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Ohne dass wir es wirklich gemerkt haben, wurde der Kapitalismus ersetzt. Vielleicht waren wir zu abgelenkt von der Pandemie, von den endlosen Finanzkrisen und dem Aufstieg von TikTok. Aber in ihrem Windschatten, argumentiert Yanis Varoufakis, hat sich in den letzten Jahren ein neues, noch ausbeuterischeres System etabliert: der Technofeudalismus. In seinem neuen Buch vertritt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler und bekannte Politiker Yanis Varoufakis die These, dass der klassische Kapitalismus tot ist und eine neue wirtschaftliche Ära begonnen hat. Dazu haben zwei Entwicklungen der letzten Jahre entscheidend beigetragen: Die Geldpolitik der westlichen Regierungen nach der Finanzkrise 2008, die selbst die unrentabelsten und risikoreichsten Geschäftsmodelle finanzierbar machte, und die Privatisierung des Internets durch die großen Technologieunternehmen, die es geschafft haben, sich zu den »Feudalherren« dieses unregulierten Neulands zu machen und ihre eigenen Regeln durchzusetzen. Mit jedem Klick und jedem Like vergrößern sie ihre Macht, denn die Währung, die zu dem unglaublichen Reichtum der Konzerne führt, sind unsere Daten. Willkommen im Technofeudalismus, der neuen wirtschaftlichen Weltordnung, die unser aller Leben umwirft und die größte Bedrohung für unsere soziale Demokratie darstellt. Anhand von Geschichten aus der griechischen Mythologie und der Popkultur, von Homer bis Mad Men, erklärt Varoufakis diesen revolutionären Wandel und das um sich greifende System: wie es unseren Verstand versklavt, die Regeln der globalen Macht umschreibt und was es letztlich braucht, um es zu Fall zu bringen.
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2024
Yanis Varoufakis
Was den Kapitalismus tötete
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer
Verlag Antje Kunstmann
Für meinen Vater,
der mir gezeigt hat, dass jedes Ding, das zählt,
schwanger geht mit seinem Gegenteil.
Vorwort
1. Hesiods Klage
2. Die Metamorphosen des Kapitalismus
3. Cloud-Kapital
4. Der Aufstieg der Cloudalisten und der Niedergang des Profits
5. Was kann ein Wort?
6. Die globalen Auswirkungen des Technofeudalismus: Der neue Kalte Krieg
7. Dem Technofeudalismus entkommen
Anhang 1 Die politische Ökonomie des Technofeudalismus
Anhang 2 Der Wahnsinn der Derivate
Anregungen, Lektüre und Dank
Anmerkungen
Register
Vor einigen Jahren beschloss ich, eine kurze Geschichte des Kapitalismus zu schreiben. Um die gewaltige Aufgabe in den Griff zu bekommen und mich zur Konzentration auf den Kern der Fragestellung zu zwingen, entschied ich, so zu tun, als würde ich die Geschichte des Kapitalismus meiner damals zwölfjährigen Tochter erzählen. Und so begann ich, ohne dass ich Xenia zuvor um Erlaubnis gefragt hatte (etwas, das sie mir immer nachtragen wird!), das Buch in Form eines langen Briefes an sie zu schreiben. Ich achtete darauf, keine Fachbegriffe zu verwenden (nicht einmal den Begriff Kapitalismus!), und erinnerte mich immer wieder daran, dass die Frage, ob meine Darstellung einem jungen Menschen einleuchtete, ein Lackmustest für mein eigenes Verständnis des Kapitalismus war. Dabei entstand ein schmales Buch mit dem Titel Time for Change. Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre. Es setzte bei einer scheinbar einfachen Frage von ihr an: Warum gibt es so viel Ungleichheit?
Bereits vor der Veröffentlichung 2017 kamen mir Bedenken. In der Zeit vom Abschluss des Manuskripts bis zu dem Tag, als ich das fertige Buch in den Händen hielt, fühlte es sich an, als wären wir in den 1840er-Jahren und ich hätte gerade ein Buch über den Feudalismus geschrieben, oder noch schlimmer, als sollte Ende 1989 ein Buch über die zentrale Planwirtschaft in der Sowjetunion erscheinen. Es war einfach zu spät.
Nachdem das Buch zuerst auf Griechisch und dann auf Englisch herausgekommen war, gewann meine seltsame Hypothese, dass der Kapitalismus sich auf dem Rückzug befand (und nicht nur eine seiner vielen eindrucksvollen Veränderungen durchlief), immer mehr an Kraft. Während der Pandemie wurde aus der Hypothese eine Überzeugung, und daraus erwuchs der Drang, meine Überlegungen in einem Buch zu erklären, und sei es nur aus dem einen Grund, Freunden und Feinden, die meine Theorie empörte, eine Gelegenheit zu bieten, sie gründlich unter die Lupe zu nehmen und dann gebührend zu kritisieren.
Und wie lautet nun meine Hypothese? Sie besagt, dass der Kapitalismus inzwischen tot ist in dem Sinn, dass seine Dynamik nicht länger unsere Wirtschaftssysteme bestimmt. In dieser Rolle wurde er durch ein fundamental anderes Phänomen abgelöst, das ich Technofeudalismus nenne. Das Herzstück meiner Hypothese ist eine ironische Feststellung, die vielleicht erst einmal verwirrend klingt, sich aber, wie ich hoffe, als vollkommen einleuchtend erweisen wird: Was den Kapitalismus umgebracht hat, ist … das Kapital selbst. Nicht das Kapital, wie wir es seit Anbeginn des Industriezeitalters kennen, sondern eine neue Form von Kapital, eine Mutation, die in den letzten beiden Jahrzehnten aufgetaucht und so viel mächtiger als ihre Vorgängerin ist, dass sie wie ein dummes, übereifriges Virus ihren Wirt getötet hat. Warum ist das passiert? Vor allem zwei Entwicklungen spielen eine Rolle: die Privatisierung des Internets durch amerikanische und chinesische Tech-Giganten und die Art und Weise, wie westliche Regierungen und Zentralbanken auf die große Finanzkrise des Jahres 2008 reagiert haben.
Bevor ich ein bisschen mehr dazu sage, muss ich betonen, dass dies kein Buch darüber ist, was die Technologie mit uns anstellen wird. Es geht nicht darum, dass KI-Chatbots unsere Jobs übernehmen oder autonome Roboter unser Leben bedrohen werden oder um Mark Zuckerbergs schlecht durchdachtes Metaversum. Nein, in diesem Buch geht es darum, was dem Kapitalismus und damit uns bereits angetan wurde durch die bildschirmbasierten, mit der Cloud verknüpften Geräte, die wir alle nutzen, unsere langweiligen Laptops und unsere Smartphones, in Verbindung mit dem Handeln der Zentralbanken und Regierungen seit 2008. Die historische Verwandlung des Kapitals, die ich hervorhebe, ist bereits passiert, aber weil wir alle in unseren akuten Dramen gefangen sind, von Sorgen über Schulden und eine Pandemie bis zu Kriegen und der Klimakrise, haben wir es kaum bemerkt. Es ist höchste Zeit, dass wir genau hinschauen!
Wenn wir hinschauen, erkennen wir schnell, dass die Verwandlung des Kapitals in etwas, das ich Cloud-Kapital nenne, die beiden Säulen des Kapitalismus zerstört hat: Märkte und Profite. Natürlich sind Märkte und Profite weiterhin allgegenwärtig – tatsächlich waren Märkte und Profite auch im Feudalismus allgegenwärtig –, aber sie geben nicht mehr den Ton an. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden Profite und Märkte aus dem Epizentrum unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems verdrängt und erst an den Rand geschoben und dann ersetzt. Ersetzt durch was? Die Märkte, das Medium des Kapitalismus, wurden durch digitale Handelsplattformen ersetzt, die wie Märkte aussehen, aber keine Märkte sind und sich besser als Lehensgüter verstehen lassen. Und der Profit, der Motor des Kapitalismus, wurde durch seinen feudalen Vorläufer ersetzt: die Rente. Im Speziellen handelt es sich um eine Form der Rente, die für den Zugang zu diesen Plattformen und zu der Cloud insgesamt entrichtet werden muss. Ich nenne sie Cloud-Rente.
Das Ergebnis ist, dass die reale Macht heute nicht mehr bei den Besitzern von traditionellem Kapital wie Maschinen, Gebäuden, Eisenbahn- und Telefonnetzen oder Industrierobotern liegt. Sie extrahieren weiter Profite aus Arbeitskräften, aus Lohnarbeit, aber sie bestimmen nicht mehr so wie früher. Wie wir sehen werden, sind sie zu Vasallen einer neuen Klasse von Feudalherren geworden, den Besitzern von Cloud-Kapital. Und wir Übrigen sind zu unserem früheren Status als Leibeigene zurückgekehrt und mehren mit unserer unbezahlten Arbeit den Reichtum und die Macht der neuen herrschenden Klasse – zusätzlich zu der bezahlten Arbeit, die wir ausüben, wenn wir die Gelegenheit dazu bekommen.
Spielt all das eine Rolle dabei, wie wir leben und unser Leben erfahren? Ganz sicher. Wie ich in den Kapiteln 5, 6 und 7 zeigen werde, hilft uns die Erkenntnis, dass unsere Welt technofeudal geworden ist, große und kleine Rätsel zu lösen: von der schwierigen grünen Energiewende über Elon Musks Entscheidung, Twitter (inzwischen X) zu kaufen, und dem neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China bis dahin, wie der Krieg in der Ukraine die Vorherrschaft des US-Dollars bedroht, vom Tod des liberalen Individuums und der Unmöglichkeit einer sozialen Demokratie bis zu dem falschen Versprechen der Kryptotechnologie und der brennenden Frage, wie wir unsere Autonomie wiedererlangen und womöglich auch unsere Freiheit.
Bewaffnet mit diesen Überzeugungen und angestachelt durch eine Pandemie, die sie verstärkte, fiel Ende 2021 die Entscheidung: Ich würde mich hinsetzen und eine kurze Einführung in den Technofeudalismus schreiben – die sehr viel hässlichere Realität, die den Kapitalismus abgelöst hat. Eine Frage blieb: An wen sollte sie sich richten? Ohne lange nachzudenken, beschloss ich, sie an die Person zu richten, die mich in lächerlich jungen Jahren mit dem Kapitalismus bekannt gemacht hatte – und die wie ihre Enkelin mir einmal eine scheinbar einfache Frage gestellt hatte, die beinahe jede Seite dieses Buchs prägt: an meinen Vater.
Vorab eine Warnung an ungeduldige Leserinnen und Leser: Meine Darstellung des Technofeudalismus kommt erst in Kapitel 3. Damit meine Darstellung Sinn ergibt, muss ich zuerst die erstaunlichen Wandlungen des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten schildern: Das geschieht in Kapitel 2. Am Anfang des Buchs geht es überhaupt nicht um Technofeudalismus. In Kapitel 1 erzähle ich, wie mein Vater mein sechsjähriges Ich mithilfe von einigen Metallstücken und Hesiods Dichtung in die wechselvolle Beziehung von Technologie und Menschheit und letztlich in das Wesen des Kapitalismus eingeführt hat. Es stellt die Leitprinzipien vor, auf denen das Folgende beruht, und schließt mit der scheinbar einfachen Frage, die mein Vater 1993 an mich hatte. Der Rest des Buchs ist in Form eines Briefes an ihn abgefasst. Es ist mein Versuch, diese zentrale Frage zu beantworten.