch verstehen, dass ich die reichen Leute mittlerweile nicht mehr nur als anonyme Geldesel sah?

Dann kam der Tag, an dem ich einen Brief von Juliet, meiner Cousine mütterlicherseits, erhielt, die eine zweistündige Reise entfernt von uns lebte. Darin schrieb sie, dass eine Brautschau auf Wondringham Castle stattfinden sollte, weil die vier Königssöhne nach passenden Ehefrauen suchten.

Juliet war meine einzige Freundin und neben ihrer Mutter auch die einzige Person von außerhalb, die wusste, dass ich in Wahrheit gar kein Junge war.

Sie schrieb, dass alle heiratsfähigen adligen Damen von ganz Fairona dazu eingeladen waren, sich im Rathaus der nächstgelegenen Stadt einzufinden, um sich für die Brautschau der vier Prinzen zu bewerben.

»Das wäre doch etwas für mich«, sagte ich zu meinen Brüdern, während wir zum Waisenhaus ritten, um das Geld aus einem weiteren Raubzug zu den Bedürftigen zu bringen.

Die drei lachten nur.

»Es wäre ein großartiges Abenteuer!« Ich hasste es, wenn sie mich nicht ernst nahmen.

Ich würde neue Freundinnen finden und das berühmte Wondringham Castle von innen sehen. Leben wie eine Prinzessin. Was konnte aufregender sein? Und vielleicht gab es dort mehr Adlige von der Sorte des Herrn mit dem schwarzen Hengst?

»Du auf Wondringham Castle?«, grölte Tom. »Da würde eher unsere gute Beth genommen werden!«

Säuerlich funkelte ich ihn an. Ich war zumindest junge siebzehn und keine vierzig Jahre alt.

»Sie werden keine in die engere Auswahl nehmen, die nicht einmal einen anständigen Hofknicks beherrscht und einen Gang wie ein Stallbursche hat«, schlug James in die gleiche Kerbe.

»Pah! Das kann ich doch alles lernen.«

»Natürlich und hübsch genug bist du auch«, sagte Michael besänftigend. »Aber du bist mehr ein Junge als eine Dame. Wie willst du zwischen all den wohlerzogenen Damen bestehen?«

»Das schaffe ich schon. Was soll schon so schwer daran sein, einen Prinzen anzulächeln und ein wenig mit den Wimpern zu klimpern?«

Ich würde eine so damenhafte Dame sein, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte!

»Du könntest für sie kochen«, schlug Tom vor, woraufhin die anderen beiden in grölendes Gelächter ausbrachen. Meine Kochkünste waren oft und gern Gegenstand von Neckereien, seit ich als Kind versucht hatte, einen Zitronenkuchen zu backen, der am Ende völlig verbrannt war.

»Liebe geht durch den Magen«, fügte Michael wenig hilfreich hinzu. »Obwohl das wohl auch eher ein Punkt für Beth wäre.« Er sprang vom Pferd, denn wir hatten das Waisenhaus erreicht, welches in einem kleinen Örtchen in der Nähe der Stadt Talebridge lag. Ein großes schlichtes Backsteingebäude, aus dem Kinderlärm erscholl.

Ich schnaubte.

»Vielleicht ist es ja wirklich ein guter Plan, Freddy auf das Schloss zu schicken.« James zwinkerte Michael zu. »Bestimmt kann sie dort das eine oder andere Schmuckstück entwenden. So viele Wertsachen findet man gewiss selten auf einem Haufen vor. Sie kann das Zeug einfach über die Schlossmauer werfen und wir sammeln es auf der anderen Seite ein.«

»Warum nicht?« Ich zuckte mit den Achseln. Dann drückte ich Tom meine Zügel in die Hand und wir klopften an die Tür.

Es war traurig, dass es überhaupt nötig war, die Einrichtung zu unterstützen. Aber die Königsfamilie war anscheinend interessierter daran, Kinder zu Waisen zu machen, als ihnen zu helfen.

Ein einfach gekleidetes Mädchen öffnete. Als es uns sah, knickste es. »Herzlich willkommen, die Herren! Bitte treten Sie ein, Sie werden schon erwartet. Mrs Brown ist in ihrem Arbeitszimmer.«

James, Michael und ich folgten ihr, während Tom draußen bei den Pferden blieb.

Fröhliche, gut ernährte Kinder flitzten durch die Gänge und beäugten uns neugierig, als das Mädchen uns zu einem spartanisch eingerichteten Büro führte, wo die Hausvorsteherin auf uns wartete.

»Ach, wie wunderbar!« Mrs Brown schlug bei unserem Anblick begeistert die Hände zusammen und schickte dann das Mädchen fort, um unser Geheimnis zu wahren. »Was für ein Segen, denn wir benötigen dringend Kleidung und Nahrungsmittel. Die kleinen Plagen fressen uns die Haare vom Kopf.« Die Lachfältchen um ihre Augen straften ihre harschen Worte Lügen.

James zog einen prall gefüllten Geldbeutel hervor und legte ihn auf den Schreibtisch. »Ich denke, das sollte erst einmal weiterhelfen.«

Mrs Brown nickte dankbar und strich sich über die blütenweiße Schürze. »Bitte grüßen Sie Ihre Familie ganz herzlich und richten Sie unseren tief empfundenen Dank aus.«

James verbeugte sich leicht. »Es ist uns eine Ehre.«

Wie immer, wenn wir hierherkamen, fühlten wir uns glücklich, in der Lage zu sein, hier zu helfen, und waren gleichzeitig wütend auf die königliche Familie.

»Auf Wondringham Castle könnte ich den Hoheiten in ihren Allerwertesten treten und mal erzählen, wie es ihretwegen hier aussieht«, rief ich großspurig, als wir zurückritten.

»Dann würdest du schneller rausfliegen als Tom beim Kartenspiel«, sagte Michael, woraufhin Tom an ihn heranritt und ihm einen Boxschlag gegen den Arm verpasste.

»Du weißt, wir lieben dich, Freddy.« James versuchte sich an einem leichten Lächeln, das mich nur noch wütender machte. »Aber auch ich denke, dass sie dich nicht einmal in die Vorrunde der Brautschau aufnehmen würden.«

»Das würden sie doch!«, beharrte ich.

»Dann mache ich auch mit.« Tom wedelte affektiert mit den Händen und warf seine nicht vorhandenen langen Haare nach hinten. »Oh, durchlauchigste Hoheiten! Ich komme aus dem Wald und möchte Euch den königlichen Hintern küssen.«

»Du bist so ein Blödmann!«, zischte ich. »Ihr habt doch alle keine Ahnung, wozu ich fähig bin. James, du betonst doch immer, wie geschickt ich wäre. Weshalb denkst du, dass ich keinen Hofknicks hinbekomme?«

Mein großer Bruder wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Den Hofknicks vielleicht schon. Aber was ist mit der gebildeten Sprache, den feinen Bewegungen und dem damenhaften Verhalten? So was lernen die adligen Töchter im Laufe von Jahren! Das kannst noch nicht einmal du innerhalb von ein paar Tagen aufholen.«

»Du irrst dich, James. Freddy haut die Prinzen bestimmt um«, rief Tom feixend. »Mit einem Faustschlag.«

Ich stieß ein wütendes Knurren aus und bereute es, dass ich mich wegen der Pferde gerade nicht in eine saftige Prügelei mit Tom stürzen konnte. Der Dummkopf hätte es verdient!

»Ich wette, dass ich es doch könnte«, behauptete ich zornerfüllt.

»Freddy …«, begann James begütigend.

»Könntest du nie im Leben.«

Toms verächtlicher Blick ließ mich rotsehen. »Also gut. Machen wir eine Wette.« Ich überlegte kurz. »Ich wette, dass ich es schaffe, unter die letzten zwanzig Kandidatinnen zu kommen.«

In dem Moment, in dem ich es aussprach, wurde mir bewusst, wie gewagt das war, schließlich waren es vier Prinzen. Ich wollte also bei einem von ihnen unter die letzten Fünf kommen. Doch jetzt konnte ich es schlecht zurücknehmen.

Tom schnaubte, James seufzte, aber Michael hatte dieses verschmitzte Blitzen in den Augen, bei dem ich wusste, dass er einer guten Wette nicht widerstehen konnte. »Was ist der Wetteinsatz?«

»Ich möchte auf dem Hengst von James reiten«, sagte ich.

»Auf keinen Fall«, brummte mein großer Bruder.

»Und wenn du verlierst?« Tom schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein.

»Dann muss Freddy eine Woche lang ein lilafarbenes Kleid mit Rüschen tragen«, rief Michael. Er wusste, wie sehr ich diese Farbe verabscheute.

»Und ein Hütchen mit Federn!« Tom wollte sich schier ausschütten vor Lachen bei dem Gedanken daran.

»Aber wenn ich gewinne, müsst ihr eine Woche lang Lila tragen«, bestimmte ich. »Und vergesst nicht den Hengst.«

»Auf keinen Fall«, sagte James. »Vater und Mutter werden uns die Ohren langziehen, wenn sie von solch einer Wette erfahren.«

»Sie müssen es ja nicht wissen.« Flehend blickte ich ihn an.

»Mach dir keine Sorgen, James«, sagte Tom. »Es besteht keine Chance, dass Freddy deinen Hengst in die Finger bekommt.«

»Also gilt die Wette?«, fragte ich herausfordernd in die Runde. »Zumindest, wenn ich zum Schloss darf?«

»Aber so was von!«, rief Tom und auch Michael bejahte.

Alle blickten zu James. Ihm war geradezu anzusehen, wie sein Pflichtbewusstsein als Ältester mit der Vorliebe für eine Wette kämpfte.

»Sie hat keine Chance«, flüsterte Tom, woraufhin James endlich nickte. »Also gut, die Wette gilt.«

Wartet es nur ab, dachte ich, während wir den Waldweg zur Burg erklommen.

Jetzt musste ich nur noch meine Eltern überzeugen, mich zum Schloss reisen zu lassen.

Meinen ersten Versuch startete ich nach dem Abendessen, als wir mit meinem Onkel am Kamin beisammensaßen, während meine Brüder und drei meiner Cousins an einem Tisch in der Ecke Karten spielten.

»Juliet hat mir von der Brautschau auf Wondringham Castle geschrieben und ich würde furchtbar gern dorthin reisen und es mir angucken.«

»Du willst dich um die Hand eines der vier Prinzen bewerben?« Ungläubig sah Mutter von der Hose auf, die sie gerade flickte.

»Wir haben doch gar keine Einladung erhalten, weil jeder glaubt, dass du ein Junge bist«, gab mein Onkel zu bedenken.

»Ach, so was kann man doch sicherlich fälschen«, winkte ich ab. »Das wäre teuflisch einfach.«

»Eine Dame sagt nicht teuflisch«, tadelte meine Mutter, während sie konzentriert den Faden einfädelte.

Ich horchte auf. Traute sie es mir jetzt doch zu, eine Dame zu sein und nicht nur ein Räuberjunge?

»Du wirst auf keinen Fall zum Schloss gehen, Freddy, darüber gibt es keine Diskussion.« Vater stellte seinen Drink nachdrücklich auf einem Beistelltischchen aus grobem Holz ab. »Wenn du eine Dame sein möchtest, können wir dich zu deiner Tante Florentia geben. Die würde sich sicherlich freuen, dich unter ihre Fittiche zu nehmen.«

»O nein, nicht Tante Florentia!« Ich stöhnte, als ich an die Schwester meiner Mutter dachte.

Juliets Mutter war eine sehr von sich selbst überzeugte, ziemlich missmutige Dame, die sich darin gefiel, anderen gute Ratschläge zu erteilen. Wenn sie uns besuchte, guckte sie mich jedes Mal mit einem derart missbilligenden Blick über ihre lange Nase hinweg an, dass sich meine Nackenhaare aufstellten. Da wollte ich lieber auf der Burg bleiben, auch wenn ich es wirklich schön gefunden hätte, mit meiner Cousine zusammen in einem Haus zu wohnen.

»Was haben wir denn zu verlieren, wenn ich an der Brautschau teilnehme?«, versuchte ich es noch einmal. »Ich verspreche, dass ich mir Mühe geben werde, die Benimmregeln zu beherzigen, und ›teuflisch‹ streiche ich gleich ganz aus meinem Wortschatz. Bitte, Vater, Mutter! Erlaubt es mir.«

»Das hältst du nicht durch«, warnte mein Onkel. »Sie werden dich sofort als Hochstaplerin enttarnen.«

»Werden sie nicht. Außerdem bin ich keine Hochstaplerin«, widersprach ich. »Die Einladung gilt für jede adlige Frau aus Fairona im heiratsfähigen Alter.«

»Die Welt des Hochadels ist eine Schlangengrube, Frederica. Niemand wäre dir wohlgesonnen.« Oje, meinen richtigen Namen benutzte Mutter nur, wenn es ernst war. »Vor allem nicht, wenn herauskommt, woher du stammst.«

»Aber wir sind doch immer vermummt! Wer sollte mich denn erkennen?«

»Vorsicht bei der Tatortwahl ist besser als Nachsicht«, gab Michael vom Nebentisch aus zu bedenken, woraufhin ich ihm einen bösen Blick zuwarf. Versuchte er etwa, unsere Wette zu untergraben? Er ignorierte mich und verfolgte stattdessen mit gerunzelter Stirn, wie Tom eine Karte ausspielte.

»Wir verstehen ja, dass du es satthast, immer als Junge herumzulaufen, aber es ist wirklich nur zu deinem Besten«, sagte Vater. »Irgendwann wirst du hier in der Umgebung einen netten Mann finden. Es muss ja nicht gleich ein Prinz sein.«

»Mir geht es nicht um einen Ehemann«, erwiderte ich. »Ich sehne mich danach, hier herauszukommen, Freundinnen zu finden und nicht den ganzen Tag unter … unter schlecht gepflegten Männern zu leben.«

»Willst du etwa behaupten, wir wären ungepflegt?«, rief einer meiner Cousins vom Kartentisch. »Vor drei Wochen habe ich sogar gebadet!«

»Der Ton macht die Tanzmusik«, murmelte auch Michael verletzt.

»Jedenfalls möchte ich mehr als das hier.« Ich machte eine Handbewegung, welche die große Halle umfasste. »Ich möchte tanzen in Sälen mit Kronleuchtern und Blumen und …«

»Wir haben einen Kronleuchter«, wandte mein jüngster Cousin Nick ein.

Ich hob die Augenbrauen und blickte vielsagend zu dem groben, rußgeschwärzten Eisenleuchter empor, der über unseren Köpfen baumelte.

»Für uns bist du längst unsere kleine Prinzessin«, sagte Mutter begütigend und Vater nickte. »Dazu musst du keinen Königssohn ehelichen. Stell dir doch bitte das Szenario vor. Hunderte ambitionierter junger Damen, die alle um vier Männer kämpfen. Möchtest du wirklich zwischen solche Fronten geraten?«

»Das schaffe ich schon. Ich kann kämpfen!«

Das war Vaters Stichwort: »Wenn auch nur irgendjemand von deinen Fähigkeiten erfahren sollte, wärst du schneller aus der Brautschau raus, als du ›teuflisch‹ sagen kannst.«

Ich musste eingestehen, dass dies wohl stimmte.

»Eine Krone macht noch keinen Gentleman«, fuhr Mutter fort, ohne von ihrer Flickarbeit aufzusehen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die hochwohlgeborenen Herren stets höflich und geduldig sind. Vermutlich werden sie eine ziemliche Arroganz an den Tag legen. Nein, Freddy, ich werde auf keinen Fall zulassen, dass du zum Schloss reist.«

Missmutig verzog ich den Mund, denn in den Worten meiner Mutter lag vermutlich mehr Wahrheit, als ich hören wollte.

»Notfalls heirate ich dich«, rief Nick großzügig herüber.

Ich seufzte. »Vielen Dank, ich weiß das zu schätzen. Allerdings wäre es, als würde ich einen Bruder heiraten.«

Die anderen Jungs lachten und mein ältester Cousin wuschelte seinem Bruder liebevoll durch das Haar. »Mach dir nichts draus, Kleiner. Du wirst dir noch den ein oder anderen Korb holen, das gehört dazu.«

Wütend schob Nick die Hand seines Bruders weg.

»Seht ihr? Alles, was ich hier habe, sind Heiratsanträge von halbwüchsigen Verwandten«, sagte ich so leise, dass Nick mich nicht hören konnte.

»Ist das dein Ernst, Tom?«, erscholl es in diesem Moment wütend vom Nachbartisch.

»Ich möchte mich mit anderen Frauen austauschen«, fuhr ich fort, den entbrennenden Streit ignorierend. »Mit Menschen, die besser riechen als unser Schweinestall. Ich will über Themen sprechen, die anderes beinhalten als Überfälle und Säbelkämpfe.« Mit wedelnden Händen unterstrich ich meine Worte.

»Du hast doch geschummelt«, brüllte einer meiner Cousins.

»Habe ich nicht!«

»Natürlich! Das Karo-Ass hat Michael vorhin schon gespielt.«

Toms Hocker flog um, als er hochrot im Gesicht aufsprang und dabei über seine schlaksigen Beine stolperte. »Willst du etwa behaupten, ich sei ein Lügner?«

Zwei meiner Cousins sprangen ebenfalls auf. »Letzte Woche hast du dieses miese Ding auch schon versucht!«

»Du bist ein echter Hundsfott!«

Einer von ihnen packte Tom und nahm ihn in den Schwitzkasten. Michael versuchte dazwischenzugehen, woraufhin auch der Kartentisch umkippte und alle Spielkarten durch die Luft flogen.

Aufgebracht warf ich die Hände in die Höhe. »Und genau deshalb will ich zu dieser Brautschau!«

Aber meine Eltern hörten mir gar nicht mehr zu, sondern versuchten, den Streit zu schlichten.

Mit einem wütenden Schnaufen verließ ich den Raum. Wie sollte ich diese verdammte Wette gewinnen, wenn ich es nicht zur Brautschau schaffte?

In den nächsten Tagen versuchte ich, möglichst beiläufig herauszufinden, wie ich meine Eltern überzeugen konnte, mich doch nach Wondringham Castle reisen zu lassen. Der Tag, an dem in der nahe gelegenen Stadt die Vorauswahl zur Brautschau stattfinden sollte, rückte unaufhaltsam näher und mir zerrann die Zeit zwischen den Fingern.

Am Montag erwähnte ich beim Wäschezusammenlegen mit meiner Mutter, wie außerordentlich schön es doch wäre, einmal ein Ballkleid zu tragen.

Sie seufzte mit einem leicht belustigten Zug um den Mund. »Ach, Freddy, wie willst du denn darin reiten?«

»Ich muss es ja nicht die ganze Zeit tragen. Aber so ein Ball wäre wundervoll. Auf Wondringham Castle wird es gewiss Musik und Tanzveranstaltungen geben.«

»Sicherlich. Und viele aggressive Damen, die sich wie Raubtiere auf vier Prinzen stürzen werden. Du bist zu jung und unerfahren für dieses Wespennest.« Sie streckte sich und trat zur Tür. »Ich werde jetzt mit Beth das Abendessen besprechen.« Mit diesen Worten ging sie aus der Kammer und ließ mich mit einem Berg ungefalteter Wäsche zurück – einer der Nachteile, wenn man keine Dienstmädchen hatte.

Am nächsten Tag ritt ich mit Vater aus, der normalerweise immer gute Laune hatte, wenn er auf einem Pferd saß, denn dann konnte er sein kaputtes Bein vergessen, das bei einem Raubüberfall im vergangenen Jahr von einem Säbelhieb getroffen worden war.

Ich nutzte die Gunst der Stunde. »Du willst doch nur das Beste für mich, oder?«

»Aber sicher doch, Mäuschen.«

»Dann ist es bestimmt in deinem Interesse, dass ich mir einen angesehenen und vermögenden Ehemann angle.«

Misstrauisch wandte er den Kopf zu mir. »Geht es schon wieder um diese Brautschau?«

»Natürlich!«, rief ich so aufgebracht, dass Whiskey nervös mit den Ohren zuckte. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb ihr mich gefangen halten wollt. Wie einen Vogel im Käfig! Ihr müsst doch verstehen, dass ich etwas von der Welt sehen und interessante Männer kennenlernen möchte. Vielleicht wird aus mir sogar eine Prinzessin!«

Er machte eine Bewegung, die den herbstlichen Wald umfasste. »Kommt dir das hier wie ein Käfig vor?«

Ich runzelte die Stirn. »Manchmal schon. Ihr erlaubt mir ja noch nicht mal einen Ausflug allein.«

»Du weißt genau, dass die Truppen des Königs nicht weit von hier marschieren. Was glaubst du, was die Soldaten mit einem einzelnen Mädchen anstellen würden?«

»Ich hab hier noch nie welche zu Gesicht bekommen. Die lemorische Grenze ist so weit weg.«

Davon, dass gerade ein erneuter Krieg mit Lemorien drohte, war im Talewood Forest glücklicherweise nichts zu merken.

»Es tut mir leid, Kleines, aber es geht nicht. Versteh doch, dass deine Mutter und ich diese Situation aufgrund unserer Lebenserfahrung besser einschätzen können. Es würde in einer Katastrophe enden und ich könnte mein kleines Mädchen dort nicht schützen. Bitte entschuldige, wenn ich es so unverblümt sage. Du weißt, dass wir dich lieben und sehr stolz auf dich sind. Aber in dieser Sache werden wir uns nicht umstimmen lassen.«

Wütend trieb ich Whiskey an, um ein wenig Abstand zwischen meinen Vater und mich zu bringen.

»Wolltest du nie etwas anderes sein als das Mitglied einer Räuberbande?«, fragte ich meine Mutter am Mittwoch beim Abendessen.

Sie warf mir einen prüfenden Blick zu. »Möchtest du die Menschen, die uns anvertraut sind, im Stich lassen, Freddy? Die Kinder im Waisenhaus?«

»Nein, natürlich nicht, aber ich möchte auch nicht für immer andere Leute überfallen.«

»Diese Brautschau wird nicht ändern, wer du bist.«

»Es ist ja nur eine Vorauswahl. Vielleicht nehmen sie mich gar nicht erst mit auf das Schloss, damit hätte sich die Sache erledigt.«

»Genau. Die Sache hat sich erledigt. Wir werden das nicht weiter diskutieren.« Sie widmete sich demonstrativ ihrem Eintopf.

Meine Brüder warfen sich zufriedene Blicke zu. Vermutlich planten sie schon den Einkauf des lilafarbenen Kleides, in das sie mich stecken wollten.

Am Donnerstag fiel Mutter mir bereits ins Wort, kaum dass ich ›Brautschau‹ ausgesprochen hatte.

Am Freitag schließlich platzte Vater der Kragen und er schlug heftig mit der Hand auf den Tisch, an dem er gerade eine Partie Schach gegen seinen Bruder verloren hatte. Klappernd purzelten die Figuren durch die Gegend. »Nein, Freddy, es bleibt dabei. Bekomm das endlich in deinen Dickschädel.« So streng hatte er mich noch nie zurechtgewiesen.

Verletzt drehte ich auf dem Absatz um und rannte hinaus. Ich verkroch mich im Stall, wo ich Whiskey mein Leid klagte, während ich das Gesicht in ihrer Mähne vergrub.

Mir war nie bewusst gewesen, wie engstirnig meine Eltern waren. Ich wollte nicht nur diese Wette gewinnen, ich wollte mich beweisen, herausfinden, wer ich war oder sein wollte. Bloß wie?

Hier würde mir niemand helfen, aber Juliet war eine Seelenverwandte. Sie würde mich verstehen und bestimmt hatte sie eine Idee.

Ich nutzte den Samstag und Sonntag, um still und mit tieftraurigem Blick durch die Burg zu schleichen, müde in meinem Essen herumzustochern und auf besorgte Nachfragen mit einem leisen »Nein, nein. Es ist alles in Ordnung« zu antworten.

Als alle mich nur noch wie ein rohes Ei behandelten, fragte ich mit leidender Stimme: »Darf ich wenigstens Juliet einladen? Ich würde gern mal wieder ein Gespräch unter Frauen führen.«

Mutter hob schmunzelnd die Brauen. »Bin ich etwa keine?«

»Eine in meinem Alter!«

Vater seufzte und ich frohlockte, denn ich wusste, dass ich zumindest in diesem Punkt gewonnen hatte.

Also schrieb ich meiner Cousine einen flehentlichen Brief und zwei Wochen später kam sie tatsächlich in Begleitung einer Gouvernante zu Besuch.

»Hach, ich bin so traurig, dass ich nicht nach Wondringham Castle reisen kann«, rief Juliet, als ich das Gespräch auf die Brautschau brachte, kaum dass wir unter vier Augen waren. »Was ich natürlich vor meinem Verlobten niemals zugeben würde.« Sie lächelte. Ihre Züge wurden weich und ihre Augen bekamen diesen Glanz, der verriet, dass sie in Gedanken bei ihm war.

»Du hast ein Einladungsschreiben erhalten, oder?«, fragte ich neiderfüllt.

»Natürlich. Mutter ist beinahe in Ohnmacht gefallen, als ihr klar wurde, dass ich eine viel bessere Partie hätte machen können, wenn ich mich nicht kurz zuvor verlobt hätte.« Wir kicherten. »Ich habe mein Schreiben trotzdem aufbewahrt. Als Andenken. Wann bekommt man schon einmal Post von der Königsfamilie?«

Ich horchte auf. »Du hast den Brief noch?« In mir formte sich ein verwegener Plan. »Würdest du ihn mir vielleicht … ausleihen?«

Sie machte große Augen. »Sag nicht, du willst … du willst heimlich fahren? Gegen den Willen deiner Eltern? Unter falscher Identität? Oha.«

Ich nickte unbehaglich. Das war selbst für mich eine große Sache.

»Stell dir vor, wie wunderbar das werden könnte«, rief ich trotzdem. »Das Schloss, Bälle, wunderschöne Kleider, attraktive Prinzen …«

»Sie werden merken, dass du nicht die echte Juliet bist.«

Ich verzog den Mund, denn das war tatsächlich ein Problem.

Meine Cousine war kultiviert, wusste sich zu benehmen und hatte den sittsam-betörenden Augenaufschlag perfektioniert, dem die Herren der besseren Gesellschaft in Scharen erlagen, wie Tante Florentia es nicht müde wurde, bei jedem Treffen zu erwähnen.

Und in der Tat sah meine Cousine mit ihrer vornehmen Blässe wie ein zerbrechliches Püppchen aus – wäre da nicht der blutrote Lippenstift gewesen, den Mutter für viel zu gewagt für eine unverheiratete Dame hielt. Ich hingegen hatte ihn sofort ausprobieren wollen, leider stand er mir nicht halb so gut. Im Gegensatz zu meiner Cousine besaß meine Haut einen deutlich dunkleren Ton. Irgendwo unter meinen Vorfahren musste sich jemand aus Meringur eingeschlichen haben. Nur unsere Haarfarbe ähnelte sich: dunkles Braun – fast schon schwarz.

»Dann nehme ich eben deinen zweiten Vornamen«, beschloss ich. »Philippa Este. Klingt doch gut.«

»Ich könnte dir mein schönstes Kleid hierlassen …« Juliet schien sich für meine Idee zu erwärmen.

Jubelnd ergriff ich ihre Hände, zog sie hoch und schwenkte sie im Kreis, bis sie kichernd um Gnade flehte. Dann drückte sie mich auf einen Stuhl und wir probierten, wie wir aus meinen mittlerweile schulterlangen Haaren eine damenhafte Frisur zaubern konnten, was bei meinen störrischen Locken gar nicht so einfach war. Mit einer Haube würde es hoffentlich gehen.

Während sie mir die Haare hochsteckte, erzählte ich ihr von der Wette und dem Wetteinsatz.

Juliet gluckste. »Das würde ich zu gerne sehen! Lila, wie grässlich. Sie hätten auf Zitronengelb bestehen sollen. Das würde deine Haut zum Strahlen bringen. Aua! Wofür war das denn?«

Ich hatte ihr einen Knuff gegeben, etwas zu fest, wie ihr Gesichtsausdruck verriet, aber ich war nun mal Jungs gewöhnt.

»Entschuldige, ich wollte dir nicht wehtun. Aber, sag mal, wettest du etwa gegen mich?«

Sie hob die Hände. »Niemals! Und natürlich werde ich dir helfen.«

»Was machen wir, wenn die königliche Familie Erkundigungen einholt, gar jemanden zu dir nach Hause schickt?«

»Sei unbesorgt, Mutter und ich wollen den Winter in Meringur verbringen, dort ist es wärmer. Sollte also jemand kommen, wird man mich nicht vorfinden.«

»Und die Diener? Man wird sie vielleicht befragen.«

»Ich werden sie anweisen, zu behaupten, ich würde an der Brautschau teilnehmen. Bestimmt freuen sie sich über ein zusätzliches Geldstück …«

»Du bist so klug!« Ich sprang auf und gab Juliet einen Kuss auf die Wange.

»Deine Frisur!«, rief sie lachend, als ein paar Haarnadeln zu Boden fielen. Und dann schmiedeten wir eifrig weitere Pläne für meine Teilnahme an der Brautschau.

In den nächsten Tagen bemühte Juliet sich, mich in höfischer Etikette zu unterweisen, was sich als mühsamer erwies als gedacht. Sie zeigte mir, wie ich mich schminken musste, wie man huldvoll lächelte und wie man sich elegant bewegte.

Ich war kurz davor, die ganze Sache abzublasen und mir ein lilafarbenes Kleid zu kaufen, doch dann starteten die Jungs einen Wettbewerb, wer am lautesten rülpsen konnte, und ich beschloss, dass Aufgeben keine Option war.

Nachdem Juliet abgereist war, kehrten meine Zweifel zurück. Wie würden meine Eltern reagieren, wenn ich klammheimlich verschwand? Würde ich ihr Vertrauen verlieren – schlimmer noch: ihre Liebe? Was würde mich die Entscheidung, zur Brautschau zu gehen, kosten?

Doch als kurz darauf der Brief von Juliet kam, in dem sich das Einladungsschreiben zur königlichen Brautschau verbarg, beschloss ich, dass ich mir diese Gelegenheit einfach nicht entgehen lassen konnte. Ich würde an der Brautschau auf Wondringham Castle teilnehmen.

VIER

Frederica

Aber leider kam alles ein wenig anders. Am Tag der Brautschau ließen meine Eltern mich keinen Moment aus den Augen.

Noch vor dem ersten Sonnenstrahl weckte Mutter mich unter einem fadenscheinigen Vorwand, sodass ich keine Chance erhielt, mich aus der Burg zu schleichen. Den ganzen Vormittag sorgte sie dafür, dass ich mit ihr die Wäsche der Burgbewohner reinigte.

»Der frühe Dieb schnappt die Kutsche«, neckte Michael mich, als er vorbeikam.

»Habt ihr Mutter etwa von der Wette erzählt?«

»Aber nicht doch! Da hätte sie uns vermutlich die Ohren langgezogen. Allerdings könnte es eventuell sein, dass James erwähnt hat, dass du immer noch planst, an der Brautschau teilzunehmen.«

»Oh, dieser …« Ich dämpfte meine Stimme, denn Mutter sah bereits mit gerunzelter Stirn zu uns. Stattdessen schleuderte ich einen nassen Strumpf nach Michael, der ihn ärgerlicherweise auffing und zurück in den Bottich warf. Das Wasser spritzte in alle Richtungen, meine Hemdsärmel waren vollkommen durchnässt, meine Hände wund geschrubbt und Mutter schleppte bereits den nächsten Wäscheberg herbei.

Als es mir am späten Vormittag endlich gelang, mich davonzustehlen, stellte ich fest, dass Vater im Stall Wache hielt und mir verbot, auszureiten. Verdammt. Whiskey hasste es, eingesperrt zu sein – genau wie ich –, und wäre bestimmt froh über einen Ausritt gewesen.

Mit hängenden Schultern schlich ich zu meiner Mutter zurück, die mir mitleidig entgegenblickte. Stoisch widmete ich mich bis zum Abend der Wäsche und strafte sie mit Schweigen.

Zum Teufel, würde ich etwa für immer auf dieser baufälligen Räuberburg festsitzen?

Beim Abendessen wunderten sich meine Brüder, dass ich so still war. Ich zuckte nur genervt mit den Schultern. »Nächstes Mal könnt ihr ja bei der großen Wäsche helfen.«

»Oh, nein, danke«, riefen sie lachend und ich verdrehte die Augen.

Wie sollte ich meine eigenen Fehler machen und daran wachsen, wenn ich hier auf der Burg versauerte?

In mir reifte ein verwegener Plan. Was, wenn ich einfach direkt zum Schloss reiste? Morgen, wenn die Vorauswahl für die Brautschau vorbei war, würde ich die Burg wieder verlassen dürfen.

Es war zumindest einen Versuch wert, immerhin lag Wondringham Castle nur einen Tagesritt Richtung Norden von hier entfernt. Alles Weitere würde sich dann schon ergeben.

Ich packte das Kleid und die Haube, die Juliet mir geschenkt hatte, sorgsam in ein Bündel, steckte vorsichtshalber noch ein Seil dazu, und warf alles in der Morgendämmerung aus meinem Fenster, das glücklicherweise so lag, dass alles sicher im Frost überzogenen Gras auf der anderen Seite der Burgmauer landete. Nach dem Frühstück band ich meine Haare zu einem Knoten, den ich unter einer Kappe versteckte, und verabschiedete mich für einen Ausritt.

Als James fragte, ob ich Gesellschaft wolle, verneinte ich schnippisch. Da alle wussten, weshalb ich so ungewohnt schlechter Laune war, ließ man mich unbehelligt gehen.

Nachdem ich das Burgtor passiert hatte, schnappte ich mir das Bündel an der Mauer und machte, dass ich davonkam.

Im schnellen Trab folgte ich dem Weg zur Hauptstadt. Es war eiskalt und mein Atem bildete Wölkchen.

Mein schlechtes Gewissen folgte mir. Meine Eltern würden sich schreckliche Sorgen machen, ich hatte ja nicht einmal einen Brief hinterlassen. Doch meine Brüder würden wissen, was ich vorhatte. Ich schluckte bei dem Gedanken daran, was ich ihnen antat. Es war nicht meine Art, ihnen Kummer zu bereiten. So vergalt ich ihnen ihre Liebe und Fürsorge?

Mein Bauch ziepte schmerzhaft, aber mein Stolz und der Drang nach Abenteuern waren größer.

Ich hatte gerade den Talewood Forest hinter mir gelassen, als es zu schneien begann. Dicke, große Flocken, die sich rasch zu einer dichten Decke zusammenlegten und jegliches Grün – und auch den Weg – versteckten. Meine Fingerspitzen wurden taub, doch ich war nicht bereit, klein beizugeben. Ich war schon so weit gekommen, da würde mich das bisschen Schnee nicht aufhalten. Vor meinem inneren Auge malte ich mir eine warme Gasthofstube aus, heißen Tee und dampfendes Fladenbrot. Ich würde das schaffen!

Immer wieder blickte ich mich um, ob mir jemand folgte, einmal glaubte ich sogar, James Stimme zu hören, aber es waren nur fremde Reisende, die meinen Weg kreuzten.

In der Abenddämmerung erblickte ich endlich die Hauptstadt, über der sich die hellen Mauern von Wondringham Castle erhoben. Ein Trupp Soldaten kam mir entgegen und ich trieb Whiskey an, um schnell an ihnen vorbeizukommen.

Als ich das Stadttor passierte, beruhigte sich mein Herzschlag. Hier würden mir die Soldaten nichts tun und im Gedränge der belebten Straßen würde mich meine Familie nicht so leicht entdecken.

Mit großen Augen ritt ich die Gassen entlang, hörte die klappernden Hufe der Pferde, das Knirschen von Wagenrädern und eine Vielzahl von Stimmen, die lachten, sangen, verhandelten, stritten oder sich etwas zuriefen. Menschen eilten vorbei, eingemummelt in dicke Mäntel. Rauch stieg aus den Kaminen in den eisigen Winterhimmel und ich erschnupperte den Duft von Apfelwein und gebratenem Fleisch.

Erfüllt von all den neuen Eindrücken suchte ich nach einem Gasthaus.

›Zur Linde‹ klang doch gut, beschloss ich und stieg von Whiskey.

»He, Bursche, nimm gefälligst deinen Gaul aus dem Weg!«, herrschte mich der Kutscher eines eleganten Zweispänners an, der gerade auf den Hof des Gasthauses einbiegen wollte.

Erschrocken sprang ich zur Seite und die Kutsche rauschte an uns vorbei. Ich schaute mich um, aber der einzige Stallknecht eilte bereits zu den dampfenden Kutschpferden des Zweispänners.

»Entschuldigung, wo kann ich mein Pferd unterbringen?«

Der Knecht maß mich von oben bis unten mit seinem Blick. »Ich denke nicht, dass wir noch ein Zimmer frei haben«, sagte er schließlich.

»Oh.« Ich runzelte die Stirn. »Denkst du oder weißt du es?«

»Dies ist ein angesehenes Gasthaus. Wir beherbergen hier die Oberschicht. Besser, du suchst woanders nach einer Unterkunft für dein Pony und dich. Vielleicht … auf einer Parkbank.« Er grinste gehässig und ließ mich stehen.

Entrüstet stieg ich wieder auf und ritt vom Hof. Ich würde ein anderes Gasthaus finden, in dem sie mein Geld nicht verschmähten.

Aber auch beim nächsten wiesen sie mich ab, weil sie bereits ausgebucht waren, was ich ihnen auch glaubte, nachdem ich einen Blick durch das halb zugefrorene Fenster der Wirtsstube geworfen und dort die vollen Tische gesehen hatte.

»Versuchs mal die Straße hinunter«, riet mir das nette Schankmädchen, dem ich auf dem Hof begegnete. Sie trug zwei schwere Zinnkannen. »Vielleicht haben die noch Platz.«

Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg.

Als ich bei dem empfohlenen Gasthaus ankam, schüttelte die Wirtin bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, Junge, wir haben leider nur noch das gute Zimmer frei, in dem die adligen Herrschaften untergebracht werden.«

»Hervorragend! Das nehme ich. Meine Herrin hat mich vorausgeschickt«, log ich, ohne rot zu werden. »Ich soll schon einmal ein Zimmer besorgen.«

Mein Geld würde hoffentlich reichen. Schließlich hatte ich nicht vor, hier tagelang zu residieren.

Misstrauisch beäugte die Wirtin mich. »Deine Herrin? Wer soll denn das sein und wo ist sie?«

»Miss Philippa Este wird in Kürze ankommen. Ihre Verwandten begleiten sie, weil sie an der königlichen Brautschau teilzunehmen wünscht. Sie ist reich. Teuflisch reich und vornehm.« Ich bestärkte meine Worte mit ausladenden Handbewegungen.

Die Wirtin schien nicht überzeugt. »Was ist mit den Bediensteten und den Verwandten der Lady? Ich habe nur dieses eine Zimmer frei.«

»Oh, das ist kein Problem. Sie sind in einem anderen Gasthaus untergekommen.«

»Und lassen die junge Lady hier allein?« Die Wirtin schnalzte mit der Zunge. »Also wirklich!«

Die Sache ging gerade gehörig schief. »Ähm, nein, natürlich nicht. Es ist nur für eine Nacht und ich bin ja auch da.«

»Warum in Gottes Namen sollten die Verwandten eine ehrbare Dame allein mit einem jungen Burschen lassen?«

Schon jetzt wurde mir mein Mangel an Erziehung zum Verhängnis, wie es schien. Wer hätte gedacht, dass ich bereits an der Zimmersuche scheitern könnte?

»Miss Este wollte unbedingt hier im gehobenen Ambiente des …« Ich warf einen verstohlenen Blick auf das Schild über der Eingangstür. »Schwarzen Ebers schlafen, während ihre Verwandten im Gasthaus Zur Linde untergekommen sind«, improvisierte ich.

Die Wirtin hatte die Hände in ihre ausladenden Hüften gestemmt und funkelte mich an. »Junger Mann, ich lasse mich nicht gern auf den Arm nehmen. Verschwinde von hier, du stiehlst meine Zeit.« Damit wendete sie sich ab.

»Die Gouvernante ist natürlich auch noch da«, beeilte ich mich zu rufen. »Sie wird auf Miss Este aufpassen.«

Argwöhnisch legte die Wirtin ihren Kopf schräg. »Im gleichen Zimmer?«

»Wäre das möglich?«

»Sicher – wenn die beiden ein wenig zusammenrücken …«

Ich versuchte, nicht zu erleichtert zu wirken, dabei hätte ich vor Glück heulen können.

»Aber die zweite Person kostet natürlich extra. Und die Nacht muss im Voraus bezahlt werden.«

»Gewiss.«

Vermutlich hätte sie das nicht gefordert, wenn ich in teurer Kleidung in einer eleganten Kutsche vorgefahren wäre, aber mir sollte es recht sein. Ich zog meinen Geldbeutel hervor und zählte die Summe ab, die sie mir nannte.

Daraufhin rief die Wirtin einen Stallburschen, der sich um Whiskey kümmern sollte, die bereits unruhig mit dem Vorderhuf im Schnee scharrte.

»Bitte reibe sie gut ab und gib ihr Wasser, Heu und eine vernünftige Portion Hafer«, bat ich ihn. »Das hat sie redlich verdient. Ich komme gleich, um nach ihr zu schauen.«

Der Bursche nickte und führte Whiskey in den Stall.

»Na, dann folge mir, Junge«, sagte die Wirtin. »Es ist ein schönes Zimmer, das du für deine Lady bekommst.« Glücklicherweise schien sie besänftigt, seit sie meinen prall gefüllten Geldbeutel gesehen hatte. Sie führte mich durch die stickige Schankstube, eine Stiege hinauf. »Aber kein Herrenbesuch im Zimmer der Lady, nur damit das klar ist! Wir sind ein ehrbares Haus.«

»Aber natürlich.«

Sie warf mir einen argwöhnischen Blick zu. »Nichts für ungut, aber du bist schließlich ein hübscher Bengel.«

Ich musste das Lachen unterdrücken, als ich begriff, dass sie dachte, die adlige Miss Este wäre mit einem jungen Burschen durchgebrannt. »Bitte glauben Sie mir, nichts läge mir ferner«, beteuerte ich, die Hand auf die abgebundene Brust gelegt. »Unter uns …« Verschwörerisch beugte ich mich zu ihr. »Miss Este ist … nun ja, ein wenig launisch.«

Wissend lächelte die Wirtin und schien nun endlich vollkommen beruhigt.

Zum Glück herrschte in der Gaststube derart viel Betrieb, dass niemand bemerkte, dass die junge Dame, die am nächsten Morgen für das Frühstück die Stiege hinunterkam, das Haus vorher nie betreten hatte.