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Beiträge zum Antisemitismus der Linken, über das Verhältnis der Deutschen zu den Juden, Spurensuche nach jüdischem Leben in Berlin, über Hannah Arendt und die Menschenrechte. "Aus Geisel spricht eine ebenso kluge wie scharfzüngige Wut, und zwischen Ironie und Zynismus schafft sich eine große Ernsthaftigkeit Platz. Jüngere Leser haben mit dem Buch eine Zeitkapsel in der Hand, die Einblick in frühere deutsche Debatten gibt. Man entdeckt immer wieder Einsichten von geradezu unheimlicher Aktualität." (Tobias Prüwer, Jüdische Allgemeine) "Wie Geschichtspolitik gemacht wird, kann man in der wie ge-wöhnlich schonungslosen Sprache und klaren Argumentation des Autors nachvollziehen. Besonders für jüngere Generationen ist hier ein Schatz enthalten, aus dem zu erfahren ist, wie Deutschland wurde, was es ist." (Tobias Prüwer, Kreuzer logbuch, Leipzig)
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Eike Geisel
Die Gleichschaltung
der Erinnerung
Kommentare zur Zeit
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von
Klaus Bittermann
FUEGO
- Über dieses Buch -
Beiträge zum Antisemitismus der Linken, über das Verhältnis der Deutschen zu den Juden, Spurensuche nach jüdischem Leben in Berlin, über Hannah Arendt und die Menschenrechte.
Pressestimmen
»Aus Geisel spricht eine ebenso kluge wie scharfzüngige Wut, und zwischen Ironie und Zynismus schafft sich eine große Ernsthaftigkeit Platz. Jüngere Leser haben mit dem Buch eine Zeitkapsel in der Hand, die Einblick in frühere deutsche Debatten gibt. Man entdeckt immer wieder Einsichten von geradezu unheimlicher Aktualität.« (Tobias Prüwer, Jüdische Allgemeine)
»Wie Geschichtspolitik gemacht wird, kann man in der wie ge-wöhnlich schonungslosen Sprache und klaren Argumentation des Autors nachvollziehen. Besonders für jüngere Generationen ist hier ein Schatz enthalten, aus dem zu erfahren ist, wie Deutschland wurde, was es ist.« (Tobias Prüwer, Kreuzer logbuch, Leipzig)
»Tout comprendre c’est tout pardonner«
(altes Sprichwort)
»Wenn ein Deutscher nicht versteht,
verzeiht er das einem Ausländer nie.«
(revidierte Fassung)
I.
Der gängige Begriff des Vorurteils ist selbst eines. 1961 schrieb Horkheimer: »Seit dem Ende des Krieges war in Deutschland viel vom Vorurteil die Rede. In anderen Ländern lange vorher. Wenn die Herabsetzung der Menschen wegen ihrer nationalen Herkunft, der Religion oder Hautfarbe erforscht und angegangen wurde, geschah es unter dem Titel des Vorurteils auch dann, wenn nicht bloß Apathie und soziale Benachteiligung, sondern der auf schwächere Gruppen gerichtete Haß, die organisierte Verfolgung, entfesselte Mordlust das Thema war. Der Euphemismus, der Gebrauch des harmlosen Wortes verdankt sich der Scheu, das Furchtbare zu nennen, ähnlich wie man gewaltsame Tötung durch gesellschaftliche Ordnungskräfte gleichsam beschwichtigend als Hinrichtung bezeichnet. Schließlich meint ein so gebrauchtes Wort nichts anderes mehr als die krasse Wirklichkeit, deren Bild es mildern sollte. Die unheimliche Bedeutung schlägt auf es zurück.«
Horkheimers Bemerkungen »Über das Vorurteil« erschien damals in der FAZ (vom 20. Mai 1961) wenige Tage vor der endgültigen Rehabilitierung des ehemaligen Nazi-Beamten und nachmaligen bundesrepublikanischen Staatssekretärs Globke und wenige Tage bevor der Bundestag mit einer einzigen Gegenstimme ein Gesetz verabschiedete, wonach Richtern und Staatsanwälten der Umstand verziehen wurde, daß sie bis 1945 Mitglieder einer kriminellen Vereinigung gewesen waren, wenn sie sich auf eigenen Wunsch zum Pensionär befördern ließen.
Gut zwei Jahrzehnte später waren sich die Bürger der Bundesrepublik dann untereinander als Deutsche so nahegekommen, daß das Projekt der umfassenden Ehrenrettung der eigenen Vergangenheit in Angriff genommen werden konnte, ein Unternehmen, welches schließlich mit der in Bitburg und Belsen offiziell beglaubigten Lüge von der Austauschbarkeit der Opfer mit den Tätern seinen logischen Abschluß fand. Dieser innenpolitische Wandel durch Annäherung, dessen Geburtsstunde mit dem Selbstmord des politischen Protests und einigen wirklichen Toten zusammenfiel, wird gegenwärtig zwar täppisch, aber um nichts weniger erfolgreich fortgesetzt als unter dem früheren Kanzler, dem die Kritiker des jetzigen nachtrauern wie manche Alte dem Führer.
Die Wiederkehr des Kollektivbewußtseins waren jedoch Grenzen gesetzt; nach außen unüberwindbar standen ihm die Resultate seiner früheren Veranstaltungen entgegen, und so mußte es sich ersatzweise mit der Wiedervereinigung mit der deutschen Geschichte begnügen. Im Verlauf dieser wechselseitigen Annäherung fand gewissermaßen eine bundesweite Familienzusammenführung statt, welche wiederum den einzelnen Angehörigen neuen Lebensmut einflößte. Wo vordem die Generationen zutiefst entzweit waren, da verstanden nun die Jungen die Alten; wo sich der Geschlechterkampf unter der Parole »Frau sein, das ist das Grundrisiko« mühsam dahinschleppte, da wurde mit der Entdeckung eines geschlechtsübergreifenden Grundrisikos, nämlich deutsch zu sein, die Frauenbewegung noch einmal gerettet, und vom Tarifpartner zum Gefolgschaftsmitglied war es ohnehin nur ein kleiner Schritt. Selbst die Friedensbewegung drohte wie die Alternativszene an innerer Auszehrung und an zänkischen Querelen einzugehen, als schließlich ein staatliches Sanierungsprogramm in Gestalt von zahlreichen gemeinschaftsstiftenden Gedenktagen dem darniederliegenden Patienten wieder auf die Beine half. Als erfolgreichster Arzt am Krankenbett der Volksgemeinschaft hat sich in jüngster Zeit der Bundespräsident erwiesen, dessen Reden über das neue Nationalgefühl Kinder wie Greise, Männer wie Frauen, Linke wie Rechte in eine gedämpfte Entzückung geraten lassen, wie man sie aus der Gruppentherapie kennt. Nach der Rede Weizsäckers zum 8. Mai gab es in der Bundesrepublik weder die alten Parteien, noch die neuen Betroffenen, sondern nur noch die ganz neuen Ergriffenen. Sogar die DKP war davon hingerissen, daß der Bundespräsident neben den Soldaten der deutschen Armee auch die umgebrachten Kommunisten unter die Opfer rechnete, und schickte Weizsäcker ein Glückwunschtelegramm. Und Habermas, der es einmal besser wußte, bescheinigte der Ansprache des Bundespräsidenten, in der nicht von der Wahrheit, sondern von der Wahrhaftigkeit die Rede war, sie sei eine »der wenigen politischen Äußerungen ..., die der Herausforderung zwölf plus vierzig Jahren« gerecht geworden sei. Weil die Botschaft manches brachte, wurde vielen etwas gebracht: den Mitläufern, daß sie damals in gutem Glauben und mit den besten Absichten auf eine verbrecherische Clique hereingefallen seien, in deren Händen die Ausführung der Verbrechen gelegen habe, daß also der Völkermord nicht auch ein mordendes Volk zur Voraussetzung gehabt habe; den Friedensfreunden und den Heimatbewegten, daß Friedenssehnsucht und Heimatliebe identisch und damit der Pazifismus eine nationale, der Revanchismus andererseits eine philanthropische Sache sei; den Frauen, sie hätten durch »ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen bewahrt«. Diese nachträgliche Verleihung des Mutterkreuzes an alle deutsche Frauen hatte Kohl schon Jahre zuvor besorgt, ohne diese Geste mit verhunztem Rilke zu erläutern: »Meine Hochachtung unseren Müttern, die ein Leben lang ihre Pflicht getan haben, ohne zu protestieren«, sagte er 1982 in einem Interview mit Bild der Frau. Nach Weizsäckers Rede zur 40-jährigen Wiederkehr des Kriegsendes wurden in Anlehnung an Tucholskys Diktum, daß Satire eine Grenze nach oben habe, daß sich ihr beispielsweise Buddha entzöge, die Höhenlinien der politischen Satire neu gezogen. Eine Kabarettistin bekannte im Fernsehen gerührt, in jene Regionen sei der Bundespräsident nun aufgestiegen.
Nicht als Buddha, sondern als eine Art Baghwan wurde Wochen später der Bundespräsident von den Teilnehmern des evangelischen Kirchentags umjubelt, nachdem er erklärt hatte, als Bürger dieses Landes sei man zuerst Deutscher und dann ein Mensch. Bei dieser Eucharistiefeier des neuen Nationalismus fanden die politischen Bewegungsformen der letzten Jahre ihren vollendeten Ausdruck: die dort ihr neues Idol feierten waren nicht die fanatisierten Anhänger irgendeiner Bewegung oder himmelten einen grimassierenden Führer an, sondern sie bildeten eine gedopte Gemeinschaft; sie bedurften keines Agitators, sondern eines hypnotischen Weichmachers. Als Evangelist des Nationalgefühls fügte Weizsäcker den Zehn Geboten noch ein deutsches hinzu: »Mein Deutschsein ist also kein unentrinnbares Schicksal, sondern eine Aufgabe«.
Worin diese Aufgabe besteht, das machte der Hinweis des Bundespräsidenten auf den »naturgegebenen Sachverhalt, deutsch zu sein«, deutlich: wie zu jeder historischen Einigungsbewegung in Deutschland gehört auch zur neuen deutschen Identitätsfindung die Abgrenzung, die Einheit aufgrund des bestimmten Unterschieds, der ein naturgegebener sein soll. Folgt man dieser Logik, dann unterschieden sich beispielsweise Deutsche und Franzosen wie Affen und Känguruhs. Da aber jeder weiß, daß die Franzosen keine Känguruhs, sondern Menschen sind, ist offenbar der einzige naturgegebene Unterschied der zwischen einem Deutschen und einem Menschen. Jeder Patriotismus in Deutschland wäre ohne diese Unterscheidung vollkommen bedeutungslos geblieben, doch genau aus ihr bezog er seine barbarischen Qualitäten. Und deshalb hatten die Deutschen, die sich als solche fühlten, auch nie etwas davon, sondern die anderen hatten nur immer darunter zu leiden.
Vom Resultat her betrachtet hatte die große Sehnsucht nach Frieden, sauberer Luft und einem gesunden Körper nur den einen Zweck, sich zum neuen Nationalismus das rechte Gewissen zu machen. Die Bombe ist nicht weg, aber dafür ist die Einheit da; die Bevölkerung nimmt ab, aber dafür wird das Volk wiedergeboren; die Abgase fressen weiter am Wald, doch der Bürger wittert Morgenluft. Im Arsenal des diffusen Schreckens hat er neben der Bombe, der Vergiftung und der Verseuchung eine höchst konkrete Bedrohung ausgemacht: die Ausländer. In keiner Frage sind sich daher auch die Deutschen so einig wie in der Frage: »Zu viele Türken?«
Bereits vor fünf Jahren war offenkundig, daß diese Frage, mit welcher ein Leitartikel der FAZ überschrieben war, keinen Zweifel, sondern eine Feststellung ausdrückte, in der die Aufforderung »Türken raus« schon mitklang. Jener Leitartikel brachte stellvertretend einige Argumente des wiederkehrenden Fremdenhasses vor und las sich wie ins Deutsch eines Regierungssprechers übersetzte rechtsradikale Propaganda: »Auch eine noch so dynamisch eingestellte Gesellschaft erreicht eines Tages die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit. In Deutschland sind in den letzten Jahren Inseln fremder Lebensart, fremder Kulturen entstanden. Keiner weiß, was sie (die Türken) wirklich denken, fühlen und wollen. Für ein Land gibt es nicht nur Grenzen der Integrationsfähigkeit, es gibt auch Grenzen der Toleranz. Liberalität muß da ihre Grenzen haben, wo das Zusammenleben der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Der Bogen wird überspannt, wenn in unserer Mitte immer mehr Menschen leben, die wir nicht verstehen, die uns nicht verstehen und die mit uns nicht wirklich zusammenleben wollen – oder können.«
So sähe, wenn es derartiges gäbe, das knapp skizzierte Selbstportrait des deutschen Volkscharakters aus. Man braucht keine Türken zum Beweis heranzuziehen für den Umstand beispielsweise, daß man in Deutschland noch immer besser monatelang tot in seiner Wohnung verschimmelt, als lebendig begraben zu sein inmitten einer Nachbarschaft von potentiellen Blockwarten. Genausowenig bedarf es in Deutschland der Türken, um sich die Grenzen des Verstehens, will heißen die eigene Borniertheit, vor Augen zu führen. Dem Hohn über das gebrochene Deutsch der Ausländer, dem sich die Einheimischen so unschwer assimilieren, korrespondiert die Wut über die eigene Artikulationsunfähigkeit, die in der neuen Vorliebe für die Mundart und im antiintellektuellen Ressentiment sogar als Verdienst erscheint.
Als Kohl vor Jahren seinen mentalen Offenbarungseid ablegte mit der Erfolgsmeldung: »Ich war schon immer gut in Hölderlin«, da wurde er zu Recht Gegenstand der Verachtung, doch mit dem falschen Unterton, als käme es auf Kultur an, nicht nur um Kanzler zu werden, sondern überhaupt; als käme es auf Bildung an und nicht auf Versiertheit, auf Reflexion und nicht auf Bescheidwissen. Kohls sprachliche Visitenkarte ist jedoch nur ein repräsentatives Beispiel für die gesellschaftlich produzierte durchschnittliche Beschränktheit. Diese wiederum kennt keine Schranke außer der, welche sie zwischen sich und den Ausländern errichtet: zu sagen hat niemand etwas, aber alle reden. Je weniger man begreift, desto mehr kommuniziert man. Und wenn keiner etwas versteht, dann versteht man sich untereinander, dann gibt es den Dialog zwischen den Generationen: vom Verstand über die Verständigung zum Verständnis. Beginn und Verlauf dieser Entwicklung in der Bundesrepublik decken sich mit der Zunahme der fremdenfeindlichen Propaganda.
In Berlin beispielsweise muß man nicht Türke sein, um die Kehrseite jenes von Ausländern faszinierten Hochgefühls der Szene kennenzulernen. Bei einer Diskussionsveranstaltung mit Hausbesetzern wurde der eingeladene Referent, der die Hausbesetzerbewegung als eine Mischung aus Rebellion und Heimwerkelei beschrieb,1 mit dem in Deutschland schon immer beliebten Vorwurf bedacht, er sei ein Intellektueller. Wie um diesen Schimpf noch zu steigern fügte jemand hinzu, er solle doch besser wieder nach Westdeutschland an seinen Schreibtisch zurückkehren, hier habe er nichts zu suchen. In André Hellers »heimlicher Hauptstadt der Phantasie« hat nun offenbar auch die Subkultur jenen wachen Instinkt entwickelt, den der Mob dort schon immer besessen hatte: nämlich Kritiker als intellektuelle Ausländer zu identifizieren. Irgendwo hat Adorno einmal geschrieben, daß sich die sture Begeisterung für Neger ohne weiteres mit der Entrüstung über die Unangepaßten vertrage.
Von heute her gesehen war die Verwandlung des Internationalismus der Protestbewegung in den Exotismus der Alternativbewegung, in die Vorliebe für Hopi und Hokuspokus, nur die auswendige Vorbereitung der inwendigen Rückkehr zur Heimat. Dem Rückzug in die Gruppe mit den notwendigerweise kümmerlichen Beutestücken des Imperialismus, wie Drogen, Mythen oder Musik, entsprach der Aufbruch zur Gemeinschaft, aus der kleinen Sekte entsprang die große Gefolgschaft.
Am fernen angeblich ursprünglichen Gemeinwesen sollte das deutsche genesen, und dementsprechend ist auch die neue nationale Identität beschaffen. Mit der Rückverwandlung der deutschen Bevölkerung ins deutsche Volk war der Umweg über die exotischen Regionen der Welt überflüssig geworden und die Angehörigen des neu formierten Kollektivs konnten auf hausgemachte Stammesrituale wie Fackelzüge und Mahnwachen, Thingversammlung und Feldgottesdienst zurückgreifen. Mit anderen Worten: die Begeisterung für ferne Länder und Folklore ging einher mit der Wiedergeburt der Volksgemeinschaft; in der Idolatrie war das künftige Feindbild schon vorweggenommen. In diesem Prozeß wurden die verschiedenen Gruppen dem Bild, das sie von den ganz Anderen hatten, immer ähnlicher, und die regressive Entdifferenzierung der Welt endete mit der Wiederbelebung rassistischer und chauvinistischer Ideologien.
Daß Fremdenhaß und Antisemitismus keine kontingenten Erscheinungen, sondern konstitutiv für die Wiederkehr des nationalen Kollektivbewußtseins in Deutschland sind, schrieb Adorno 1962 in einer Passage, die wie auf die achtziger Jahre gemünzt klingt: »Im Augenblick nährt noch eine besondere Situation antisemitische Regungen. Ich meine den antiamerikanischen Affekt (...) Wirksame Abwehr des Antisemitismus ist von einer Abwehr des Nationalismus in jeglicher Gestalt unabtrennbar.« Damals gab es noch keine Friedensbewegung, kaum ausländische Arbeiter in der Bundesrepublik, und Israel war zwar für das internationale Ansehen der BRD interessant, aber noch nicht für die Rehabilitierung der eigenen Vergangenheit.
Wie der Antisemitismus der realen Erfahrung mit Juden entraten kann, so ist auch die neue Xenophobie nicht abhängig von der Anwesenheit der Ausländer. Deshalb waren Feststellungen wie etwa die Bemerkung Margarete Mitscherlichs, der Antisemitismus sei in Deutschland nicht ausgestorben, obwohl es kaum noch Juden hier gebe, eine implizite Konzession ans antisemitische Ressentiment, wie andererseits die Bestimmung der »Toleranzgrenze« durch den ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen dem Ausländerhaß eine sogar quantitativ bestimmbare Berechtigung zusprach.
Der Sozialdemokrat Kühn erklärte: »Übersteigt der Ausländeranteil die Zehnprozentgrenze, wird jedes Volk rebellisch.« Es bedarf nicht erst der Friedhofsschändungen oder der Brandstiftung in Ausländerunterkünften, also der manifesten Äußerungen von Antisemitismus und Fremdenhaß, sondern es liegt in der Logik des Kollektivbewußtseins beschlossen, daß die gleichgeschaltete Gemeinschaft andere nur als ihr eigenes verzerrtes Spiegelbild wahrnehmen kann. Wenn heute ein Deutscher als Deutscher auftritt, dann wartet er auf eine Gelegenheit.
Die Begeisterung für die Ausländer und deren Lebensgewohnheiten reflektiert bloß die tribalistische Regression der Begeisterten. Daß die Türken dabei, wie es ein Sponti mal salopp formulierte, »rausfallen«, folgert notwendig aus dieser Vergötzung, die umgekehrt die Entwicklung zum neuen Stammesverband bekräftigt. Wenn der Bundestagspräsident erklärte, »daß der Verfassungsbegriff ›deutsches Volk‹ letztlich ethnisch bezogen ist«, dann resümierte er damit zwar die Verwandlung der Bürger in Hammel, aber diese Auskunft hat immerhin den Vorzug, daß sie offen eingesteht, was sich hinter dem propagandistischen Urschrei – hinter Kulturnation und kultureller Identität – verbirgt, wenn es um die Türken geht: Rassismus.
An den Türken wird die Betonung der Differenz, von welcher die kollektive Identitätsfindung zehrt, zum absoluten Unterschied gemacht, der in der Praxis schließlich abgeschafft werden soll: die Türken müssen raus, weil sie draußen sind. Darauf verweisen die im Schwange befindlichen Witzeleien über Türken, denen etwa soviel Esprit innewohnt wie einem Schlagstock. Als dumpfe umgangssprachliche Aufforderung zur Vernichtung stellen sie gewissermaßen einen Ersatz dar für die heute fehlende behördliche Anordnung. Sie strotzen vor hygienischen Metaphern, in ihrer koprophilen Ausdrucksweise lebt der verpönte Trieb fort, der, auf die Türken projiziert, Lustgewinn und Feineinstellung besorgt. Darin drückt sich kein irrationales Festhalten an alten Vorurteilen aus, sondern es sucht sich die abstrakte Wut der Massen über die Erkenntnis, daß es auf keinen von ihnen ankommt, ein konkretes Objekt. In einer sprachlichen Sonderbehandlung sollen diesem die letzten menschlichen Bestimmungen ausgetrieben werden. Zum Ding, zum Tier, zu Dreck und Gestank gemacht, wovon nicht allein die grassierenden Witzeleien Zeugnis ablegen, erscheinen die Türken als Objekt einer notwendigen und legitimen Säuberung der Gesellschaft. Dem antitürkischen Witz kommt dabei die Funktion zu, den angeblich gefährlichen Feind in schwache, verfolgte Opfer zu verwandeln. Die Nichtswürdigkeit der Opfer steht symbolisch für den jämmerlichen Protest, den die Witzbolde gegen ihre eigene Nichtigkeit erheben. Im antitürkischen Vernichtungshumor, der auf augenfällige Weise die Antiquiertheit des Begriffs vom Vorurteil demonstriert, ist deshalb Auschwitz immer präsent. Er ist durchweg nach dem Muster des Graffiti gewirkt, das die wachsende Bedeutung der öffentlichen Toiletten als seelische Bedürfnisanstalten dokumentiert: »Was die Juden hinter sich haben, das haben die Türken vor sich.« Die Witzbolde wollen schnell zur Sache kommen, doch der blutige Ernst, den die vernichtungsbereiten Paranoiker mit standardisiertem Haß beschwören, läßt auf sich warten. Und darum lebt das angedrehte Gelächter der versagenden Gegenwart auch von der Erinnerung an eine erfüllte Vergangenheit.
II.
Marx bemerkt in seiner Einleitung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, die Deutschen hätten in ihrer Geschichte immer nur die Restauration der anderen Völker geteilt, nie aber deren Revolutionen. Dieses Resümee war, wie man heute sieht, leider auch eine futurologische Prognose. Das Neue war das Immergleiche, es gab keine Revolutionen, stattdessen Reprisen. Bei diesem immerwährenden Dakapo erwiesen sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als monotone und besonders zählebige Grundströmung: sie sind das Ostinato der neueren deutschen Geschichte.
Staatliche Gratifikationen für die Massen, wie etwa die Sozialreformen Ende des letzten Jahrhunderts, oder schließlich die Integration der organisierten Arbeiterbewegung in das Regelsystem der Macht, waren ein allzu dürftiger Ersatz für das versprochene Paradies auf Erden. Deshalb sollte es im Diesseits wenigstens eine richtige Hölle geben – für die Juden, die Fremden, die Ausländer, an denen sich die Abgerichteten wieder aufrichten konnten. Nur endete dieser Vertrag der sozialen Wut mit der Macht regelmäßig in einem Fiasko: die Opfer, an denen man sich schadlos halten wollte, wuchsen zu Leichenbergen an, doch die Massen hatten nichts davon. Weil sie wußten, daß ihre eigene Niederlage schon im voraus beschlossen war, sollte es vor ihnen noch die anderen erwischen. Die Volksgemeinschaft brüllte diese Erkenntnis schließlich in die ganze Welt hinaus: »Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt...«
Heute müssen sich die Deutschen mit einer Notlösung begnügen: der Haß auf die Ermordeten hat diese überlebt, je nach Konjunkturlage geht er gegen die Toten, gegen Amerika, gegen Israel; und weil die Siegermächte einen dritten deutschen Weltkrieg für immer vereitelt haben, muß sich der fortdauernde Groll gegen das Ausland mit den Ausländern behelfen.
Unter diesem Blickwinkel betrachtet eignet der jüngeren deutschen Geschichte eine eigentümliche Resistenz gegen jede Niederlage. Die Folgen rehabilitierten jeweils die Voraussetzungen, niemals gab es einen Neuanfang, sondern immer nur den Wiederaufbau. Dieser bezog seine Dynamik nicht aus dem radikalen Bruch mit dem Alten, sondern aus der Nähe zu ihm: seit es kein Propagandaministerium gibt, wetteifern die Massenmedien mit den Regierungssprechern; nach der Abschaffung einer alles durchdringenden Geheimpolizei ist nach dem Muster der beliebten TV-Sendung »Aktenzeichen XY ungelöst« allmählich ein freiwilliger kollektiver Spitzel entstanden; an der Nahtstelle von Masse und Macht befindet sich heute kein Blockwart, sondern der als Kontaktbereichsbeamte sehr viel präziser bezeichnete Funktionsträger bürgernaher Herrschaft.
Mit den Ideologien verhält es sich nicht anders. Die Deutschen sind heute nicht etwa trotz, sondern wegen Auschwitz Antisemiten. Wegen Auschwitz halten sie sich für das neue auserwählte Volk, für die Juden unter den Nationen der Welt, denen als Volk der atomare Holocaust drohe. Nicht zufällig kehren die paranoiden Verschwörungsprojektionen wieder bei den Versuchen, die deutsche Geschichte wiedergutzumachen, einem Unternehmen, bei dem sich die literarischen Konkursverwalter der Protestbewegung besonders hervorgetan haben.
Ein Beispiel von vielen ist der unter dem Namen Gerd Bergfleth wiederauferstandene Eugen Dühring, der bereits vor Jahren eine feuilletonistische Umwälzung der Wissenschaft vorlegte, die zu einer Neufassung des – schon immer falschen – Diktums von Bebel zwingt, der Antisemitismus sei der »Sozialismus des dummen Kerls«. Bergfleth schreibt: »Den entscheidenden Faktor der Linkswende (in der neuen Aufklärung nach dem Kriege) aber bildete die zurückgekehrte deutsch-jüdische Intelligenz, die eine letzte Chance erhielt, Deutschland nach ihren weltbürgerlichen Maßstäben umzumodeln – ein Prozeß, der so vollständig gelang, daß für zwei Jahrzehnte von einem eigenständigen deutschen Geist nicht mehr die Rede war.« Der eigenständige deutsche Geist hat, wie Bergfleths »Kritik der palavernden Aufklärung« demonstriert, nicht nur Kriegsniederlage und Reeducation überlebt, sondern genau daraus seine ihm eigenen Qualitäten bezogen: »Es ist auffällig, daß das aufklärerische Judentum in der Regel keinen besonderen Sinn für das besitzt, was deutsche Eigenart ist, etwa die romantische Sehnsucht, die Verbundenheit mit der Natur oder die nicht auszurottende Erinnerung an eine heidnisch-germanische Vergangenheit.«
Das ist der alte Frontbericht vom Kampf der deutschen Eigenart gegen die palavernde, das heißt mauschelnde Aufklärung, die pikanterweise als – vergebliche – Bemühung bezeichnet wird, das germanisch Unbewußte auszurotten – ein Gedanke, der im neo-patriotischen Kulturkampf gegen die »Kolonialisierung der Köpfe« seinen Platz hat. Insofern muß Bebels Definition revidiert werden: der Antisemitismus heute ist der Antiimperialismus des Paranoikers.
Die antijüdischen Begleiterscheinungen bei der Rehabilitierung der deutschen Wehrmacht in Bitburg waren nur das vorerst letzte Beispiel für die Fortzeugung dieser Haltung, die ein israelischer Publizist auf die folgende Formel gebracht hat: »Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen.«
Den von Grillparzer formulierten Dreischritt: »Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität« haben die Deutschen längst hinter sich, die Alternative »Sozialismus oder Barbarei« ist entschieden. Seither gibt es nur noch Remakes, die den Strophen im Endloslied vom Mops, der in die Küche schleicht, gleichen. Dies macht auch die zeitliche Fixierung und die soziale Lokalisierung von rassistischen Äußerungen so schwierig für den Fall, daß man einmal vergißt, deren Quelle exakt zu notieren. Sie sind meist so austauschbar, daß für einen völlig Außenstehenden der erste literarische Kontakt mit der neueren deutschen Geschichte verwirrend sein muß: warnte Wilhelm II. vor der Islamisierung Deutschlands und der CDU-Fraktionsvorsitzender Dregger vor der »gelben Gefahr«?
Alle Grenzen verwischen sich angesichts der Ausländer, und man begreift allenfalls, daß die Geschichte der Humanität in Deutschland die Geschichte des Aufstiegs von Gustav Noske zu Heinrich Lummer ist. Vom Sozialdemokraten Noske ist der geflügelte Ausspruch der Konterrevolution: »Einer muß der Bluthund sein« überliefert, mit dem er 1919 den Auftrag gab, die Revolutionäre niederzukartätschen. Vom Christdemokraten Lummer wurde eine analoge Sentenz nicht berichtet, als in der Silvesternacht 1983 sechs Ausländer unter der Aufsicht des Wachpersonals in einem Abschiebegefängnis verbrannten. Lummer war weniger lakonisch: »Da es leider keine Möglichkeit gibt, mit drastischen rechtlichen Mitteln vorzugehen, müssen wir eine Reihe von anderen Maßnahmen überlegen.« Mangels revolutionärer Umtriebe muß sich der ehemalige Westberliner Innensenator damit zufrieden geben, in einem anderen Fach den Noske zu geben: in der Fremdenfeindlichkeit.
Noske war auf diesem Gebiet schon vor dem ersten Weltkrieg zu einem Experten herangereift. In einer Reichstagsdebatte 1909 wandte er sich als Sozialdemokrat gegen die Beschäftigung von Schwarzen und Chinesen auf Schiffen des Norddeutschen Lloyd: »So weit geht unsere Solidarität nicht, daß wir den Chinesen alles Gute wünschen, während unsere eigenen Arbeiter auf der Straße liegen bleiben; wir erklären, daß uns natürlich das Hemd näher ist als der Rock, daß in erster Linie dafür zu sorgen ist, daß der deutsche Arbeiter unter annehmbaren Existenzbedingungen zu leben hat, und wenn das erreicht ist, wollen wir allerdings den Chinesen gern dazu helfen, zu einer höheren Kulturstufe zu gelangen.« Das ist der zeitlose Brustton des deutschen Gewerkschaftsfunktionärs, in welchem der Gedanke des Sozialismus die Massen erreicht, damals aus dem Reichstag, heute vom Bildschirm. Solidarität ist ihm zufolge Kumpanei auf »einer höheren Kulturstufe«. Damit ist auch das Zauberwort gefallen, mit welchem seit jenen Tagen jede Schandtat in eine Wohltat verwandelt wurde: Kultur. »Kolonialpolitik zu treiben, kann unter Umständen eine Kulturtat sein«, verkündete 1907 ein prominenter Sozialdemokrat auf dem Sozialistenkongreß in Stuttgart. Sieben Jahre später stimmten alle »die Bebels, die borniertesten Verteidiger der repressiven Kultur« (Adorno) den Kriegskrediten zu, um eine Kulturmission zu erfüllen.
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs eröffnete sich für die Deutschen nicht nur ein weites Feld solchermaßen verstandener Kulturpolitik, sondern es ergaben sich auch exzellente Bedingungen, die sukzessive erworbenen Ausdrucksformen von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gewissermaßen unter Laborbedingungen anzuwenden. Als Testperson griff man sich die Juden in den von der Armee okkupierten Gebieten Osteuropas, und nach dem Rotationsprinzip durfte in der Folgezeit jeder am Experiment teilnehmen: Radau-Antisemiten und akademische Judenhasser, Lebensreformer und Naturschützer, völkische und christliche Antisemiten, Deutschnationale und gelegentlich auch Kommunisten.
Unter Berufung auf einen überstaatlichen Kulturbegriff, der heute wieder im Schwange ist, empfahlen damals jüdische Vereinigungen im Deutschen Reich den Politikern eine Art Wiedervereinigung mit den osteuropäischen Juden, den »Pionieren des Deutschtums im Osten«, die dort angeblich »einen festen Damm gegen das Vorrücken östlicher Unkultur und Barbarei bildeten, doch der völkische Unvereinbarkeitsbeschluß der Behörden und Militärs konnte durch diese Offerte nicht erschüttert werden: wenig später ließ man die jüdischen Kriegsteilnehmer auszählen, um schon vor Kriegsende den Schuldigen an der Niederlage zu ermitteln. Zwar erklärte der deutsche Generalstab in einer Proklamation »An die Juden in Polen«, die deutsche Armee sei eigentlich keine, sondern ein revolutionäres Kommando, das der Freiheit und Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfe, doch dieses einzigartige Dokument deutscher Freiheitsliebe und Revolutionsbereitschaft, das in über hunderttausend Exemplaren verteilt wurde, war nur ein taktisch geplantes und mit Erfolg produziertes Mißverständnis: Tausende von polnischen Juden nahmen es für bare Münze – schließlich kam Ludendorff aus dem Land Heines und Goethes – und wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland befreit oder von der gegnerischen Seite als Kollaborateure massakriert. Zehntausende flohen gegen Kriegsende vor den in Osteuropa beginnenden Pogromen über die deutsche Grenze, ein Flüchtlingsstrom, der nach 1918 noch anschwellen sollte, und bildeten – vor allem in Berlin – nun die leicht identifizierbare Inkarnation einer völkischen Wunschvorstellung: die leibhaftige Einheit von Jude und fremdem, schwarz gekleidetem Ausländer – sozusagen jüdische Neger.
Wer als Flüchtling kam, mußte anrüchig sein, denn er hatte in den Augen der Eingesessenen die Loyalität zu seinem Heimatland aufgekündigt, er war ein Landesverräter. Deshalb sollte er auch keine Heimstatt finden und, weil er hilflos war, keine Hilfe. Schon damals wurden die Neuankömmlinge nach einer letztlich unerheblichen Unterscheidung in politische und Wirtschaftsflüchtlinge eingeteilt. In den Augen aller waren sie zuerst einmal Störenfriede, unfähig zur Gefolgschaft und – wie es heute heißt – nicht integrierbar. Die allgemeine Angst vor dem Chaos hatte selbst diejenigen erfaßt, die um das Wohl der Flüchtlinge besorgt waren: »Der eigentliche Feind des polnischen Juden ist nämlich die übertrieben individualistische Einstellung seines Innern«, hieß es in einem Bericht der Sozialistischen Monatshefte über »Ostjüdische Arbeiter in Deutschland«. Dieses implizite Lob für die Deutschen hat sich bis in die neuesten Charakterisierungen von Fremden erhalten und taucht beispielsweise 1980 in einer Passage des Verfassungsschutzberichtes auf, in welcher den Türken ein »heftiger, schwer disziplinierbarer Volkscharakter« attestiert wird.
Die Ostjuden kämen der liberalen Wirtschaftsordnung wegen in Scharen nach Deutschland und schleppten die Symptome der Krise und der Asozialität ein, übertönten die Antisemiten die den Massen dämmernde Erkenntnis, daß diese Ordnung sie selbst tendenziell zu überflüssigen Menschen machte. Die Ostjuden ihrerseits mußten bald nach der Ankunft in Deutschland die Illusion begraben, es gäbe noch andere als ökonomische Gründe für die Wahl des Zufluchtsorts. ln der ersten seiner gedruckt vorliegenden Reden beschrieb Hitler stilbildend für den gegenwärtigen veröffentlichten Fremdenhaß nicht nur, mit welchem Erfolg die Ausländer den Deutschen die Arbeitsplätze wegnähmen, sondern auch, daß im Begriff des Wirtschaftsflüchtlings die Rechtlosigkeit der Person oder, antisemitisch ausgedrückt, deren Ausgrenzung als Fremdkörper vorausgesetzt ist: »Vergleichen Sie die l Million Arbeiter in Berlin vom Jahre 1914 mit dem, was sie heute sind: Arbeiter wie damals. Was hat sich an ihnen geändert? Sie sind arm geworden. Und nun suchen Sie nach jenen 100.000 Ostjuden, die in den ersten Kriegsjahren einwanderten. Sie finden sie heute überhaupt nicht mehr. Der größte Teil von ihnen hat sich ›gemacht‹ und sitzt bereits im Auto. Nicht weil sie gescheiter sind (...), sondern aus dem einfachen Grunde, weil diese 100.000 von vornherein niemals bereit waren, redlich mitzuarbeiten in einem gesunden Volkskörper zu gemeinsamem Gedeihen, sondern im vornherein den gesamten Volkskörper als nichts weiter ansehen denn als Mistbeet für sich selber.«
Einen ersten Erfolg konnte die kollektive Überfremdungsangst 1918 mit dem vorübergehenden Grenzschluß verbuchen, der für die östlichen Grenzen des Deutschen Reichs mit dem ausdrücklichen Hinweis auf eine von den Flüchtlingen drohende Verseuchungsgefahr angeordnet wurde. 1920 machte sich der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Ernst, genau die Sorgen, von denen seine Nachfolger heute wieder gequält werden: »Die Ostjudenplage wird, da es sich hier nicht nur um lästige, sondern höchst gefährliche Ausländer handelt, in ihrer jetzigen Duldung und wohlwollenden Behandlung künftighin politisch, wirtschaftlich und gesundheitlich die furchtbarsten Gefahren zeitigen.« Deshalb legte er als Behördenchef nicht nur eine besondere Einsatzfreude bei den legalen Pogromen, den Razzien, an den Tag, sondern empfahl auch, was rund sechzig Jahre später unter die »Reihe von anderen Maßnahmen« fiel: das Sammellager, die Abschiebehaft. Beide sind Einrichtungen einer modernen Entdeckung: der Heimat. Wem nicht zwangsweise wieder zu einer solchen verholfen werden konnte, indem man ihn meist in den sicheren Tod repatriierte, dem blieb als einzige Heimat das Lager.
Unter welchem bis ins Detail reichenden Wiederholungszwang die Gegenwart steht, beleuchtet der folgende Zeitungsbericht über eines der 1921 außerhalb Berlins errichteten Internierungslager: »Vor einigen Tagen ist im Lager Stargard eine mit 80 Mann belegte Baracke abgebrannt. Da absolut keine Löschmittel zur Verfügung standen, die Wachmannschaften offenbar, entgegen ihrer Pflicht, nicht rechtzeitig einsprangen, brannte die ganze Baracke nieder. Da die Baracke verschlossen war, sprangen die Internierten zum Fenster heraus. Sie wurden daraufhin von den Wachmannschaften beschimpft und zum Teil mit Kolbenschlägen mißhandelt. Am folgenden Tage beim Appell wurde den Internierten angedroht, daß sie, falls nochmals eine Baracke in Brand geraten würde, nicht mehr herausspringen dürften, sie sollten ruhig verbrennen.«
Im November 1923 wurde die Frage des sozialdemokratischen Abgeordneten Davidsohn »Wann findet – wenn das so weiter geht – zu Berlin oder sonstwo in Deutschland der erste fidele Judenpogrom statt?« beantwortet: der Mob zog prügelnd und plündernd durch das Berliner Scheunenviertel. »Der Nazismus stieß seinen ersten Schrei aus«, schrieb Döblin. Hier wurde geprobt, was später, als alle mitmachen durften, Programm wurde. Die Sozialdemokraten taten nichts, was den Ehrentitel »Judenschutztruppe«, den ihr die Nazis verliehen, hätte rechtfertigen können, und die Kommunisten waren gerade dabei, die Faschisten als Hilfstruppen der Revolution zu gewinnen. Nie war der Antisemitismus und der Ausländerhaß später wütender als in den Jahren zwischen 1919 und 1923, in denen die Ostjuden als Objekt der Einübung auf Kommendes dienten. Die Rücksichten, die noch deutschen Juden galten, fielen weg. Nach 1933 wurde der Mob an die Kandare genommen und der Antisemitismus in staatliche Regie. Die wilden Pogrome von 1923 waren also das Vorspiel zu dem ein Jahrzehnt später bürokratisch exekutierten »Antisemitismus der Vernunft« (Hitler), der schließlich die industrielle Massenvernichtung vorbereitete.
Die ostjüdischen Flüchtlinge nach 1918 waren die Verkörperung einer unerlaubten Schande: sie hatten nicht einmal den Krieg verloren. Sie waren einfach da. Sie waren zwischen den Fronten gewesen, das beleidigte die Soldaten; sie kamen aus den Zwischenräumen der Gesellschaft, das provozierte die Deklassierten, und sie waren die Parias der Geschichte, das verziehen ihnen die besiegten Deutschen, die sich als Proletarier unter den Völkern fühlten, nicht. Von der Propaganda des nationalen Befreiungskampfes gegen die Siegermächte, dessen Parolen oft bis aufs Wort identisch sind mit den patriotischen Bekenntnissen der Friedensbewegung, führte ein direkter Weg zum Pogrom: weil die »auswärtigen Fronvögte« – wie es damals hieß – nicht greifbar waren, hielten sich die »Unterlinge« – wie es heute (bei Hochhut) heißt – an die Ostjuden, von denen das »besetzte Land« ersatzweise befreit werden sollte; und 1938 konnte man über das Berliner Scheunenviertel, das mittlerweile »befreites Gebiet« war, in der bebilderten Rückschau einer Nazibroschüre lesen: »In dem von Ostjuden besetzten Gebiet Berlins mußte sich der Deutsche wie im Feindesland fühlen. Er wurde beobachtet, umlungert, verfolgt.«
Dem Haß auf die Ostjuden korrespondierte aber auch ein bis zur Hochstimmung gesteigertes Interesse an ostjüdischer Kultur. Von der Euphorie, mit welcher ostjüdische Tradition von einem – sehr kleinen und meist aus Intellektuellen bestehenden – Teil der deutschen Juden rezipiert und spöttisch nach einem ihrer Hauptergriffenen Bubertät genannt wurde, soll hier nicht die Rede sein, sondern von der Faszination, die sie auf die nichtjüdischen Deutschen ausübte. Auf die Ostjuden wurde dabei projiziert, was die Deutschen sich anschickten herzustellen: die Volksgemeinschaft. Aus der Vorstellung des wandernden Juden wurden die Veranstaltungen des marschierenden Deutschen, aus dem Bild der völkischen Reinheit und der Vermehrungsfreudigkeit, an dem beispielsweise auch Bebel Gefallen gefunden hatte, wurden die Nürnberger Gesetze und die Nazistiftung für Mutter und Kind, der Lebensborn.
In einer Eloge auf den Maler Hermann Struck, den er während des Ersten Weltkriegs in Wilna kennengelernt hatte, schrieb ein begeisterter Deutscher: »Ich erlebte an ihm und an der Umwelt die Kraftquelle des Judentums, die es über die Diaspora der Jahrtausende erhalten hat: die Einheit von Volkstum und Religion, Nationalität und Glauben und erlebte zugleich die dichte, völlig unzersetzte Atmosphäre, die hier noch um Gottesdienst und religiöses Handeln, um Kult und liturgische Bräuche waren. Die Stärke des Ostens gegenüber dem vielfach zerfallenen Westen wurde hier im jüdischen Bereich fühlbar.«
Ganz ähnliche Motive liegen der modischen nostalgischen Beschäftigung mit der Geschichte der Ostjuden heute zugrunde. Dieses Interesse ergänzt das jahrelang offiziell gehegte Stereotyp von den deutschen Juden als allesamt nobelpreisverdächtig durch ein analoges Klischee: aus Einstein wird Tewje, der Milchmann. Man trifft in jeder nächstbesten Wohngemeinschaft auf die verklärenden melancholischen Photographien von Vishniac als Poster und muß sich die neueste Platte mit jiddischen Liedern anhören mit dem Hinweis, sie sei von einer deutschen Gruppe, die aus der »Liedermacherbewegung« komme, produziert. Dieser Zusammenhang ist nicht zufällig: die mörderische Vergangenheit wird als Kulturgeschichte begriffen. Daß Menschen dabei umgebracht worden sind, spielt allenfalls am Rande eine Rolle, wie das Wort vom »Ethnozid« oder vom »kulturellen Holocaust« verrät. Da die ostjüdische Kultur hierdurch außerdem grenzüberschreitend mit der deutschen wiedervereinigt und regermanisiert wird als Teil einer untergegangenen Kulturvielfalt – im Unterschied zur beklagten Kolonialisierung durch die Coca-Cola-Kultur –, sind die Opfer eigentlich die Deutschen, denen man etwas getan hat, als die Juden umgebracht wurden. So werden aus sinnlos Ermordeten sinnstiftende Tote, die das Lebensgefühl der deutschen Selbstfindung stärken.
III.
Vierzig Jahre nach Kriegsende befinden sich die Deutschen nach den Worten ihres Bundespräsidenten an der Schwelle zum gelobten Land: »Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt mit dem Einzug ins verheißene Land begann. Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.« Diese ausgeborgte Verheißung hatten die Deutschen nach der internationalen Blamage ihrer Versöhnungsfeiern 1985 bitter nötig, denn Bitburg und Belsen stehen nicht für ein vierzigjähriges Pariadasein der Bundesrepublik, das nun zu Ende ging, sondern dort wurde der Bankrott der deutschen Nachkriegspolitik offenkundig. Vierzig Jahre nach der militärischen Kapitulation des deutschen Reichs legte die Republik ihren moralischen Offenbarungseid ab; wozu es damals der alliierten Armeen und besserer Waffen bedurft hatte, das wurde 1985 von einer der gleichgeschalteten Meinung in der Bundesrepublik unbekannten Wunderwaffe erzwungen: der Waffe der Kritik und einer funktionierenden Öffentlichkeit im demokratischen Ausland, welche die Selbstdarstellung des »neuen Deutschland« als Propagandalüge entlarvten.
Dem religiös verbrämten optimistischen Schwindel, die deutsche Nachkriegsgeschichte sei eine zweite jüdische Heilsgeschichte, korrespondiert die antiimperialistische Paranoia, die Deutschen seien das auserwählte Volk einer Verschwörung der Supermächte. Wie um Hitler ein zweites Mal recht zu geben, daß sich das Schicksal Deutschlands an der Judenfrage entscheide, kaprizierten sich die Deutschen in einer absurden Verwechslungskomödie auf die Rolle des eingebildeten Juden.
Die neuerdings auf Traditionen, Mythen und Symbole versessene Gesellschaft braucht derlei Mutationen, um dem trivialen Geheimnis ihrer Herkunft nicht auf die Spur zu kommen. Die Deutschen hätten den Brand in der Westberliner Abschiebehaftanstalt nicht nur als pädagogische Maßnahme präsentieren dürfen, um potentielle Asylsuchende in aller Welt abzuschrecken, sondern auch als Jubiläumsveranstaltung für die hundertjährige Geschichte des Rassismus in Deutschland. Über eine andere Berliner Silvesternacht ungefähr 100 Jahre zuvor, berichtete Eduard Bernstein in seiner »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung«: »Organisierte Banden zogen in der Friedrichsstadt vor die besuchteren Cafés, brüllten, nachdem allerhand Schimpfreden gehalten worden waren, tatkräftig immer wieder ›Juden raus‹, verwehrten Juden oder jüdisch aussehenden Leuten den Zutritt und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüsteneien mehr.«
Immerhin gab es damals noch eine spontane Protestversammlung der Berliner Arbeiterklasse, welcher der Gedanke des »Kommunistischen Manifests«, die Arbeiter hätten kein Vaterland, noch nicht ausgetrieben oder in sein Gegenteil, die Aufforderung zum glühenden Patriotismus, verkehrt worden war.
Der historische Pogrom und der aktuelle Brand, die damalige handgreifliche Bürgerinitiative und der tödliche Verwaltungsvollzug von heute, markieren nicht nur die Entwicklung der Instrumente, die zum Arsenal des völkischen Ressentiments gehören, sondern sie reflektieren auch die zwei Seiten eines gesellschaftlichen Bündnisses, das ungebrochen fortbesteht: das Bündnis von Mob und Elite, der Vertrag zwischen Antisemitismus, Fremdenhaß und Macht. Diese Übereinkunft schließt eine Arbeitsteilung ein, die sich auch nach der Demokratisierung von Mob und Elite erhalten hat. Während die Rollkommandos gewissermaßen empirische Sozialforschung treiben, um durch teilnehmende Beobachtung herauszufinden, ob sich etwa einer rührt, ist man in den Büros mit der Auswertung beschäftigt; dort formalisieren und normieren Wissenschaftler, Verwaltungsexperten und Politiker die rechtsetzende Praxis jener gewalttätigen Demoskopie. Über die Bedeutung des Unterschieds zwischen unkontrollierten Ausbrüchen des Hasses und behördlich kalkulierter Diskriminierung sind sich die modernen Machthaber einig. Hitler empfahl schon in seinen ersten politischen Erklärungen, den Antisemitismus aus »rein gefühlsmäßigen Gründen« durch einen »Antisemitismus der Vernunft«, d.h. durch systematisch entrechtende Verwaltungsakte zu ersetzen, und wie man weiß, waren blutrünstige Sadisten bei der industriellen Massenvernichtung nicht erwünscht, sondern korrekte Beamte.
Wenn heute Politiker in der Bundesrepublik vor Ausländerfeindlichkeit warnen, dann ist diese Warnung in der Regel ein Symptom der Krankheit, die sie diagnostizieren. Wenn ein Kommentator der liberalen Frankfurter Rundschau das rassistische Manifest einiger Treitschkes von heute, die öffentlich die Ausweisung der Ausländer fordern, für eine »überwiegend vernünftig formulierte Diskussionsgrundlage« hält und meint, »daß das Ausländerproblem in der Bundesrepublik öffentlich mit kühler und humaner Vernunft angepackt werden kann«, dann hört sich das wie eine Drohung an. Sie kommt der Vorstellung vom Krieg ohne Haß ganz nahe, deren Verwirklichung Adorno als vollendete Inhumanität bezeichnet hat und stellt eine Neuauflage des Traums dar vom noblen Antisemitismus, den Hans Blüher, einer der Wortführer der deutschen Jugendbewegung nach dem ersten Weltkrieg, träumte: »Darum ist reiner Antisemit nur der, der ohne Haß gegen die Juden ist.«
Kein Träumer hingegen ist der gegenwärtige Bundeskanzler. Es mag noch so tollpatschig aussehen, wenn er sich auf der politischen Bühne bewegt und noch so debil klingen, wenn er den Mund aufmacht – er verkörpert die ungebrochene Fortdauer politischer Herrschaft, die im Deutschland des 20. Jahrhunderts schon ganz andere Gestalten sich ausgesucht hat. Als nach der Demokratisierung der Elite austauschbarer Repräsentant aller Unmündigen kann er nur nach einer Devise verfahren, die schon Bismarck als Geheimnis moderner Herrschaft ausgeplaudert hat: »Ich bin ihr Führer«, sagte er, »also muß ich ihnen folgen.«
Wenige Tage nach seinem Amtsantritt kündigte Kohl im Fernsehen an, seine Regierung werde sich mit der »Ausländerfrage« beschäftigen, denn er gäbe eine »zu große Zahl türkischer Mitbürger«. Für deren Rückführung wolle er sich einsetzen, doch solle dies »menschlich anständig« geschehen. Mit diesem aktuellen Ausdruck des Bündnisses zwischen Volksempfinden und Verwaltung gelang dem Kanzler auch eine unvermeidliche Reprise: in einer Rede vor SS-Führern in Posen hatte Himmler 1943 den gestreßten Gehilfen des Massenmords bescheinigt, daß sie »abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen, anständig geblieben« seien. Abgesehen von einem kleinen Silvesterumtrunk waren auch die Wachleute des Berliner Abschiebegefängnisses anständig geblieben. 1984 wurde das Ermittlungsverfahren gegen sie mit der Begründung eingestellt, es habe sich »kein pflichtwidriges Verhalten der vier Beamten erkennen lassen.«
Die allgemeine Enttäuschung darüber, daß man die Ausländer nicht so einfach anzünden kann wie vordem die Juden, weil es sich zumeist um Bürger mit dem Paß eines Nato-Mitgliedstaats handelt, entlädt sich periodisch in Brandstiftungen an Ausländerunterkünften und treibt die bürokratische Phantasie der Behörden an. Diese überbieten sich wechselseitig bei ihrem Bemühen, den Asylsuchenden wieder abschiebefähig zu machen, und in der Praxis ist das Recht auf Asyl nur noch eine von der Willkür gewährte Gnade geworden. Wem sie als Ausländer nicht zuteil wird, der darf sich damit trösten, nicht nur psychologisch, sondern realpolitisch zur deutschen Wiedervereinigung sein Scherflein beigetragen zu haben, denn die für Flüchtlinge aus Südostasien durch eine Vereinbarung der beiden deutschen Regierungen gesperrte Grenze zwischen den zwei Staaten hat sich darüber in ein einigendes Band verwandelt.
Die beabsichtigte verfassungsmäßige Annullierung des Asylrechts wäre identisch mit der formellen Proklamation der Volksgemeinschaft. Dann bliebe nur noch, auf die friedliche Lösung zu hoffen, die alle befürchten: daß die Deutschen wirklich aussterben.
1985
Kommentierte Auszüge aus der Berichterstattung der Lüneburger Post (Nachrichtenblatt der Alliierten Militärregierung) über den Bergen-Belsen-Prozeß (Mitte September bis Mitte November 1945)
»Alle sechsundvierzig Angeklagten werden zusammen vor Gericht erscheinen, eine Anklagebank wird für die männlichen Angeklagten bereitgestellt, eine zweite für die neunzehn Frauen. (Nr. 11, 11.9.45) … Die Beweisaufnahme ergab, dass Zoddel das Durcheinander bei der Befreiung des Lagers dazu benutzte, um eine Gefangene, ein junges polnisches Mädchen, um den Haufen (sic!) zu schießen. (ibidem) Am ersten Tage der Verhandlung gegen Kramer und Genossen erklären sich alle Angeklagten nicht schuldig.«
Die Prinzipien angelsächsischer Strafjustiz, auf denen auch das Procedere der Militärgerichtsbarkeit fußt, dokumentieren die Unangemessenheit klassischer Rechtsbegriffe angesichts der Massenvernichtung. Umso entschiedener insistiert die Anklage auf der genauen Einhaltung bürgerlicher Rechtsbegriffe, wie zum Beispiel der individuellen Verantwortlichkeit, der Schuldzumessung. So zeigt sich auch in der Justiz, dass die Theorie ihren Gegenstand nicht mehr unter angenommenen Bestimmungen der Vernunft fassen kann – als einigermaßen hilfloser Ausweg aus diesem Dilemma blieb, nicht nur im Belsen-Prozeß, die bescheidene Hartnäckigkeit, mit der Sieger und Überlebende an den vom Faschismus vernichteten Grundsätzen festhielten. Daher oft auch die in gewisser Weise »altertümelnde« Sprechweise, das feierliche Pathos:
»Die Angeklagten werden beschuldigt, zwischen 1. Oktober 1942 und 30. April 1945 im KZ Bergen-Belsen als Mitglieder seiner Verwaltung und verantwortlich für das Wohl der dort Untergebrachten, die Gesetze des Rechts wie des Krieges verletzt zu haben, sich zusammengetan zu haben, alle Insassen übel zu behandeln. Dadurch haben sie den Tod eines britischen Staatsbürgers, zweier Ungarn, eines Franzosen, eines Holländers, eines Belgiers, eines Italieners, eines Staatsangehörigen von Honduras, die alle namentlich genannt wurden, darüber hinaus den weiteren Staatsangehörigen Alliierter Länder unbekannten Namens verursacht. Ferner werden die Angeklagten der Misshandlung namentlich genannter und namenloser Angehöriger alliierter Länder beschuldigt. (Nr. 13, 18.9.45)«
Bis zur Befreiung durch die Engländer kamen im KZ Bergen-Belsen ungefähr 13.000 Menschen um, an den Folgen starben in den ersten Monaten nach der Befreiung ungefähr noch einmal so viele.
»UNBESCHREIBLICHE REVUE DES ABGRUNDES (Titel Nr. 14, 21.9. 45) … Die Totengruben von Belsen im Film … Man sah den SS-Wachen, von denen eine ganze Reihe auf der Anklagebank den Film zusahen, an, daß sie diesen Dienst nicht gerne verrichteten. [D.h. unter der Aufsicht der Engländer die zahllosen Leichen in einem Massengrab zu transportieren.] Sie schienen sich ein wenig entwürdigt zu fühlen, die namenlosen Leichen in die Grube tragen zu müssen, sie schleppten sie wie lästige Säcke, warfen sie achtlos zu den Haufen der anderen.«
Der Titel, nicht nur an dieser Stelle, und weitere Passagen – vgl. erstes und unten folgende Zitate – der Berichterstattung illustrieren trefflich Blochs Überlegungen im Essay »Der Nazi und das Unsägliche«: wie jeder Vergleich zur Geschmacklosigkeit gerät. Unbeholfen rettet sich die beschädigte Sprache in vermeintlich nicht kompromittierte literarische Analogien, und so liest man oft den Vergleich mit Dantes Hölle. Dieses gebildete quid pro quo, erstens das den Begriff suchende Stammeln nach dem bloß äußerlichen Abklingen des Schocks, verkennt den Charakter des Nationalsozialismus völlig.
Das geschichtliche Denken, gewohnt, auch noch in den größten Verbrechen der Vorgeschichte einen zumindest unvermeidlichen Tribut an den weltgeschichtlichen Auftrag einer zu vernünftigen Verhältnissen emporstrebenden Menschheit zu sehen, oder – wie die abendländische Literatur in ihren klassischen Tragödien von Sophokles bis Goethe es an herausragenden Einzelschicksalen dargestellt hat – als Tribut des Lasters an die Tugend. Noch in seiner grausamsten Gestalt erschien das Verbrechen verständlich, und auf der Folie großer Gedanken gewann selbst der gräßlichste Übeltäter eine eigentümliche moralische Größe.
Doch nichts von alledem im Nationalsozialismus, gegen welchen Dantes Inferno nur das Versagen traditioneller Begriffe und Vorstellungen enthüllt. Denn einem Eisenbahnbeamten, der fahrplanmäßig die Züge in ein Vernichtungslager abfertigt, eignet nichts Diabolisches; die Herstellung von Zyklon B erfordert keinen Schurken, wie man ihn vom Theater kennt, sondern einen Facharbeiter mit Feierabendhobby. Für den Nationalsozialismus ist charakteristisch nicht ein Übermaß von blindem Schicksal, gegen das menschliche Anstrengung sich aufrichtet im Eingedenken an eine vielleicht bessere Welt, wo noch im Scheitern die Wahrheit des davon verschiedenen Besseren auszumachen wäre. Im Nationalsozialismus fallen Quantität und Qualität des Verbrechens unterschiedlos und ohne Begrenzung zusammen, eigentlich gibt es nur noch Henker und Opfer – und auch diese Differenz hat bloß fließende Grenzen, wie eine bezeichnende Bemerkung verrät: »Daß einer Gegner des nationalsozialistischen Regimes gewesen war, hat man meistens erst dann gemerkt, als man ihn hingerichtet hat.« (Zitiert bei Brentano/Furth). So trivial wie diese Bestimmungen sind auch ihre Protagonisten. Jeder Versuch, den deutschen Faschismus mit den erwähnten literarischen Mitteln zu schildern, muss an dieser Trivialität scheitern. So schreibt Hannah Arendt in einer Kritik über den Charlie-Chaplin-Film »Der Diktator«, der ihr als Beispiel für dieses Misslingen gilt, dass der Film nur beweise, wie jeder Schmierenkomödiant, einen solchen mimt Chaplin in der Rolle eines Friseurs, heute Politiker werden könne. Nicht Schillers »Verbrecher aus verlorener Ehre« betritt im Kollektiv die Bühne der Geschichte, noch weniger die barbarischen Horden der Vorzeit, eher das Rohmaterial der modernen Sozialwissenschaften, welche darum deutlicher auch den angemessenen literarischen Ausdruck der Epoche bilden.
Weder Teufel noch Dämon, weder Nero noch Philipp von Spanien, nicht Hades noch Hölle, nicht Athen und nicht Venedig, nicht Hamam und nicht Dschinghis Khan,2 sondern die namenlose, gesichtslose, konturlose und gedächtnislose Monade aus dem zeitgenössischen Ensemble von Bahnbeamten, abgebrochenen Volksschullehrern, Tierliebhabern und Feldwebeln, Sekretärinnen und Turnerriegen, Tabellenfachleuten, Wochenendausflüglern, Besserwissern, Familienvätern, Eintopfexperten – solcherart ist die Anthropologie des modernen Durchschnittshelden, der zu Höherem sich berufen fühlt, ein von seiner eigenen Trivialität nicht mehr verschiedenes Wesen und deshalb zuallerletzt ein Gegenstand der Kunst. (»Auch ist ein Mensch, der ganz Bosheit ist« – oder nur noch banal, wie man Schiller heute korrigieren müßte – »schlechterdings kein Gegenstand der Kunst … Man würde umblättern, wenn er redet.«)3*
So beliebig und nichts der Einzelne, der sich folgerichtig auch abgewöhnt hat, Ich zu sagen, so einerlei und banal auch die Schauplätze: jede Familie eine kriminelle Vereinigung, jedes Büro ein geeignetes Schlachthaus, jeder Stempel ein potenzieller Mord, jeder Anruf ein beiläufiges Verbrechen.
»Die Reihe der Angeklagten folgte den Ausführungen der ersten drei Zeugen … zum größten Teil mit verkniffenen Mienen, ohne ein Zeichen besonderer Rührung … das stimmt überein mit dem Bild, das die Zeugen von ihm [gemeint ist Kramer – EG] entworfen haben, als sie ihn in seinem Büro in Belsen vernahmen. Er hatte nicht das mindeste Empfinden von Schuld, eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Häftlinge, die er alle als Berufsverbrecher, Schwerverbrecher und Homosexuelle bezeichnet hatte, zeichnete ihn aus. (Nr. 14, 21.9. 45)«
Genauso unschuldig wie die Opfer fühlen sich die Henker. Hannah Arendt führt in ihrem Essay über Sozialwissenschaften und Konzentrationslager4 die Bedingungen dieser makaberen Assimilation weiter aus: die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der tödlichen Realität auf Seiten der Opfer, und die kalte Indifferenz, welche das Lagerpersonal ausgezeichnet (auch noch vor Gericht, obwohl sie doch mit einer Geste der Selbstanklage besser vor den Tribunalen dran gewesen wären), leitet sie her von der auf verschiedenen Stufen verlaufenden Desintegration der Persönlichkeit im Laboratorium KZ.
»›Muselmänner‹ wurden die armen Teufel in der Lagersprache genannt, die sich um den Abfall aus Küchen, auf dem Misthaufen selbst, noch rissen, die mager und abgezehrt zu keiner Arbeit, selbst nicht zum Tragen der Toten mehr fähig waren. Erstaunlich nur, dass jemand diese Tiefen der Entwürdigung und Vertierung überlebt hat. (Nr. 15, 25.9. 45)«
Günter Anders berichtet in seinem Tagebuch »An die Wand geschrieben«, wie, entsprechend dem heimlichen Wunsch, der aus diesen Zeilen spricht, in Polen einige der Überlebenden genau mit dem Vorwurf, daß sie überlebt haben, erschlagen worden seien. Ähnliches erzählt Marian Rogowski in seinem dokumentarischen Roman »Gewonnen gegen Hitler«. Schon die Nazis hatten peinlich genau darauf geachtet, das keiner davonkommen sollte, aber auch, das keine Zeugnisse der Vernichtung und keine Berichte nach draußen dringen sollten. Vergeblich auch die verzweifelte Hoffnung der Lagerinsassen, die Welt möchte zur Besinnung kommen, wenn sie davon erführe. Dass man einige nachträglich noch erschlagen hat, ist nunmehr offen gewalttätiger Ausdruck der Fortsetzung nationalsozialistischer Politik: der Politik der verbrannten Erde folgt die Politik des verbrannten Gedächtnisses. Zur erwähnen wäre, daß sich vice versa die Opfer, die überlebt haben, mit Schuldvorwürfen quälen, weil sie vom Preis des Davongekommenseins bis ins Innerste zernichtet sind.
»Durch die Gaskammern von Auschwitz, eingerichtet wie Baderäume mit Brausen, nur ohne Wasserabfluß am Boden, sind ungefähr 4 Millionen Juden gegangen. Hatte das Gas seine Wirkung getan, so wurden Klappen im Boden geöffnet, die Leichen vielen in Loren und rollten ins Krematorium. (ibidem)«
»Hatte das Gas seine Wirkung getan« – noch in der Berichterstattung über das Morden bedient sich die kapitulierende Sprache der nazistischen Sprachregelung. Aber es handelt sich nicht bloß um eine Verdinglichung, in welcher eine von Menschen begangene Handlung als Tätigkeit eines Dinges erscheint (dies ist nur der extreme Ausdruck dem Faschismus vorausgegangener objektiver Momente, die in der Warenproduktion wurzeln und subjektiver Formen, die sich bis weit zurück in die Anfänge protestantischer Doppelmoral verfolgen lassen, etwa bei Luther – also zur Trennung von Personal und Praxis), sondern man muß auch das Moment von Wahrheit zur Kenntnis nehmen, das in dieser Sprache widergespiegelt wird: Ohne diesen kostspieligen Maschinenpark wäre das alles gar nicht möglich gewesen. Die Gaskammern, einmal etabliert, machten die Zufuhr von menschlichem Rohstoff zur Herstellung von Leichen zu einer absoluten Notwendigkeit. Dieser Logik folgt, wie wir wissen, die gesamte Kriegsindustrie seit dem zweiten Weltkrieg.
Vergleicht man die heutige Lokalzeitung mit den Ausgaben von damals – ein Viertel Jahr nach dem Sieg der Alliierten – so fällt zu allererst ins Auge die erschreckende Ähnlichkeit in Aufmachung und Inhalt. Als wäre die Nummer von vorgestern, lese ich (auf S. 4 von Nr. 15, 25.9.45) folgende Artikelüberschriften: Umgangsverbot aufgehoben / Energieversorgung im Rheinland / Riesendefizit im Berliner Haushaltsplan / Rektor in Marburg ernannt / Respektloses Verhalten strafbar / Vieh schwarzgeschlachtet / Dr. Eckener wird Verleger / Strafen für Verkehrssünder / Monotonie des Grauens, Fortsetzung von Seite 1 / Sport vom Sonntag usw. Eine beliebige Seite, mit vielleicht einem kleinen Unterschied: in den Familienanzeigen, welche fast die Hälfte der Seite einnehmen: Geboren / Vermählt / Gestorben / G e f a l l e n. Eine beliebige Anzeige herausgegriffen:
»WILHELM MOHRMANN, Soldat. In den schweren Kämpfen für sein Vaterland starb den Heldentod unser heißgeliebter, guter, hoffnungsvoller ältester Sohn, Bruder, Großsohn, Neffe und Vetter im blühenden Alter von 18 Jahren. In tiefer Trauer etc. pp«
Solche Überschriften und solche Anzeigen noch im September 1945.
»Heute vormittag traf Josef Kramer in eigener Sache als Zeuge auf. Er wurde auf die Bibel vereidigt und erklärte, in seinem Gewissen daran gebunden zu sein … ›Wollen sie als Zeugen unter Eid aussagen?‹ fragte der Richter. Alle Angeklagten erklärten: ›Ja!‹. Kramer rief ein lautes ›Jawoll!‹ (Nr. 19, 9.10. 45)«
Jetzt, wo der Führer und Himmler tot sind, braucht der kleine Mann wieder seinen Herrgott, denn »ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und Jedermann untertan« (Luther). Kramer gibt zu Protokoll, daß er deshalb die Vernichtung in den Gaskammern in Auschwitz bestritten habe, weil er »ehrenwörtlich« verpflichtet gewesen sei, darüber zu schweigen. Erst als er im Gefängnis von Celle gehört habe, »Hitler und Himmler seien nicht mehr vorhanden«, fühlte er sich von seiner Schweigepflicht entbunden. »Ob das richtig war und ob derjenige, der ursprünglich alles angeordnet hat, es verantworten kann, weiß ich nicht« (ibidem). Sollten die sich bei Gott verantworten, er hat seiner Christenpflicht genügt. Marx schreibt an irgendeiner Stelle über die moderne Religiosität, daß an die Stelle der Knechtschaft aus Devotion, die Knechtschaft aus Überzeugung getreten sei.
»Auch über das Lager Neuengamme, das in der Luftlinie nur dreißig Kilometer von Lüneburg entfernt liegt, ist uns ein umfassender Bericht zugänglich gemacht worden. Bekanntlich war es dieses Lager, das bisher wenig in der Öffentlichkeit genannt wurde, aus dem die Häftlingstransporte nach Belsen und Sandbostel gingen. Häftlinge aus Neuengamme haben vor anderthalb Jahren Deckungsgräben in Lüneburg ausgehoben. Ihre Zebra-Uniformen wurden damals viel erörtert. (Nr. 19, 9.10.45)
›Muselmänner‹ – Dieser Ausdruck ist in allen deutschen Konzentrationslagern verbreitet gewesen. Er ist entstanden durch einen Zufall. Irgend jemand nannte einen stark abgemagerten Kameraden in Erinnerung an Bilder von Arabern, einen Muselmann. Damit begann dieser Begriff, der sogar in die Amtssprache der Lager überging, seinen Lauf. Er bezeichnete später präzise nicht mehr voll arbeitsfähige, abgezehrte, abgehetzte Menschen. Es gab besondere Arbeitskommandos für Muselmänner. Muselmann konnte auch ein Hohnwort sein. Jedenfalls, war jemand erst einmal zum Muselmann geworden im Lager, so war in den meisten Fällen das Tor zur Freiheit ewig gesperrt. Für den Muselmann gab es nur noch den Ausweg ›durch den Schornstein‹ (ibidem).«
Abgezehrt waren sie, bis auf ganz wenige Ausnahmen, alle, und das Tor, über dem der preußische Wahlspruch stand »Suum cuique«, oder »Arbeit macht frei«, wurde erst durch den Sieg der Alliierten zum Tor einer doch für immer beschädigten Freiheit. Die Beobachtungen Bettelheims im KZ Buchenwald geben genauer Auskunft über den Abrichtungserfolg totalitärer Herrschaft, wobei mit dem der Kolonialromantik entlehnten Begriff »Muselmann« jener psycho-physische Habitus der Häftlinge bezeichnet wird, der als oberstes Ziel des KZ-Experiments gilt: die wandelnde Leiche oder die allseitig reduzierte Persönlichkeit. Sie sollten nur noch existieren, ehe man ihnen die Existenz nahm. So waren sich die Nazis sicher, keine Menschen mehr umzubringen. In vielen Fällen vollendete sich dieser aufgezwungene Verfall ganz automatisch, mechanisch – außerhalb jedes Zusammenhanges verloschen sie einfach, ihr Tod nur Verenden.
Bettelheims präzise Beobachtung dieses Zerfallsprozesses unter Bedingungen des Lagerterrors gewinnt eine erschreckende Aktualität, wenn man die reale Kontinuität seiner habituellen Typologien fortwährend im Alltag erfährt. Von der Ausnahmesituation ist der Muselmann aufgestiegen zum Durchschnittsexemplar. Gerade der Wegfall der grausamen Bedingungen, z.B. Hunger, beweist (obwohl u.a. durch ihn diese Zerstörung bewirkt wurde), daß es den Nazis auf mehr ankam, als die Menschen leiden zu lassen unter kreatürlichen Bedürfnissen, nämlich auf die Verwandlung von Individuen in willenlose Objekte anonymer Herrschaft. Das terroristisch erzwungene Einverständnis mit der Ohnmacht wie mit der Macht findet in der universellen Kälte einer Welt, die das in Kauf genommen hat und weiter nimmt, ihre zeitgemäße und wohlgenährte Entsprechung. Ihr Ideal: der scheintote Überlebensexperte, der sich »durch nichts aus der Ruhe bringen läßt«, die Fliege im »Netz der sozialen Sicherung« (Helmut Schmidt). Aber nicht, daß damit bloß abstrakt die Fortexistenz »muselmannischen« Verhaltens behauptet wäre. Der moderne Autismus liefert dafür eine ganze Reihe von konkreten Beispielen – am deutlichsten an den Habitus des Muselmann gemahnen die Verhaltensweisen von drop-outs, den wie die Häftlinge in zweifachen Sinn Aufgegebenen; oder die Protagonisten lebensreformerischer Varianten der »Verweigerung«, Freaks, Flippis usw., die nahezu alle Symptome, vom apathischen Gang bis zum blinden Gesicht, aufweisen, die auch Bettelheim beschreibt. Aber wichtiger ist der Beitrag des KZ-Experiments zu einer allgemeineren anthropologischen Bestimmung der nachfaschistischen Gesellschaft, die in der oben bezeichneten smarten scheintoten Mittelstandsmonade Gestalt angenommen hat: war das unter menschlichen Bestimmungen gefaßte Dasein immer ein Protest gegen seine bloß natürlichen Bestimmungen, mithin (und vor allem!) gegen den Tod gewesen, so macht die Nachkriegsgeschichte aus dem ersten Entsetzen des Denkens in der Geschichte eine letzte triviale Wahrheit: Leben heißt stückweise sterben.
Die moderne Sozialwissenschaft hat diesem Sachverhalt durch die Eliminierung der Begriffe Kindheit, Jugend etc. Rechnung getragen und sie durch biologisierende, subjektive Bezeichnungen wie Säugling, Kleinkind, Schulreife, Geschlechtsreife, Teenager, Twen, etc. ersetzt oder die Gesellschaft mit Begriffen aus dem Handelsregister in zwei Teile geschieden, Junioren und Senioren; Reduktion des Lebens auf’s bloße Älterwerden. Er lebt so vor sich hin – er stirbt so vor sich hin, der zeitgenössische Muselmann.
»Der überwiegende Eindruck ist der, daß es mit dem Recht außerordentlich ernst und genau genommen wird … Wahrscheinlich ist dies auch einer der Gründe, weshalb die Angeklagten in den ersten Wochen gar nicht recht zu begreifen schienen, daß es in diesem Verfahren um ihren Hals ging. (Nr. 19, 9.10.45)«
Hannah Arendt berichtet vom Eichmann-Prozeß Ähnliches. Der Beobachtung, daß Kommunisten und Kriminelle, oder Katholiken und Zeugen Jehovas der Identitätsstörung im KZ noch am ehesten und längsten widerstehen konnten, weil sie wegen Taten und Meinungen im Lager saßen, also von Nazis als für bestimmte Vergehen verantwortliche Personen betrachtet wurden, korrespondiert, daß sich die Täter (eher wie die unschuldigen und völlig harmlosen Opfer) als für nichts verantwortlich fühlen und die Bedrohung mit dem Tode (durch den Richterspruch) eher gelassen oder gar nicht zur Kenntnis nehmen, als für die begangenen Verbrechen einzustehen. Von Eichmann wird berichtet, daß er dem Vernehmungspersonal übereifrig geholfen habe, sich selber die Wahrheit über seine verbrecherische Tätigkeit zu erzählen.
»Als Ärztin kam die Zeugin auch nach Belsen. [Gemeint ist Dr. Ada Bimko, die von Auschwitz nach Bergen-Belsen kam. – EG] Als Kramer im Januar 1945 nach Belsen kam, so erklärte die Zeugin weiter, hatten sich die Verhältnisse in Belsen so verschlimmert, daß unter den Insassen gesagt wurde: ›Jetzt wird Belsen ein neues Auschwitz.‹ (Nr. 19, 9.10.45)
Wegen geringfügiger Gesetzesübertretungen (!!) wurden auf dem Hof des gleichen Blockes täglich viele Menschen erhängt … Beim Ein- und Ausmarsch spielte jedesmal die Häftlingskapelle. Es kam vor, daß man auf die Melodie ›So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage‹ die armen Toten ins Lager zurücktrug. (ibidem) (Zeugenbericht über Auschwitz)
… sie haben geschlagen und sind, wie Kramer, heute noch entrüstet, daß die armen Teufel, die krumm vor Schmerzen, Schwäche und Hoffnungslosigkeit waren, sich nicht ordnungsgemäß in Fünferreiehen aufstellen konnten. (23.10.45)
Die Leutchen, die vor einigen Tagen den Angeklagten auf den Wagen Grüße zuwinkten, scheinen den tödlichen Ernst dieser Dinge für die Deutschen noch nicht begriffen zu haben. (ibidem)«
Als wären diese justizpädagogischen Drohungen ein Mittel, das eine Mentalität zur Besinnung zwingen könnte, die noch kurz zuvor mit der jauchzenden Untergangsphilosophie »… und wenn alles in Scherben fällt« mit der Vernichtung anderer den eigenen Untergang diskontiert hatte.
»›Sie wußten ganz genau, daß es ein Verbrechen war, was sie begingen.‹ – ›Nein.‹ – ›Haben Sie überhaupt jemals nachgedacht?‹ – ›Ich weiß es nicht, ich mußte den Befehl ausführen.‹ – ›Haben Sie selbst diese Leute in die Gaskammern hineingezwungen?‹ – ›Ja.‹ – ›Haben Sie selbst das Gas einströmen lassen?‹ – ›Ja.‹ … ›All dies ist geschehen, während Sie der Kommandant des Lagers Birkenau waren. Haben Sie niemals dagegen protestiert, dass Ihr Lager für diese Dinge benutzt wurde?‹ Kramer antwortete, er hätte sich einmal beim Obersturmbannführer Höß darüber beschwert, daß er nach Auschwitz geholt worden sei, er sei hier nichts weiter als ein Lagerführer für das Männer- und Frauenlager, und dazu hätte man ihn nicht nach Auschwitz holen brauchen. ›Ich habe Sie nicht gefragt‹, fiel Colonel Backhouse [Vertreter der Anklage. – EG] ein, ›ob Sie dagegen protestiert haben, daß man Sie in Ihrer Würde als Lagerkommandant beeinträchtigt hat, indem man Sie zum Lagerführer machte, sondern ob Sie dagegen protestiert haben, daß in Ihrem Lager Tausende von Menschen umgebracht wurden.‹ – ›Wenn ich das getan hätte‹, antwortete Kramer, ›so wäre ich verhaftet und selbst hinter Draht gesetzt worden.‹ (23.10.45)«
Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Auch wenn der KZ-Kommandant im Unterschied zu Filbinger nicht nachgedacht hat, worauf der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg immer wieder hinweist und jeden Schritt als wohltaktierte Widerstandshandlung ausgeben möchte, so kommen doch beide zu denselben Äußerungen: konfrontiert mit ihren Verbrechen fällt ihnen immer gleich ihre Karriere ein. Filbinger klagt, daß er durch die Nazis »erhebliche Nachteile in meinem eigenen Fortkommen seit der Studienzeit erfahren« habe (Spiegel, 29.5.78) (und wie ich das eben schreibe, vernehme ich aus den Nachrichten, daß Filbinger auch nach dem Bekanntwerden weiterer Todesurteile, an denen er als Marinestabsrichter beteiligt gewesen war, keinen Grund sehe, von seinem Amt zurückzutreten. Dabei hätten alle, denen die so offen zutage getretenen Kontinuität deutscher Geschichte peinlich gewesen war, nun einen guten Anlaß gehabt, Filbinger wegen einer bloßen Lüge abzuhalftern und alles andere unter den Tisch zu wischen, aber sie erneuern, wie es aus dem Radio tönt, ihre Ehrenerklärungen für ihn. Fast hat es den Anschein, daß sie ihn eben deshalb für einen Ehrenmann halten), und Kramer denkt bei der Ermordung von Hunderttausenden an seine persönliche Not, die darin besteht, daß sein sog. laufbahnmäßiger Besitzstand angetastet und er zum Lagerführer rückgestuft wird.
»Habt ihr das gewußt?
›Das hat der Führer nicht gewollt!‹ Natürlich sind es die ›kleinen Hitler‹ gewesen, die sich Übergriffe erlaubten in den KZ-Lagern, denn Hitler war selbst viel zu ›gut‹, viel zu ›edel‹ dazu!
Wir stellen fest: Der deutsche General Dittmar, Pressechef des Oberkommandos der Wehrmacht, der Ende April 1945 in einem Ruderboot mit seinem Sohn die Elbe überquerte, um sich den Alliierten zu ergeben, hat in einer Radio-Ansprache erklärt: Heinrich Himmler habe 1944 im Frühjahr vor einer Generalstabsversammlung in einer Rede ausgeführt, der Befehl zur Erschießung der Juden sei der härteste Befehl gewesen, den er je auszuführen gehabt habe.
Himmler aber hatte nur einen einzigen Vorgesetzten. Daher muß dieser ›härteste Befehl‹ ihm von Hitler selbst erteilt worden sein.
Laßt euch nichts von alten Tanten und Naziagenten erzählen: Der größte Schurke war Hitler selbst. Er war der kaltblütige Mörder von Millionen von Menschen. So schlecht die ›kleinen Hitlers‹ auch gewesen sind – hundertmal schlimmer war der ›große‹ Hitler, groß im Verbrechen. (23.10.45)«
Nach diesem frühen Schema sind die gängigen Erklärungsmuster und Rechtfertigungen der Nachkriegszeit hergestellt: Hitler als Oberschurke, verantwortlich für »Übergriffe« (wobei übrigens die Formulierung »sich Übergriffe erlauben in den KZ-Lagern« deutlich nationalsozialistischer Provenienz ist. Die SS hat die Lager nicht als Auswuchs betrachtet, sondern als feste Institutionen des Systems. Sie waren die extreme Normalität totalitärer Herrschaft. Mit betriebswirtschaftlichem Denken wurde die Herstellung von Leichnamen betrieben, bürokratisch, organisiert, etc. Was vom gemeinen Verstand als sadistische Verhaltensweise angesehen wird, war in der Regel von der SS nicht geduldet. Deshalb argumentieren viele BRD-Gerichte in NS-Prozessen, wie das RSHA: für sie ist das KZ der Normalzustand.
Der deutsche Beitrag zur Emanzipation der Frau: