Die Giftmüll-Mafia - Hans N. Pfeiffer - E-Book

Die Giftmüll-Mafia E-Book

Hans N. Pfeiffer

4,8

Beschreibung

In Neapels Straßen türmt sich der Müll, giftige Halden im Umland verseuchen die Erde und machen die Menschen krank. Das Geschäft mit der illegalen Entsorgung, mit dem sich Mafia, Unternehmer und korrupte Politiker eine goldene Nase verdienen, ist nur auf den ersten Blick ein regionales Problem. Es hat Ursachen und Auswirkungen in ganz Europa, auch in Deutschland. Hans N. Pfeiffer lebt seit 20 Jahren in Italien. Er verknüpft fundierte Recherchen, Interviews und persönliche Geschichten von Betroffenen, an deren Schicksal die verheerenden Folgen der Müll-Machenschaften offenbart werden. Ein aufrüttelnder Report!

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Impressum

ISBN eBook 978-3-360-50061-8

ISBN Print 978-3-360-02176-2

© 2014 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung

eines Fotos/Motivs von picsfive/Fotolia

Das Neue Berlin Verlags GmbH

Neue Grünstraße 18, 10179 Berlin

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

Die Fotos stammen von Stephan Matyus, dem wir herzlich danken.

Hans N. Pfeiffer

Die Giftmüll-Mafia

Europas ökologischer Selbstmord

Das Neue Berlin

Vorwort

Wer je die Geschichte der fiktiven Stadt Leonia aus Italo Calvinos »Die unsichtbaren Städte« gelesen hat, konnte sich in den ersten Monaten des Jahres 2008 nicht des Eindrucks erwehren, dass Neapel – seit Jahrhunderten berühmt und gepriesen für seine außerordentliche Schönheit – immer mehr Calvinos Fantasiestadt glich. In Leonia türmen die Einwohner jeden Tag riesige Müllhaufen auf, um all die Gegenstände, die sie am Vortag verwendet haben, am Morgen durch funkelnagelneue zu ersetzen – bis die Abfallberge das gesamte Stadtgebiet und das Umland bedecken und schließlich auch die Nachbarstädte erreichen.

Was die internationalen Medien in jenen Monaten über Neapel berichteten, klang oft schier unglaublich. Wollte man sich aber an Ort und Stelle von den Berichten überzeugen, musste man feststellen, dass die Müllberge tatsächlich das gesamte Stadtgebiet beherrschten. In der zentralen Via Toledo mussten die einkaufswilligen Touristen um meterhohe Abfallhaufen herumspazieren, an der Peripherie waren riesige Straßenflächen mit Unrat übersät, und im Umland lag der Müll zwischen Olivenhainen und Pfirsichplantagen, an der Böschung von Zubringerstraßen und am Rand von Bewässerungskanälen.

Damals beschloss ich, gemeinsam mit einem befreundeten Wiener Verleger, ein Buch über die Müllkrise in Neapel herauszubringen. Das Interesse an diesem Thema war groß, Freunde und Bekannte fragten mich immer wieder, was sich dort eigentlich abspiele. Es handle sich doch immerhin um eine Stadt in Europa, in der Europäischen Gemeinschaft. Angesichts dieses Interesses begann ich damit, Zeitungsberichte zu sammeln, das Gebiet in und um Neapel abzufahren und Freunde aufzusuchen, die von der Müllkrise direkt betroffen waren.

Doch dann kam Silvio Berlusconi, der am 18. Juli 2008 – drei Monate nach seiner Wiederwahl zum italienischen Regierungschef – in einer Pressekonferenz erklärte, das Müllproblem sei dank raschen Handelns seiner neuen Regierung gelöst und Neapel nun wieder »eine Stadt der westlichen Welt«. Bei einem Spaziergang durch das Stadtzentrum konnte ich mich davon überzeugen, dass die Müllberge tatsächlich aus dem Straßenbild verschwunden waren und Neapel in puncto Sauberkeit den Vergleich mit anderen europäischen Großstädten durchaus nicht zu scheuen brauchte.

Nach diesem Auftritt von Berlusconi erlosch das Interesse der internationalen Presse ebenso schnell, wie es aufgeflammt war. Auch der Verleger sah keinen Grund mehr, sich weiterhin mit dem Thema zu beschäftigen, und nach längeren Diskussionen trennten sich unsere Wege. Ich blieb mit meinen Recherchen allein und war fast schon – wie die meisten Menschen damals in Italien – davon überzeugt, dass die Regierung unter Silvio Berlusconi tatsächlich effizienter arbeitete als die vorangegangene und konkreter an die Probleme heranging.

Mediterrane Landschaften wie aus dem Reiseführer gehören zu den Stärken Kampaniens – die Realität sieht vielerorts längst anders aus

Und doch gab es Momente, die darauf schließen ließen, dass der Müllskandal in und um Neapel keineswegs nur auf die notorische Unfähigkeit der süditalienischen Stadt- und Regionalverwaltung zurückzuführen war (wie die meisten Norditaliener heute noch annehmen). Da war Roberto Savianos Roman »Gomorrha«, in dem von gigantischen illegalen Sondermüll-Transporten aus dem Norden in den Süden die Rede ist; da war der Dokumentarfilm »Biùtiful cauntri«, der die Verseuchung ganzer Landstriche rund um Neapel durch giftigen Industriemüll eindringlich zeigte. Es sah so aus, als hätte der italienische Norden, der die industrielle Entwicklung im Süden bis in die frühen neunziger Jahre mit finanziellen Zuwendungen unterstützt hatte, nunmehr weite Teile Süditaliens zur Giftmüllhalde degradiert, um selbst kostengünstiger produzieren zu können. Die Müllberge in Neapel waren nur ein Indikator für ein viel größeres Problem: Weil die Region Kampanien samt ihrer Müllhalden illegal mit Industrie- und Giftmüll überschwemmt wurde, fehlten die Kapazitäten, um den neapolitanischen Stadtmüll abzutransportieren.

Der in Caserta tätige Untersuchungsrichter Donato Ceglie wies mich als Erster auf die Tatsache hin, dass diese Vorgänge in italienischen Staats- und Regierungskreisen durchaus bekannt waren, und zwar von Anfang an. Natürlich hätte die Verseuchung weiter Teile Kampaniens nicht ohne die Beihilfe der kampanischen Mafia, der Camorra, vor sich gehen können. Mir wurde aber auch klar, dass das jahrelange Schweigen der staatlichen und regionalen Stellen – und mit ihnen eines Großteils der italienischen Medien – diese Transporte erst möglich machte. Die Öffentlichkeit war sich über das Ausmaß der illegalen Mülltransporte lange Zeit nicht im Klaren.

Inwieweit auch nicht-italienische Firmen von der Möglichkeit einer »kostengünstigen« Müllentsorgung in Süditalien Gebrauch machten, lässt sich nur schwer sagen. Erst kürzlich hat ein Camorra-Kronzeuge von Bleikisten mit radioaktiven Abfällen gesprochen, die aus Deutschland gekommen und in der Provinz Caserta in zwanzig Metern Tiefe vergraben worden seien. Namen von deutschen oder österreichischen Firmen, die erwiesenermaßen ihren Sondermüll nach Neapel verschickt haben, liegen mir gegenwärtig allerdings nicht vor.

Fragwürdig ist auch die Rolle der Europäischen Union, die Italien und die Region Kampanien immer wieder aufforderte (und mit Strafen bedrohte), endlich ein integriertes Entsorgungssystem für den anfallenden Stadtmüll zu schaffen, was konkret die Errichtung von immer mehr und immer größeren Müllverbrennungsanlagen bedeutet. Dass der kampanische Stadtmüll aber nicht selten mit industriellem Giftmüll durchmischt ist, kommt bei diesen Forderungen nicht zur Sprache. Das ist aber das eigentliche Problem!

Im Dezember 2013 hat die italienische Regierung unter Enrico Letta ein Gesetz verabschiedet, das die Degradierung weiter Teile Kampaniens zur Giftmüllhalde erstmals als Realität anerkennt. So positiv die im Gesetz enthaltenen Maßnahmen auch sein mögen (zum Beispiel das strikte Verbot der unkontrollierten Verbrennung von Müllbergen in freier Landschaft), wird man den Eindruck nicht los, dass mit diesem Gesetz vor allem das angekratzte Image einer Region wieder aufpoliert werden soll, die nach wie vor weitgehend von der Landwirtschaft und vom Tourismus lebt. Dass die Verseuchung mit giftigem Industriemüll jedoch systematisch betrieben wird und sich dieses System der illegalen Entsorgung zunehmend auf andere Regionen Italiens, auf andere Länder Europas ausdehnt, kommt im Gesetz nicht zur Sprache.

Calvinos Leonia versinkt schließlich unter den einstürzenden Abfallbergen, während die umliegenden Städte bereits die Bagger in Stellung bringen, um ihren eigenen Müll über der versunkenen Stadt abzulagern. In unserer realen Welt ist noch genügend Zeit vorhanden, den drohenden ökologischen Selbstmord abzuwenden. Voraussetzung ist allerdings, Vorgänge wie in Kampanien nicht länger als regionales Problem zu betrachten, sondern in ihrer europäischen Dimension. Denn wenn der überschüssige Abfall jahrzehntelang an der Peripherie angehäuft wird, dringen die Müllberge früher oder später auch ins Zentrum vor.

Im Anhang befindet sich zur besseren Übersicht eine Karte mit den Schauplätzen, die in diesem Buch eine Rolle spielen.

Neapel sehen und schweigen

Am 4. Februar 1991 taucht in der Erste-Hilfe-Abteilung eines kampanischen Krankenhauses ein Mann auf, der über Atemnot und schwere Sehstörungen klagt. Sein Name ist Tamburrino, er ist gebürtiger Argentinier mit italienischen Vorfahren. Die Ärzte stellen schwerste Vergiftungserscheinungen durch eine unbekannte Substanz fest. Die Ursache der Vergiftung versucht der Mann zu verschweigen. Er verlässt das Krankenhaus auf schnellstem Weg und kehrt in seinen Heimatort in der süditalienischen Region Basilikata zurück, wo sich sein Zustand verschlimmert. Schließlich wird er ins Krankenhaus der Regionalhauptstadt Potenza eingeliefert. Über die Art der Vergiftung besteht nach wie vor Unklarheit.

Inzwischen haben die Ärzte die Behörden verständigt. Erste Nachforschungen beginnen. Tamburrino schweigt. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Da meldet sich seine Frau zu Wort. Ihr Mann, erklärt sie den Ermittlern, sei mit seinem Lastwagen von Cuneo gekommen, einer Provinz im Piemont, im äußersten Nordwesten Italiens. Dort habe er bei einer Firma Metallfässer aufgeladen, die mit einer unbekannten Substanz gefüllt waren, und habe sich auf den Weg in Richtung Süden gemacht, über die Autostrada del Sole, mehr als 1000 Kilometer. Beim Abladen sei eines der Fässer aufgeplatzt, und die aufspritzende Flüssigkeit habe ihn im Gesicht getroffen.

In vielen Punkten stimmen die Zeitungsberichte nicht überein. Die neapolitanische Tageszeitung Il Mattino nennt den unglücklichen Lastwagenfahrer »Mario«, La Repubblica berichtet von einem »Michele«. Beide Zeitungen berichten, M. Tamburrino hätte sich hilfesuchend an das Krankenhaus Cardarelli in Neapel gewandt; im Corriere del Mezzogiorno ist von der Klinik Pineta Grande in Castel Volturno, in der Provinz Caserta, die Rede.

1Bei der norditalienischen Firma handelt es sich allem Anschein nach um die Firma Ecomovil mit Sitz im Piemont. Die Fässer, die in Richtung Süden transportiert wurden (laut Il Mattino waren es 541, La Repubblica berichtet von 150), sollten auftragsgemäß an den Abhängen des Vesuvs im Entsorgungszentrum Süd abgeladen werden. Von wem Tamburrino den Auftrag erhielt, geht aus den verschiedenen Quellen nicht klar hervor. Jedenfalls kamen die Fässer nie an ihrem Bestimmungsort an, auch wenn Ecomovil – laut Repubblica – behauptet, das Gegenteil beweisen zu können.

Was hat M. Tamburrino bewogen, von seinem ursprünglichen Fahrziel abzuweichen? War es Müdigkeit? Hat er sich verfahren? Hat er anderslautende Anweisungen erhalten? War eines der Fässer undicht geworden? Spürte er bereits während der Fahrt die verheerenden Folgen der giftigen Dämpfe? Oder wurde er, wie La Repubblica berichtet, von zwei Autos im Dunkel der Nacht an eine abgelegene Müllhalde gelotst, deren genaue Position er selbst nicht kannte, um die Fässer in aller Eile dort abzuladen?

Während M. Tamburrino im Krankenhaus von Potenza langsam erblindet, suchen Polizeikräfte und Techniker des Zivilschutzes, den vagen Angaben Tamburrinos folgend, in der Gegend von Qualiano und Villaricca nach den abgeladenen Fässern. Die beiden Orte liegen nordwestlich von Neapel in der Nähe der Phlegräischen Felder, einer bizarren Vulkanlandschaft, die dank ihrer wilden Schönheit seit Jahrhunderten Reisende aus aller Welt anzieht. An den Rändern eines ehemaligen Entwässerungskanals stoßen sie auf zwei Müllhalden. Die eine ist legal angelegt, die andere illegal; beide sind mit Industrieabfällen übersät.

An diesem Ort, berichtet La Repubblica, sollen die Fässer abgelagert sein, notdürftig mit Erde bedeckt. Über den Inhalt besteht nach wie vor Unklarheit. Um Giftstoffe könne es sich dabei nicht handeln, erklärt ein Sprecher der Firma Ecomovil, und wenn Tamburrino mit seinem Lastwagen tatsächlich Giftstoffe nach Süditalien gebracht hätte, dann habe er sie nicht im Piemont, sondern irgendwo während der Fahrt aufgeladen, an einer unbekannten Adresse. Die behandelnden Ärzte äußern den Verdacht, es könne sich bei der Substanz, die Tamburrino um sein Augenlicht und seine Gesundheit bringt, um Dioxin handeln, eine hochgiftige Chlorverbindung, die im Jahr 1976, nach einem schweren Unfall in einem Tochterunternehmen des Schweizer Chemiekonzerns Hoffmann-La Roche, die Gegend von Seveso im Norden Mailands verseuchte.

Anders die Berichterstattung im Mattino: Aufgrund eines ano­nymen Anrufes in der Redaktion machen sich ein Journalist und ein Fotoreporter am 23. Februar in einem Fiat Panda auf den Weg nach Villaricca, um nach den Müllfässern zu suchen. Nach einer kurzen Irrfahrt über steinige Wege, Schlammpfützen und durch wild wucherndes Gestrüpp spüren sie plötzlich einen stechenden Geruch. Sie lassen das Auto stehen, gehen dem Gestank nach und stehen vor den Fässern. »Massiv, dick, versiegelt«, erinnert sich der Journalist Jahre später. »Zumindest eines musste irgendwo ein Loch haben; ein gelber, dampfender Schaum kletterte an den Fässern empor. Wir konnten nicht näher treten, der Gestank war schrecklich. Antonio schoss ein Foto nach dem anderen, ich blickte mich um und versuchte, mir möglichst viele Elemente für eine Beschreibung einzuprägen, um die Story anzureichern. Solche Artikel sind schwierig zu schreiben: eine einzige große Nachricht, wenige Fakten, viel Farbe.«2

Es war die Zeit des Golfkriegs. Am 23. Februar 1991 stellten die USA dem Irak ein Ultimatum: Saddam Hussein müsse seine Truppen unverzüglich aus dem besetzten Kuwait zurückziehen. Am 24. Februar begann der Bodenkrieg. Amerikanische Marines drangen tief in irakisches Territorium ein. Die Befürchtung, der Irak würde chemische Waffen zum Einsatz bringen, bestätigte sich nicht. Am 26. Februar begannen die irakischen Truppen offiziell mit dem Rückzug aus Kuwait, steckten die kuwaitischen Ölfelder beim Verlassen in Brand und öffneten die Sperrriegel an kuwaitischen Ölterminals, so dass sich riesige Ölmengen in den Persischen Golf ergossen.

In diesen Tagen hatten die Zeitungen anderes zu tun, als die Geschichte einiger hundert Müllfässer zu verfolgen, die irgendwo in der neapolitanischen Provinz abgeladen worden waren. Wie solche Geschichten enden, konnte man bereits ahnen: Im Dezember 1989 hatte ein Lastwagen bei Cava dei Tirreni, nahe der sorrentinischen Halbinsel im Süden des Golfs von Neapel, an die 600 Giftfässer abgelagert. Ihre nachträgliche Entsorgung hätte eineinhalb Milliarden Lire (750 000 Euro) gekostet. Jahre später waren die Fässer immer noch dort.

Nach dem Unfall von M. Tamburrino leitet die Staatsanwaltschaft von Neapel Ermittlungen ein. Die Gegend von Villaricca und Qualiano, in der Tamburrino die mysteriösen Giftfässer abgelagert hat, wird näher unter die Lupe genommen. Das Gebiet liegt am südlichen Rand jener ausgedehnten Ebene, die dank ihrer außerordentlichen Fruchtbarkeit von den alten Römern als Campania felix, »glückliche Landschaft«, bezeichnet wurde.

Analysen ergeben, dass die Müllhalden in diesem Gebiet mit teils hochgiftigem Industriemüll angefüllt sind. Neben den legalen Mülldeponien, die eigentlich den Stadtmüll aus Neapel und Umgebung aufnehmen sollten, sind hunderte von illegalen Müllhalden entstanden, die sich wie giftige Pilze über die »glückliche Landschaft« ausgebreitet haben. Massive Ablagerungen von Industriemüll finden sich auch im Zentrum der Campania felix: in der Gegend von Parete, südlich von Casal di Principe, dem Stammsitz des berüchtigten Camorra-Clans der Casalesi.

Die Staatsanwaltschaft braucht zwei Jahre, bis sie die Ausmaße der Umweltverseuchung in vollem Umfang erkennt. Schließlich wird klar, dass allein im Umkreis von Villaricca und Qualiano sowie auf den Müllhalden rund um Parete eine halbe Million Tonnen Industriemüll abgelagert sind, etwa ein Viertel davon Giftstoffe. Diese ungeheuren Abfallmengen wurden in nur vier Jahren herbeigeschafft, von 1989 bis 1993. Tag für Tag und Nacht für Nacht rollten um die fünfzehn bis zwanzig Lastwagenzüge durch Italien,3 um Müll aus dem ganzen Land illegal hier abzuladen. Und das war, wie sich in den folgenden Jahren herausstellen sollte, erst der Anfang.

1 Vgl. Matteo Cosenza: Scorie contaminate, è allarme. Il camionista, colpito dalle esalazioni, è paralizzato e ha quasi perso la vista. In: Il Mattino, 17. 2. 1991, S. 22 / Piero Melati: Napoli, avvelenato dal carico chimico che stava nascondendo. In: La Repubblica, 19. 2. 1991. Abrufbar unter: http://ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/1991/02/19/napoli-­avvelenato-dal-carico-chimico-che-stava.html

Non solo Pianura – ­avvelenata anche la discarica di Villaricca. In: Corriere del Mezzogiorno, 25. 1. 2008. Abrufbar unter: http://corrieredelmezzogiorno.­corriere.it/campania/cronache/articoli/2008/01_Gennaio/25/discarica_tossica_fusti.shtml

2 Antonio Menna: Quattordici anni fa in Via Bologna. Qualiano, l’anniversario. Tamburino e i fusti dimenticati. Abrufbar unter: http://www.internapoli.it/articolo.asp?id=3590

3 Wenn man von einer Müllmenge von 500 000 Tonnen ausgeht und die durchschnittliche Ladung eines Lastwagenzuges mit 20 Tonnen annimmt, ergeben sich für einen Zeitraum von vier Jahren gut 17 Transporte pro Tag, inklusive Sonn- und Feiertagen

Omertà

Neapel, Stadtteil Sanità, 11. Mai 2009, 16 Uhr: Vor einer Bar auf der Piazza Vergine im Zentrum Neapels wird der 53-jährige Mariano Bacioterracina von einem professionellen Killer niedergeschossen. Das Opfer, so ergeben erste Ermittlungen, war vorbestraft.

Die Meldung erscheint am nächsten Tag in den italienischen Nachrichtenagenturen. Von den Massenmedien wird sie kaum verbreitet. Ein Mordanschlag wie der an Bacioterracina gehört in Neapel zum Alltag. »Dreitausend Tote in einem Vierteljahrhundert!«, schrieb Roberto Saviano in seinem 2006 veröffentlichten Erstlingswerk »Gomorrha«: »Die Camorra hat mehr Menschen umgebracht als die sizilianische Mafia, mehr als die ’Ndrangheta in Kalabrien, mehr als die russische Mafia, mehr als die albanischen Familien, mehr als die ETA in Spanien und die IRA in Irland, mehr als die Roten Brigaden, mehr als die Rechtsterroristen der NAR und mehr als alle Attentate in Italien, bei denen die Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten. Die Camorra hat mehr Menschen umgebracht als alle anderen.«

4Bacioterracina ist einer von Tausenden. Anzeigen seitens der Bevölkerung treffen bei den Behörden nicht ein. Der Mord gerät erst in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, als die Staatsanwaltschaft von Neapel – nach Monaten vergeblicher Ermittlungen – ein Video freigibt, in dem die letzten Minuten des Opfers zu sehen sind.5 Millionen von Zuschauern sehen im italienischen Fernsehen, im Internet-TV der Tageszeitung La Repubblica oder auf der Video-Plattform YouTube die Aufnahmen des Opfers, das ahnungslos vor der Bar steht und eine Zigarette raucht; sie sehen die Passanten, die vor dem Anschlag in der Bar aus- und eingehen; sie beobachten einen Mann, der minutenlang neben dem Opfer steht und allem Anschein nach die Lage überblickt, bevor er wenige Sekunden vor dem Eintreffen des Mörders langsam weggeht. Sie schauen dem Killer zu, wie dieser die Bar betritt, nach kurzer Zeit wieder herauskommt, in Sekundenschnelle zwei oder drei Schüsse auf das Opfer abgibt und schließlich, als Bacioterracina schon auf dem Asphalt liegt, den Todesschuss in den Nacken. Während der Mörder in aller Ruhe den Tatort verlässt, verschwinden auch die zufällig Anwesenden: Ein Straßenhändler räumt eilig seinen Verkaufstisch weg, ein Passant mit einem kleinen Mädchen im Arm entfernt sich vom Tatort, nachdem er einen kurzen Blick auf den Sterbenden geworfen hat. Bacioterracina bleibt in einer Blutlache liegend allein zurück; der Platz vor der Bar, vor wenigen Minuten noch dicht bevölkert, ist plötzlich menschenleer.

Dank des Videos gelingt es der Staatsanwaltschaft im November, den Täter festzunehmen. »Von der Bevölkerung haben wir keinerlei Hinweise bekommen«, erklärt der Staatsanwalt der Presse nicht ohne Bitterkeit. »Absolutes Schweigen. Nicht einmal eine Aussage, die den Mann entlastet hätte, der sich kurz vor Ankunft des Killers längere Zeit am Tatort aufhielt und dort scheinbar Schmiere stand. Einige Zeugen, die wir vernommen haben, kannten ihn, denn er wohnte in dieser Gegend. Als wir ihnen das Video zeigten, gaben sie kein Wort von sich. Er ging selbst zur Polizei, um das Missverständnis zu klären, nachdem er von Verwandten, die das Video gesehen hatten, informiert wurde.«6

Omertà, das komplizenhafte Schweigen über Mafiaorganisationen und ihre Handlanger, ist ein weit verbreitetes Verhalten in und um Neapel. Es gibt wohl kaum eine Verbrecherorganisation in Europa, die historisch so tief verwurzelt ist wie die sizilianische Mafia und die neapolitanische Camorra. »Wenn die Bevölkerung nicht gegen die Camorra rebelliert«, erklärt der casertanische Journalist Carlo Pascarella im Interview, »dann hat das vor allem drei Gründe: Angst, Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und eine gewisse Mentalität, die sich – von der Camorra auf subtile Weise gefördert – im Lauf der Jahrzehnte im kollektiven Denken verbreitet hat.«

Die Anfänge der Camorra liegen weit zurück, nicht Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte. Bereits im Jahr 1820 wurde in Neapel die Società dell’Umirtà gegründet. Aus Umirtà (ital. umiltà, »Demut, Ehrerbietung, Bescheidenheit, Niedrigkeit«) entstand in der Folge der Begriff Omertà, jenes demütige, ehrerbietige, unterwürfige Schweigen, das Fahndern bei der Aufklärung von Mafia-Verbrechen kaum eine Chance lässt. Wer dieses Schweigen bricht, wer – wie Roberto Saviano – eine breite Öffentlichkeit darüber informiert, wo, wann und von wem Schutzgelder erpresst, Mordüberfälle organisiert, Drogen hergestellt oder ganze Gebiete mit Giftmüll verseucht werden, wird quasi des Landesverrats bezichtigt: »Wenn du über bestimmte Fragen redest, beschmutzt du deine Heimaterde. Wenn du nicht darüber sprichst, achtest du sie.«7

Einige Monate nach dem Mordanschlag auf Bacioterracina führt eine Journalistin des italienischen Fernsehens Interviews im Umfeld der Bar, vor der der Anschlag verübt wurde.8 Es sind offene, freundliche Menschen, die da vor der Kamera über ihren Alltag berichten: »Wir versuchen, uns an die Situation anzupassen, die wir in dieser Gegend vorfinden.« – »Ein Mord, wie er tagtäglich passiert, ob in Neapel oder in irgendeiner anderen Stadt.« – »Ich bin hier geboren, für mich ist das normal.« – »Wenn eine alte Frau auf der Straße hinfällt, dann sollten Sie sehen, wie viele Leute ihr behilflich sind, mit einem Stuhl, einem Glas Wasser … Wenn Pistolen im Spiel sind, dann sieht es anders aus.« – »Und die Camorra?«, fragt die Journalistin. »Äh«, antwortet eine junge Frau im Vorübergehen, »da fragen Sie zu viel!«

4 Roberto Saviano: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra. Aus dem Italie­nischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. München 2007, S. 147

5 Così uccide la Camorra (mit Kommentar von Roberto Saviano). Abrufbar ­unter: http://video.repubblica.it/cronaca/cosi-uccide-la-camorra/38501/38648

6 Immagini decisive ma dai cittadini nessuno aiuto. In: La Repubblica, 20. 11. 2009. Abrufbar unter: http://ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/repubblica/2009/11/20/immagini-decisive-ma-dai-cittadini-nessuno-aiuto.html

7 Roberto Saviano im Vorwort zu Raffaele Sardo: La Bestia. Camorra – Storie di Delitti, Vittime e Complici. Mailand 2008, S. 9

8 Intervista del TG3 al Rione Sanità di Napoli nel luogo dell’agguato ripreso in diretta (2009). Das Video stand bis 2011 auf www.youtube.com zur Verfügung

Die »Neue Familie«

»Ich habe vier Reiter gesehen«, schrieb Raffaele Cutolo, der Begründer der Nuova Camorra Organizzata, »die mit Lanze und Schild auf mich zukamen, einen engen schwarzen Mantel um die Schultern. Sie schauten mich lächelnd an. In diesem Moment habe ich verstanden, dass mir die Aufgabe anvertraut wurde, die Camorra auf moderner Grundlage neu zu schaffen, damit die alte Geschichte der Väter nicht verloren geht. Ja, in mir leben die ruhmreichsten Kapitel der neapolitanischen Geschichte fort, ich bin der Erbe all jener, die im Gefängnis Not leiden, ich spreche Recht, ich bin der wahre Richter, der den Wucherern nimmt und den Armen gibt. Das wahre Gesetz bin ich – und nicht die Gerichte.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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