Die Geschwistermeere - Olaf Mörke - E-Book

Die Geschwistermeere E-Book

Olaf Mörke

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Beschreibung

This book presents the integrated history of both seas and its neigh ours for the first time, from the Antique until present times. The author carves out the political, cultural and economic connecting and separating lines within the North European region between the British Isles in the West, Russia in the East, Iceland in the North, and Poland and Germany in the South. Here, he illustrates colourfully and competently, how the ideal notions, but also the actual ideas of the regional and relationship history, which has lasted over centuries, positively affected solidarity, but how it also led to conflicts.

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Olaf Mörke

Die Geschwistermeere

Eine Geschichte des Nord- und Ostseeraumes

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-020427-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-025932-4

epub:    ISBN 978-3-17-025933-1

mobi:    ISBN 978-3-17-025934-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort

 

 

Dieses Buch ist an Ost- und Nordsee entstanden. Die Arbeit daran begann und endete in Kiel, auf der Cimbrischen Halbinsel. Die lange Kooperation mit Kollegen und Stipendiaten des dortigen Graduiertenkollegs Imaginatio borealis – Perzeption, Rezeption und Konstruktion des Nordens steuerte eine Vielzahl von Ideen bei. 2011 genoss ich als Guest Scholar die Gastfreundschaft der Historiker der University of St Andrews in Schottland. Nicht zuletzt die inspirierenden Gespräche mit den dortigen Kollegen ließen den Gedanken reifen, die Geschichte von Nord- und Ostsee zusammenzuschauen. Namentlich danke ich dafür und für freundschaftliche Unterstützung Tomasz Kamusella, Emily Michelson, Frank Müller, Steve Murdoch, Andrew Pettegree und Bernhard Struck. 2012 schließlich ermöglichte ein Fellowship am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald neben intensiven Diskussionen um das Projekt auch den Einstieg in die Schreibphase bis zu dem entscheidenden Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Michael North und Sven Olesen, beide Greifswald, gilt dankbare Verbundenheit für ermutigende Anregungen, den Mitarbeitern des Kollegs für das nicht zu übertreffende Geschick, eine Arbeitsatmosphäre voll Ruhe, Konzentration und beflügelnder Unbeschwertheit zu schaffen.

Frau Monica Wejwar hat als Verlagslektorin die Entstehung des Manuskriptes mit großem Interesse an der Sache und bewährtem Einfühlungsvermögen für das Auf und Ab des Autorendaseins maßgeblich gefördert. Mein Dank begleitet sie in den Ruhestand. Von ihr übernahm auf der letzten Runde Dr. Daniel Kuhn den Staffelstab und half dem Band mit Sachverstand und Interesse über die Ziellinie. Herzlicher Dank auch dafür.

Ich widme das Buch dem Andenken an meinen Bruder Rolf Mörke, geboren 1945 und im gleichen Jahr als spätes Opfer des Krieges gestorben, der, 1939 von Deutschen begonnen, mit all seinen Schrecken auch und gerade den Raum der Geschwistermeere heimgesucht hat.

 

Kiel, im September 2014

Olaf Mörke

Inhalt

 

 

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Warum eine Geschichte der Geschwistermeere?

Geschwistermeere und Historische Geographie

Die Konstruktion des Nordens

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Erste Raumstrukturen

Mittelmeerwelt und Norden begegnen sich

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Ursprungslegenden

Christliche Mission

Neue Beziehungen im Ostseeraum

Die Wikinger

Herrschaftsbildung rund um die Ostsee

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Machtverhältnisse im Westen

Kalmarer Union

Politik und Wirtschaft zwischen Nord- und Ostsee

Die Hanse

Universitäten und Gelehrte

Landnahme und Landesausbau

Kulturelle Homogenisierungen und Ausgrenzungen

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Geschichtsbilder in Schottland, England und den Niederlanden

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Moskau, die Orthodoxie und Polen

Die Goten und der Norden

Eigenheit und Freiheit

Religion und Konfession

Schweden und Dänemark

Die Niederlande

Niederländer an Nord- und Ostsee

Austauschmuster in Wirtschaft und Kultur

Mächte und Machtbeziehungen

Überseehandelsgesellschaften

Briten, Niederländer und Hamburg

Politische Kulturlandschaften

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Spanischer Erbfolgekrieg

Großer Nordischer Krieg

Russland wird Großmacht

Gewinner und Verlierer im Mächtespiel

Aufklärung und Freiheitsidee

Regionale Freiheitstraditionen

Das Raumkonzept

Norden

Vernetzungen

Das britische Modell

Die Praxis der Freiheit

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Staatenwelt nach Napoleon

Schleswig und Holstein

Russland und Großbritannien

Das Deutsche Kaiserreich

Deutschlandbilder

Germanisches und Nichtgermanisches

Pangermanismus

Nationalromantik und der Norden

Politische Neuordnungen

Weltkriegsmythen

7

     

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Wege in den Autoritarismus

Finnland und die Sowjetunion

Zweiter Weltkrieg, Polen und die Sowjetunion

Germanophilie, Slavophobie und Antisemitismus

Krieg um Werte

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Neue Staatenwelt und Kalter Krieg

Normative Integrationen und Eigenheiten

Desintegration der Sowjetunion

Polens Beispiel

Die DDR und die Ostsee

Russland, Europa und die Ostsee nach 1990

Die Auflösung von Imperien und neue alte Nordkonzepte

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Abbildungsverzeichnis

Zur Einführung: Ost- und Nordsee, Cimbrische Halbinsel und die Idee vom Norden

 

 

Am Anfang stand die Idee zu einer Geschichte des Ostseeraumes. Dass es dafür gute Gründe gibt, haben jüngst Christoph Neidhart mit seiner anregenden virtuellen Reise durch den Kulturraum der Ostsee, Michael North mit seiner den Schwerpunkt auf Kultur und Handel legenden Geschichte der Ostsee und Alan Palmer mit seinem politikgeschichtlichen Überblick über The Baltic bewiesen.1 Vor ihnen hatten seit den 1990er Jahren andere die See und ihre Küstenregionen zwischen Kattegat und Finnischem Meerbusen ins Visier von historischen Überblicksdarstellungen genommen.2

Warum eine Geschichte der Geschwistermeere?

Die Konjunktur des Interesses an der Ostseegeschichte ist nachvollziehbar: Der Fall des Eisernen Vorhanges und das Ende des Kalten Krieges beendeten die Beschränkungen im Kontakt zwischen den vormals so unterschiedlichen politisch kulturellen Blöcken angehörenden Ostseeanrainern. Reisefreiheit ermöglichte das Kennenlernen zwischen Nachbarn, die, im Fall der deutsch-deutschen Grenze bei Lübeck trotz der Sichtweitenentfernung, sich nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten begegnen konnten.Wirtschaftlich bedingte Wanderungsbewegungen beförderten und befördern wie der Tourismus das Interesse an der Geschichte des jeweils anderen.

Auf dem Binnenmeer Ostsee ist man an keiner Stelle mehr als 130 Kilometer von Land entfernt. Nur über drei wenige Kilometer breite und zudem relativ dicht beieinanderliegende Wasserwege, den Kleinen und Großen Belt sowie den Öresund, besitzt sie Zugang zur offenen See. Auch das verstärkt den Eindruck von einem eigenen Raum. Die genannten Beispiele belegen es: Die Geschichte der Ostsee bietet allemal genug für ein umfangreiches Buch.

Trotzdem verweist der hier gewählte Titel auf einen ganz anderen räumlichen Zuschnitt. Denn Ost- und Nordsee sind seit deutlich mehr als einem Jahrtausend auf vielfältige, freilich auch in der Intensität wechselnde Weise miteinander verbunden. Drei chronologische und räumliche Eckpunkte mögen einen ersten Eindruck von der Qualität dieser Verbindung vermitteln.

Zum einen hinterließ die frühmittelalterliche Siedlungs- und Herrschaftsexpansion jener unter dem Begriff »Wikinger« zusammengefassten ethnischen Gruppen aus dem heutigen Dänemark, Norwegen und Schweden in den Nordseeraum, die nordatlantische Inselwelt sowie in den Osten und Südosten Europas bis auf den heutigen Tag prägende Spuren. Da ist zum anderen wenige Jahrhunderte später die so oft als typisch für die Ostsee angesehene Hanse. Sie spannte ihren Einfluss gar von London bis Nowgorod, von Brügge bis Bergen, beschränkte sich also keineswegs auf die Ostsee. Und da ist zum dritten die aktuelle Integration fast aller Ostseeanrainer in einen europäischen Einigungsprozess, dessen ökonomischer Schwerpunkt eher auf die Anliegerstaaten der Nord- als auf die der Ostsee weist.

Diese Anzeichen sollten vorerst dafür ausreichen, die Integration von Ost- und Nordsee in eine raumorientierte historische Analyse als sinnvoll anzusehen. Das bedeutet nicht, Eigenheiten zu verwischen und jeweils spezifische Raumdimensionen verschwinden zu lassen. Die über weite Strecken im Wortsinn überschaubare Ostsee mit ihrer ausgeprägten Untergliederung legt intensive Kontaktaufnahme und Austausch unter ihren Küstenbewohnern, sei es einvernehmlich, sei es konflikthaft, geradezu nahe. Hier bildete und bildet sich vielfach Eigenes heraus, das besonderer Betrachtung lohnt. Über das Mittelmeer ist unlängst geschrieben worden, dass seine Geschichte seit Jahrhunderten durch »eine kleinteilige Fragmentierung mit dem Streben nach Kontrolle über die Kommunikationswege« geprägt worden sei, dass es so etwas wie eine »natürliche Arena der Geschichte« forme, einen »Interaktionsraum« eigener Art3. Dies gilt auch für die Ostsee.

Von der Nordsee, auch wenn die »Arena« etwas größer ist, ihre Zu- und Ausgänge zahlreicher, deutlicher verteilt und offener sind, wird man freilich Gleiches sagen können. Das indes rechtfertigt noch nicht eine Darstellung, die ihr Interesse gemeinsam auf Ost- und Nordsee richtet. Dazu muss man eine Landschaft in den Blick nehmen, die bei einer gewissen Betriebsblindheit für das eine oder andere jener beiden Meere lediglich als ein Teil entweder der Westküste der Ostsee oder der Ostküste der Nordsee gesehen werden kann.

Die seit der Antike unter diesem Namen bekannte Cimbrische Halbinsel, heute politisch gegliedert in das deutsche Bundesland Schleswig-Holstein und das dänische Jütland, schaut gleichermaßen zur Ost- und zur Nordsee.4 Sie ist der Riegel, der sich zwischen zwei maritime Räume legt und beide zu trennen scheint. Sie ist aber ebenso Landbrücke, die diese Trennung aufhebt.

Schon im 9. Jahrhundert existierte dort ein Transitweg zwischen Nord- und Ostsee. Er nutzte die Schiffbarkeit der Flüsschen Eider und Treene, überwand eine schmale Landbrücke zwischen dem heutigen Ort Hollingstedt und Haithabu, dem damals herausragenden Handelszentrum am Meeresarm der Schlei.5 In den 1390er Jahren wurde mit dem Stecknitzkanal ein bis ins 19. Jahrhundert kommerziell genutzter künstlicher Binnenwasserweg zwischen Lübeck und der Elbe geschaffen. Er erwies sich immer dann für die Hansestädte als wertvoll, wenn ihren Schiffen in den nicht seltenen Konflikten mit Dänemark der Weg durch den Sund verwehrt blieb.6

Das lässt den schon im Mittelalter sensiblen Zusammenhang von Ökonomie und Politik in der Verbindung zwischen den Meeren ahnen. Gleiches gilt auch für den 1895 als Kaiser-Wilhelm-Kanal eröffneten Nord-Ostsee-Kanal, die noch immer meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt. Sein Bau entsprach wirtschaftlichen Interessen, wurde von Otto von Bismarck vor allem aber aus marinestrategischen Gründen durchgesetzt.7

Die rund 450 Kilometer lange Cimbrische Halbinsel verdient besonderes Augenmerk, weil sie Trennendes und Verbindendes in aller Deutlichkeit offenlegt, eben Barriere und Passage gleichzeitig ist. West- und Ostküste repräsentieren deutlich unterschiedliche Landschaftstypen. Marschen mit sich anschließendem Geestrücken, inselreiches Wattenmeer südlich des dänischen Blåvand, nördlich davon ein Dünengürtel prägen den Westen, eine kaum von den Gezeiten berührte, durch Fjorde (Förden) gegliederte Moränenlandschaft den Osten. Die wenigen größeren Städte vom dänischen Ålborg und Århus über Flensburg und Kiel bis Lübeck wenden sich auf den ersten Blick nur der Ostsee zu. Auf den zweiten zeigt sich freilich die enge Verbindung nach Westen, zur Nordsee. So waren seit dem 15. Jahrhundert das an der Nordsee gelegene Husum und die in der frühen Neuzeit bedeutende Handelsstadt Flensburg, deren kommerzieller Austausch sich sowohl in den Nordseeraum, voran nach den Niederlanden, als auch nach Skandinavien und zu den südlichen Ostseeanrainern erstreckte, wirtschaftlich eng verflochten. »Husum war praktisch Westhafen für Flensburg, und umgekehrt fungierte dieses als Osthafen.«8 Auch das spricht für die Kombination trennender und verbindender Elemente im Raum der Geschwistermeere.

Die politische Geschichte jenes Landstriches zwischen Elbe und Skagerrak stützt diese Perspektive. Seit dem Mittelalter zeichnete sich im Prozess der Herrschafts- und Staatsbildung die Absicht ab, Ost- und Westküste politisch zusammenzuführen. Im südlichen Teil der Westküste versuchten Friesen und Dithmarscher lange, letztere bis ins 16. Jahrhundert, ihre Eigenständigkeit gegenüber der dänischen Krone und den fürstlichen Herrschern Schleswigs und Holsteins zu bewahren. Die herrschaftliche Gliederung beider Herzogtümer nach der Landesteilung von 1581 lässt bei aller Komplexität gleichwohl die Ausrichtung der königlich-dänischen und der herzoglich gottorfischen Anteile auf die Verbindung beider Küsten deutlich hervortreten.9 Offenbar bestand ein machtpolitisches Interesse an der Verbindung beider Küsten und damit auch an der Verbindung beider Meere. Dass das mit der Kontrolle von Kommunikationswegen zu tun hatte und hat, liegt auf der Hand und wird hier immer wieder in der Chronologie zu zeigen sein.

Geschwistermeere und Historische Geographie

Darauf beschränkt sich unser Interesse an der Cimbrischen Halbinsel gleichwohl nicht. Vielmehr lassen sich an ihrem Beispiel die für die historische Geographie bedeutsamen Konzepte zum Umgang mit dem Phänomen »Raum« durchspielen. Der Historiker Jürgen Osterhammel nennt ihrer fünf:

1. »Raum als Verteilung von Orten. […] 2. Raum als Umwelt. […] 3. Raum als Landschaft. […] 4. Raum als Region. […] 5. Raum als Kontaktarena«.10

Im Rahmen einer Beziehungsgeschichte von Ost- und Nordsee gehört dem Raum zwischen Hamburg und der Nordspitze Dänemarks als Kontaktarena, als Gebiet intensiver Interaktionen, besonderes Augenmerk. Aber auch die anderen Konzepte werden in die Analyse einfließen. Das gilt freilich nicht nur für die Cimbrische Halbinsel, sondern auch für Ost- und Nordsee. Jeweils für sich und in toto können jene drei Gebiete als Interaktionsraum interpretiert werden, ohne die anderen Konnotationen von Raum auszuschließen.

Dass Raum, in seinen Füllungen wie seinen Begrenzungen, eine vom Erkenntnisinteresse abhängige, vielschichtige analytische Kategorie ist, zählt inzwischen zu den Allgemeinplätzen der Geschichtswissenschaft.11 Dagegen ist nichts einzuwenden, solange der Begriff seine Leistungsfähigkeit beweist, solange er von umfassender Bedeutung für die Klärung historischer Sachverhalte ist. Diese Leistungsfähigkeit erwächst gerade aus seiner zunächst Verwirrung stiftenden Vielschichtigkeit. Das gilt sowohl in methodischer Beziehung, bezüglich der Bedeutung von Raum als analytischer Kategorie der Geschichtswissenschaft, als auch in sächlicher Hinsicht, bezüglich des physisch greifbaren Raumes, mit dem wir es hier zu tun haben.

Es sei festgehalten: Entlang den Geschwistermeeren zeichnen sich drei aufeinander bezogene Interaktionsräume ab. Erstens ein von Nord- und Ostsee gemeinsam konturierter. Zweitens von jedem der beiden Meere und ihren Anrainern gebildete »Kontaktarenen« sui generis. Drittens die Cimbrische Halbinsel und die dänische Inselwelt vom Kleinen Belt bis zum Öresund mit ihrer Barriere- und Passagefunktion zwischen Nord- und Ostsee, in mancherlei Hinsicht beiden zugehörig und doch eigen. Wo lässt sich dieser verzwickten Beziehung von Raumdimensionen nachspüren?

Wenn denn »das Kartenzeichnen die erste Form der Skizze, des Manuskriptes,« für die Erzählung verräumlichter Geschichte(n) ist, dann lohnt der Blick auf die Kartographie auch hinsichtlich der hier interessierenden Gesamt- und Teilräume.12 Ein frühes Beispiel für solcherart Erzählung ist die 1539 publizierte Carta Marina des aus Schweden stammenden, wegen der Reformation zunächst im Danziger und dann im italienischen Exil lebenden katholischen Geistlichen Olaus Magnus. Er und sein Bruder Johannes, der ebenfalls exilierte letzte katholische Erzbischof von Uppsala, kehrten »gleichsam zurück in ihre Heimat, indem sie sich in deren Geschichte, deren Natur und Lebenswirklichkeit« versenkten.13 Das zeitigte bei Johannes das Ergebnis einer Geschichte des Erzbistums Uppsala und später einer Geschichte der schwedischen Könige. Olaus verfasste eine Historia de gentibus septemtrionalibus, eine Geschichte der nördlichen Völker, und, als gleichsam verbildlichende Vorarbeit dazu, die Carta Marina et Descriptio Septentrionalium Terrarum, eine Meereskarte und Beschreibung der nördlichen Lande.

In welchen räumlichen Zusammenhang positionierte Olaus das heimatliche Schweden? Nicht die Orientierung auf die Ostsee stand, wie naheliegend, im Fokus. Vielmehr zeigte er die Geschwistermeere mit ihren Anrainern sowie Teile des Nordatlantiks. Dies stellte offenbar für ihn eine sinnvolle Raumeinheit dar: die nördlichen Landschaften.

Flora und Fauna von Land und Meer, Klima, Wirtschaft, Religion, Herrschaftsverhältnisse, nahezu alle Bereiche von Kultur und Natur

Abb. 1:Die Carta Marina

werden dem Betrachter vorgeführt, mal nach heutigem Verständnis erstaunlich realistisch, mal sagenhaft phantasievoll anmutend. Präsentiert wird eine Welt, deren Begrenzungen die Karte eindeutig markiert. Im Norden reicht sie bis Island, zur Südspitze Grönlands und zum Nordkap, im Süden zu den kontinentalen Küstenregionen von Ost- und Nordsee. Im Westen gehören England, Schottland, die Inselkette von den Orkneys über die Shetlands, die Färöer und das hier gar nicht sagenhafte Thule bis wiederum hinauf nach Island dazu. Im Osten erstreckt sie sich bis ans Weiße Meer und schließt den Nordwestrand des moskowitischen Reiches ein. Die zentrale Nord-Süd-Achse der Carta Marina wird von einem sehr wuchtigen Scandia, der Landmasse des heutigen Schweden und Norwegen, sowie der Cimbrischen Halbinsel gebildet. Diese Achse teilt die Karte in eine östliche und westliche Hälfte, den Ostseeraum einerseits, den Raum von Nordsee und Nordatlantik andererseits.

Die Massivität Scandias erscheint in der Tat mehr als Barriere denn als Passage zwischen Ost- und Nordsee. Durchlässigkeit hingegen signalisieren die dänische Insellandschaft mit dem Öresund, Kattegat und Skagerrak und erneut die Cimbrische Halbinsel. Ein mit dem Zusatz Hollandi (Holländer) markiertes Schiff am Westrand des Skagerrak, ein weiteres, diesmal unbekannter Nationalität, im Kattegat nördlich der Insel Seeland deuten auf den Passagecharakter.

Auf der Cimbrischen Halbinsel selbst ist ein Wasserweg zwischen Lübeck und Hamburg deutlich zu erkennen, der an den Stecknitzkanal erinnert, auch wenn dessen Verlauf nicht präzise getroffen wird.14 Entlang des Danewerks, jener früh- und hochmittelalterlichen Befestigungsanlage der Dänen gegen die Sachsen und slavische Stämme, verläuft auf der Karte des Olaus Magnus ein durchgehendes Gewässer zwischen Schleswig im Osten und Tönning im Westen, das Ost- und Nordsee verbindet. Solch ein Wasserweg ohne jegliche Landunterbrechung existierte allerdings im 16. Jahrhundert nicht. Ebenso wie eine auf der Karte skizzierte Binnenwasserverbindung südlich der Nordspitze Jütlands vermittelt dies immerhin den Eindruck von unschweren Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Ost und West, West und Ost.

Die Carta Marina führt in ihrem Bild- und Textprogramm ein weiteres Argument ein, das neben den schon genannten die Zusammenschau von Ost- und Nordsee nahelegt. Die beide Meere säumenden Regionen werden nämlich als Septemtrionales Terrae zusammengefasst, als die nördlichen Länder. Dies bedeutet mehr als die bloße Beschreibung eines geophysikalischen Phänomens, das sich nur an der Objektivität der Kompassnadel orientiert. Die neue Forschung hat gezeigt, dass die Karte des Olaus Magnus hochgradig ideell aufgeladen ist. Mit ihr habe er »ein Werk vorgelegt, das das Potential besaß, den großen weißen Fleck, den die Region in Wahrnehmung und Vorstellung seiner Zeitgenossen außerhalb Nordeuropas darstellte, zu füllen«.15 In der Hoffnung darauf, dass die katholische Welt nicht das Interesse an seiner der Reformation zugefallenen schwedischen Heimat verlieren möge, zeigte er sie und die Gesamtheit der nördlichen Länder als Teil der christlichen Ökumene einerseits, als zu eigenständigen Leistungen fähigen Kulturraum andererseits.

Olaus nahm damit eine sich seit dem späten Mittelalter abzeichnende Tendenz auf. Humanisten aus dem Raum nördlich der Alpen begannen in dieser Zeit, ihre eigene Welt nicht länger als bestenfalls Peripherie des christlichen Kosmos und damit nach ihrem Verständnis als untergeordneten Rand der Zivilisation schlechthin zu begreifen. Vielmehr entwickelten sie Argumentationsmuster, die den Norden als zumindest gleich-, wenn nicht gar höherwertig erachteten als die klassischen Kulturzentren, die seit der Antike im Mittelmeerraum lagen.16

Die Konstruktion des Nordens

Wie der Raum des Nordens geographisch zu präzisieren sei, war dabei zunächst weitgehend offen. Die Kartographie setzte seit dem 16. Jahrhundert die recht abstrakten Vorstellungen von dem, was für den Europäer den Norden umfasste, in das Bild eines geographisch klar abgrenzbaren Raumes um. Der Schöpfer der Carta Marina tat dies mit einer ungewöhnlichen Detail- und Informationsdichte. Gleichwohl ist sein Werk kein Einzelbefund. Vorläufer aus dem 15. und Nachfolger aus dem 16. Jahrhundert offerieren ein Kartenbild, das den Norden ganz ähnlich eingrenzt.

Wie weit sich der Norden Europas erstrecke, ist bis auf den heutigen Tag nicht vollends klar. Die große deutsche Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, der Zedler, benennt einen konkreten Raum nur kurz unter dem Stichwort »Nordische Königreiche« und meint damit Dänemark, Schweden und Norwegen.17 Die Statistiker der Vereinten Nationen verzeichnen jüngst in ihrer elektronischen Datenbank zu den geographischen Regionen der Erde unter Northern Europe die Staatsgebiete Dänemarks, Norwegens, Schwedens, Finnlands, Islands, des Vereinigten Königreiches, Irlands, Estlands, Lettlands und Litauens.18

Der Internetauftritt des Nordischen Rates hebt auf die lange gemeinsame Geschichte der Region seit der Wikingerzeit ab und betont den Wertekonnex demokratischer Staaten, die sämtlich dem spezifischen Nordic model des Wohlfahrtsstaates verpflichtet seien.19

Ohne historische Kontinuitäten überzustrapazieren, wird doch eine Verbindung zwischen dem Versuch des Olaus Magnus von 1539, den Septemtrionales Terrae ein eigenständiges kulturelles Gewicht im Rahmen der christlichen Ökumene zu verleihen, und der Selbstpräsentation des Nordischen Rates im 21. Jahrhundert deutlich. Man verstand und versteht sich als im positiven Sinn eigen.

Bei allen Differenzen im geographischen Feinzuschnitt dessen, was den »Norden« umfasse, zeichnet sich eines ab: Das Identitätskonzept von »Norden« bzw. »Nördlichkeit« konstruiert über die sogenannten objektiven Gegebenheiten von Politik, Wirtschaft und Verkehr hinaus ein kulturelles Band zwischen Ostsee und Nordsee.

Mit dem Umschlag vom geophysikalischen Phänomen des Nordens – dort, wohin die Kompassnadel zeigt – zu einem mit wertenden Adjektiven aufgeladenen Konzept von »Nördlichkeit« wird eine Ebene von Raum angesprochen, deren Konstruktionscharakter offensichtlich ist. Ein Werk wie die Carta Marina verbindet augenfällig das, was auf den ersten Blick selbstverständlich zu sein scheint, nämlich den konkret benennbaren geophysikalischen Raum der »nördlichen Länder« oder – modern gesprochen – Nordeuropas, mit dem »Norden« als Identitätsregion.

Die Bestandsfähigkeit dieser Identitätsregion in den Köpfen der Menschen setzt freilich eine materielle Basis voraus, den dichten und stetigen Austausch von Menschen, Waren und Ideen. Wenn ein Schiff vor der englischen Küste auf Olaus’ Carta marina näher mit Danzik gekennzeichnet wird oder das schon erwähnte im Skagerrak mit Hollandi, andere vor der Küste Islands, vermutlich Walfänger, mit Scoti (Schotten), Angli (Engländer), Lubicenes (Lübecker) oder Hambvrgenses (Hamburger), so macht das diesen Austausch sinnfällig.

Ebenfalls im Osten findet sich ein wichtiger Hinweis auf das, was für Olaus die Identitätsregion ausmachte. Auf dem zugefrorenen finnischen Meerbusen stürmen bewaffnete Reiter von Ost und West aufeinander zu. Kanonen richten sich an mehreren Orten gen Osten, gen Russland. Er erklärt dies an einer Stelle damit, »daß die schwedischen Reiter (die dort im Land vonnöten sind) gegen die Moskowiter auf dem Eis Krieg führen, wie sie sich im Sommer auf demselben See und anderen Flüssen mit ihnen schlagen. Ursache des Krieges ist auf beiden Seiten der Zorn darüber, daß die einen zur griechischen, die anderen zur lateinischen Kirche gehören.«20 Die Kanonen in Livland, dem heutigen Estland und Lettland, markieren, dass jener Landstrich dem Deutschen Orden unterstehe,

Abb. 2:Ausschnitt aus der Carta Marina

»damit er täglich den christlichen Glauben vor den Russen und den Moskowitern beschützt und beschirmt«.21 Die Grenzziehung zwischen dem orthodoxen Russland und den Gebieten des rechten Glaubens der römischen Kirche, denen Olaus das der Reformation 1539 schon großenteils zugefallene Nordeuropa in der Hoffnung auf dessen baldige Rückkehr in den Schoß der katholischen Rechtgläubigkeit flugs zurechnet, spielt für seine Konstruktion der Identitätsregion »Norden« eine zentrale Rolle. Wir werden sehen, dass solcherart Abgrenzung kein Spezifikum des schwedischen Exiltheologen war.

Indem Olaus die so verschiedenen Regionen von Finnland und Livland im Osten bis hin zu dem sagenhaften Thule im Westen in den Rahmen einer Karte einpasste und sie dann gemeinsam als »nördliche Länder« qualifizierte, schuf er Fakten oder wollte diese zumindest schaffen. Ein ab- und eingrenzbarer Norden, bestehend aus Ost- und Nordsee, den beide Meere säumenden Ländern sowie der nordatlantischen Inselwelt, erhielt ein ganz eigenständiges Profil.

Die Begriffe »Norden« und »Nördlichkeit« erfassen die Nord- und die Ostseeregion gleichermaßen. Dies gilt nicht nur für die Carta Marina und die Epoche, in der sie entstanden ist. Wir treffen die Idee vom »Norden« auch heutzutage an entscheidender Stelle zur Charakterisierung eines durch kulturell-gesellschaftliche Werte markierten Raumes an. Der Blick auf den Nordischen Rat mag dies einstweilen hinreichend demonstriert haben.

Gleichwohl bleibt es bei der Vielschichtigkeit von Raumvorstellungen. Mitunter führt dies zu Verwirrung. So gehören dem 1992 nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes in Europa gegründeten »Ostseerat« neben den Anrainerstaaten der Ostsee auch Norwegen und Island an.22 Dies ist »ein Beispiel dafür, wie die Politik sich über die Geographie stülpen kann«.23 Was geographisch unsinnig ist, muss es nicht zwingend auch in politisch-kultureller Hinsicht sein. Die Mitgliedschaft zweier dem Nordatlantik zugewandter Staaten im Ostseerat rührt nämlich aus deren vielfältiger Verflechtung im Rahmen des Nordischen Rates her. Dessen Mitglieder besaßen und besitzen naturgemäß an der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Neugestaltung der Ostseeregion ein starkes Interesse. Auch in der Gegenwart überlagern sich also verschiedene Vorstellungen von Raum dergestalt, dass, wie schon bei Olaus Magnus, der »Norden« als übergeordnete Idee Ostsee, Nordsee und Nordatlantik verbindet.

Um diese Idee auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, ist die Entwicklung von materiellen Austauschbeziehungen im Bereich der Wirtschaft ebenso zu befragen, wie die im Bereich von Ideen, kulturellen Leitbildern, gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen. Inter- und überstaatliche Verbünde wie Nordischer Rat und Ostseerat sind ein zeitgenössisches Indiz für die Kombination von kulturell-gesellschaftlichen Wertvorstellungen, wirtschaftlichen Kooperationsinteressen und absichtsvoll ins Leben gerufenen politischen Organisationen. Der Machart und Wirkmächtigkeit von raumseparierenden Vorstellungen – in der Spannbreite von politischer Gegnerschaft bis zu scheinbar unüberwindlichen kulturellen Differenzen – ist im Gang durch Zeit und Raum ebenso nachzuspüren, wie den raumintegrierenden.

Sie alle verweisen auf die Bedeutung von Politik im weitesten Sinn, von Macht- und Herrschaftsstrukturen, von Hegemonien ebenso wie vom politischen Wettbewerb zwischen Machtkonkurrenten oder der Kooperation zwischen gleichrangigen Partnern für die Geschichte der Geschwistermeere Ost- und Nordsee. Wie alle Metaphern, so trifft auch die von den Geschwistermeeren beileibe nicht alle, aber doch die wichtigen der möglichen Fragen an eine Beziehungsgeschichte von Ost- und Nordsee. Geschwister sind nicht gleich und müssen sich nicht gleich entwickeln. Sie stehen jedoch gewollt oder ungewollt in vielerlei Verknüpfungen, vom Genpool bis zu gemeinsamen Sozialisationserfahrungen, von herzlicher Zuneigung bis zu heftiger Konkurrenz oder gar Abneigung. Immer jedoch besitzen sie in dieser Geschwisterbeziehung Ähnlichkeit und Eigenheit, die sie aus ihrer Umwelt herausheben.

1     Christoph Neidhart, Ostsee: Das Meer in unserer Mitte, Hamburg 2007; Michael North, Geschichte der Ostsee: Handel und Kulturen, München 2011; Alan Palmer, The Baltic. A New History of the Region and his People, New York 2006.

2     Erwähnt seien: Matti Klinge, Die Ostseewelt, Helsinki 1995; David Kirby, Northern Europe in the Early Modern Period: The Baltic World 1492–1772, London 1990 und ders., The Baltic World 1772–1993: Europe’s Northern Periphery in an Age of Change, London 1995.

3     Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 157 (in Übersetzung aus: Peregrine Horden, Nicholas Purcell, The Corrupting Sea: A Study of Mediterranean History, Oxford 2000, S. 25), S. 162.

4     Zur Cimbrischen Halbinsel in der Antike siehe den Eintrag ›Chersonesos 27‹ in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 6. Halbbd., Stuttgart 1899, Sp. 2269 f.

5     Thomas Riis, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins. Leben und Arbeiten in Schleswig-Holstein vor 1800, Kiel 2009, S. 86.

6     Philippe Dollinger, Die Hanse, 6. Aufl., Stuttgart 2012, S. 195.

7     Robert Bohn, Geschichte Schleswig-Holsteins, München 2006, S. 96 f.

8     Ulrich Lange (Hg.), Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Neumünster 1996, S. 193.

9     Ebd., S. 184.

10   Osterhammel, Verwandlung, S. 154–157.

11   Siehe z. B. das aufschlussreiche Buch von Karl Schlögel, Im Raum lesen wir die Zeit, Frankfurt am Main 2003, passim, insbesondere S. 60–71.

12   Zitat: Ebd., S. 51.

13   Olaus Magnus, Die Wunder des Nordens, hg. v. Elena Balzamo u. Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 2006, hier: Einleitung, S. 24. Eine Faksimilierung der Karte liegt dem Band bei.

14   Auf der Carta Marina passiert dieser Wasserweg die Stadt Oldesloe, ca. 20 km westlich des Stecknitzkanals gelegen. Damit traf Olaus zwar nicht den Kanal, aber die zur Hansezeit wichtige Handelsstraße zwischen Lübeck und Hamburg. Zu dieser Straße: Friedrich Bruns, Hugo Weczerka, Hansische Handelsstraßen, Textband, Köln 1967, S. 137–141 und Atlasband, Köln 1962, Karte 2.

15   Maike Sach, Kartographie als Verlustbeschreibung und Appell: Die Carta marina des Olaus Magnus von 1539 als Beitrag im Ringen um die Einheit der Kirche, in: Tanja Michalski u. a. (Hg.), Aufsicht – Ansicht – Einsicht. Neue Perspektiven auf die Kartographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit, Berlin 2009, S. 209.

16   Siehe z. B. Olaf Mörke, Die Europäisierung des Nordens in der frühen Neuzeit. Zur Wirkmächtigkeit von Vorstellungswelten in der politischen Landschaft Europas, in: Annelore Engel-Braunschmidt u. a. (Hg.), Ultima Thule. Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2001, S. 67–91.

17   Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle u. Leipzig 1732–1754, Bd. 24, Sp. 1283.

18   http://unstats.un.org/unsd/methods/m49/m49regin.htm#europe (Zugriff: 20.2.2012).

19   http://www.norden.org/en/the-nordic-region (Zugriff: 20.2.2012)

20   Olaus Magnus, Wunder, S. 72.

21   Ebd. S. 81.

22   International: ›Council of the Baltic Sea States‹.

23   Neidhart, Ostsee, S. 355.

1          Frühe Besiedlung, erste Kontakte und die Geburt einer Raumidee

 

 

Vor ca. 11 000 Jahren endete mit der Weichseleiszeit die letzte große Vergletscherungsperiode Nordeuropas. Die Folgen waren einschneidend. Die Nordsee, ein geologisch altes Meer, begann nach dem durch die Eisschmelze bedingten Ansteigen des Meeresspiegels ihre annähernd noch heute bestehende Form zu finden. Britannien wurde zur Insel; um 5000 v. Chr. war die Landverbindung zum europäischen Kontinent verschwunden.

Damit einher ging die Entstehung der Ostsee. In einem mehrtausendjährigen Prozess formte sie sich aus einem riesigen Binnensee im Gletscherstau der Endphase der letzten Eiszeit. Komplexe geophysikalische Vorgänge ließen vor ca. 8 000 Jahren die Landenge zwischen dem heutigen Dänemark und der skandinavischen Landmasse verschwinden. Seitdem sind Ostsee und Nordsee miteinander verbunden. Die sich von der Elbe über rund 450 Kilometer nordwärts erstreckende Cimbrische Halbinsel, die dänische Inselwelt um Großen und Kleinen Belt, und die Meeresgebiete von Kattegat und Skagerrak wirkten von nun an als Trenn- und Verbindungsraum zwischen beiden Meeren. Das geographische Raumszenario der Geschwistermeere stand bereit.

Spuren menschlicher Besiedlung fanden sich in Teilen dieses Raums schon in der Altsteinzeit. Spätestens seit ca. 250 000 v. Chr. war Britannien von Angehörigen nomadischer Jäger- und Sammlerkulturen wohl sporadisch besucht worden. Dauerhafte Besiedlungsmöglichkeiten schuf jedoch hier, wie im gesamten Raum von Nord- und Ostsee, erst der Klimaumschwung nach der Weichseleiszeit.1 Archäologische Befunde zeigen, dass vor ca. 13 000 Jahren Gruppen der sogenannten Hamburger Kultur in Regionen nördlich der Elbe vorstießen. Von den klimatischen Gegebenheiten abhängige Expansionen und Rückzüge anderer Gruppierungen folgten. In der Mittelsteinzeit des 8. bis 5. vorchristlichen Jahrtausends, finden sich mit Maglemose-, Kongemose- und Ertebøllekultur von den Britischen Inseln über das nördliche Mittel- und Osteuropa bis ins südliche Skandinavien wohl saisonal sesshafte Wildbeuterkulturen.2 Ob und wie großräumig anzutreffende Gemeinsamkeiten der archäologischen Befunde den Schluss auf Kulturkontakte und Vernetzungen über weitere Strecken ziehen lassen, sei dahingestellt.

Gesicherter werden die Erkenntnisse für die jungsteinzeitliche Epoche. Den Beginn jener so wichtigen Etappe der Menschheitsgeschichte markiert man mit dem Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu dauerhafter Ansiedlung von Ackerbau und Viehzucht betreibenden Gruppen. Allmählich setzten sich im Neolithikum zwischen ca. 4000 und 2000 v. Chr. im uns interessierenden Raum auf Ackerbau beruhende Lebensweisen gegenüber den alten Jäger- und Sammlergesellschaften durch. Die archäologische Forschung kann für jene Epoche räumlich fixierbare Verbreitungs- und Einflusszonen relativ deutlich dingfest machen. So erfasste die Trichterbecherkultur als wohl erste bäuerlich geprägte Kultur im nördlichen Mitteleuropa von ca. 4200 bis 2800 v. Chr. die Küstenregionen von Nord- und Ostsee von der Rheinmündung bis über die Weichsel hinaus, die Cimbrische Halbinsel und Südskandinavien. Ihr folgte mit Datierungen zwischen 2800 und 2200 v. Chr. in ähnlichem Verbreitungsgebiet, das sich freilich bis weit nach Zentralrussland hinein ausdehnte, die Schnurkeramikkultur. Die Ostsee- und die Nordseeküste bis hin zum Rhein wurden in der Jungsteinzeit von Kultureinflüssen geprägt, die sich vermutlich aus südlicher oder südöstlicher Richtung ausgebreitet hatten.3 Für diesen Zeitraum werden auf dem Gebiet des heutigen Finnland Überlappungen von Kulturformen nordwest- und zentraleuropäischer sowie südöstlicher Herkunft angenommen, denen sich die Verbreitung finnougrischer Sprachvarianten verdankt.4

Am Westrand der Nordsee unterlag Britannien wahrscheinlich Einflüssen, die anderwärts ihren Ausgang genommen hatten. Rätsel geben die Megalithanlagen der Jungsteinzeit auf, monumentale Gräber und Steinsetzungen vor allem im westlichen Mittelmeerraum, in Frankreich und auf den Britischen Inseln, jedoch auch in den norddeutschen, dänischen und südschwedischen Küstenregionen. Ein enger entstehungsgeschichtlicher Zusammenhang ist allerdings zweifelhaft.5 Immerhin ist das Fehlen solcher Anlagen in der mittleren und östlichen Ostseeregion auffällig. Eine recht eindeutige Orientierung auf den Westen besaß die Glockenbecherkultur der ausgehenden Jungsteinzeit. Ihr archäologisches Fundszenario erfasst die Iberische Halbinsel, Teile Zentraleuropas, die Britischen Inseln und erreicht mit dem Gebiet der Rheinmündung auch die südliche Nordseeküste.6 Die Ostsee berührte sie wohl allenfalls am westlichen Rand.7

Schnurkeramiker und Glockenbecherkultur markieren erste Kontakte mit der Technik der Metallverarbeitung. In einem mehr als ein Jahrtausend dauernden Zeitraum drang aus Vorderasien die Fähigkeit zur Herstellung und Verarbeitung von Bronze vor und erreichte schließlich um 2000 v. Chr. den Süden der Britischen Insel, wo sich mit der Wessexkultur eine eigene frühbronzezeitliche Kultur formierte. Um 1800 v. Chr. expandierte das bronzezeitliche Know-how in die Regionen nördlich der Elbe und erfasste in unterschiedlichen Varianten den gesamten Ostseeraum. Die Verbreitung der neuen metallurgischen Technologie lässt auf sich entwickelnde Austauschstrukturen zwischen Nord und Süd und Ost und West schließen. Die Westküste der Cimbrischen Halbinsel und der südliche Ostseesaum hatten mit dem Bernstein ein bis in den mediterranen Raum begehrtes Gut anzubieten, das gegen Kupfer und Zinn, die Grundstoffe der Bronze, getauscht wurde.8

Erste Raumstrukturen

Noch sind wir weit davon entfernt, von einem kohärenten, Nord- und Ostsee umfassenden Raum sprechen zu können. Aber es zeichnen sich in dieser Phase der Vorgeschichte raumstrukturierende Tendenzen ab. So haben z. B. die Wessexleute Dolche aus der Bretagne und Bernstein aus Osten importiert. Die britische Insel war also in ein Austauschsystem eingebunden, das Nord- und Ostsee einschloss. Für gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen mag jedoch das Gefälle von Süd bzw. Südost nach Nord und Nordwest bezeichnender sein. Der bronzezeitliche Technologietransfer der Metallverarbeitung in Süd-Nord-Richtung deutet darauf hin, dass die Austauschbeziehungen asymmetrisch verliefen. Die wesentlichen Impulse kamen aus dem Süden. Mit der neuen Technik mögen auch Muster gesellschaftlicher Differenzierung Einzug gehalten haben, die vorherige an Komplexität übertrafen. Die Annahme einer Weiterentwicklung arbeitsteilig organisierter Gesellschaften mit profilierten Herrschaftseliten auf der Basis militärischer und wirtschaftlicher Potenz liegt angesichts archäologischer Befunde nahe.9

Dies gilt auch für die folgende Entwicklungsstufe, die Eisenzeit. Um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends erreichte die Fähigkeit zur Eisengewinnung und -verarbeitung die Regionen von Nord- und Ostsee. Keltische Wanderungsbewegungen in Mitteleuropa, die Unterbrechung von Nachschubwegen für Kupfer und Zinn haben vermutlich die Ausbreitung des Eisens als Grundmaterial für Gebrauchs- und Schmuckgegenstände befördert. Auf den britischen Inseln führten keltische Zuwanderungsschübe seit dem 7./6. Jahrhundert v. Chr. bis hinauf nach Schottland nicht nur zur Implementierung neuer technischer Fertigkeiten. Spätestens seit der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts griff auch eine herrschaftliche Verdichtung Platz, die sich in der Etablierung relativ fest organisierter Königsherrschaften manifestierte.10 Zwischen Weser und Oder sowie in der Südhälfte der Cimbrischen Halbinsel finden wir mit der Jastorfkultur eine früheisenzeitliche Gruppierung, die mit der Verarbeitung von Raseneisenerz eine lokal verfügbare Ressource erschloss und mit ihren Erzeugnissen technologische und ästhetische Impulse der keltischen Latènekultur aus Mitteleuropa aufnahm.11 Auch auf der skandinavischen Halbinsel und an den weiter östlich gelegenen Küsten der Ostsee etablierten sich eisenzeitliche Strukturen.

Mittelmeerwelt und Norden begegnen sich

Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert verließen Cimbern und Teutonen, die zu jenen Stammesverbänden gehörten, deren Sammelbezeichnung als Germanen heute kritisch betrachtet wird,12 ihr Siedlungsgebiet auf der Cimbrischen Halbinsel Richtung Süden. 113 v. Chr. kam es im ostalpinen Noreia zur ersten Auseinandersetzung mit Truppen des expandierenden Römischen Reiches. Nach einem wechselvollen Krieg und Zügen durch Gallien unterlagen die nordeuropäischen Eindringlinge schließlich »in zwei genozidähnlichen Vernichtungsschlachten« 102 v. Chr. bei Aquae Sextiae, dem heutigen Aix-en-Provence, und 101 v. Chr. bei Vercellae dem römischen Konsul und Feldherrn Marius.13 Danach verliert sich ihre Spur.

Die Cimbern und Teutonen waren nicht die ersten und in der Eisenzeit beileibe nicht die einzigen Gemeinschaften, die über relativ weite Strecken wanderten und in Kontakt mit anderen kamen. Das Interessante an ihnen ist jedoch die Wahrnehmung durch die Römer. Gegen diese errang man erste militärische Erfolge, als in Rom innenpolitische Krise und territoriale Expansion aufeinander trafen. Eine Mixtur aus konkretem Erleben eigener Niederlagen und legendenhafter Überhöhung des Mutes und der Wildheit des Gegners bestimmte das Bild der Römer von den als so fremdartig erfahrenen Eindringlingen aus dem Norden. Es wurde »zum politischen Vermächtnis von Aquae Sextiae und Vercellae, die Wiederholung derartiger Schrecken für alle Zeiten zu bannen«.14

Zum Zeitpunkt des Krieges mit den Cimbern und Teutonen hatten die Römer allenfalls diffuse Kenntnisse von deren Herkunft. Vorstellungen von der Verortung des Nordens waren im griechisch-römischen Kulturraum allerdings schon präsent. Ein lange prägendes Bild vom Norden zeichnet der nur fragmentarisch durch andere antike Autoren überlieferte Bericht des griechischen Geographen Pytheas von Massilia. Um 350 vor unserer Zeitrechnung war er aus seiner mediterranen Heimat nach Norden gereist. Er beschreibt Britannien und die nördlich davon gelegene Insel Thule, knapp südlich des ewigen Eises gelegen.15

Der Norden, zu dem man als Folge des Pytheasberichtes bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert den Westrand der Nordseeregion und alles rechnete, was man nördlich und östlich davon vermutete, war damit für den griechisch-römisch geprägten mediterranen Kulturraum in Sachen natürlicher Lebensbedingungen ein negativer Gegenentwurf zur eigenen Welt geworden. Die Expansion des Römischen Reiches über die Alpen hinaus nach Norden und Nordwesten und das damit verbundene Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen mag dies weiter befördert haben.

Unter Caesar und Augustus erreichte das römische Herrschaftsgebiet den Ärmelkanal. Das Imperium setzte sich entlang des westlichen Rheinufers bis zur Mündung des Flusses in die Nordsee fest. In seiner – natürlich ruhmvollen – Leistungsbilanz, den Res Gestae Divi Augustae, berichtet der erste römische Kaiser gegen Ende seines Lebens, er habe Spanien, Gallien und »ebenso Germanien […] bis zur Mündung der Elbe befriedet«. Im gleichen Abschnitt verkündet er nicht ohne Stolz, dass »seine Flotte vom Rhein über das Meer bis zum Land der Kimbern vorgestoßen« sei. Dessen Bewohner hätten durch Gesandte seine und die Freundschaft Roms erbeten.16 In der Tat berichtet ein Zeitgenosse des Augustus, der griechischstämmige Geschichtsschreiber und Geograph Strabon, von einer Gesandtschaft von Kimbern und Harudern, den Bewohnern der Cimbrischen Halbinsel, die Augustus im Jahre 5 n. Chr. in Rom ein wertvolles Sühnegeschenk überbracht und »um Freundschaft und Verzeihung für ihr Verhalten« gebeten haben sollen.17

Mehr als ein Jahrhundert nach den Schlachten von Vercellae und Aquae Sextiae war mit der Cimbrischen Halbinsel ein weiterer Teil des Raumes der Geschwistermeere Nord- und Ostsee in den Kenntnishorizont der Römer eingerückt. Er gehörte nunmehr, verbunden mit ersten direkten Erfahrungen, zu dem Raum, den man damals den Germanen zuordnete.

Tacitus und Klaudios Ptolemaios

Der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus verfasste gegen Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. mit seiner Germania eine ethnographische Studie, in der er das Wissen seiner Zeit über die Germanen und damit auch über den Großteil des europäischen Nordens zusammenfasste. Im 16. Jahrhundert entfaltete diese schmale Schrift in Europa bezüglich des Germanenbildes eine immense Wirkung. Zunächst steht sie als Zeugin für den damaligen Kenntnisstand von der Welt Nordeuropas. Zu berücksichtigen ist dabei die Intention des Autors, der als Vertreter des konservativen römischen Senatorenadels beißende Kritik an der angeblichen Dekadenz seiner Heimat übte. »Sein Germanenpreis hat Ersatzfunktion; die Germanen dienen ihm weithin als Kontrast zu seinem römischen Milieu, zu einer korrupten, unfreien und kriegerischer Leistung nicht mehr fähigen Umwelt.«18 Bei aller Distanzierung von manchen »barbarischen« Bräuchen der Germanen zeichnet Tacitus das positive Bild von auf Ehre, Kampfesmut und Freiheitswillen beruhenden Gemeinschaften.19

Das Siedlungsgebiet der germanischen Völker grenzt Tacitus im Westen mit dem Rhein von den Galliern, im Süden mit der Donau von den Rätern und Pannoniern ab. Im Osten stößt ihr Gebiet an das der zwischen Theißebene und Weichselmündung siedelnden Sarmaten und an das der Daker in Siebenbürgen. Die Cimbrische Halbinsel, die dänische Inselwelt und den Süden der skandinavischen Landmasse sieht er als die nördlichsten Teile der Germania an.20

Den Gesamtraum von Nord- und Ostsee nimmt Tacitus in den Blick. Dabei formuliert er normative Abgrenzungen der Germanen gegenüber ihren westlichen, nordöstlichen und östlichen Nachbarn, die in der Neuzeit wieder von Bedeutung sein werden. So sind für ihn die von Rom unterworfenen Gallier westlich des Rheins, entgegen ihrer früheren Überlegenheit, nur noch »träge«.21 Im Osten, jenseits des Siedlungsgebietes der Stämme der germanischen Sueben an der Südküste der Ostsee, des Suebici mare22 hausen u. a. Venether und die Peukiner, die in manchem zwar den Germanen glichen, jedoch »schmutzig« (sordes) seien und sich überdies durch den »Stumpfsinn der Vornehmen« (torpor procerum) von jenen unterschieden. Sie pflegten außerdem Mischehen mit den noch weiter östlich beheimateten Sarmaten und hätten »manches von deren Hässlichkeit angenommen«.23 Die Sarmaten waren nach damaliger Lesart ein auch von den Römern gefürchtetes Reitervolk iranischer Abstammung, das vom Kaspischen Meer nach Norden und Nordwesten vorgedrungen war.24 Mit den Fenni, einem nomadischen Volk, dessen archaische Kulturstufe Tacitus mit einer Mischung aus Abgestoßensein von ihrer Rohheit (feritas) und Dürftigkeit (paupertas) und zivilisationskritischer Bewunderung für ihre glückliche Bedürfnislosigkeit kommentiert, sind wohl die samischen Gruppen bis hin zum nördlichen Ural gemeint. Für Tacitus endet mit den Fenni die von Menschen bewohnte Welt. Danach kommen nur Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, deren Existenz er jedoch als märchenhaft einstuft.25

Zusammen mit seiner vor der Germania verfassten Beschreibung Britanniens präsentiert Tacitus ein ethnografisches Panorama der Geschwistermeere. Die Germanen formen für ihn das kulturelle Zentrum jenes Gesamtraumes.26 Dessen Peripherien würden von Menschen bewohnt, die sich, wie im Westen die Gallier oder die Britannier in den unterworfenen Teilen ihrer Insel, entweder Rom ergeben hätten und damit überzivilisierter Trägheit, anheimgefallen wären, oder, wie am östlichen Rand, durch ihre zivilisatorischen Defizite und die Abwesenheit des die Germanen auszeichnenden Tugendkataloges auffielen.27

Die konkrete Umsetzung dieses Tugendkataloges skizziert Tacitus auch am Beispiel der germanischen Stämme entlang von Nord- und Ostsee. Die an der Rheinmündung beheimateten Bataver sind für ihn die tapferste der westlichen Völkerschaften.28 Im Norden zeichnen sich die Chauken zwischen Ems- und Elbemündung durch ihre von Mut und Macht getragene friedlich gelassene Haltung aus.29 Ebenfalls an der Nordsee seien die nur noch wenig zahlreichen Kimbern beheimatet, deren Stolz von der langen Tradition ihres Kriegsruhmes zehre.30

An dieser Stelle zieht Tacitus ein Resümee. Er lässt in einem Satz alle vergangenen und gegenwärtigen Feinde und Herausforderer Roms Revue passieren. Von allen komme kein Volk den Germanen gleich, denn stärker als etwa die unbeschränkte Königsmacht der Parther sei die »Germanorum libertas«, die freie Ungebundenheit der Germanen.31

Weniger konkret wendet sich Tacitus den Stämmen entlang der Ostsee zu. Er erwähnt Semnonen, Langobarden, Reudigner, Avionen, Anglier, Variner, Eudosen und Nuitonen aus dem westlichen Ostseebereich und der Cimbrischen Halbinsel. Weiter östlich Rugier, Lemovier und die Gotonen. Von den skandinavischen Germanen finden sich einzig, wohl im südlichen Schweden, die Suionen. Nördlich von ihnen liege ein Meer, das den Erdkreis begrenze und wo die Sonne nicht untergehe.32

Nach Osten und besonders nach Norden, über die Cimbrische Halbinsel und die südliche Ostseeküste hinaus, verschwimmen die Schilderungen des Tacitus im bisweilen Sagenhaften. Damit entsprach er dem damaligen Wissensstand in der klassischen Welt. Verglichen mit dem des Pytheas vier Jahrhunderte früher hatte dieser sich aber deutlich nach Osten erweitert. Der südliche Ostseeraum gewann in der römischen Vorstellungswelt Gestalt. Ansätze dazu hatte bereits die Historia naturalis des eine Generation älteren römischen Gelehrten Plinius d. Ä. gezeigt.33

Die nördliche Begrenzung der Ostsee blieb für die römischen Gelehrten im Übergang von dem ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert wenig konkret. Für Tacitus ist das Land der Suionen, das südliche Schweden, wohl eine Insel. Plinius erwähnt mit Scatinavia und Feningia ebenfalls vage nordeuropäische Inseln. Zu den ihm nur »durch unverbürgtes Gerücht« bekannten Gebieten zählt eine Insel »von unermesslicher Größe«, die von Xenophon Baltia, von Pytheas Basileia genannt worden sei. Auch das von Pytheas erwähnte Thule nahe des Eismeeres ist ihm geläufig.34

Auf andere Weise als Pytheas oder Tacitus widmete sich um die Mitte des zweiten Jahrhunderts in Alexandria, jenem Zentrum der griechisch-römischen Gelehrtenwelt, Klaudios Ptolemaios dem nordeuropäischen Raum. Ptolemaios war der Schöpfer einer kartographischen Beschreibung der oikumene, der bewohnten Welt. Die theoretischen Grundlagen seines Handbuches der Geographie prägten das Weltbild in Europa bis zum Ende des Mittelalters.35 Die in Karten umgesetzten Beschreibungen, im 15. Jahrhundert wiederholt neu aufgelegt, präsentieren den Raum von Nord- und Ostsee im Gesamtspektrum jener oikumene.

Die erste der Europakarten verzeichnet Irland (Hibernia), die britische Hauptinsel (Albion) sowie am äußersten nördlichen Rand die Insel Thule – dort, wo sie auch andere Autoren beschrieben haben, jetzt jedoch in ein präzises Koordinatensystem auf dem 63. nördlichen Breitengrad eingebunden.36 Die britische Inselwelt wurde von Ptolemaios als eigenständige Raumeinheit wahrgenommen.

Von besonderer Bedeutung ist für uns der Oceanus Germanicus, der »Germanische Ozean«, östlich der britischen Hauptinsel. Auf den ersten Blick scheint er mit der Nordsee identisch zu sein. Die vierte Europakarte belehrt uns eines anderen. Sie stellt »Groß-Germanien« dar, die Germania magna in den lateinischen Kartenversionen des 15. Jahrhunderts.37

Abb. 3: Germania magna nach Ptolemaios (15. Jahrhundert)

Der dort verzeichnete Oceanus Germanicus steht nicht nur für die Nordsee, sondern schließt auch die Ostsee bis zur Weichselmündung ein! Die Cimbrische Halbinsel wird offensichtlich nicht als Sperre zwischen zwei Räumen wahrgenommen. Auch die Trennung zwischen Britannien und Groß-Germanien verläuft nicht strikt, schließlich sind beide Anrainer jenes »Germanischen Ozeans«. Die Nordspitze Cimbriens nahe dem 60. Grad nördlicher Breite markiert an dieser Stelle das Nordende der Oikumene. Anders als mit Thule nördlich von Britannien findet sich von hier aus nach Norden kein Land mehr.

Ptolemaois, dessen topographische und ethnische Nomenklatur sich in wesentlichen Teilen schon bei Tacitus und anderen findet, trifft für die Kartographie des nördlichen Europa eine wichtige Entscheidung. Mit dem Oceanus Germanicus, dem Germanischen Ozean von den östlichen Gestaden Britanniens bis zu einer imaginären Grenzlinie nördlich der Weichselmündung, von wo sich nach Osten der Sarmatische Ozean erstreckt, setzt er räumliche Markierungspunkte, die zweierlei andeuten: Zum einen betont er damit den engen Zusammenhang von Nordsee und westlicher Ostsee sowie die eher verbindende als trennende Funktion der Cimbrischen Halbinsel. Zum anderen setzt er, ohne es explizit auszudrücken, die Grenze zwischen Ethnien als Raumkriterium ein. Zunächst im Westen die Bewohner Britanniens (Albion), die auch von den Zeitgenossen als eng den kontinentalen Galliern verwandte Kelten gesehen werden. Nach Osten folgt das Siedlungsgebiet der Germanen und schließlich das der Sarmaten, welches sich als »Asiatisches Sarmatien« bis zum Kaspischen Meer erstreckt.38

Noch ist die uns überlieferte Wahrnehmung des Raumes der Geschwistermeere von äußerer Fremdwahrnehmung bestimmt. Die gelehrten Autoren aus der Zeit des Tacitus ordneten diesen Raum nach Kriterien, die sich auch an natürlichen Gegebenheiten orientierten. Dass er Flüsse wie Rhein und Weichsel ganz deutlich als Grenzlinien zwischen gallisch-keltischem, germanischem und sarmatischem (Kultur-)Raum markierte, folgte neben dem geographischen Kriterium aber auch dem vermeintlich politisch-kultureller Differenz. Der Rhein trennte nach taciteischer Sicht das römische Herrschaftsgebiet vom rechtsrheinischen freien Germanien. Östlich der Weichsel begann mit dem Übergangsraum nach Sarmatien wiederum ein Gebiet, dessen Bewohner in negativer Differenz zu den Germanen gesehen wurden.

Es fällt auf, dass im ersten und zweiten Jahrhundert von der griechisch-römischen Welt zwei sich ergänzende und widerstreitende normative Konzepte an den nordeuropäischen Raum herangetragen werden: die Idee der Freiheit und die Idee der Überlegenheit. In der Germania des Tacitus mischt sich dabei der innenpolitische Zweck des positiven Gegenentwurfes zur eigenen Welt in Gestalt der freien Germanen mit dem Wissens- und Erklärungsdrang der geistigen Elite des römischen Imperiums. Mit dessen Expansion stößt auch jene Elite an immer neue Grenzen, blickt über diese hinaus und setzt sich mit dem dort vorgefundenen oder zumindest erahnten Fremden auseinander.

Der »Germanische Ozean« des Ptolemaios mit seinen Küsten und deren Hinterland an Nord- und Ostsee mitsamt der Cimbrischen Halbinsel ist der Teil Nordeuropas, der nach Tacitus ein Konzept von Freiheit verkörpert. Das ist zum einen die Freiheit der nicht durch Rom Unterworfenen, die diese durch Tapferkeit und Ehrbewusstsein zu wahren wissen. Zum anderen diejenige Freiheit, die sich nach Tacitus in einer politischen Ordnung offenbare, in der die principes, die Stammeshäupter, der Zustimmung der Volksversammlung bedürfen und in der es »mehr auf Überzeugungskraft« als »auf Befehlsgewalt« ankomme.39 Diese Kombination aus Freiheitswillen und Wehrhaftigkeit impliziert im von Tacitus gezeichneten Panorama eine Überlegenheit der Germanen gegenüber all denen, denen diese Kombination angeblich fremd sei.

Mit den positiven Abgrenzungen der Germania nach Westen und Osten und natürlich auch nach Süden, gen Rom, konstruierte Tacitus einen normativen Kernraum im nördlichen Europa. Damit schuf er das begriffliche Grundmaterial für Wertungen, die sich in der frühen Neuzeit für ethnisch protonationale und seit dem 19. Jahrhundert für nationale sowie rasseideologische Stereotypenbildungen anboten.40 In dem Spannungsfeld zwischen Freiheit und Überlegenheit bewegten sich die damit verbundenen Versuche, den Norden als kulturellen Raum zu konturieren. Mit Tacitus und Ptolemaios war dieser normativ aufgeladene Norden rund um Nord- und Ostsee geographisch fixierbar geworden.

1     Zur frühen Besiedlung der britischen Inseln: Karl-Friedrich Krieger, Geschichte Englands von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, 2. Aufl., München 1996, S. 17–20.

2     Ole Grøn, The Maglemose Culture. The Reconstruction of the Social Organization of a Mesolithic Culture in Northern Europe, Oxford 1995, passim. Zur Ertebølle-Kultur z.B.: I.J. Thorpe, The Origins of Agriculture in Europe, London, New York 1999, passim.

3     Dazu der Überblick von Hansjürgen Müller-Beck, Die Steinzeit. Der Weg der Menschen in die Geschichte, 4. Aufl., München 2008, S. 94–110. Spezieller z. B. Heinz Knöll, Die Trichterbecherkultur, in: Handbuch der Urgeschichte, hg. v. Karl J. Narr, Bd. 2, Bern, München 1975, S. 357–379. Alexander Häusler, Die schnurkeramischen Becherkulturen, in: Ebd., S. 483–497. Magdalena S. Midgley, TRB Culture. The First Farmers of the Northern European Plain, Edinburgh 1992, bes. S. 1–44.

4     Ingrid Bohn, Finnland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Regensburg 2005, S. 22–29.

5     Zu den Megalithanlagen: Handbuch der Urgeschichte, Bd. 2, u. a. S. 288–291, 308–312, 315–318. Magdalena S. Midgley, The Megaliths of Northern Europe, London, New York 2008, bes. S. 1–32, 178–200.

6     Die neue Forschung geht von komplexen sozialinteraktiven Verbreitungsmustern z. B. nach und in Britannien aus: Mats Larsson, Mike Parker Pearson (Hg.), From Stonehenge to the Baltic. Living with cultural diversity in the third millenium BC, Oxford 2007, S. IX. Stuart Needham, Isotopic aliens: Beaker movement and cultural transmissions, in: Ebd. S. 41–46.

7     Lange, Geschichte Schleswig-Holsteins, S. 21.

8     T.K. Derry, History of Scandinavia, Norway, Sweden, Denmark, Finland and Iceland, 6. Aufl., Minneapolis 1994, S. 6–8. Riis, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 36 f. Zum Bernstein im Mittelmeerraum: David Abulafia, The Great Sea. A Human History of the Mediterranean, London 2011, S. 34, 91, 122.

9     Krieger, Geschichte Englands, S. 18–20. Lange, Geschichte Schleswig-Holsteins, S. 24–29. Müller-Beck, Steinzeit, S. 118.

10   Krieger, Geschichte Englands, S. 19. Michael Maurer, Kleine Geschichte Schottlands, Stuttgart 2008, S. 24–27.

11   Lange, Geschichte Schleswig-Holsteins, S. 30–33. Jochen Brandt, Jastorf und Latène. Kultureller Austausch und seine Auswirkungen auf soziopolitische Entwicklungen in der vorrömischen Eisenzeit, Rahden/Westf. 2001, passim, bes. S. 276–292.

12   Kritisch: Herwig Wolfram, Die Germanen, 9. Aufl., München 2009, S. 9–15, 22 f.

13   Wolfgang Schuller, Das Erste Europa: 1000 v. Chr. – 500 n. Chr., Stuttgart 2004, S. 130 f.

14   Wolfram, Germanen, S. 29.

15   Lutz Käppel, Bilder des Nordens im frühen antiken Griechenland, in: Annelore Engel-Braunschmidt u. a. (Hg.), Ultima Thule. Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2001, S. 11–27, bes. 26 f.

16   Abschnitt 26 der Res Gestae: »Omnium provinciarum populi Romani, quibus finitimae fuerunt gentes quae non parerent imperio nostro, fines auxi. Gallias et Hispanias provincias, item Germaniam qua includit Oceanus a Gadibus ad ostium Albis fluminis pacavi. Alpes a regione ea, quae proxima est Hadriano mari, ad Tuscum pacari feci nulli genti bello per iniuriam inlato. Classis mea per Oceanum ab ostio Rheni ad solis orientis regionem usque ad fines Cimbrorum navigavit, quo neque terra neque mari quisquam Romanus ante id tempus adit, Cimbrique et Charydes et Semnones et eiusdem tractus alii Germanorum populi per legatos amicitiam meam et populi Romani petierunt. […]. Onlineausgabe der Res Gestae: www.thelatinlibrary.com/aug.html (Zugriff: 18.3.2012).

17   Wolfram, Germanen, S. 29. Zitat Strabon: Joachim Herrmann (Hg.), Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z., 1. Teil, Berlin 1988, S. 237.

18   P. Cornelius Tacitus, Germania, Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2000, Zitat aus dem Nachwort von Manfred Fuhrmann, S. 104.

19   Ebd. S. 101–104, Zitat S. 103.

20   Ebd. S. 4f., 71.

21   Ebd. S. 40 (»inertia Gallorum«). Dazu auch der Kommentar bei Rudolf Much, Die Germania des Tacitus, 2. Aufl., Heidelberg 1959, S. 266 f.

22   Tacitus, Germania, S. 62 f.

23   Ebd. S. 64 f.

24   Der Neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider, Bd. 11, Stuttgart 2001, Sp. 83–85 (Sarmatai).

25   Tacitus, Germania, S. 64–67. Zu den Fenni: Der Neue Pauly, Bd. 4, Stuttgart 1998, Sp. 466.

26   Mit De Vita Iulii Agricolae legte Tacitus eine Biographie seines Schwiegervaters Gnaeus Iulius Agricola, Feldherr und Statthalter in Britannien, vor. Cornelius Tacitus, Agricola – Germania, Lateinisch und Deutsch, hg. v. Alfons Städele, 2. Aufl., Düsseldorf 2001, bes. S. 18–25.

27   Tacitus, Agricola, S. 23.

28   Tacitus, Germania, S. 43.

29   Ebd. S. 51

30   Ebd.

31   Ebd. S. 53. Zur Interpretation siehe auch Much, Germania, S. 326 f.

32   Tacitus, Germania, S. 55, 61

33   C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde. Lateinisch-Deutsch, Bücher III/IV, hg. v. Gerhard Winkler, München 1988, S. 180–185 (Buch IV, 94–101).

34   Ebd. S. 180–183. (Buch IV, 95/96), S. 186/87 (Buch IV, 104).

35   Klaudios Ptolemaios, Handbuch der Geographie, Griechisch – Deutsch, hg. v. Alfred Stückelberger u. Gerd Graßhoff, 2 Teilbde., Basel 2006, hier: Teilbd. 1, S. 9–30.

36   Ptolemaios, Handbuch, 2. Teilbd., S. 776 f.

37   Ebd. S. 788 f. Reproduktionen der Karten von spätmittelalterlichen Kartenversionen mit den lateinischen Bezeichnungen: Claudius Ptolemy, The Geography, transl. and. ed. by Edward Luther Stevenson, New York 1932 (ND New York 1991). Zum Begriff der Germania magna: Beck (Hg.), Germanen, S. 75–77.

38   Ptolemaios, Handbuch, 2. Teilbd., S. 850 f.

39   Tacitus, Germania, S. 19.

40   Dazu: Christopher B. Krebs, A Most Dangerous Book. Tacitus’s Germania from the Roman Empire to the Third Reich, New York 2011.

2          Von der »Völkerwanderung« bis zu den Wikingern – Beziehungen werden neu gemischt

 

 

Um die Mitte des ersten Jahrtausends finden wir an den nördlichen wie südlichen Küsten des Mittelmeeres germanische, dem arianischen Christentum anhängende Königtümer auf dem Boden und in enger Verbindung mit dem Imperium Romanum. So das Reich der Ostgoten, deren König Theoderich über Italien herrschte. Das Tolosanische Reich der Westgoten im Südwesten Frankreichs und auf der Iberischen Halbinsel sowie das Reich der Vandalen entlang der nordafrikanischen Küste und in der westmediterranen Inselwelt.1 Langlebig waren sie nicht. Aber sie stehen für wichtige Veränderungen.

So für die massive räumliche Verschiebung von Bevölkerungsgruppen, die als homogene Ethnien zu bezeichnen historische Legendenbildung wäre.

Ursprungslegenden

Auch wenn die Völker der Wanderungszeit keine ethnisch homogenen Gruppen bildeten, sammelten sie sich unter einem »Volksrecht« und bildeten so den Verband der »Goten« oder »Vandalen«, wenngleich diese multiethnisch und als Stammesverband instabil waren. Sie werden im Lateinischen als Gens, im Plural Gentes, bezeichnet. Ursprungslegenden dienten zur Sicherung ihrer kollektiven Identität.

Für die Goten legte der in Diensten des ostgotischen Königs stehende römische Gelehrte Cassiodor um 520 eine Herkunftsgeschichte vor, auf die sich die Getica, die um die Mitte des 6. Jahrhunderts entstandene Gotengeschichte des Jordanes, eines römisch-gotischen Geschichtsschreibers, stützte. Cassiodor und Jordanes vertraten die These vom Ursprung der Goten in Skandinavien. Deren realgeschichtliche Stichhaltigkeit ist höchst anzweifelbar. Die Übertragung eines Stammesnamens von einer im Ostseeraum – in Skandinavien oder an der Weichselmündung – vorfindlichen auf eine nunmehr am Mittelmeer siedelnde Bevölkerung interpretierte jedoch den Norden Europas und damit den Raum der Geschwistermeere auf neuartige Weise. Er wurde zum Herkunftsraum von Völkern, die nicht länger nur fremde Barbaren, auf die man, wie Tacitus, von außen mit Bewunderung oder Befremden blickte, sondern Bestandteil der zivilisierten Welt waren. Cassiodor und Jordanes verfassten erstmals die Ursprungsgeschichte »eines nichtantiken Volkes, einer Gens, die […] einen Teil des Römerreiches rechtmäßig und vom Kaiser anerkannt beherrschte«.2

Die zweite wichtige Veränderung, die aus der Etablierung der gotischen und anderer Königtümer, die ihren Ursprung auf den Norden Europas zurückführten, im Mittelmeerraum folgte, war also kultureller Art. Gemeinwesen, die für sich einen Ursprung im Norden konstruierten, schrieben sich im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter selbstbewusst in den europäischen Kulturkontext ein. Es fand eine kulturelle Amalgamierung von römischer und germanischer Welt statt.

Das, was bei allen Skrupeln weiter »Völkerwanderung« genannt werden soll, spielte sich nicht nur in der Nord-Süd-Richtung ab. Auch von Ost nach West bewegten sich wenn schon nicht ganze Völkerschaften, so doch deren Stammesnamen. Die Überlieferung ähnelt der für die Goten.3 Die Stammesverbände der Sachsen, Angeln und Jüten siedelten, wie erstere, östlich der Weser bis in den Raum der Niederelbe und, wie Angeln und Jüten, auf der Cimbrischen Halbinsel. Kleine Gemeinschaften aus ihrem Kreis, keineswegs ganze Stämme, sollen im 4. und 5. Jahrhundert per Schiff Raubzüge entlang der Südwestküste der Nordsee unternommen haben. Sie erreichten Britannien, das seit dem 1. Jahrhundert bis weit nach Norden unter römischer Herrschaft stand. Fraglich bleibt, ob sich die germanischen Ankömmlinge auf der Insel in einem einmaligen Feldzug um 450 oder in einer »zeitlich langgestreckten Infiltration mit resultierender Machtübernahme« etablierten. Inzwischen jedoch nimmt die Forschung einen langfristigen angelsächsischen Landnahmeprozess in Britannien als wahrscheinlich an, der gegen Mitte des 5. Jahrhunderts durch militärische Invasionsunternehmungen unterstützt wurde. Entscheidend ist auf jeden Fall, »dass sich Angeln, Jüten und Sachsen weitgehend durchsetzten und kleine Königreiche zu bilden vermochten«. Sind uns für das 7. Jahrhundert zwölf namentlich überliefert, so reduzierte sich diese Zahl bis 700 auf sieben und bis 750 auf drei, »die nun über ganz England die Hegemonie ausübten: Nordhumbrien, Mercien und Wessex«.4

Diese Herrschaftsbildungen zeigen auf unterschiedlichen Feldern, welche Veränderungen in den nordeuropäischen Raumbeziehungen im Übergang von der Antike zum Mittelalter stattfanden. Dass sich der Wechsel von der römischen zur angelsächsischen Herrschaft nicht abrupt vollzog, folgte einem in Vergangenheit und Zukunft verbreiteten Muster. Die Militarisierung der Infiltration zeugt von einer gewalttätigen Eskalation. Es ging nicht nur um kulturelle Verschmelzung, sondern auch und gerade um Herrschaft. Zwar gewannen letztendlich die Angelsachsen in dieser Beziehung die Oberhand, ein bruchloser Siegeszug war ihnen aber wohl nicht beschieden.

Um das Jahr 500 soll es zu einer Schlacht gekommen sein, in der sich die Briten noch erfolgreich ihrer angelsächsischen Angreifer erwehrten. Diese Schlacht am legendären Mons Badonicus (Mount Badon) besitzt besondere Bedeutung, da die wichtigste britische Geschichtserzählung des Frühmittelalters, die im frühen 9. Jahrhundert entstandene Historia Brittonum, sie in eine positive Perspektive für die den Eroberern bald politisch Unterlegenen integrierte. Der Autor wertete die Briten deutlich auf, indem er sie in einer Abstammungstafel der Völker »zu direkten Brüdern der Franken, Römer und Alemannen« erhob.5 Damit waren sie den Angelsachsen gleichwertig. Außerdem führte er Arthur ein, den legendären König Artus, der eine lange Reihe von ruhmreichen Siegen im Kampf gegen die Angelsachsen, darunter auch den am Mons Badonicus, errungen habe. Damals sei es König Arthur gewesen, der »durch die Kraft unseres Herrn Jesus Christus« den Schlachtensieg davongetragen habe.6

Diese Geschichtserzählung gab den geschmähten Briten ihre christlich-kulturelle Ehre wieder. Mehr noch! Sie konnten den heidnischen Angelsachsen, den Eroberern, etwas geben, was diese noch nicht hatten: den christlichen Glauben. Damit wurde eine Sicht auf das Geschehene konstruiert, die fortan Eroberer und Eroberte in ihrer kulturellen Wertigkeit auf Augenhöhe stellte und sie in den gemeinsamen christlichen Normenhorizont einband.

Christliche Mission

In der Tat wurden die paganen Angelsachsen, durch deren Eroberung das Christentum in die westlichen Randgebiete Britanniens abgedrängt worden war, seit ca. 600 von der iroschottischen Missionsbewegung berührt, die zuvor schon den schottischen Pikten den christlichen Glauben in der klösterlich asketisch dezentralisierten Organisationsform der keltischen Kirche gebracht hatte.7 Zeitgleich wurden sie von Süden mit dem alternativen römischen Kirchenmodell und dessen hierarchischer Ordnung konfrontiert.

Beide Formen standen in wechselvoller Konkurrenz, ehe auf Veranlassung des nordhumbrischen Königs Oswiu durch eine Synode im Jahr 664 die Observanzfrage zugunsten der römischen Mission entschieden wurde. Er selbst war iroschottisch-christlich sozialisiert. Seine Frau hingegen stammte aus dem römisch orientierten Kent im äußersten Süden der Insel. Unterschiedliche Berechnungen des Ostertermins durch iroschottische und römische Kirche führten in liturgischer Hinsicht zu Verwirrungen, die dringend der Klärung bedurften. Zudem unterstützte das römische Modell in seinem hierarchischen Aufbau den herrschaftlichen Zentralisierungsprozess in den angelsächsischen Königreichen.

Die neue angelsächsische Kirche förderte den Weltklerus, reformierte die Klöster nach der Benediktinerregel und band sie in die allgemeine Kirchenorganisation ein. Das geistige Erbe der Iroschotten wurde indes nicht über Bord geworfen, »was sich unter anderem in der Übernahme der irischen Bußpraxis niederschlug, die dadurch in der Folgezeit auch auf dem Kontinent verbreitet wurde«.8 Die Integration beider Modelle schuf vor allem in den Klöstern im Süden der Insel und im nordenglischen Nordhumbrien eine kulturelle Blüte.

Auf der Britischen Insel hatte sich also vom 6. bis zum 9. Jahrhundert ein politisch-kultureller Prozess vollzogen, der die Anrainer der Nordsee miteinander verband. Die angelsächsische Infiltration hatte auf der Insel zunächst zu einer neuen herrschaftlichen Ordnung geführt. In wechselseitiger Befruchtung autochthoner und kontinentaler Tendenzen fand im Verein mit der herrschaftlichen Neuordnung eine kulturelle Transformation statt. Sie strahlte seit dem späten 6. Jahrhundert ihrerseits mit Macht auf den Kontinent, auch und gerade auch auf die Herkunftsregionen der angelsächsischen Eroberer entlang der Nordseeküste, zurück.