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Yanis Varoufakis

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Beschreibung

Als griechischer Finanzminister löste Varoufakis eine der spektakulärsten und kontroversesten Auseinandersetzungen der jüngsten politischen Geschichte aus, als er versuchte, die Beziehung seines Landes mit der EU neu zu verhandeln. Trotz der massenhaften Unterstützung seitens der griechischen Bevölkerung und der bestechend einfachen Logik seiner Argumente – dass die gigantischen Kredite und die damit verbundene Sparpolitik, die seinem bankrotten Land aufgezwungen wurden, eine zerstörerische Wirkung haben – hatte Varoufakis nur in einem Erfolg: Europas politisches und mediales Establishment in Rage zu versetzen. Aber die wahre Geschichte der damaligen Geschehnisse ist beinahe unbekannt, weil so vieles in der EU hinter verschlossenen Türen stattfindet. In diesem couragierten Bericht deckt Varoufakis alles auf und erzählt Die ganze Geschichte von waghalsiger Politik, von Heuchelei, Betrug und Verrat, die das Establishment in den Grundfesten erschüttern wird. Dieses Buch ist ein Weckruf, die europäische Demokratie zu erneuern, bevor es zu spät ist.

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Seitenzahl: 1070

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YANIS VAROUFAKIS

DIE GANZEGESCHICHTE

Meine Auseinandersetzungmit Europas Establishment

Aus dem Englischen vonAnne Emmert, Ursel Schäferund Claus Varrelmann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Zum Buch

Als griechischer Finanzminister löste Yanis Varoufakis eine der spektakulärsten und kontroversesten Auseinandersetzungen der jüngsten politischen Geschichte aus, als er versuchte, die Beziehung seines Landes mit der EU neu zu verhandeln. Trotz der massenhaften Unterstützung seitens der griechischen Bevölkerung und der bestechend einfachen Logik seiner Argumente – dass die gigantischen Kredite und die damit verbundene Sparpolitik eine zerstörerische Wirkung haben – hatte Varoufakis nur in einem Erfolg: Europas politisches und mediales Establishment in Rage zu versetzen. Aber die wahre Geschichte der damaligen Geschehnisse ist beinahe unbekannt, weil so vieles in der EU hinter verschlossenen Türen stattfindet.

In diesem couragierten Bericht deckt Varoufakis alles auf und erzählt die ganze Geschichte von waghalsiger Politik, von Heuchelei, Betrug und Verrat, die das Establishment in den Grundfesten erschüttern wird. Dieses Buch ist ein Weckruf, die europäische Demokratie zu erneuern, bevor es zu spät ist.

»Eine der besten politischen Erinnerungen überhaupt. So eine präzise, detaillierte Beschreibung moderner Macht hat man noch nicht gelesen.«

The Guardian

»Ein wichtiges und erschreckendes Buch, das gelesen werden muss. Besonders, weil es schonungslos offenlegt, wie die Mächtigen in der EU handeln … Varoufakis verkörpert die größten aller politischen Tugenden – Mut und Ehrlichkeit.«

The Times

»Einer meiner wenigen Helden. Solange es Leute wie Varoufakis gibt, gibt es noch Hoffnung.«

Slavoj Žižek

Über den Autor

Yanis Varoufakis, geboren 1961, wurde 2015 Europas bekanntester Finanzminister, als er sich weigerte, für das bankrotte Griechenland neue Schulden aufzunehmen. Seit seinem Rücktritt wurde er zur Galionsfigur einer neuen Bewegung für eine Reform der Eurozone. Der international renommierte Wirtschaftswissenschaftler lehrte an Universitäten in England, Australien und den USA und an der Universität Athen. Im Verlag Antje Kunstmann erschienen Der globale Minotaurus (2012), Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise (mit J. Galbraith und S. Holland, 2015) und Das Euro-Paradox (2016).

 

 

 

 

Für alle, die intensiv nach Kompromissen suchen,aber lieber untergehen, als sich kompromittieren lassen

INHALT

Eine Anmerkung zu wörtlichen Zitaten

Vorwort

Teil Eins. Winter unseres Missvergnügens

1. Einführung

2. Bailoutistan

3. Von Zungen und Bogen

4. Wassertreten

5. Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht

Teil Zwei. Unbesiegbarer Frühling

6. Es beginnt …

7. Verheißungsvoller Februar

8. Hektik vor dem Sturm

9. Weißer Rauch: ein kurzer Moment der Freude

10. Desmaskiert

11. Unseren Frühling beschneiden

12. In Merkels Bann

13. Das Richtige wird vereitelt

14. Der grausamste Monat

Teil Drei. Endspiel

15. Countdown zum Untergang

16. Reden wie Erwachsene

17. Löwen, von Eseln geführt

Epilog

 

Danksagung

Anhänge

Anmerkungen

Register

 

 

 

Eine Anmerkung zu wörtlichen Zitaten

In einem Buch wie diesem, bei dem so viel davon abhängt, wer was zu wem gesagt hat, habe ich mir alle Mühe gegeben, zitierte Äußerungen genau wiederzugeben. Dabei konnte ich auf Mitschnitte mit meinem Mobiltelefon zurückgreifen und auf Notizen, die ich nach vielen offiziellen Treffen und Unterredungen niedergeschrieben habe. Wenn ich keine eigenen Aufzeichnungen oder Notizen hatte, verließ ich mich auf mein Gedächtnis und, wo immer möglich, auf die Bestätigung durch andere Augenzeugen.

Dem Leser sollte bewusst sein, dass ein großer Teil der in dem Buch zitierten Diskussionen auf Griechisch stattfand. Das betrifft alle Gespräche mit meinen Mitarbeitern im Finanzministerium, im Parlament, auf den Straßen Athens, mit dem Ministerpräsidenten, im Kabinett sowie die Unterredungen zwischen meiner Partnerin Danae und mir. Alle diese Gespräche habe ich ins Englische übersetzt.

Die einzigen Unterredungen, die weder auf Griechisch noch auf Englisch geführt wurden, waren die mit dem französischen Finanzminister Michel Sapin. Er weigerte sich als einziges Mitglied der Eurogruppe, bei Sitzungen Englisch zu sprechen. Wir unterhielten uns entweder mit Dolmetschern, oder, was ziemlich oft vorkam, er sprach Französisch mit mir, und ich antwortete auf Englisch, unsere Kenntnis der jeweiligen Sprache reichte dafür aus.

In jedem Fall beschränke ich meinen Bericht strikt auf Gespräche, die für die Öffentlichkeit interessant sind: Gespräche über Ereignisse, die das Leben von Millionen Menschen beeinflusst haben.

VORWORT

Mein voriges Buch, Das Euro-Paradox, bot eine historische Erklärung, warum Europa nun, Jahrzehnte nach seiner Gründung, dabei ist, seine Integrität zu verlieren und seine Seele zu verwirken. Als ich an den letzten Seiten arbeitete, im Januar 2015, wurde ich Finanzminister von Griechenland und fand mich im Innersten jenes Ungeheuers wieder, über das ich eben noch geschrieben hatte. Als Finanzminister eines chronisch verschuldeten europäischen Mitgliedstaats, der sich zu dem Zeitpunkt in einer heftigen Auseinandersetzung mit seinen Gläubigern – Europas mächtigsten Staaten und Institutionen – befand, lernte ich unmittelbar die besonderen Umstände und Gründe kennen, warum unser Kontinent in einem Morast versank, aus dem er womöglich lange nicht mehr herauskommen wird.

Das vorliegende Buch erzählt diese Geschichte. Man könnte es als die Geschichte eines Wissenschaftlers lesen, der eine Weile Minister war und dann zum Whistleblower wurde. Oder als persönlichen Enthüllungsbericht, in dem berühmte Personen wie Angela Merkel, Mario Draghi, Wolfgang Schäuble, Christine Lagarde, Emmanuel Macron, George Osborne und Barack Obama figurieren. Oder als die Geschichte eines kleinen, bankrotten Landes, das es mit den europäischen Goliaths aufnimmt, um aus dem Schuldgefängnis herauszukommen, und dann eine krachende, wenn auch einigermaßen ehrenhafte Niederlage erleidet. Aber keine dieser Beschreibungen spiegelt meine wahre Motivation wider, dieses Buch zu schreiben.

Kurz nach der gnadenlosen Niederschlagung der griechischen Rebellion von 2015, auch bekannt als griechischer Frühling oder Athener Frühling, verlor in Spanien die linke Partei Podemos an Schwung; zweifellos fürchteten viele potenzielle Wähler, eine wütende EU könnte ihnen ein ähnliches Schicksal bereiten wie uns. Viele Anhänger der Labour Party in Großbritannien stimmten unter dem Eindruck der kaltschnäuzigen Missachtung der Demokratie, die die EU gegenüber Griechenland an den Tag gelegt hatte, für den Brexit. Der Brexit wiederum gab Donald Trump Auftrieb. Sein Triumph lenkte frischen Wind in die Segel fremdenfeindlicher Nationalisten in ganz Europa und der Welt. Wladimir Putin dürfte sich angesichts des Schauspiels der sagenhaften Selbstdemontage des Westens ungläubig die Augen reiben.

Die Geschichte in diesem Buch steht nicht nur symbolisch für den Weg, den Europa, Großbritannien und die Vereinigten Staaten eingeschlagen haben; sie bietet auch reale Einsichten, wie und warum unsere Staatswesen und sozialen Ordnungen zerbrochen sind. Während das sogenannte liberale Establishment gegen die Fake News der rebellierenden »alternativen Rechten« protestiert, ist es heilsam, sich daran zu erinnern, dass 2015 eben dieses Establishment eine schrecklich effiziente Verleumdungs- und Rufmordkampagne gegen die proeuropäische, demokratisch gewählte Regierung eines kleines Landes in Europa startete.

Ich hoffe zwar, dass derartige Einsichten nützlich sind, doch mein Antrieb, dieses Buch zu schreiben, hat noch tiefere Gründe. Hinter den einzelnen Ereignissen, deren Zeuge ich wurde, erkannte ich eine universelle Geschichte – die Geschichte, was passiert, wenn Menschen sich grausamen Umständen ausgeliefert sehen, die ein inhumanes, überwiegend unsichtbares Netzwerk von Machtbeziehungen hervorgebracht hat. Deshalb gibt es in diesem Buch nicht »die Guten« und »die Bösen«. Vielmehr ist es von Menschen bevölkert, die ihr Bestes tun – oder das, was sie dafür halten – unter Bedingungen, die sie sich nicht ausgesucht haben. Jede einzelne Person, die ich getroffen habe und über die ich hier schreibe, glaubte, sie würde sachgerecht handeln, aber gemeinsam brachten sie mit ihrem Tun Unglück über einen ganzen Kontinent. Ist das nicht Stoff für eine echte Tragödie? Haben nicht genau darum die Tragödien von Sophokles und Shakespeare uns heute noch etwas zu sagen, viele hundert Jahre nach den Ereignissen, auf die sie sich beziehen?

Irgendwann bemerkte Christine Lagarde, die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds, im Zustand der Verzweiflung, um das Drama zu lösen, bräuchten wir »Erwachsene im Raum«. Sie hatte recht. In vielen der Räume, in denen sich dieses Drama entfaltete, fehlte es an Erwachsenen. Dem Charakter nach fielen die Beteiligten in zwei Kategorien: die Unbedeutenden und die Faszinierenden. Die Unbedeutenden liefen herum und kreuzten Kästchen auf den Blättern mit den Anweisungen an, die sie von ihren Herren und Meistern bekommen hatten. In vielen Fällen waren ihre Meister – Politiker wie Wolfgang Schäuble und Funktionäre wie Christine Lagarde und Mario Draghi – anders. Sie besaßen die Fähigkeit, über sich selbst und ihre Rolle in dem Drama zu reflektieren, und weil sie in der Lage waren, einen Dialog mit sich selbst zu führen, gingen sie so faszinierend leicht in die Falle sich selbst erfüllender Prophezeiungen.

Griechenlands Gläubiger am Werk zu beobachten war tatsächlich so, als würde man zusehen, wie sich im Land des Ödipus eine Version von Macbeth entfaltet. Genau wie Ödipus’ Vater, König Laios von Theben, unwissentlich seine Ermordung selbst herbeiführt, weil er an die Prophezeiung glaubt, dass sein Sohn ihn umbringen werde, führten die klügsten und mächtigsten Akteure in diesem Drama ihren eigenen Untergang aus Angst vor der Prophezeiung herbei, die ihn vorausgesagt hatte. Griechenlands Gläubiger waren sich sehr genau bewusst, wie leicht ihnen die Macht entgleiten konnte, und wurden oft von Unsicherheit geradezu überwältigt. Weil sie fürchteten, Griechenlands unausgesprochener Bankrott könnte zur Folge haben, dass sie die politische Kontrolle über Europa verloren, zwangen sie dem Land Maßnahmen auf, die nach und nach ihre politische Kontrolle nicht nur über Griechenland, sondern über Europa aushöhlten.

An einem bestimmten Punkt, als sie wie Macbeth spürten, dass ihre Macht sich in unerträgliche Machtlosigkeit verwandelte, fühlten sie sich gedrängt, auf schlimmstmögliche Weise zu handeln. In solchen Augenblicken hörte ich sie beinahe sagen:

Ich stieg ins Blut

So tief, daß mir, wollt ich nicht mehr drin baden,

Rückkehrn so schwer wär wie hindurchzuwaten.

Hab Seltsames im Kopf, was drängt zur Hand,

Und muß getan sein, eh’s recht Prüfung fand.

Macbeth, Dritter Akt, 4. Szene

Wenn einer der Beteiligten über ein mörderisches Drama wie dieses berichtet, können Parteilichkeit und der Wunsch nach Rechtfertigung nicht ausbleiben. Ich bemühe mich, so fair und unparteilich wie möglich zu sein, ihre Handlungsweise und meine mit den Augen einer Person aus einer echten alten griechischen oder shakespeareschen Tragödie zu sehen, in der die Charaktere weder gut noch böse sind, sondern von den unbeabsichtigten Folgen ihrer Vorstellung, was sie tun sollten, überwältigt werden. Ich vermute, dass ich bei Menschen, die ich faszinierend fand, damit erfolgreicher war als bei solchen, deren Bedeutungslosigkeit meine Sinne abstumpfte. Es fällt mir schwer, mich dafür zu entschuldigen, nicht zuletzt, weil es der Genauigkeit dieses Berichts Abbruch tun würde, wenn ich sie anders darstellen würde.

 

 

TEIL EINS

Winter unseres Missvergnügens

 

 

KAPITEL 1

Einführung

Den einzigen Farbklecks in der schummrigen Hotelbar lieferte die bernsteinfarbene Flüssigkeit, die in dem Glas vor ihm schimmerte. Als ich näher trat, hob er den Blick und begrüßte mich mit einem Kopfnicken, bevor er sich wieder seinem Whiskyglas zuwandte. Erschöpft ließ ich mich auf das dick gepolsterte Sofa fallen. Wie aufs Stichwort erklang imponierend düster seine vertraute Stimme:

»Yanis, du hast einen schweren Fehler gemacht.«

Spät in einer Frühlingsnacht legt sich eine Sanftmut über Washington D.C., die tagsüber unvorstellbar ist. Wenn die Politiker, die Lobbyisten und die Hofschranzen verschwunden sind, verfliegt alle Spannung. In den Bars verlieren sich die wenigen Menschen, die nicht schon wieder früh am Morgen auf den Beinen sein müssen, und die noch weniger zahlreichen, die ihre Probleme nicht schlafen lassen. In dieser Nacht wie in den einundachtzig Nächten davor und tatsächlich auch den einundachtzig Nächten danach gehörte ich zu Letzteren.

In die Dunkelheit gehüllt, war ich eine Viertelstunde von Nr. 700 19th Street N.W., dem Sitz des Internationalen Währungsfonds, zu der Hotelbar gegangen, wo ich ihn treffen sollte. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ein so kurzer Spaziergang, noch dazu im gesichtslosen Washington, so erfrischend sein konnte. Die Aussicht auf die Begegnung mit dem großen Mann trug zu meiner Erleichterung bei: Nach fünfzehn Stunden an einem Tisch mit lauter mächtigen Leuten, die entweder zu unbedeutend oder zu eingeschüchtert waren, um offen zu sprechen, würde ich nun jemanden treffen, der in Washington und darüber hinaus großen Einfluss hatte, einen Mann, dem niemand Bedeutungslosigkeit oder Kleinmut vorwerfen konnte.

Meine Stimmung änderte sich schlagartig bei seiner bissigen Begrüßung, die in dem dämmrigen Licht und mit den huschenden Schatten noch bedrohlicher wirkte.

Ich versuchte, unbeeindruckt zu klingen. »Und was für ein Fehler war das, Larry?«

»Du hast die Wahl gewonnen!«

Es war am 16. April 2015, genau in der Mitte meiner kurzen Amtszeit als griechischer Finanzminister. Nicht einmal sechs Monate zuvor hatte ich das Leben eines Wissenschaftlers geführt, der an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs an der Universität im texanischen Austin lehrte, während er von der Universität Athen beurlaubt war. Aber im Januar 2015 hatte sich mein Leben über Nacht verändert, als ich als Abgeordneter ins griechische Parlament gewählt wurde. Ich hatte nur ein einziges Wahlversprechen abgegeben: dass ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um mein Land aus der Schuldknechtschaft und der erdrückenden Sparpolitik zu befreien, die seine europäischen Nachbarn und der IWF ihm auferlegt hatten. Dieses Versprechen hatte mich nach Washington gebracht und – mit der Hilfe meiner engen Mitarbeiterin Elena Panaritis, die das Treffen vereinbart hatte und mich an dem Abend begleitete – in diese Bar.

Ich versteckte meine Beklemmung hinter einem Lächeln über seinen trockenen Humor. Dabei schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Wollte er so meine Entschlossenheit gegenüber einem Meer von Feinden stärken? Ich tröstete mich mit der Erinnerung, dass der einundsiebzigste Finanzminister der Vereinigten Staaten und siebenundzwanzigste Präsident der Universität Harvard nicht für seinen konzilianten Umgangston bekannt war.

Um das ernste Gespräch, das uns bevorstand, noch ein paar Augenblicke hinauszuschieben, signalisierte ich dem Barkeeper, dass er mir auch einen Whisky bringen sollte. »Bevor du mir erklärst, Larry, was für einen ›Fehler‹ ich gemacht habe, möchte ich dir sagen, wie wichtig deine unterstützenden Worte und dein Rat für mich in den letzten Wochen waren. Ich bin dir wirklich sehr dankbar. Besonders, weil ich dich seit Jahren als Fürst der Finsternis bezeichne.«

Larry Summers erwiderte ungerührt: »Immerhin hast du mich als Fürst bezeichnet. Ich habe schon anderes gehört.«

In den nächsten beiden Stunden unterhielten wir uns ernsthaft. Wir sprachen über technische Dinge: Gläubigerbeteiligung, Fiskalpolitik, Reform der Finanzmärkte, Bad Banks. In politischer Hinsicht warnte er mich, dass ich dabei sei, den Propagandakrieg zu verlieren, und dass »die Europäer«, wie er die amtierenden europäischen Politiker nannte, mich kleinkriegen wollten. Er meinte, und da stimmte ich zu, dass eine neue Vereinbarung für mein leidgeprüftes Land so aussehen müsse, dass die deutsche Kanzlerin sie ihren Wählern als ihre Idee präsentieren könne, als ihr persönliches Vermächtnis.

Unser Gespräch lief besser, als ich gehofft hatte, wir stimmten in allen wichtigen Punkten überein. Es war ein großer Erfolg, dass ich mir im Kampf gegen mächtige Institutionen, Regierungen und Medienkonglomerate, die alle die Kapitulation meiner Regierung und meinen Kopf auf einem Silbertablett forderten, die Unterstützung des Respekt einflößenden Larry Summers gesichert hatte. Nachdem wir uns über die nächsten Schritte verständigt hatten und bevor die Müdigkeit und der Alkohol uns zwangen, den Abend zu beschließen, schaute Summers mich eindringlich an und stellte mir eine Frage, die so gut vorbereitet klang, dass ich vermutete, er habe vor mir schon andere damit getestet.1

»Es gibt zwei Arten von Politikern«, begann er. »Insider und Outsider. Die Outsider legen Wert darauf, dass sie ihre Version der Wahrheit frei aussprechen können. Der Preis dafür ist, dass sie von den Insidern ignoriert werden, die die wichtigen Entscheidungen treffen. Die Insider wiederum folgen einer heiligen Regel: Sag nie etwas gegen andere Insider und sprich niemals mit Outsidern über das, was Insider sagen und tun. Welche Belohnung bekommen sie dafür? Zugang zu Insiderinformationen und die Chance, allerdings nicht die Garantie, wichtige Menschen und Ergebnisse zu beeinflussen.« Und damit kam Summers zu seiner Frage: »Also, Yanis, welche Art von Politiker bist du?«

Mein Bauchgefühl riet mir, mit einem einzigen Wort zu antworten. Stattdessen holte ich weiter aus.

»Von meinem Charakter her bin ich der geborene Outsider. Aber«, fügte ich gleich hinzu, »ich bin bereit, meinen Charakter zu unterdrücken, wenn es hilft, eine neue Vereinbarung für Griechenland abzuschließen, die unser Volk aus dem Schuldgefängnis befreit. Du kannst mir glauben, Larry: Ich werde mich so lange wie ein geborener Insider benehmen, wie es nötig ist, damit eine praktikable Übereinkunft auf den Tisch kommt – für Griechenland und für Europa. Aber wenn die Insider, mit denen ich verhandle, nicht bereit sind, Griechenland aus der ewigen Schuldknechtschaft zu entlassen, dann werde ich ohne Zögern den Whistleblower spielen – wieder nach draußen zurückkehren, was sowieso mein natürlicher Lebensraum ist.«

Nach einer langen, versonnenen Pause erwiderte er: »Das ist nur fair.«

Wir erhoben uns beide zum Gehen. Als wir aus der Hotellobby traten, merkten wir, dass der Himmel während unseres Gesprächs seine Schleusen geöffnet hatte. Ich wartete, bis er in sein Taxi gestiegen war, und wurde in meiner leichten Frühjahrsjacke nass bis auf die Haut. Nachdem sein Taxi davongebraust war, registrierte ich, dass ich einen wilden Traum verwirklichen konnte, der mich in den endlosen Sitzungen der letzten Tage und Wochen immer wieder verfolgt hatte: Ich konnte allein, unbemerkt, im Regen spazieren gehen.

Während ich ganz allein durch die Nässe marschierte, rekapitulierte ich unsere Begegnung. Summers war ein Verbündeter, wenn auch ein widerstrebender. Mit der linken Politik meiner Regierung konnte er nichts anfangen. Aber er hatte begriffen, dass unser Untergang nicht im Interesse Amerikas lag. Er wusste, dass die Wirtschaftspolitik Europas nicht nur grausam für Griechenland war, sondern schrecklich für Europa und damit auch für Amerika. Und er wusste, dass Griechenland nur das Labor war, in dem diese verfehlte Politik ausprobiert und weiterentwickelt wurde, bevor man sie in ganz Europa einsetzte. Deshalb hatte er mir eine helfende Hand gereicht. Obwohl wir unterschiedliche politische Überzeugungen hegten, sprachen wir ökonomisch die gleiche Sprache und hatten kein Problem, rasch zu einer Einigung zu gelangen, welche Ziele wir verfolgen und welche Taktik wir anwenden wollten. Trotzdem hatte meine Antwort ihn offensichtlich beunruhigt, auch wenn er das nicht zeigte. Meinem Eindruck nach wäre er viel zufriedener in sein Taxi gestiegen, wenn ich wenigstens halbwegs Interesse bekundet hätte, ein Insider werden zu wollen. Doch wie die Veröffentlichung dieses Buchs zeigt, war das nie meine Absicht.

Zurück im Hotel trocknete ich mich erst einmal ab. Zwei Stunden bevor der Wecker läuten und mich zurück an die Front rufen würde, wälzte ich eine große Sorge hin und her: Wie würden meine Kameraden zu Hause, wie würde der innere Kreis der Regierung Summers’ Frage beantworten? In der Nacht war ich entschlossen zu glauben, dass ihre Antworten genauso ausfallen würden, wie meine Antwort ausgefallen war.

Nicht einmal zwei Wochen später kamen mir die ersten echten Zweifel.

Super Black Boxes

Giorgos Chatzis verschwand am 29. August 2012. Er wurde zuletzt im Büro der Rentenversicherung in der kleinen Stadt Siatista in Nordgriechenland gesehen. Dort sagte man ihm, dass seine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente von 280 Euro nicht mehr ausbezahlt werde. Augenzeugen berichteten, er habe sich nicht mit einem einzigen Wort beklagt. »Er wirkte geschockt und schwieg«, hieß es in einer Zeitung. Wenig später rief er auf seinem Mobiltelefon ein letztes Mal seine Frau an. Weil niemand zu Hause war, hinterließ er eine Nachricht: »Ich fühle mich nutzlos. Ich kann dir nichts mehr bieten. Kümmere dich um die Kinder.« Wenige Tage später wurde in einem abgelegenen Waldstück seine Leiche gefunden. Er hatte sich an einem Felsvorsprung erhängt, neben ihm auf dem Boden lag sein Mobiltelefon.

Ein paar Monate später erregte die Welle von Selbstmorden infolge der schweren Wirtschaftskrise in Griechenland die Aufmerksamkeit der internationalen Presse. Damals hatte sich Dimitris Christoulas, ein siebenundsiebzigjähriger Apotheker im Ruhestand, neben einem Baum auf dem Syntagma-Platz mitten in Athen erschossen. Er hinterließ ein herzzerreißendes Manifest gegen die Sparpolitik. Früher hätte die stille, würdige Trauer der Angehörigen von Christoulas und Chatzis noch den härtesten Schergen voller Scham verstummen lassen – aber nicht so in Bailoutistan, wie ich Griechenland nach 2010 sarkastisch genannt habe. Unsere Schergen halten sich von ihren Opfern fern, verbarrikadieren sich in Fünfsternehotels, brausen mit ihren Autokolonnen durch die Straßen und beruhigen ihre gelegentlich flatternden Nerven mit haltlosen Zahlen, die wirtschaftliche Erholung verheißen.

In jenem Jahr 2012, drei lange Jahre bevor Larry Summers mir den Unterschied zwischen Insidern und Outsidern erklärte, zeigte meine Lebensgefährtin Danae Stratou in einer Galerie im Zentrum von Athen eine Kunstinstallation unter dem Titel: Es ist Zeit, die Black Boxes zu öffnen!Das Werk bestand aus hundert Metallkisten, die in geometrischer Anordnung auf dem Boden verteilt waren. Jede Kiste enthielt ein Wort, ausgewählt aus Tausenden von Vorschlägen, mit denen die Athener in den sozialen Medien Danaes Frage beantwortet hatten: »Sagen Sie in einem Wort: Wovor haben Sie am meisten Angst, oder was möchten Sie unbedingt bewahren?«

Danaes Idee war, dass diese Kisten anders als etwa die Black Box eines im Meer versunkenen Flugzeugs geöffnet werden sollten, bevor es zu spät war. Das Wort, das die Athener am häufigsten genannt hatten, war nicht Arbeitsplatz, Rente oder Ersparnisse. Der Verlust, den sie am meisten fürchteten, war der Verlust von Würde. Auf der Insel Kreta, deren Bewohner für ihren Stolz berühmt sind, hatte es seit Ausbruch der Krise die meisten Selbstmorde gegeben. Wenn eine Wirtschaftskrise sich zuspitzt und die Früchte des Zorns »schwer und reif zur Ernte« werden, stürzt uns der Verlust der Würde in die tiefste Verzweiflung.

In meinem Beitrag für den Ausstellungskatalog zog ich den Vergleich zu einer anderen Art von Black Box. Technisch gesehen, so führte ich aus, sei eine Black Box ein Gegenstand oder ein System, dessen Funktionsweise undurchsichtig bleibt. Wir verstehen aber, dass die Black Box in der Lage ist, Input in Output zu verwandeln, und nutzen sie ganz selbstverständlich. Ein Mobiltelefon beispielsweise verwandelt die Bewegungen unserer Finger mühelos in ein Gespräch oder die Bestellung eines Taxis, obwohl es für die meisten von uns, wenn auch nicht für versierte Elektroingenieure, ein Rätsel bleibt, was im Inneren des Mobiltelefons passiert. Wie Philosophen gesagt haben, sind die Köpfe anderer Menschen der Inbegriff von Black Boxes: Wir können nicht wissen, was genau im Kopf eines anderen Menschen vorgeht. (Während der einhundertzweiundsechzig Tage, von denen dieses Buch handelt, habe ich mich oft bei dem Wunsch ertappt, die Menschen um mich herum, insbesondere meine Waffenbrüder, würden in diesem Sinn etwas weniger Black Boxes ähneln.)

Aber dann gibt es noch die »Super Black Boxes«, wie ich sie nenne, die Black Boxes, die so groß und so wichtig sind, dass selbst diejenigen, die sie geschaffen haben und kontrollieren, nicht vollständig verstehen, wie sie im Inneren funktionieren: zum Beispiel die Finanzderivate, deren Wirkungen nicht einmal die Finanzjongleure durchschauen, die sie ersonnen haben; globale Banken und multinationale Konzerne, deren Aktivitäten oft nicht einmal ihre Chefs ganz begreifen; und natürlich Regierungen und supranationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds mit Politikern und einflussreichen Bürokraten an der Spitze, die Ämter bekleiden, aber selten die Macht innehaben. Auch sie verwandeln Input – Geld, Schulden, Steuern, Wählerstimmen – in Output – Gewinn, noch kompliziertere Formen von Schulden, Kürzungen bei Sozialleistungen, in der Gesundheits- und Bildungspolitik. Der Unterschied zwischen diesen Super Black Boxes und dem bescheidenen Smartphone – oder auch anderen Menschen – ist, dass die meisten von uns keine Kontrolle über den Input haben, ihr Output jedoch unser aller Leben bestimmt.

Der Unterschied steckt in einem einzigen Wort: Macht. Nicht die Art von Macht, die mit der Gewalt von Meereswellen verbunden wird, sondern eine subtilere, unheilvollere Macht: die Macht der »Insider«, wie Larry Summers sie nennen würde, denen ich mich, wie er fürchtete, nicht anschließen würde, die Macht der geheimen Informationen.

Während und nach meiner Zeit als Minister wurde ich immer wieder gefragt: »Was wollte der IWF von Griechenland? Handelten diejenigen, die Schuldenerleichterungen ablehnten, so, weil sie eine rechtswidrige geheime Agenda hatten? Waren sie Handlanger von Konzernen, die Griechenlands Infrastruktur plündern wollten – seine Flughäfen, Hotelanlagen am Meer, Telefongesellschaften und so weiter?« Wenn die Dinge doch nur so einfach wären.

Wenn eine große Krise zuschlägt, ist es verlockend, eine Verschwörung der Mächtigen dafür verantwortlich zu machen. Sofort haben wir Bilder im Kopf von rauchgeschwängerten Räumen, in denen gerissene Männer (und ab und zu eine Frau) ausbaldowern, wie sie auf Kosten der Schwachen und des Allgemeinwohls Profit machen können. Das sind natürlich Hirngespinste. Wenn unsere bejammerswerte Lage auf eine Verschwörung zurückgeführt werden kann, dann eine solche, bei der die Verschwörer noch nicht einmal wissen, dass sie daran beteiligt sind. Was sich für viele wie eine Verschwörung der Mächtigen anfühlt, ist einfach etwas, das bei jedem Netzwerk von Super Black Boxes spontan entsteht.

Der Schlüssel zu solchen Netzwerken ist Exklusion und Intransparenz. Erinnert sei nur an das Motto »Gier ist geil«, das vor dem großen Knall 2008 an der Wall Street und in der City of London herrschte. Viele anständige Bankangestellte waren krank vor Sorge über das, was sie da beobachteten und taten. Aber wenn sie Beweise oder Informationen vor sich liegen hatten, die schreckliche Entwicklungen ahnen ließen, sahen sie sich Summers’ Dilemma gegenüber: Sie konnten sie an Outsider weitergeben und in der Bedeutungslosigkeit versinken, sie für sich behalten und Komplizen werden, oder ihre Macht ausüben und ihre Informationen gegen die von jemand anderem tauschen und damit eine improvisierte Zwei-Personen-Allianz schmieden, die beiden Beteiligten innerhalb des größeren Insidernetzwerks schlagartig mehr Macht verleihen würde. Wenn weitere heikle Informationen ausgetauscht werden, schmiedet diese Zwei-Personen-Allianz Verbindungen mit anderen ähnlichen Allianzen. Das Ergebnis ist eine Machtstruktur innerhalb anderer Strukturen, die Beteiligten konspirieren de facto, ohne bewusst Verschwörer zu sein.

Wenn ein Politiker, der etwas weiß, einem Journalisten ein Exklusivinterview gibt und im Gegenzug eine Berichterstattung bekommt, die in seinem Interesse liegt, wird der Journalist, wenn auch unwissentlich, in ein Netz von Insidern einbezogen. Wenn der Journalist sich weigert, die Geschichte im Sinne des Politikers darzustellen, riskiert er, eine wertvolle Quelle zu verlieren und von dem Netz ausgeschlossen zu werden. Auf diese Weise kontrollieren Netze der Mächtigen den Informationsfluss: Sie kooptieren Outsider und schließen alle aus, die sich nicht an die Spielregeln halten. Solche Netze entwickeln sich organisch und werden von einer Eigendynamik angetrieben, die kein Einzelner kontrollieren kann, nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten, der CEO von Barclays und all jene, die Schlüsselpositionen im IWF oder in einer nationalen Regierung innehaben.

Wenn man erst einmal in diesem Netz gefangen ist, braucht es Heldenmut, um zum Whistleblower zu werden, besonders wenn man in der Kakofonie, in der es immer um Geldverdienen geht, seine eigene Stimme nicht mehr hört. Und wer aus der Reihe tanzt, endet wie eine Sternschnuppe: schnell verglüht und vergessen von einer zerstreuten Welt.

Faszinierenderweise übersehen viele Insider eines solchen Netzes, besonders wenn sie nur lose damit verbunden sind, dass da ein Netz ist, das sie verstärken, weil sie nur relativ wenig Kontakt damit haben. In ähnlicher Weise sind die Insider im Herzen des Netzes oft viel zu tief darin versunken, um zu bemerken, dass es noch eine Welt draußen gibt. Selten ist jemand so scharfsichtig, dass er erkennt, wenn er in einer Black Box lebt und arbeitet. Larry Summers ist ein solcher seltener Insider. Seine Frage war tatsächlich ein Appell, den Verlockungen der Außenwelt zu widerstehen. Seiner Haltung lag die Überzeugung zugrunde, dass die Welt nur aus dem Inneren der Black Box zum Besseren verändert werden kann.

Damit lag er meiner Meinung nach gründlich falsch.

Theseus vor dem Labyrinth

Vor 2008, als die Super Black Boxes noch reibungslos funktionierten, lebten wir in einer scheinbar ausbalancierten und sich stets regenerierenden Welt. Damals feierte der britische Schatzkanzler Gordon Brown das Ende des wirtschaftlichen Auf und Ab, und der künftige Vorsitzende der amerikanischen Notenbank, Ben Bernanke, pries die »große Mäßigung«. Natürlich war das eine Illusion, erzeugt von Super Black Boxes, deren Funktionsweise niemand verstand, vor allem nicht die Insider, die damit hantierten. Und dann stürzte 2008 alles krachend zusammen und bescherte unserer Generation eine Weltwirtschaftskrise wie 1929, vom Zusammenbruch des kleinen Griechenland ganz zu schweigen.

Ich bin der Ansicht, dass die Finanzkrise des Jahres 2008, die uns heute, fast ein Jahrzehnt später, immer noch beschäftigt, mit dem endgültigen Zusammenbruch der Super Black Boxes der Welt zusammenhängt – den Netzwerken der Macht, den Verschwörungen ohne Verschwörer, die unser Leben bestimmen. Summers’ blindes Vertrauen, dass die Mittel zur Überwindung der Krise aus eben diesen kaputten Super Black Boxes kommen würden, dank normaler Operationen von Insidern, erschien mir schon damals rührend naiv. Vielleicht ist das nicht überraschend. Schließlich hatte ich drei Jahre zuvor für Danaes Ausstellungskatalog geschrieben, »diese Super Black Boxes zu öffnen ist inzwischen eine Vorbedingung für das Überleben von Anstand, von ganzen Gruppen unserer Mitmenschen, sogar für das Überleben unseres Planeten. Einfach ausgedrückt: Uns sind die Entschuldigungen ausgegangen. Deshalb ist es Zeit, die Black Boxes zu öffnen!« Aber was bedeutet das konkret?

Erstens müssen wir bereit sein anzuerkennen, dass wir, dass jeder von uns ein Knoten in dem Netz ist, unwissentlich de facto ein Verschwörer. Zweitens, und das ist das Geniale an Wikileaks, wenn wir in das Netzwerk hineingelangen können wie Theseus in das Labyrinth und den Informationsfluss unterbrechen, wenn wir die Köpfe von möglichst vielen in dem Netz mit der Angst erfüllen können, dass unkontrollierbar Information abfließt, dann werden die nicht rechenschaftspflichtigen, schlecht funktionierenden Netze der Macht unter ihrem eigenen Gewicht und ihrer Bedeutungslosigkeit zusammenbrechen. Drittens müssen wir der Versuchung widerstehen, alte geschlossene Netzwerke durch neue zu ersetzen.

Als ich drei Jahre später die Bar in Washington betrat, war ich abgeklärter. Es ging mir nicht in erster Linie darum, Informationen an Outsider weiterzugeben, sondern alles Erforderliche zu tun, um Griechenland aus dem Schuldgefängnis herauszuholen. Wenn das bedeutete, mich so zu verhalten, als wäre ich ein Insider, dann musste es eben sein. Aber sobald der Preis für den Zugang zum Kreis der Insider darin bestehen würde, dass ich Griechenlands dauerhaften Verbleib im Schuldgefängnis akzeptierte, würde ich gehen. Nach meiner Überzeugung ist es eine Bedingung für die Würde, auf der das Glück des griechischen Volks beruht, dass man einen Ariadnefaden in das Labyrinth der Insider legt und bereit ist, zum richtigen Zeitpunkt dem Faden bis zum Ausgang zu folgen.

Am Tag nach meinem Gespräch mit Larry Summers traf ich mich mit Jack Lew, dem designierten amerikanischen Finanzminister. Der Mitarbeiter, der mich danach zum Ausgang des Ministeriums führte, verblüffte mich mit einer beiläufigen Bemerkung: »Herr Minister, ich möchte Sie warnen, dass Sie binnen einer Woche eine Rufmordkampagne erleben werden, die von Brüssel ausgeht.« Larrys aufmunternde Worte, wie wichtig es sei, nichts nach außen dringen zu lassen, und seine Warnung, dass wir dabei waren, den Medienkrieg zu verlieren, bekamen auf einmal eine ganz neue Bedeutung.

Natürlich war das alles keine große Überraschung. Insider, so hatte ich 2012 geschrieben, reagieren aggressiv auf jeden, der es wagt, Outsider einen Blick in ihre Super Black Boxes werfen zu lassen: »Nichts davon wird leicht sein. Die Netzwerke werden heftig reagieren, so wie sie es bereits tun. Sie werden noch autoritärer werden, noch abgeschotteter, noch fragmentierter. Sie werden unglaublich auf ihre ›Sicherheit‹ und ihr Informationsmonopol bedacht sein und dem gemeinen Volk noch weniger vertrauen.«2

Die folgenden Kapitel erzählen von ihrer gewaltsamen Reaktion auf meine hartnäckige Weigerung, die Befreiung Griechenlands gegen einen privilegierten Platz in einer ihrer Black Boxes einzutauschen.

Hier unterschreiben!

Es lief alles auf einen kleinen Kringel auf einem Blatt Papier hinaus – ob ich bereit war, auf der gepunkteten Linie einer neuen Rettungsvereinbarung zu unterschreiben, die Griechenland tiefer in den labyrinthischen Schuldenkerker stoßen würde.

Meine Unterschrift war deshalb so wichtig, weil kurioserweise nicht Präsidenten oder Ministerpräsidenten gefallener Länder solche Vereinbarungen über Rettungskredite mit dem IWF oder der Europäischen Union unterzeichnen. Dieses vergiftete Privileg fällt dem unglückseligen Finanzminister zu. Deshalb war es für Griechenlands Gläubiger entscheidend wichtig, mich gefügig zu machen, mich zu kooptieren oder, falls das nicht gelingen sollte, mich zu zerschmettern und durch einen willigeren Nachfolger zu ersetzen. Hätte ich unterschrieben, wäre ein weiterer Outsider zum Insider geworden, und alle hätten mich mit Lob überschüttet. Die Flut von Schimpfwörtern, die die internationale Presse gerade zum passenden Zeitpunkt nur wenig mehr als eine Woche nach dem Besuch in Washington über mich ergoss, genau wie der Mitarbeiter des US-Finanzministeriums es mir angekündigt hatte, hätte es nicht gegeben. Ich wäre »verantwortungsbewusst« gewesen, ein »vertrauenswürdiger Partner«, »bekehrter Rebell«, der die Interessen seines Landes über seinen »Narzissmus« stellte.

Nach Larry Summers’ Gesichtsausdruck zu urteilen, als wir das Hotel verließen und in den strömenden Regen traten, war ihm das klar. Er wusste, dass den »Europäern« nicht an einer ehrenhaften Vereinbarung mit mir oder meiner Regierung gelegen war. Er wusste, dass man mich letzten Endes massiv unter Druck setzen würde, eine Kapitulationsurkunde zu unterschreiben als Preis dafür, dass ich ein Insider wurde, dem man vertrauen konnte. Er wusste, dass ich dazu nicht bereit war. Und er fand das schade, zumindest für mich.

Ich für meinen Teil wusste, dass er mir helfen wollte, zu einer praktikablen Vereinbarung zu kommen. Ich wusste auch, dass er tun würde, was er konnte, um uns zu helfen, sofern es nicht gegen die goldene Insiderregel verstieß: Wende dich nie gegen andere Insider und sprich nie zu Outsidern über das, was Insider tun oder sagen. Nicht sicher war ich mir, ob er verstehen konnte, warum ich auf gar keinen Fall eine nicht praktikable, unehrenhafte Vereinbarung über einen weiteren Rettungskredit unterschreiben würde. Es hätte zu lange gedauert, meine Gründe zu erklären, aber ich fürchte, selbst wenn wir Zeit dafür gehabt hätten, hätte ihm meine Erklärung nicht eingeleuchtet, weil unsere Ausgangspunkte zu unterschiedlich waren.

Meine Erklärung hätte ich in Form von ein oder zwei Geschichten präsentieren können. Die erste hätte wahrscheinlich in einer Athener Polizeistation im Herbst 1946 begonnen, als Griechenland am Rand eines kommunistischen Aufstands und in der zweiten Phase des schrecklichen Bürgerkriegs steckte. Die Geheimpolizei hatte einen zwanzigjährigen Chemiestudenten der Universität Athen mit Namen Giorgos festgenommen, zusammengeschlagen und mehrere Stunden in einer kalten Zelle liegen gelassen, bis ihn ein Beamter höheren Rangs in sein Büro holte, scheinbar, um sich zu entschuldigen: »Es tut mir leid, dass du so hart angepackt wurdest. Du bist ein guter Junge und hast das nicht verdient. Aber weißt du, es sind verräterische Zeiten, und meine Männer sind am Ende. Vergib ihnen. Unterschreib einfach hier, und dann kannst du gehen. Entschuldigung noch einmal.«

Der Beamte wirkte ehrlich, und Giorgos war erleichtert, dass die Hölle, die er in der Gewalt der Schläger durchlitten hatte, vorbei war. Aber dann begann er das Schriftstück zu lesen, das er unterschreiben sollte, und es lief ihm kalt den Rücken herunter. Auf dem maschinengeschriebenen Blatt hieß es: »Hiermit verurteile ich wahrhaftig und in aller Ehrlichkeit den Kommunismus, alle, die den Kommunismus verbreiten, und ihre verschiedenen Gefolgsleute.«

Zitternd vor Angst legte er den Stift hin, nahm alle Freundlichkeit zusammen, die seine großzügige Mutter Anna ihm im Lauf der Jahre mitgegeben hatte, und sagte: »Herr Polizist, ich bin kein Buddhist, aber ich würde nie eine Erklärung unterschreiben, dass ich den Buddhismus verurteile. Ich bin kein Muslim, aber ich denke nicht, dass der Staat das Recht hat, von mir zu verlangen, dass ich den Islam verurteile. Ich bin auch kein Kommunist und sehe nicht ein, warum man von mir verlangt, den Kommunismus zu verdammen.«

Giorgos’ Verweis auf die Meinungsfreiheit half nichts. Entweder unterschreiben oder systematische Folter und Haft von unbegrenzter Dauer. »Du hast die Wahl!«, schleuderte der aufgebrachte Beamte ihm entgegen. Er hatte durchaus Grund gehabt, etwas anderes zu erwarten. Giorgos besaß alle Eigenschaften eines guten Jungen – ein geborener Insider. Er war im ägyptischen Kairo geboren und aufgewachsen, in einer Mittelschichtfamilie innerhalb einer großen griechischen Gemeinschaft, die selbst in einer kosmopolitischen europäischen Enklave mit Franzosen, Italienern und Briten lebte, Seite an Seite mit gebildeten Armeniern, Juden und Arabern. Zu Hause sprachen sie dank seiner Mutter Französisch, in der Schule Griechisch, bei der Arbeit Englisch, auf der Straße Arabisch und in der Oper Italienisch.

Mit zwanzig wollte Giorgos zu seinen griechischen Wurzeln zurückkehren. Er gab seinen komfortablen Posten in einer Kairoer Bank auf und zog nach Griechenland, um Chemie zu studieren. Im Januar 1945 traf er an Bord der Corinthia in Athen ein, gerade einen Monat nach Ende der ersten Phase des griechischen Bürgerkriegs, der ersten Episode des Kalten Kriegs. Eine fragile Entspannung lag in der Luft, und Giorgos erschien es vernünftig, als studentische Aktivisten der Linken wie der Rechten ihn als Kompromisskandidaten für den Vorsitz der Studentenschaft seiner Fakultät auswählten.

Kurz nach seiner Ernennung erhöhte die Universitätsleitung jedoch die Studiengebühren, zu einer Zeit, als die Studenten in absoluter Armut vegetierten. Giorgos stattete dem Dekan einen Besuch ab und brachte alle erdenklichen Argumente gegen die Erhöhung vor. Beim Hinausgehen überwältigte ihn ein Geheimpolizist auf der Marmortreppe der Fakultät und zerrte ihn in einen wartenden Lieferwagen. Und dann wurde er vor eine Wahl gestellt, gegen die Summers’ Dilemma wie ein Spaziergang im Park wirkt.

Da der junge Mann aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammte, hatte der Polizeibeamte erwartet, dass er entweder freudig unterschreiben oder unter der Folter rasch zusammenbrechen würde. Doch je mehr er geschlagen wurde und je länger die Folter dauerte, desto weniger frei fühlte sich Giorgos, zu tun, was er am liebsten getan hätte: zu unterschreiben, die Qual zu beenden und nach Hause zu gehen. Und so kam er schließlich in verschiedene Zellen und Gefangenenlager, denen er jederzeit hätte entgehen können, wenn er nur seine Unterschrift unter ein einziges Blatt Papier gesetzt hätte. Vier Jahre später kehrte Giorgos, nur noch ein Schatten seiner selbst, aus dem Gefangenenlager in eine trostlose Gesellschaft zurück, die von seinem speziellen Dilemma weder etwas wusste noch sich wirklich dafür interessierte.

Unterdessen, während Giorgos in Haft gewesen war, wurde eine junge Frau, vier Jahre jünger als Giorgos, als erste weibliche Studierende zum Studium der Chemie an der Universität Athen zugelassen, obwohl die Hochschule alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, das zu verhindern. Eleni, so ihr Name, begann das Studium als rebellische Feministin, bevor der Begriff überhaupt existierte. Trotzdem hegte sie eine heftige Abneigung gegen die Linken: Während der nationalsozialistischen Besatzung war sie als sehr junges Mädchen von linken Partisanen entführt worden, die sie für die Verwandte eines NS-Kollaborateurs gehalten hatten. Nach ihrer Einschreibung an der Universität warb eine faschistische Organisation namens X sie an, weil sie so entschieden antikommunistisch eingestellt war. Ihr erster – und wie sich herausstellte, auch ihr letzter – Auftrag lautete, auf Schritt und Tritt einem Kommilitonen zu folgen, der ebenfalls Chemie studierte und gerade erst aus dem Lager entlassen worden war.

Das ist, kurz zusammengefasst, die Geschichte meiner Entstehung. Denn Giorgos ist mein Vater und Eleni, die in den 1970er-Jahren eine wichtige Rolle in der Frauenbewegung spielte, war meine Mutter. Mit dieser Geschichte im Gepäck war es für mich ausgeschlossen, auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben als Gegenleistung für die Gnade, die Insidern gewährt wird. Hätte Larry Summers das verstanden? Ich glaube nicht.

Nicht mit mir

Die zweite Geschichte geht so: Ich lernte Lambros in dem Apartment kennen, das Danae und ich in Athen bewohnen, ungefähr eine Woche bevor die Wahl im Januar 2015 mich ins Amt des Finanzministers brachte. Es war ein milder Wintertag, der Wahlkampf voll im Gang, und ich hatte mich bereit erklärt, einer spanischen Journalistin namens Irene ein Interview zu geben. Sie kam zu uns zusammen mit einem Fotografen und mit Lambros, einem Dolmetscher für Spanisch, der in Athen wohnte. Wie sich herausstellte, waren seine Dienste nicht nötig, denn Irene und ich sprachen auf Englisch miteinander. Aber er blieb da, sah sich um und hörte vor allem zu.

Nach dem Interview, als Irene und der Fotograf ihre Sachen zusammenpackten und auf die Tür zusteuerten, trat Lambros zu mir. Er schüttelte mir die Hand und wollte sie gar nicht mehr loslassen, während er mit der Konzentration eines Mannes, dessen Leben davon abhängt, dass er seine Botschaft überbringt, zu mir sagte: »Ich hoffe, Sie haben es mir nicht angesehen. Ich bemühe mich sehr, niemanden etwas merken zu lassen, aber ich bin obdachlos.« Und dann erzählte er mir sehr knapp seine Geschichte.

Lambros war Lehrer für Fremdsprachen gewesen, er hatte eine Wohnung gehabt und eine Familie. 2010, als die griechische Wirtschaft zusammenbrach, verlor er seine Arbeit, und als sie aus ihrer Wohnung geworfen wurden, verlor er auch seine Familie. Das letzte Jahr hatte er auf der Straße gelebt. Seine einzige Einkommensquelle waren Dolmetscherdienste für ausländische Journalisten, die nach Athen kamen, um von der neuesten Demonstration auf dem Syntagma-Platz zu berichten, die aus dem Ruder gelaufen war und es deshalb in die Nachrichten geschafft hatte. Seine Gedanken kreisten darum, wie er ein paar Euro zusammenkratzen konnte, um sein billiges Mobiltelefon aufzuladen, damit ausländische Nachrichtencrews Kontakt zu ihm aufnehmen konnten, wenn sie in der Stadt waren.

Er fühlte, dass er mit seinem Monolog zum Ende kommen musste, und brachte an, was er von mir wollte:

Ich bitte Sie inständig, mir etwas zu versprechen. Ich weiß, dass Sie die Wahl gewinnen werden. Ich rede mit den Menschen auf der Straße und habe daran keinen Zweifel. Bitte, wenn Sie gewinnen und im Amt sind, denken Sie an diese Menschen. Tun Sie etwas für sie. Nicht für mich! Ich bin am Ende. Wen die Krise zu Fall gebracht hat, der steht nicht mehr auf. Für uns ist es zu spät. Aber bitte, bitte tun Sie etwas für die, die noch am Rand stehen. Die sich noch mit den Fingernägeln festkrallen. Die noch nicht abgestürzt sind. Lassen Sie sie nicht fallen. Drehen Sie ihnen nicht den Rücken zu. Unterschreiben Sie nicht alles, was man Ihnen vorlegt, so wie es Ihre Vorgänger getan haben. Schwören Sie, dass Sie es nicht tun werden. Schwören Sie?

Meine Antwort bestand nur aus zwei Worten: »Ich schwöre.«

Eine Woche später legte ich den Amtseid als Finanzminister meines Landes ab. Wenn in den nächsten Monaten meine Entschlossenheit einmal wankte, musste ich mir nur diesen Augenblick ins Gedächtnis zurückrufen. Lambros wird nie erfahren, welchen Einfluss er in den düstersten Stunden meiner einhundertzweiundsechzigtägigen Amtszeit hatte.

 

 

KAPITEL 2

Bailoutistan

Anfang 2010, rund fünf Jahre bevor ich Finanzminister wurde, ging der griechische Staat bankrott. Wenige Monate später organisierten die Europäische Union, der Internationale Währungsfonds und die griechische Regierung die größte Bankrottverschleierung der Welt. Wie verschleiert man einen Bankrott? Indem man dem schlechten Geld gutes Geld hinterherwirft. Und wer finanzierte das Verschleierungsmanöver? Ganz gewöhnliche Menschen, »Outsider«, aus der ganzen Welt.

Die Griechenlandrettung, wie das Verschleierungsmanöver euphemistisch hieß, wurde Anfang Mai 2010 beschlossen und besiegelt. Die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds gaben dem bankrotten Griechenland rund 110 Milliarden Euro, den größten Kredit in der Geschichte.1 Gleichzeitig entsandten sie Gerichtsvollzieher nach Athen – die Troika, so genannt, weil sie die drei beteiligten Institutionen repräsentiert: die Europäische Kommission (EK), die Exekutive der EU, die Europäische Zentralbank (EZB) und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Beamten sollten Maßnahmen durchsetzen, die unter Garantie das griechische Volkseinkommen reduzieren und den größten Teil der Schuldenlast den schwächsten Griechen aufbürden würden. Ein cleverer Achtjähriger hätte begriffen, dass das nicht gut ausgehen konnte.

Jemandem, der bankrott ist, neue Kredite aufzuzwingen unter der Bedingung, dass er sein Einkommen reduziert, ist eine grausame und ungewöhnliche Bestrafung. Griechenland wurde niemals gerettet. Mit ihren »Rettungs«-krediten und der Troika ihrer Schergen, die voller Begeisterung Einkommen vernichteten, verwandelten die EU und der IWF Griechenland de facto in die moderne Version eines Schuldgefängnisses aus einem Roman von Charles Dickens, und dann warfen sie den Schlüssel weg.

Schuldgefängnisse wurden abgeschafft, weil sie trotz ihrer Grausamkeit die Menschen nicht davon abhielten, neue, nicht tragfähige Schulden anzuhäufen, noch den Gläubigern halfen, ihr Geld zurückzubekommen. Damit der Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts richtig durchstarten konnte, musste man die absurde Vorstellung aufgeben, dass alle Schulden heilig sind, und sie durch das Konzept der begrenzten Haftung ersetzen. Warum sollten Kreditgeber verantwortungsvoll Kredite vergeben, wenn alle Schulden garantiert sind? Und warum sollten manche Schulden höher verzinst werden als andere, was das höhere Ausfallrisiko widerspiegelt? Bankrott und die Abschreibung von Schulden wurden für den Kapitalismus das, was in der christlichen Lehre seit jeher die Hölle ist: unangenehm, aber notwendig. Doch seltsamerweise flüchtete man sich im 21. Jahrhundert beim Umgang mit der Insolvenz des griechischen Staats wieder in die Verleugnung des Bankrotts. Warum? Erkannten die EU und der IWF nicht, was sie da taten?

Im Gegenteil, sie wussten genau, was sie taten. Obwohl sie in ihrer peniblen Propaganda immer behaupteten, sie wollten Griechenland »retten«, dem griechischen Volk eine zweite Chance geben, Griechenlands chronisch korrupten Staat reformieren helfen und so weiter, gaben sich die mächtigsten Institutionen und Staaten keinen Illusionen hin. Sie wussten, dass man eher Blut aus einem Stein pressen kann, als ein bankrottes Gebilde dazu bringen, dass es seine Kredite zurückzahlt, indem man ihm noch mehr Geld leiht, besonders wenn man als Teil des Handels auch noch sein Einkommen reduziert. Sie sahen, dass die Troika daran scheitern würde, das Geld der Steuerzahler, mit dem man Griechenlands Staatsschulden refinanziert hatte, wieder hereinzuholen, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, das Tafelsilber des gestürzten Staates zu konfiszieren. Sie wussten, dass die berühmten »Rettungs«- oder »Bailout«-Pakete nichts anderes waren als Fahrscheine für die einfache Fahrt ins Schuldgefängnis, ohne Rückfahrt.

Woher weiß ich, dass sie es wussten? Weil sie es mir gesagt haben.

Gefangene ihrer eigenen Machenschaften

Fünf Jahre später, als Finanzminister, erfuhr ich es direkt von der Quelle. Spitzenbeamte des IWF, der deutsche Finanzminister, führende Mitarbeiter der EZB und der Europäischen Kommission – alle gaben zu, jeder auf seine oder ihre spezielle Weise, dass es stimmte: Sie hatten mit Griechenland einen unmöglichen Handel abgeschlossen. Aber nun führte aus ihrer Sicht kein Weg mehr zurück.

Nicht einmal einen Monat nach meiner Wahl, am 11. Februar 2015, saß ich in einem jener bedrückenden fensterlosen, von Neonlicht erleuchteten Besprechungsräume, von denen die EU-Gebäude in Brüssel voll sind, der IWF-Präsidentin Christine Lagarde gegenüber, einer ehemaligen französischen Finanzministerin und hochkarätigen Anwältin in Washington. Früher an dem Tag war sie in das Gebäude geschwebt, gekleidet in eine elegante Lederjacke, die sogar meine blass und unauffällig erscheinen ließ. Da dies unsere erste Begegnung war, plauderten wir erst einmal freundlich auf dem Flur, bevor wir zu den ernsthaften Gesprächen in den Besprechungsraum gingen.

Hinter verschlossenen Türen, rechts und links eingerahmt von jeweils zwei Mitarbeitern, verlief unsere Unterredung ernst, aber immer noch genauso freundlich. Sie ließ mich meine Analyse von Ursache und Natur der griechischen Situation darlegen und meine Vorschläge für den Umgang mit der Krise unterbreiten und nickte die meiste Zeit zu meinen Worten. Ich hatte den Eindruck, dass wir eine gemeinsame Sprache sprachen und beide ein gutes Verhältnis wollten. Am Schluss, auf dem Weg zur Tür, gab es noch ein kurzes, entspanntes, aber vielsagendes Tête-à-Tête. Christine griff meine Argumente auf und stimmte meinen Plädoyers für Schuldenerleichterungen und niedrige Steuersätze als Vorbedingungen für die wirtschaftliche Erholung Griechenlands zu. Und dann setzte sie mich ganz ruhig und offen schachmatt: »Du hast natürlich recht, Yanis. Die Ziele, auf denen sie beharren, können nicht funktionieren. Aber du musst verstehen, dass sie schon zu viel in dieses Programm investiert haben. Sie können nicht mehr zurück. Deine Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass du dieses Programm akzeptierst und dich daran hältst.«2

Da hatte ich es: Die Präsidentin des IWF sagte dem Finanzminister eines bankrotten Landes, dass die Politik, auf die man sein Land verpflichtet hatte, nicht funktionieren konnte. Nicht, dass es schwierig sein würde, sie umzusetzen. Nicht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie funktionierte, gering war. Nein, sie gab rundheraus zu, dass sie nicht funktionieren konnte, komme, was da wolle.

Mit jedem Treffen, insbesondere mit den klügeren und nicht ganz so unsicheren Beamten der Troika, verfestigte sich bei mir der Eindruck, dass es hier nicht einfach um wir gegen sie ging, um gut gegen böse. Vielmehr bahnte sich ein echtes Drama an, das an ein Theaterstück von Aischylos oder Shakespeare erinnerte, in dem mächtige Verschwörer am Ende in ihre eigene Falle tappen. In dem realen Drama, dessen Zeuge ich wurde, kam in dem Augenblick, als sie ihre Ohnmacht erkannten, Summers’ heilige Insiderregel ins Spiel. Die Luken gingen zu, offiziell wurde alles abgestritten, und die Folgen des tragischen Dilemmas, das sie geschaffen hatten, entfalteten sich auf Autopilot. Dabei verstrickten sie sich immer mehr in eine Situation, die sie hassten, weil sie ihre Kontrolle über den Gang der Ereignisse immer weiter schwächte.

Aber weil sie – die Spitzen von IWF, EU, der deutschen und der französischen Regierung – unglaublich viel politisches Kapital in ein Programm investiert hatten, das Griechenland immer tiefer in den Bankrott trieb, unfassbare Not über uns brachte und unsere jungen Leute scharenweise in die Emigration trieb, gab es keine Alternative: Das griechische Volk würde einfach weiter leiden müssen. Für mich, den Neuling auf der politischen Bühne, hing die Glaubwürdigkeit davon ab, dass ich eine Politik akzeptierte, von der die Insider wussten, dass sie scheitern würde, und dass ich ihnen half, sie den Outsidern zu verkaufen, die mich gerade deswegen gewählt hatten, weil ich versprochen hatte, eben dieser gescheiterten Politik ein Ende zu machen.

Es ist schwer zu erklären, aber ich empfand von Anfang an keine Feindseligkeit gegenüber Christine Lagarde. Ich erlebte sie als intelligent, herzlich, respektvoll. Mein Weltbild geriete nicht ins Wanken, wenn bewiesen würde, dass sie tatsächlich eine humane Übereinkunft mit den Griechen wollte. Aber das spielt keine Rolle. Für sie als wichtiger Insider hatte es höchste Priorität, das politische Kapital der Insider zu schützen und jede Bedrohung ihrer kollektiven Autorität abzuwehren.

Doch mit der Glaubwürdigkeit verhält es sich wie mit den Ausgaben: Man muss Kompromisse machen. Jeder Kauf bedeutet den Verzicht auf eine Alternative. Mein Verhältnis zu Christine Lagarde und anderen Mächtigen zu verbessern, bedeutete, meine Glaubwürdigkeit in den Augen von Lambros zu schmälern, dem obdachlosen Dolmetscher, der mich beschworen hatte, die Interessen all der Menschen zu vertreten, die noch nicht wie er von dem Sturm des Bankrotts erfasst worden waren, der über unser Land hinwegfegte. Dieses persönliche Dilemma stellte sich für mich nicht. Die amtierenden Machthaber erkannten das früh, deshalb war es für sie wichtig, mich von der Bühne zu vertreiben.

Knapp ein Jahr später reiste ich im Vorfeld des britischen EU-Referendums vom 23. Juni 2016 durch Großbritannien und hielt Reden zur Unterstützung der Kräfte, die für einen Verbleib in der EU kämpften. Sie argumentierten, Großbritannien müsse in der EU bleiben, um Widerstand von innen zu leisten, um die EU zu reformieren und vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Es war schwierig. Die britischen Outsider zu überzeugen, für den Verbleib zu stimmen, erwies sich als Sisyphusarbeit, besonders im Norden von England, weil selbst meine britischen Unterstützer – Männer und Frauen, die in ihrer Denkweise und Haltung Lambros näherstanden als Christine – mir sagten, sie verspürten den Drang, dem globalen Establishment eine Tracht Prügel zu verpassen. Eines Abends hörte ich in der BBC, dass Christine Lagarde sich mit den Leitern der anderen Top-Institutionen der Welt (der Weltbank, der OECD, der EZB, der Bank of England und so weiter) zusammengetan hatte, um die britischen Outsider vor den Verlockungen des Brexit zu warnen. Sofort schickte ich aus Leeds, wo ich an dem Tag sprechen sollte, eine SMS an Danae: »Wer braucht noch Kämpfer für den Brexit, wenn er solche Verbündete hat?«

Der Brexit hat gewonnen, weil die Insider den Bogen überspannt haben. Nach Jahrzehnten, in denen sie die Glaubwürdigkeit von Menschen wie mir daran maßen, ob wir bereit waren, die Outsider zu betrügen, die für uns gestimmt hatten, merkten sie nicht einmal, dass die Outsider sich nicht im Mindesten um ihre Meinung scherten. Ob in Amerika oder Großbritannien, in Frankreich oder Deutschland, überall spüren die Insider, dass ihnen die Felle davonschwimmen. Weil sie Gefangene ihrer eigenen Machenschaften sind, Sklaven von Summers’ Dilemma, sind sie wie Macbeth dazu verdammt, Irrtum auf Irrtum zu häufen, bis sie begreifen, dass ihre Krone nicht mehr die Macht symbolisiert, die sie innehaben, sondern die Macht, die ihnen entglitten ist. In den wenigen Monaten, die ich mit ihnen zu tun hatte, bekam ich einen Eindruck von dieser tragischen Erkenntnis.

Es waren die (französischen und deutschen) Banken, Dummkopf!

Freunde und Journalisten fragen mich oft, was bei meinen Verhandlungen mit Griechenlands Gläubigern das Schlimmste gewesen sei. Dass ich nicht laut verkünden durfte, was die Mächtigen mir privat sagten, war sicherlich frustrierend, aber schlimmer war es, mit Gläubigern zu verhandeln, die ihr Geld nicht wirklich zurückhaben wollten. Mit ihnen zu verhandeln, zu versuchen, Argumente anzubringen, war ungefähr so, als würde man mit Generälen über einen Friedensvertrag sprechen, die wild entschlossen sind, ihren Krieg fortzusetzen, in dem sicheren Wissen, dass ihren Söhnen und Töchtern nichts passieren kann.

Um was für einen Krieg handelte es sich? Warum verhielten sich Griechenlands Gläubiger, als wollten sie ihr Geld nicht zurück? Was veranlasste sie, die Falle aufzustellen, in der sie nun selbst steckten? Das Rätsel lässt sich im Handumdrehen lösen, wenn man sich ansieht, in welchem Zustand sich die französischen und die deutschen Banken nach 2008 befanden.

Griechenlands endemische Unterentwicklung, Korruption und Missmanagement erklären seine chronische wirtschaftliche Schwäche. Aber die Insolvenz hängt mit fundamentalen Fehlern in der Konstruktion der EU und ihrer Währungsunion, dem Euro, zusammen. Die EU begann als ein Kartell großer Unternehmen, das den Wettbewerb in der mitteleuropäischen Schwerindustrie begrenzen und ihr in peripheren Ländern wie Italien und Griechenland Absatzmärkte sichern sollte. Die Defizite von Ländern wie Griechenland waren das Pendant zu den Überschüssen von Ländern wie Deutschland. Solange die Regierung die Drachme abwerten konnte, hielten sich die Defizite in Grenzen. Aber als die Drachme durch den Euro ersetzt wurde, trieben die Kredite von deutschen und französischen Banken das griechische Defizit in die Stratosphäre.

Die Kreditklemme von 2008, die auf den Kollaps der Wall Street folgte, schickte Europas Banken in den Bankrott; 2009 stellten sie die Kreditvergabe ein. Weil Griechenland seine Schulden nicht mehr prolongieren konnte, stürzte es später im Jahr in die Insolvenz. Auf einmal standen drei französische Banken vor Verlusten aus Krediten an die Peripherie, deren Volumen doppelt so groß war wie das französische BIP. Zahlen von der Bank of International Settlement zeigen ein wirklich furchterregendes Bild: Für jeweils 30 Euro Risiko stand nur ein Euro Deckung zur Verfügung. Das bedeutete, wenn nur 3 Prozent der riskanten Kredite ausfielen – wenn 106 Milliarden Euro aus Krediten, die sie Staaten, Unternehmen und Haushalten der Peripherie gewährt hatten, nicht zurückgezahlt werden konnten –, mussten die drei wichtigsten französischen Banken vom Staat gerettet werden.

Allein die Kredite eben dieser drei Banken an Italien, Spanien und Portugal summierten sich auf 34 Prozent des gesamten französischen BIP – 627 Milliarden Euro, um präzise zu sein. Außerdem hatten diese Banken in den zurückliegenden Jahren auch noch dem griechischen Staat bis zu 102 Milliarden Euro geliehen. Wenn Griechenland seine Raten nicht begleichen konnte, würden Finanzleute weltweit Angst bekommen und Portugal kein Geld mehr geben, möglicherweise auch Italien und Spanien nicht mehr, weil sie fürchteten, dass sie als Nächste in Rückstand geraten könnten. Wenn Italien, Spanien und Portugal ihre zusammengenommen 1,76 Billionen Euro Schulden nicht mehr zu akzeptablen Zinssätzen refinanzieren konnten, würden sie massiv bedrängt werden, die Kredite der drei führenden französischen Banken zu bedienen, was tiefe schwarze Löcher in ihre Bilanzen reißen würde. Über Nacht würden Frankreichs größte Banken 19 Prozent ihrer »Aktiva« verlieren, wobei schon ein Verlust in Höhe von 3 Prozent sie insolvent machen würde.

Um das Loch zu stopfen, würde der französische Staat über Nacht schlappe 562 Milliarden Euro aufbringen müssen. Aber während die Bundesregierung der Vereinigten Staaten solche Verluste auf ihre Zentralbank (die Federal Reserve) abschieben kann, hatte Frankreich seine Zentralbank im Jahr 2000, als es der gemeinsamen Währung beigetreten war, abgeschafft. Seitdem war das Land auf den guten Willen der gemeinsamen Zentralbank Europas angewiesen, der EZB. Leider hatte man der EZB ein ausdrückliches Verbot in die Wiege gelegt: Schulden der Südländer, private wie staatliche, dürfen nicht in die Bücher der EZB verschoben werden. Punkt. Nur unter dieser Bedingung hatte Deutschland seine geliebte D-Mark mit dem Pöbel Europas geteilt, unter dem neuen Namen Euro.

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welche Panik Frankreichs Präsident Sarkozy und seine Finanzministerin Christine Lagarde erfasste, als sie erkannten, dass sie womöglich bis zu 562 Milliarden Euro aus dem Hut zaubern mussten. Und es ist nicht schwer, sich die Angst eines Vorgängers von Christine Lagarde auszumalen, des berüchtigten Dominique Strauss-Kahn, der zu der Zeit an der Spitze des IWF stand und entschlossen war, aus dieser Position seinen Wahlkampf für die nächste französische Präsidentschaftswahl zwei Jahre später zu führen. Frankreichs Spitzenbeamte wussten, dass ein Bankrott Griechenlands den französischen Staat zwingen würde, sich sechs Mal so viel Geld zu leihen, wie er jährlich an Steuern einnahm, nur um sie diesen idiotischen drei Banken hinzuwerfen.

Es war einfach unmöglich. Hätten die Märkte Wind davon bekommen, was da drohte, wären die Zinsen für die französischen Staatsschulden in die Stratosphäre geschossen, und innerhalb von Sekunden wären 1,29 Billionen Euro französische Staatsschulden ausgefallen. In einem Land, das keine Notenpresse mehr hatte – die letzte verbleibende Möglichkeit, um aus dem Nichts Geld zu schöpfen –, würde das Not und Elend bedeuten, und das würde wiederum die gesamte Europäische Union zu Fall bringen, die gemeinsame Währung, einfach alles.

Die deutsche Kanzlerin steckte unterdessen nicht weniger in der Zwickmühle. 2008, als die Banken der Wall Street und der City of London wankten, pflegte Angela Merkel noch immer ihr Image als knausrige, finanziell sehr vorsichtige eiserne Kanzlerin. Auf die verschwenderischen Banker der Anglosphäre zeigte sie moralisierend mit dem Finger, und sie machte Schlagzeilen mit einer Rede in Stuttgart, in der sie sagte, die amerikanischen Banker hätten sich bei einer schwäbischen Hausfrau Rat holen sollen, sie hätte ihnen einiges über den Umgang mit Geld erzählen können. Man stelle sich ihr Entsetzen vor, als sie wenig später lauter aufgeregte Telefonanrufe von ihrem Finanzminister, ihrer Zentralbank und ihren Wirtschaftsberatern erhielt, alle mit der gleichen unfassbaren Botschaft: »Frau Bundeskanzlerin, auch unsere Banken sind bankrott! Damit ihre Geldautomaten weiter Geld ausspucken, brauchen wir eine Geldspritze in Höhe von 406 Milliarden Euro von den schwäbischen Hausfrauen – möglichst gestern!«

Das war der Inbegriff von politischem Gift. Wie konnte sie vor dieselben Abgeordneten treten, denen sie jahrelang Vorträge über die Tugend des Sparens gehalten hatte, wenn es um Krankenhäuser, Schulen, Infrastruktur, soziale Sicherheit, die Umwelt gegangen war, und sie nun inständig bitten, einen derart gewaltigen Scheck für Banker zu unterschreiben, die noch Sekunden zuvor in Geld geschwommen waren? Aber Not kennt nun einmal kein Gebot, und so atmete Kanzlerin Merkel tief durch, ging in den nach einem Entwurf von Norman Foster umgebauten Reichstag mit der berühmten Kuppel, überbrachte den sprachlosen Parlamentariern die schlechte Nachricht und verließ das Gebäude wieder mit dem erbetenen Scheck in der Hand. Geschafft, dürfte sie gedacht haben. Nur dass es nicht geschafft war. Wenige Monate später glühten die Telefone wieder: Dieselben Banken brauchten noch einmal die gleiche Summe.

Warum brauchten die Deutsche Bank, die Commerzbank und andere Türme der finanziellen Inkompetenz mit Sitz in Frankfurt mehr Geld? Weil der Scheck über 406 Milliarden Euro, den sie 2009 von Frau Merkel bekommen hatten, kaum ausreichte, um ihre Geschäfte mit toxischen amerikanischen Derivaten zu decken. Und ganz gewiss reichte er nicht aus für all das Geld, das sie den Regierungen von Italien, Irland, Portugal, Spanien und Griechenland geliehen hatten – insgesamt 477 Milliarden Euro, von denen happige 102 Milliarden nach Athen geflossen waren. Wenn Griechenland seinen Rückzahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen könnte,3 standen die deutschen Banken vor einem weiteren Verlust, der einen neuen Scheck von Frau Merkel in einer Höhe zwischen 340 und 406 Milliarden Euro erforderlich machen würde. Als erfahrene Politikerin wusste sie, dass es politischer Selbstmord wäre, vom Bundestag noch einmal eine solche Summe zu verlangen.

Für die politisch Verantwortlichen von Frankreich und Deutschland ging es um eine Billion Euro. Sie durften der griechischen Regierung nicht erlauben, die Wahrheit zu sagen, nämlich zuzugeben, dass Griechenland bankrott war. Und sie mussten weiterhin einen Weg finden, um ihre Banken ein zweites Mal zu retten, ohne ihren Parlamenten zu sagen, dass sie genau das taten. Wie Jean-Claude Juncker, damals Premierminister von Luxemburg und später Präsident der Europäischen Kommission, es einmal formuliert hat: »Wenn es ernst wird, müssen Sie lügen.«4

Nach wenigen Wochen stand ihre Flunkergeschichte: Sie würden die zweite Rettung ihrer Banken als Akt der Solidarität mit den verschwenderischen und faulen Griechen hinstellen, die zwar unwürdig und unerträglich waren, aber trotz allem Mitglieder der europäischen Familie, weshalb man sie retten musste. Passenderweise hieß Rettung in dem Fall, sie mit einem weiteren gigantischen Kredit zu versorgen, damit sie ihre französischen und deutschen Gläubiger, die strauchelnden Banken, bezahlen konnten. Die Sache hatte nur einen Haken, für den man erst eine Lösung finden musste: Der Gründungsvertrag der Eurozone verbot die Finanzierung von Staatsschulden durch die EU. Wie konnte die EU diese Klausel umgehen? Das Rätsel wurde mit einem typischen Brüsseler Kuhhandel gelöst, etwas, das die Europäer, insbesondere die Briten, hassen gelernt haben.