Die Geschichten vom Alten Antonio - Subcomandante Insurgente Marcos - E-Book

Die Geschichten vom Alten Antonio E-Book

Subcomandante Insurgente Marcos

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Beschreibung

»Du dachtest, der Weg sei irgendwo und deine Geräte würden uns anzeigen, wo er sei. Aber so ist es nicht. Dann dachtest du, ich wüsste wo der Weg sei, und bist mir gefolgt. Aber so ist es nicht. Ich wusste nicht, wo der Weg ist. Ich wusste nur, wir müssen gemeinsam den Weg machen. Das taten wir. So sind wir dahin gekommen, wohin wir wollten.« In bildhaften Geschichten erzählt Subcomandante Marcos vom Alten Antonio, dem geistigen Ziehvater und ›symbolischen Gründer‹ der ›Ejército Zapatista de Liberación Nacional‹ (EZLN). Übermittelte Erzählungen aus übersetzten Kommuniqués machen den Aufstand der Zapatistas am Neujahrstag 1994 und den Geist der folgenden zapatistischen Autonomie erlebbar. Die Geschichten erfüllen eine Brückenfunktion zwischen den städtischen Intellektuellen, die in den lakandonischen Urwald zogen, und der indigenen Welt der chiapanekischen Mayas. Als die Guerilleros in die Dörfer kamen, antwortete man ihnen: »Wir verstehen euch nicht, eure Worte sind sehr hart.« An diesem Punkt greift der Alte Antonio ein. Er übersetzt das ›westliche‹ und das indigene Denken nach beiden Seiten hin, er lehrt zuzuhören und zu fragen, und er ist es, der die indigenen Elemente in die Sprache der Zapatistas einbringt.

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Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Subcomandante Marcos führt mit den parabelhaften Geschichten des Alten Antonio, dem geistigen Ziehvater und ›symbolischen Gründer‹ der EZLN in die politische Kosmovision der Zapatistas ein und macht den Aufstand am Neujahrstag 1994 und den Geist der folgenden zapatistischen Autonomie erlebbar.

Die Erzählungen erfüllen eine Brückenfunktion zwischen den städtischen Intellektuellen, die in den lakandonischen Urwald zogen, und der indigenen Welt der chiapanekischen Mayas. Als die Guerilleros in die Dörfer kamen, antwortete man ihnen: »Wir verstehen euch nicht, eure Worte sind sehr hart.« An diesem Punkt greift der Alte Antonio ein. Er übersetzt das ›westliche‹ und das indigene Denken nach beiden Seiten hin, er lehrt zuzuhören und zu fragen, und er ist es, der die indigenen Elemente in die Sprache der Zapatistas einbringt.

SUBCOMANDANTE INSURGENTE MARCOS war und ist die revolutionäre Leitfigur des zapatistischen Aufstandes. Mit viel Witz und Poesie diente er als Kommandant und selbst ernannter Sprecher der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN). Als Autor und Poet erzählt er die Spiegelgeschichten seines geistigen Ziehvaters, dem Alten Antonio.

LIOBA ADAM und JUNI ZABOT lernten sich in den Waldbesetzungen gegen Megaprojekte kennen, arbeiten als freie Illustrator*innen und beschäftigen sich seit Jahren mit dem zapatistischen Kosmos.

Subcomandante Marcos

Die Geschichten vom Alten Antonio

Illustriert von Juni Zabot & Lioba Adam

Aus dem Spanischen von

Danuta Sacher, Annette von Schönfeld u.a.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Subcomandante Marcos:

Die Geschichten vom Alten Antonio

Erweiterte Neuauflage, März 2024

eBook UNRAST Verlag, Oktober 2024

ISBN 978-3-95405-203-5

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesetzt in der Literata und der Bricolage Grotesque

Umschlagsgestaltung:

Juni Zabot und Lioba Adam, Berlin/Pödelwitz

Satz und Layout: Juni Zabot, Berlin

Inhalt

Vorwort

Die Maismenschen

Der Löwe und der Maulwurf

Die Geschichte von den Mützenmasken

Die Geschichte von der Nacht und den Sternen

Die Geschichte von den Anderen

Die Geschichte von den Farben

Die Geschichte von den Wolken und dem Regen

Die Geschichte von den Fragen

Die Geschichte von den Spiegeln

Die Geschichte vom Schwert, dem Baum, dem Stein und dem Wasser

Die Geschichte von den Träumen

Die Geschichte vom Regenbogen

Die Geschichte von den Wegen und den Wanderern

Die Geschichte vom Anfang und vom Ende

Vom gemeinsamen Gehen

Vom Nah- und Fernsehen

Die Geschichte vom Lärm und der Stille

Träume, welche in der Liebe nisten

Die Geschichte vom vergrabenen Schlüssel

Die Geschichte vom Maß der Erinnerung

Die Geschichte von dem Einen und von den Allen

Die Geschichte vom Sehen

Die Geschichte von der Luft der Nacht

Die Geschichte vom Halter des Himmels

Die Geschichte von den drei Schultern

Die Geschichte von Ixmucané

Anmerkungen

Vorwort

Jetzt folgen wir durch die Trampelpfade des Gestern, die zu Straßen geworden sind und irgendwann wieder Trampelpfade werden.

Hier sind wir besonders in Tagen globaler Krisen in unserem Handeln verbunden mit fernen Kämpfen. Und wenn im Südosten Mexicos eine Maispflanze umknickt, pusten starke Winde über den Ozean einen süßen Duft nach Mais und den Geschmack von einem nicht enden wollenden Kampfesgeist und der Hoffnung auf ein gutes Leben für alle.

2017.

Das erste Mal. Bei einem Treffen im Wendland begegne ich ihm das erste Mal. Das Zelt ist naß. Wir schlafen im Dachstuhl über dem Holzlager. Zwischen den Kuhweiden verläuft der Weg zum Teich. Beim Baden verfolgen uns die Bremsen. Später zieht ein Gewitter über die flache Ebene.

Abends höre ich zum ersten mal seine Geschichten.

Mit schlichten Sätzen spannt er einen Sternenhimmel aus Worten auf. Eine Karte die uns keine Ziele zeigt, sondern vielmehr, wie wir gehen können, um herauszufinden, wohin wir gehen wollen.

Es sind Erzählungen, die unseren Blick öffnen. Auf uns und in unsere Herzen und die unserer kämpfenden Geschwister, die, die vor und neben uns gehen.

1994.

Ein Ende und Ein Anfang. Das Ende des Realsozialismus war seit einigen Jahren besiegelt. Die Regierungen der Welt redeten vom Ende der Geschichte: Der Kapitalismus sei nun alternativlos. In Deutschland kämpften wir gegen alte und neue Nazis und das Gefühl von Hilfs- und Hoffnungslosigkeit mischte sich mit großem Zorn und Angst. Wir fühlten uns schwach. Wir verstanden die Enttäuschung vieler Menschen aus der DDR sehr gut. Hatten sie doch vom ›goldenen Westen‹ etwas anderes erwartet als Entfremdung, Geldgeilheit und die Zerstörung der ostdeutschen Industrien. Aber das Jahr begann anders als erwartet:

Am ersten Januar übernehmen mit Mützenmasken vermummte Indigene fünf Bezirkshauptstädte im Südosten Mexikos. Ich sehe in den Fernsehnachrichten einen Bericht, renne auf den Hof und rufe »Revolution in Mexiko, Revolution in Mexiko!« Lockere Sprüche kommen zurück, »übertreib nicht, woher willst du das wissen? Seit wann glaubst du den Nachrichten?«

Einen Tag später erreicht uns übers Internet das erste Kommunique der EZLN (Ejercito Zapatista de Liberation Nacional): HEUTE SAGEN WIR YA BASTA – ES REICHT!

Sie stellen elf Forderungen nach Arbeit, Land, Wohnung, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden. Die Bilder aus den Nachrichten reichen aus, um mich zu elektrisieren.

Das Datum war nicht zufällig gewählt: Mit dem Jahreswechsel trat das Freihandelsabkommen NAFTA zwischen Mexiko, USA und Kanada in Kraft. Das Abkommen machte die drei Länder zu einer riesigen Freihandelszone. Das nutzte ausschließlich den großen transnationalen Konzernen der USA und Kanadas. Die Bauern, die indigene Bevölkerung und die Arbeiter*innen hatten davon nicht nur nichts, sondern waren noch einmal mehr dem Diktat der Konzerne unterworfen. Sogenannte Maquiladoras (Weltmarktfabriken) sollten entstehen, für die die Arbeits-, Sozial- und Umweltgesetze Mexikos nicht gelten. Agrarland, Natur, die Wälder und das Wasser sollten beliebig privatisiert werden können.

Die ursprüngliche Bevölkerung Mexikos lebt in Ejidos, in Dörfern, die der Gemeinschaft gehören und in denen das Leben gemeinschaftlich organisiert wird. Mit dem NAFTA sollte es derartigen Gemeinschaftsbesitz nicht mehr geben. Für die ohnehin in bitterer Armut lebenden Menschen im ärmsten Bundesstaat Mexikos waren das Bedingungen, die sie nicht mehr ertragen konnten und wollten. Sie mussten kämpfen, um überleben zu können.

Wir hatten viele Fragen. Wer sind diese Kämpfer:innen, was ist die EZLN? Wer sind die Zapatistas? Wie konnten sie das schaffen, plötzlich, am 1. Januar, als alle in den Städten noch ihren Rausch ausschliefen, fünf Städten zu übernehmen?

Zu dieser Zeit mussten Indigenas noch vom Bürgersteig runtergehen, wenn ein*e Weiße*r dort lang kam, durften Weißen nicht ins Gesicht sehen. Sie waren Menschen zweiter Klasse, wurden unsichtbar gemacht. Das hat sich seit diesem Tag geändert.

Informationen zu unseren Fragen bekamen wir aus Hamburg, von der Edition Nautilus und Zapapress, aus den Medien und direkt aus Mexiko. In unserer Gruppe sprach einer fließend Spanisch und konnte uns alles übersetzen.

Überhaupt waren wir zu der Zeit in Frankfurt ziemlich gut organisiert. Die 1990er waren eine Zeit von rechten Pogromen: Hoyerswerda, Rostock, Solingen sind nur einige der Städte, in denen der rassistische Mob raste und mordete. Durch die antifaschistische Organisierung in Stadtteilgruppen wehrten wir uns. Am 3. Januar riefen wir zu einer Solidaritätsdemo mit den Zapatistas. Wir wussten zu dieser Zeit schon, dass sie sich nicht primär nach marxistisch-leninistischen Kriterien organisierten, eher basisdemokratisch. Wir hörten ihre Parole: Für Alle Alles, nichts für uns.Fünf Tage später, am 8. Januar demonstrierten wir mit ca. 1000 Menschen durch das Frankfurter Bankenviertel.

Der Krieg in Chiapas dauerte zwölf Tage. Beendet wurde er hauptsächlich von den Massenmobilisierungen in Mexiko Stadt, wo fast täglich mehr als eine Million Menschen auf die Straße gingen – in Solidarität mit den Zapatistas und gegen den Krieg.

Was uns auch begeisterte, war die Sprache ihrer Kommuniques, von denen im Folgenden oft mehrere pro Woche erschienen. Sie waren ganz anders als die Erklärungen anderer revolutionärer Organisationen. Ihre Sprache bildhaft, aber ernst, nie hart und abgeklärt. Sätze wie fragend gehen wir voran schienen wirklich ernst gemeint. Oder auch Es ist nicht nötig, die Welt zu erobern, es genügt, sie neu zu schaffen. Durch uns. Heute.

Das war neu. Nicht die Macht zu übernehmen, sondern eine neue Welt gemeinsam aufzubauen. Eine Perspektive, auch für uns. Das führte auch dazu, dass sie von vielen als reformistisch abgetan wurden.

Ein wichtiger Teil ihrer Kommuniques waren die Postskripta, die häufig länger waren als die Erklärungen selbst. In diesen traten hauptsächlich drei Akteur*innen auf: Erstens Toñita, ein kleines Mädchen, das den Subcomandante Marcos gerne bei der Arbeit störte und mit dem Versuch, ihm Süßigkeiten zu klauen, ihn nervte und seine Autorität untergrub. Zweitens Don Durito, ein philosophisch hochgebildeter Mistkäfer, der den Sub immer wieder in Diskussionen verwickelte, ihm widersprach und ihm seinen Tabak stibitzte. Und schließlich der Alte Antonio, ein Indígena, der möglicherweise schon mit Zapata gekämpft hatte. Er half den Guerilleras, hinterfragte, kritisierte und machte Vorschläge. Geduldig erklärte er ihnen, dass sie mit ihrer kalten, marxistischen Sprache und Analyse die Indigenen Menschen nicht erreichen würden, sie niemand verstehen würde. Denn wo bleibt in so einer Sprache das Herz?

Mich erinnerte das an eine Situation 1980, als wir mit unserer Unigruppe in das erste besetzte Haus der damaligen Häuserbewegung gingen und auf dem Plenum mitdiskutierten. Ein 17-Jähriger Azubi, der die Lehre abgebrochen hatte, um in dem Haus zu leben, nahm mich zur Seite und sagte zu mir: »Ich finde es ja toll, dass ihr hier seid. Aber ich verstehe keinen Ton von dem, was ihr sagt!«

Was der Alte Antonio sagte, war konkret, praktisch, tiefgründig und weise. Er verkörpert die jahrhundertelange Erfahrung von Kampf und Widerstand der indigenen Bevölkerung Mittel- und Südamerikas, das tiefe Verständnis für die Unterdrückten. Er ist zutiefst menschlich und respektvoll. Für mich sind er und die Zapatistas seitdem mein politischer und moralischer Kompass.

Auch vor 1994 waren Internationalismus und Internationale Solidarität selbstverständlicher Teil der Linken in der BRD. Aber der Aufstand der Zapatistas war anders. Er gab uns – wie viele andere Aufstände auch – wieder Hoffnung. Es war der erste Aufstand nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus. Ich spürte damals schon, dass da etwas anders war. Heute kann ich es formulieren: Die Zapatistas haben uns die Hand gegeben, um mit uns zusammen dieses elende, verbrecherische System des neoliberalen Kapitalismus, des Rassismus und Kolonialismus zu bekämpfen. Sie wollen mit uns kämpfen, nicht weil wir ein schlechtes Gewissen haben oder Schuld fühlen, sondern auf Augenhöhe, mit Respekt. Angesichts der Geschichte dieses Kontinents ist das ein ungeheuer wertvolles Geschenk, aber auch eine Verpflichtung. Nehmen wir beides an.

1492.

Sie sind angekommen. In Mexiko ist es undenkbar, dass einem Kind in seiner Grundbildung keine Informationen über dieses Jahr vermittelt werden, wobei diese Informationen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können: In meiner Schule zum Beispiel wurde mir gesagt, dass in diesem Jahr Amerika entdeckt wurde, in meiner Comunidad[1] hingegen lernten wir schon als Kinder, dass um diese Zeit herum die ersten Räuber ankamen.

Seit ihrer Ankunft litten wir Pueblos[2] unter dem Kolonialismus, das dürfen wir niemals aus den Augen verlieren. Jedoch war das Jahr 1492 auch der Ausgangspunkt für eine lange Geschichte der Rebellion und des Widerstands, die bis heute andauert. Diese Geschichte des Widerstands wird in den Schriften der Kolonisatoren kaum erwähnt, wohl aber in der mündlichen Überlieferung der Comunidades. Derjenige, der diese kurzen Zeilen schreibt, gehört der Indigenen Comunidad Coca de Mezcala an, einem kleinen Pueblo im Westen Mexikos.

Das Jahr 1492 hat für viele Comunidades keine große Bedeutung. Bei uns in Mezcala zum Beispiel, kam die Kolonisation 1530 an. So ist es in vielen Comunidades, die Jahreszahlen waren verschieden und lagen oft weit auseinander. Obwohl einige Historiker davon sprechen, dass zwei Jahre ausreichten, damit die Truppen von Hernán Cortéz die Mexicas (später als Azteken bekannt) besiegten, dauerte es noch lange, bis sie in den Rest des Territoriums vordrangen, das heute als Mexiko bekannt ist. 50 Jahre brauchten sie, um diejenigen zu ›befrieden‹, die sie Chichimecas nannten, darunter das Pueblo der Coca.

Jedes Pueblo, jede Nation und jeder Stamm erinnert dies so, wie sie es erlebt haben. Für uns ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass die Ankunft des Kolonialismus das Verschwinden von 90% des Pueblo Coca bedeutete und dass aktuell nur zwei Comunidades die Jahre überlebt haben.

Das Pueblo Coca nahm an einem der bedeutendsten Kriege in der Geschichte des Kolonialismus Teil: Dem Mixton-Krieg. Dieser Krieg war so entscheidend, dass der Sieg der Kolonisatoren bedeutete, dass der Kolonialismus weitergehen konnte – aber wenn sie verloren hätten, hätten sie damals vertrieben werden können. Die Schlacht verloren wir, aber es begann eine lange Zeit des Widerstands. Der Widerstand, mit dem ich mich am meisten auskenne, ist der, den meine Comunidad leistete. Daher schreibe ich von dem, was mir erzählt wurde und dem was wir weiter überliefern.

Der erste Erfolg unserer Comunidad war die Anerkennung unseres Territoriums im Jahr 1534, als die spanische Krone den Título Primordial ausstellte, der Mezcala als ein Pueblo auswies, das sein Land seit undenklichen Zeiten bewohnt.

Die Kolonisatoren versuchten über viele Wege zu erreichen, dass unsere Vorfahren aufhörten, ihre alten Rituale durchzuführen. Der bedeutendste Schritt war die Errichtung einer Kirche auf der heiligen Insel der Comunidad im Jahr 1540. Die Kirche bestand allerdings nicht lange, weil Juan Tzincayotl, ein Coca, sie 1557 niederbrannte - eine Aktion, die der ›Indio Pablo‹ 24 Jahre später, 1581, mit der zweiten Kirche wiederholte.

1773 wurde eine weitere Kirche gebaut, diesmal im Zentrum der Comunidad. Selbige wurde zerstört, nachdem es zum Konflikt zwischen den lokalen Autoritäten von Mezcala und den durch die Kolonisatoren aufgezwungenen Autoritäten gekommen war. Obwohl die Jahre ins Land gingen, führte die Comunidad weiterhin ihre überlieferten Rituale durch, vor allem zu Ehren von Nola, um eine gute Regenzeit zu erbitten. So kam es 1973, dass die katholische Kirche die Comunidad beschuldigte, mit ihren Ritualen einen Erdrutsch verursacht zu haben. Im selben Jahr schnitt eine Person der Comunidad der Statue der heiligen Jungfrau in der Kirche den Kopf ab.

Aber es gab nicht nur Widerstand gegen den religiösen Zwang, es wurden auch die Menschen und das Territorium unserer Vorfahren verteidigt. Unsere Coca-Geschwister von San Pedro Itzicán etwa töteten Großgrundbesitzer, die unsere Pueblos als Sklaven benutzten. In den Jahren der Kolonie wie auch in jüngerer Zeit ging die Comunidad Mezcala auch auf rechtlichem Wege gegen die Invasion ihres Landes vor. Zuletzt wurde ein juristischer Kampf gegen einen Unternehmer geführt, der mehr als 10 Hektar Gemeindeland geraubt hatte. Nach 23 Jahren Rechtsstreit wird dort nun eine Universität für junge Indigene aufgebaut, nach dem Beispiel der Universitäten der Erde (UNITIERRAS).

Mezcala umfasst aktuell 3602 Hektar Gemeindeterritorium. Dort ist es, wo tausende Geschichten des Widerstands bewahrt werden, von denen ich hier einige erwähnt habe. Obwohl alle diese Geschichten im kollektiven Gedächtnis leben, hat uns wohl am meisten der Krieg gelehrt, der 1812 bis 1816 geführt wurde und in dem unsere Vorfahren gegen die spanischen Truppen kämpften und das Territorium der Comunidad verteidigen konnten. Dank diesem Kampf konnte das errichtet werden, was heute Mexiko genannt wird, denn es war einer der wichtigsten Kämpfe, um die Unabhängigkeit des Landes zu erreichen.

Aber der Kolonialismus hörte nicht mit dem Unabhängigkeitskrieg und der Verabschiedung der mexikanischen Verfassung auf, sondern begann, auf eine andere Weise zu agieren, die auch heute noch von den Kapitalist*innen umgesetzt wird. Wie die Compañeros Zapatistas sagen: »Der Vorarbeiter kann wechseln, aber der Gutsbesitzer bleibt derselbe.« Aber man sagt ja, wir, das Pueblo Coca, sind genau wie viele andere ursprüngliche Pueblos in Mexiko wie das Wasser, das sich immer einen Weg sucht, bis alles Risse bekommt, was es daran hindert, frei zu sein.

Die mündliche Tradition ist die mächtigste Waffe, die die Pueblos haben, um ihre Kultur, ihre Traditionen und ihre eigene Geschichte zu bewahren – genau wie es der Alte Antonio macht, um die Kosmovision des Pueblo Maya zu bewahren. Für Mezcala ist es wichtig, ein lebendiges Territorium zu haben, eben jenes, das den Wald genauso beinhaltet wie den Tanz, jenes, das nicht ohne die Feste gedacht werden kann, ohne die Organisation, die Freude, die Rebellion und ohne die mündliche Tradition. Damit wir nicht vergessen, feiern wir jedes Jahr die Woche des Widerstands, wo einige Jugendliche und Kinder andere mittels traditioneller Spiele sowie kultureller und sportlicher Veranstaltungen die Geschichte und den Widerstand unseres Pueblos lehren.

Die, die 1492 angekommen sind, ernannten sich selbst als die ersten, die Befreier und Sieger, und das, obwohl das weite und diverse Territorium, auf dem sie gelandet sind, bis zum heutigen Tag aufrührerisch ist. Mehr als 500 Jahre sind vergangen und wir, die ursprünglichen Pueblos, werden nicht müde, zu sagen, dass sie uns nicht besiegt haben, dass wir weiter aufrecht stehen und Widerstand leisten. Den Beweis liefert das gemeinsame Haus der indigenen Pueblos, dieser Raum, wo wir uns versammeln, um unsere Kämpfe kennenzulernen und sie so verbinden zu können: Der Congreso National de Indígena[3].

1985.

Der Alte Antonio. Als Subcomandante Marcos zum ersten Mal den Alten Antonio traf (einen Mann »undefinierbaren Alters, das Gesicht gefurcht wie Zedernrinde«), war er Infanterie-Leutnant der gerade erst entstandenen EZLN: »Wir waren eine kleine Bande, die die Welt verändern wollte; uns selbst bestätigend, dass es die Mühe wert war, zu tun, was wir tun wollten oder was wir vorhatten zu tun, obwohl wir damals nicht wussten, dass wir es eines Tages wirklich tun würden«, erzählte Marcos in einem Interview mit Juan Gelman.

»Wir trafen einander in einer Phase völliger Isolation«, erinnert sich Marcos. »Wir hatten uns verirrt, waren verloren am Ufer eines Flusses, der sehr nah an seinem Dorf vorbeifließt. Sein Dorf war tief in der Selva, so trafen wir uns und wussten nicht, was wir sagen sollten. Sollten wir lügen? Er sagte, dass er auf der Jagd sei, obwohl er nah bei seinem Feld war. Ich sagte, ich sei Ingenieur. Mein Bart war reichlich lang, wir waren bewaffnet. Wie ein Ingenieur sah ich nicht gerade aus. Später trafen wir uns erneut, und unsere Beziehung begann. Anfänglich war der Traum jedes Guerilleros, einen Bauern zu treffen, ihm die Politik zu erklären und von der Sache zu überzeugen. Ich begann also, ihm von der Geschichte Mexikos zu erzählen, vom Zapatismus, und er antwortete mir mit der Geschichte von Votán und Ik’al.«

Der Alte Antonio erzählte Marcos die Geschichte von Votán-Zapata – die Geschichte, in der Ik’al und Votán lernten, durch die Welt zu gehen (einer bei Tag, der andere bei Nacht), und seither gehen die Götter mit Fragen voran und bleiben nie stehen, kommen nie an und gehen nie fort. (…)

Am Ende der Geschichte schenkte der Alte Antonio Marcos eine Fotografie von »diesem Zapata« mit der Mahnung: »Damit du lernst, Fragen zu stellen und zu gehen.«

»Das erste Dorf, in dem wir 1985 offen als Zapatisten einmarschierten, war das des Alten Antonio. Er war dabei eine Art Übersetzer, erklärte uns, wer wir waren und was wir tun sollten. Gleichzeitig begann ein Umdenkungsprozess innerhalb des Zapatismus.

Der Alte Antonio war die Brücke, über die die Guerilleros Zugang zu den Dörfern finden. Sein wesentlicher Beitrag war, die Zapatisten das Spezifische der Indígena-Frage in den Bergen des Südostens Mexikos verstehen zu lehren. Während dieser ganzen Zeit waren wir einander nahe, wir trafen uns, unser Lager war in der Nähe seines Dorfes, wir gingen hin oder er kam zu uns. Später verlagerten wir uns mehr hierher. Er war in der Rolle, uns zu erklären, wo wir waren: ›Erinnere dich, dass du hier bist und alles, was passiert, hier passiert.‹ Das war eine große Hilfe. Letztendlich war dies Marcos’ Hilfsmittel, um die städtische mit der Indígena-Welt in Verbindung zu setzen. Es war der Alte Antonio, der die indigenen Elemente in die nach außen gerichtete Sprache der Zapatisten einbrachte.«

Am 17. November 1983 gründen sechs Personen die Zapatistische Armee für die Nationale Befreiung – die EZLN. Als die Guerilleros in die Dörfer gehen, um ihren Kampf zu begründen, antworten ihnen die Leute: »Wir verstehen euch nicht, eure Worte sind sehr hart.« An diesem Punkt greift der Alte Antonio ein: Er übersetzt das »westliche« und das indigene Denken nach beiden Seiten hin, er lehrt zuzuhören, um zu sprechen, und zu sprechen, um zuzuhören, das heißt: zu fragen.[4]

2024.

Ein Jubiläum. 40 Jahre ist es bald her, dass Marcos dem alten Antonio in den Bergen des mexikanischen Südostens begegnete. Seit 30 Jahren trifft ihn die Welt außerhalb der Selva Lacandona an: in den Geschichten, die Subcomandante Marcos, Sprecher der EZLN, der mexikanischen und internationalen Öffentlichkeit (weiter-)erzählt. So wie es zuvor die Rolle des alten Antonios gewesen war, die Brücke zwischen den marxistischen Studenten der EZLN und den Indigenen der Selva zu bilden, so übernahm nun Marcos die Funktion, das indigen geprägte, zapatistische Politikverständnis für die „westliche“, die moderne, städtische Gesellschaft in Mexiko und weltweit begreifbar zu machen. Dazu bediente er sich immer wieder der Geschichten des alten Antonios und flocht sie in die Kommuniqués der EZLN ein.

2014.

Der Sup. In La Realidad, tief in der Selva Lacandona, wird der zapatistische Compañero Galeano von Paramilitärs erschossen. Eine Karawane mit über tausend Menschen setzt sich von Mexiko-Stadt aus in Bewegung, um ihre Solidarität mit den Zapatistas zu zeigen. Der Subcomandante Marcos ›stirbt‹ und steht als Subcomandante Galeano wieder auf.

Dass Marcos, als einer der wenigen Mestizen in der EZLN, Sprecher und damit für viele das Gesicht dieser überwiegend indigenen Bewegung war, führte zu vielen Fragen oder sogar Kritik. Doch es war, ebenso wie der bewaffnete Aufstand, ein Akt der Notwehr gegen das rassistische System, wie er im Kommuniqué ›Zwischen Licht und Schatten‹ von 2014 ausführt[5]:

»Im Morgengrauen des ersten Tages des ersten Monats des Jahres 1994 ist eine Armee von Riesen, das heißt, von rebellischen Indigenen in die Städte hinabgezogen, um mit ihrem Schritt die Welt zu erschüttern. Nur einige Tage später, das Blut unserer Gefallenen war noch frisch, da merkten wir in den Straßen der Stadt, dass die von draußen uns nicht sahen.

Die anderen waren gewohnt, die Indigenas von oben herab anzuschauen, sie konnten nicht den Blick nach oben wenden, um uns zu sehen. Sie waren gewohnt, uns als erniedrigte Menschen zu sehen, ihre Herzen konnten nicht unsere würdevolle Rebellion verstehen. Ihre Blicke wurden von dem einzigen Mestizen mit Sturmhaube gefangen genommen, aber nur, weil sie ihn nicht wirklich sahen. Unsere Anführer*innen sagten dann: ›Sie können nur diejenigen sehen, die genauso klein wie sie sind. Dann machen wir jemanden, der so klein ist wie sie, so dass sie ihn sehen können und durch ihn uns sehen können.‹ So fing eine komplexe Ablenkungsstrategie an, eine schreckliche und wunderschöne Zauberei, ein bissiges Versteckspiel des indigenen Herzens, das wir sind. Die indigene Weisheit fordert die moderne Welt an einer ihrer stärksten Säulen heraus: den Massenmedien. So fing der Aufbau

der Figur an, die Marcos genannt wurde.«

2021.

Für das Leben.

Es war die Reise für das Leben, die wieder viele Menschen in den Kontakt mit den Zapatistas brachte und neues Interesse für sie weckte – keinen Moment zu früh, denn angesichts der sich verschlechternden Situation in Chiapas und ganz Mexiko braucht es mehr denn je eine wiedererstarkende internationalistische Solidarität mit den Compas Zapatistas: Die paramilitärischen Bedrohungen und Attacken durch Gruppen wie die ORCAO verschärfen sich stetig. Die sich links nennende, damit die mexikanische Linke spaltende, de facto aber absolut neoliberal und repressiv agierende Regierung von AMLO militarisiert das Land wie nie zuvor - vor allem den Grenzstaat Chiapas, um im Dienste der USA Migrant*innen gewaltsam aufhalten zu können und nebenbei gleich den Indigenen Widerstand gegen Megaprojekte unter Kontrolle zu bringen. Diese Megaprojekte bringen nie da gewesene Zerstörung in die Region, besonders der zynisch benannte ›Tren Maya‹ (Maya-Zug), der die Maya vertreibt, den Regenwald und die heiligen Cenotes zerstört, ebenso der ›interozeanische Korridor‹ durch die Landenge von Tehuantepec, der am Ende die perfekte Mauer zur Migrant*innenabwehr darstellen wird, inklusive Fabriken, um sie in moderner Sklaverei auszubeuten.

Nicht umsonst sprechen die Compas vom Kampf für das Leben. Zum 01.01.21 veröffentlichten sie, gemeinsam mit einem Teil des Europas von links und unten, die Erklärung für das Leben. Sie sehen die Zerstörung durch das kapitalistische System an einem Punkt angekommen, an dem es das Leben auf dem Planeten insgesamt bedroht, von einem freien und guten Leben ganz zu schweigen. Sie sehen, dass es angesichts der weltweiten Zerstörung auch ein weltweites Netz der Solidarität und Rebellion braucht – ein Netz derer, die die Verpflichtung teilen: »Zu kämpfen, überall und jederzeit – jede*r auf ihrem*seinem Gebiet – gegen dieses System – bis es vollständig zerstört ist. Das Überleben der Menschheit hängt von der Zerstörung des Kapitalismus ab.« [6]

Die erste Etappe der Reise für das Leben begann mit der Landung des Segelschiffs La Montaña in Vigo, Galizien. Marijose, ein*er Otroa, einer Person ›anderen‹ Geschlechts, oblag es, den gerade entdeckten Kontinent umzubenennen: SLUMIL K›AJXEMK‹OP, Tzotzil für ›widerständiges Land‹, sollte Europa fortan genannt werden, »solange es hier jemanden gibt, der nicht aufgibt, sich nicht verkauft und nicht kapituliert.«[7] Dieser Name brachte bereits den Geist der Reise auf den Punkt. Die Zapatistas kamen nicht, um von den Europäer*innen um Vergebung für Jahrhunderte des Leids und der Unterdrückung gebeten zu werden. Sie kamen, um sich mit denjenigen zu verbinden, die wie sie von unten und links für das Leben kämpfen. Sie kamen mit uns zusammen, damit wir einander kennenlernen konnten, das heißt vor allem: einander zuzuhören.

Es war dieses von Herzen sprechen und von Herzen zuhören, wie es auch der alte Antonio lehrt, das für viele von uns ein bleibender Eindruck der Reise war. Nicht in abstrakter Weise über (politische) Themen zu sprechen und dabei rationale Analyse und Emotionen völlig voneinander zu entkoppeln. Die Compas erklärten ihre Sicht auf die Dinge nicht mit theoretischen Begriffen, sondern mit Geschichten. Das sprengte alle europäisch durchgetakteten Zeitpläne für die Reise und schuf gleichzeitig ein viel tieferes Verständnis für das, was sie uns berichteten. Anstatt Faktenwissen anzusammeln, bauten wir im Austausch mit der zapatistischen Delegation eine tiefe Verbundenheit zu diesen Menschen und ihrer Geschichte auf, verstanden ihre Unterdrückung, ihren Widerstand und ihre Rebellion nicht nur mit dem Kopf, sondern vor allem mit dem Herzen. Wir lernten das ›kollektive Herz‹ kennen, das die Compas miteinander teilen. Wir spürten, was auch früher schon Europäer*innen, etwa bei Besuchen in der zapatistischen Sprachschule in Oventik, gelernt hatten: Dass es nicht bloß um eine politische Theorie geht, sondern dass der Zapatismus auf der gesamten Weltsicht der Maya aufbaut, ihrer eigenen indigenen Kosmovision, die sich in entscheidenden (uns meist völlig unbewussten) Punkten von der modern-kapitalistisch geprägten Weltanschauung unterscheidet.

Etwa in der Frage, wie wir uns mit der Welt in Verbindung setzen: Betrachten wir uns als abgetrennt von der Natur, der Erde, unseren Mitmenschen? Oder begreifen wir uns als Teil dieses Systems Leben, dessen Gleichgewicht bewahrt werden muss, das nur gedeihen kann, wenn wir Respekt vor all seinen Teilen haben? Schon bei unseren engsten Mitmenschen fällt uns das schwer, so sehr haben uns erst Patriarchat, dann Kolonialismus und Rassismus, dann Kapitalismus und Neoliberalismus voneinander entfremdet. Die völlig selbstverständliche Kollektivität der Zapatistas während ihres Besuches hat uns daher häufig im selben Maße beeindruckt wie erschüttert.

Wir wollen nicht romantisieren. Noch viel weniger wollen wir uns bei den Maya und anderen Kulturen bedienen, um unsere Lücken zu stopfen. Aber die Erfahrungen der Reise haben uns dankbar gemacht und inspiriert, bei vielen von uns haben sie die Sehnsucht geweckt, uns auch in unserer politischen Praxis wieder mehr mit dem Herzen untereinander zu verbinden, anstatt uns nur in verkopften Plena zu quälen und wegen Nichtigkeiten zu streiten.

Im Netz der Rebellion