Die Greifen-Saga (Band 2): Die Träne der Wüste - C. M. Spoerri - E-Book + Hörbuch

Die Greifen-Saga (Band 2): Die Träne der Wüste E-Book und Hörbuch

C.M. Spoerri

4,8

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Mica scheint die Chance erhalten zu haben, einer Gilde anzugehören und dadurch vielleicht einer besseren Zukunft entgegenzublicken. Aber dann passiert etwas, das all ihre Pläne durchkreuzt und sie abermals vor die Frage stellt: Was haben die Götter bloß mit ihr vor? Und welche Rolle spielt der Schurke Néthan, der sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich mehr über seine Vergangenheit zu erfahren? Währenddessen keimt in Micas Bruder Faím Hoffnung auf: Er darf zurück nach Chakas zur Gilden-Aufnahmezeremonie der Sommersonnenwende. Ob er dort seine Schwester wiedersehen wird?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 478

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:10 Std. 5 min

Sprecher:Marlene Rauch

Bewertungen
4,8 (95 Bewertungen)
80
14
0
0
1
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.
Sortieren nach:
LivSalt

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

👌🥰
00

Beliebtheit




Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Zitat

Landkarte Altra

Karte Region Chakas

Karte Stadt Chakas

Kapitel 1 – Mica

Kapitel 2 – Mica

Kapitel 3 – Cilian

Kapitel 4 – Faím

Kapitel 5 – Faím

Kapitel 6 – Faím

Kapitel 7 – Mica

Kapitel 8 – Mica

Kapitel 9 – Mica

Kapitel 10 – Faím

Kapitel 11 – Faím

Kapitel 12 – Néthan

Kapitel 13 – Néthan

Kapitel 14 – Aren

Kapitel 15 – Mica

Kapitel 16 – Mica

Kapitel 17 – Néthan

Kapitel 18 – Mica

Kapitel 19 – Mica

Kapitel 20 – Mica

Kapitel 21 – Néthan

Kapitel 22 – Mica

Kapitel 23 – Aren

Kapitel 24 – Mica

Kapitel 25 – Faím

Kapitel 26 – Faím

Kapitel 27 – Mica

Kapitel 28 – Mica

Kapitel 29 – Mica

Kapitel 30 – Néthan

Kapitel 31 – Mica

Kapitel 32 – Mica

Kapitel 33 – Faím

Kapitel 34 – Faím

Kapitel 35 – Mica

Kapitel 36 – Mica

Kapitel 37 – Mica

Kapitel 38 – Cassiel

Kapitel 39 – Mica

Glossar

Dank

Über die Autorin

 

C. M. SPOERRI

 

 

Die Greifen-Saga

 

Band 2

Die Träne der Wüste

http://cmspoerri.ch

[email protected]

 

2. Auflage April 2020

© Sternensand-Verlag GmbH, Zürich 2020

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Landkarten: C. M. Spoerri 2020

Lektorat / Korrektorat: Wolma Krefting | bueropia.de

Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

Druck und Bindung: Smilkov Print Ltd.

 

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

Geh vorwärts, solange die Zukunft vor Dir liegt.

Bleib stehen, wenn die Vergangenheit Dich einholt.

 

C.

 

 

Altra

Region Chakas

Stadt Chakas

Kapitel 1 – Mica

»Können wir?« Cassiel stand mit verschränkten Armen im Eingang des Quartiers und musterte Mica, die sich gerade damit abmühte, ihre wilden Locken mit einem Kamm zu zähmen. In seinen Augen lag ein liebevolles Lächeln, das jedoch nicht ganz den Weg zu seinem Mund finden wollte.

Mica gab es auf, ihr Haar zu bändigen und erhob sich von der Matratze, auf der sie gesessen hatte. Die Nervosität war ihr deutlich anzusehen. Ihre Hände, die vom Grabschaufeln immer noch Blasen aufwiesen, zitterten leicht und sie nestelte an ihrem Hüftgurt, wo die leere Messerscheide hing, um ihre Aufregung vor Cassiel zu verbergen. Was ihr natürlich nicht gelang, denn er stieß sich von der Wand ab und kam langsam auf sie zu.

»Du brauchst nicht nervös zu sein«, sagte er leise, als er vor ihr stand und seine Arme um sie legte. »Das Schlimmste hast du ohnehin schon überstanden: die Aufnahmeprüfung. Was heute Abend kommt, wirst du ohne Weiteres meistern. Das wird der reinste Spaziergang, du wirst sehen.«

»Du hast gut reden«, nuschelte sie in sein schwarzes Leinenhemd, das er zur Feier des Tages gegen sein ledernes Wams getauscht hatte. Er roch nach Seife und seinem ganz eigenen Duft, der gleichzeitig an feuchte Erde und frische Kräuter erinnerte.

Mica hatte nicht zusehen dürfen, als er sich gewaschen hatte. Er schämte sich für seine Brandnarben noch immer, auch wenn er ihr heute Morgen zum ersten Mal seine verbrannte Hand gezeigt und mit dieser Geste sein Vertrauen und seine Zuneigung ausgedrückt hatte.

»Seit wann bist du so kleinlaut?« Ein Schmunzeln lag in seiner Stimme und er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Ich mag es nun mal nicht, im Mittelpunkt zu stehen.« Sie hob den Kopf, um in seine Augen sehen zu können, die sie zärtlich musterten. »Das mochte ich noch nie.«

»Tja, da wirst du wohl durch müssen.« Jetzt breitete sich doch noch dieses schiefe Lächeln auf seinem Mund aus, das Mica so an ihm mochte und das seine Narbe auf der Oberlippe weiß werden ließ. »Komm, je länger wir warten, desto größer wird deine Anspannung.« Er nahm ihre Hand und zog sie aus dem Quartier, das sie seit der vergangenen Nacht gemeinsam bewohnten.

Mica stapfte hinter ihm her und bemühte sich, ihre Angst unter Kontrolle zu bringen. Sie hätte tausendmal lieber einem Dämon gegenübergestanden, als sich dem Aufnahmeritual der Diebesgilde zu stellen. Auch wenn ein winziger Teil von ihr vor Freude wilde Saltos schlagen wollte, da sie in wenigen Minuten endlich zu einer Gilde gehören würde. Zu den Ratten von Chakas.

Ihre Gedanken wanderten zu Samja, von der sie seit gestern nichts mehr gehört hatten. Aren hatte am Morgen gesagt, er würde sich um sie kümmern. Er war außer sich gewesen, als er erfahren hatte, dass Samja Mica in die ›unmögliche Prüfung‹ geschickt hatte, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ und nach außen hin gelassen gewirkt hatte. Aber seine Augen waren kälter als Stahl gewesen und seine Miene finster wie die Nacht, während Mica und Cassiel ihm alles erzählt hatten.

Mica schauderte bei dem Gedanken daran, was es bedeuten mochte, dass der Meisterdieb sich um jemanden ›kümmerte‹. Fast tat ihr Samja ein bisschen leid. Aber nur fast … und nur ein bisschen. Schließlich hätte die ehemalige Gefährtin von Cassiel es kaltherzig hingenommen, dass Mica beinahe gestorben wäre, als sie sie in die Prüfung schickte, die bisher noch niemand bestanden hatte. Die im Grunde nur dazu da war, lästige Anwärter ohne großes Aufsehen loszuwerden.

»Wohin gehen wir?«, fragte Mica, als Cassiel nicht direkt den Weg ins Zentrum der Gilde einschlug.

»Zu dem brummigen Heiler«, antwortete er, ohne sich umzudrehen. »Du kannst doch nicht mit verletzten Händen an der Zeremonie teilnehmen.«

Mica hatte den Schmerz in ihren Händen schon fast vergessen, da ihre Aufregung größer war. Aber jetzt fühlte sie mit einem Mal wieder das Brennen der offenen Blasen, das davon zeugte, dass sie einen Teil ihres Lebens vor wenigen Stunden vergraben hatte. Cassiel hielt ihre Hand zwar vorsichtig, trotzdem schabten die Wunden an seinem Lederhandschuh und Mica musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen, als sie sich dessen bewusst wurde.

»Da wären wir.« Cassiel zog sie durch die Tür, die er geöffnet hatte.

Mica war schon einmal hier gewesen, vor über zwei Wochen, als Malec, der Heiler, ihre Schulter und ihr taubes Ohr untersucht hatte. Die Schulter war inzwischen verheilt, ihr linkes Ohr hatte er jedoch nicht mehr retten können. Es pochte seither ohne Unterlass und Mica hatte nur langsam begonnen, sich an das Geräusch zu gewöhnen, das ab und an in ein Pfeifen überging und dann wieder zum Pochen wechselte.

Im Quartier des Heilers sah alles noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte: Es war ein kleiner, quadratischer Raum, an dessen Wänden vollgefüllte Bücherregale standen. In der Mitte befand sich ein Tisch, wo dieses Mal immerhin keine Leiche lag, sondern mehrere Schriftrollen ausgebreitet waren, über die der Heiler sich beugte. Ein Kerzenleuchter, der von der Decke hing, erhellte die Umgebung.

Malec war ein älterer Mann, dessen kurz geschnittenes, graues Haar an manchen Stellen die Kopfhaut erahnen ließ. Sein Rücken war krumm und er trug lange, braune Kleidung, wie die meisten Heiler, die Mica bisher gesehen hatte.

Als Cassiel und Mica eintraten, hob er den Kopf und nickte ihnen kurz zu. »Welche Wunden bringt ihr dieses Mal mit?«, fragte er trocken. Er schien vorauszusetzen, dass er nur Besuch erhielt, wenn er Verwundete zusammenflicken musste. Seine dunkelbraunen Augen wanderten vom Dieb zum Mädchen und wieder zurück.

»Hast du etwas für ihre Hände?«, fragte Cassiel und schob Mica noch etwas weiter in Richtung Malec.

»Kannst du nicht besser auf sie aufpassen?«, polterte dieser, während er auf Mica zukam und seine Hände nach den ihren ausstreckte.

»Ich kann nichts dafür, dass sie so zerbrechlich wie Glas ist.« Cassiel verschränkte die Arme und grinste frech.

Mica warf ihm einen strafenden Blick zu und wollte schon etwas erwidern, zuckte dann aber zusammen, als Malec ihre Blasen zu untersuchen begann.

»Hm, ist nur oberflächlich, das heilt rasch wieder«, brummte der Heiler und wandte sich ab, um nach einer schwarzen Salbe zu suchen, die bestialisch stank. Er verteilte sie großzügig auf Micas Händen, während sie die Nase rümpfte. Dann wickelte er einen Verband um ihre Finger und nickte zufrieden. »So, das hätten wir. Morgen solltest du den Verband abnehmen und deine Hände gründlich mit sauberem Wasser waschen. Der Dummschwätzer hier wird dir bestimmt welches besorgen.« Er deutete mit seinem stoppeligen Kinn Richtung Cassiel.

»Komm, lassen wir den missmutigen Troll in seiner Grotte weiterdarben.« Der Dieb legte eine Hand auf Micas Schulterblatt, um sie wieder aus dem Raum zu schieben.

Mica wandte sich nochmals kurz zu Malec um, um ihm zu danken und folgte Cassiel dann lächelnd. Sie wusste, dass er den Alten im Grunde mochte, dies jedoch niemals zugegeben hätte. Lieber verbarg er seine Gefühle hinter einer Mauer von Sarkasmus.

»Nachdem deine Hände jetzt versorgt sind, können wir ja zur Zeremonie gehen«, sagte Cassiel. »Aren wartet bestimmt schon ungeduldig auf seine neue ›Tochter‹.«

Er warf ihr einen schiefen Blick zu. Sein Tonfall ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass er Arens Fürsorge für Mica nicht billigte. Er wollte sie nicht teilen. Vor allem nicht mit seinem Vater.

»Sprich nicht so abschätzig über ihn«, maßregelte ihn Mica und blieb stehen. Sie mochte Aren sehr, und obwohl sie inzwischen besser verstand, warum Cassiel und er ein schwieriges Verhältnis hatten, konnte sie nicht umhin, Aren in Schutz zu nehmen. »Er mag dich und würde nie schlecht von dir reden.«

Cassiel blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu ihr um. »Du bist manchmal ziemlich naiv, weißt du das?«

»Ich bin nicht naiv!«, verteidigte sich Mica und verschränkte die Arme vor der Brust. In ihr begann Ärger zu brodeln, wie immer, wenn Cassiel sie nicht ernst nahm. »Ich weiß sehr wohl, dass du im Grunde bloß Angst davor hast, dass Aren dir Vorwürfe macht wegen dem, was vor so vielen Jahren passiert ist. Dem ist jedoch nicht so! Er liebt dich! Du bist das Einzige, was ihm von seiner Familie noch geblieben ist!« Ihre Stimme wurde immer lauter, während ihr gleichzeitig Tränen in die Augen traten.

Verdammt, so viel wie in den letzten Tagen hatte sie noch nie geweint! Dabei hatte sie sich doch geschworen, nie wieder zu weinen. Wegen niemandem!

Sie drehte wütend den Kopf weg, damit Cassiel ihre Tränen nicht sehen konnte.

»Mica.« Seine Stimme war mit einem Mal samtschwer und nahe an ihrem gesunden Ohr. Einen Augenblick später spürte sie, wie er sie an sich zog und ihr Gesicht mit beiden Händen umfasste, sie dazu zwang, ihn anzusehen. »Meine kleine Mica«, murmelte er, ehe er sie zärtlich und lange küsste.

Jetzt entwich ihrer Kehle doch ein leises Schluchzen und sie holte tief Luft, als er sich wieder von ihr löste.

»Du hast keine Ahnung, wie gut du es hast«, flüsterte sie, während sie ihre Stirn gegen seine drückte. »Du hast einen Vater, der dich liebt … du solltest glücklich darüber sein, statt dich von deinem Selbstmitleid zerfressen zu lassen und dich von ihm abzuwenden. Ich an deiner Stelle wäre es …« Ihre Stimme brach, als sie daran dachte, dass ihr Bruder tot war.

Ja, er musste tot sein, sonst hätten sie ihn längst gefunden – oder er sie. Jetzt war nichts mehr von ihrer Familie übrig. Alle waren tot. Alle außer sie.

Abermals schnürte sich ihre Kehle zu und sie senkte den Blick, da sie die Wärme in Cassiels Augen nicht aushielt.

Für die Dauer einiger Herzschläge erfüllte beklemmendes Schweigen den Gang, ehe der Dieb sie erneut an sich zog und seine Arme fest um sie legte. »Du hast jetzt mich«, flüsterte er. »Solange du es willst, werde ich dir gehören.«

Mica versuchte, ihm in die Augen zu sehen, aber ihr Gesicht war an seine Brust gedrückt. Seine rechte Hand fuhr über ihren Hinterkopf und verweilte dort.

Sie spürte, wie sich eine sanfte Macht in ihre Gedanken drängte. Ähnlich wie vor einiger Zeit, als Aren ihre Gedanken gelesen hatte, um ihr Magiepotenzial einschätzen zu können. Arens Präsenz war damals ruhig und klar gewesen wie ein tiefer See und fest wie ein Felsen. Cassiels Anwesenheit hingegen war weniger deutlich, so vielschichtig wie ein Regenbogen und zugleich so warm wie die Sonne. Da er nur wenig Magie beherrschte, war es eher eine Art Gefühl als tatsächliches Bewusstsein, das in sie drang. Und trotzdem war er da. In ihrem Kopf, in ihren Gedanken.

Sie brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, dass sie seine Persönlichkeit spüren konnte. Seine dunklen und hellen Seiten, und ein Licht, das heller strahlte als alles, was sie bisher gesehen hatte.

»Was ist das?«, flüsterte sie und blinzelte. Doch das Licht blieb beständig vor ihrem inneren Auge, schien auf sie mit stetiger Kraft und erwärmte ihr Innerstes.

»Ich weiß es nicht, aber es fühlt sich gut an«, antwortete er ebenso leise.

»Sind das deine Gefühle für mich?« Sie wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, das Licht könnte dann verschwinden.

»Mag sein …« Seine Stimme klang wie aus einer anderen Welt. Dann zog er sich aus ihr zurück und Mica schien es, als sei ihre Umgebung gleichzeitig dunkler und kälter geworden. Sie wollte wieder dieses warme Licht in sich spüren, das sich so fantastisch angefühlt hatte. So richtig und mächtig.

»Danke«, sagte sie mit heiserer Stimme.

»Wofür denn?« Er schob sie etwas von sich weg, um ihr in die Augen sehen zu können. Sein Blick war voller Zuneigung.

»Dafür, dass ich dich haben darf.« Sie lächelte.

»Ich habe zu danken, dass du bei mir bleibst.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Ich hoffe, das bleibt noch lange so.«

»Hör auf, ständig von dir zu sprechen, als hättest du etwas Glück nicht verdient.« Sie boxte ihn leicht gegen die Brust.

»Du hast ja recht.« Er schmunzelte. »Wieder einmal hast du recht.« Damit wandte er sich ab und ging voran in Richtung Zentrum der Diebesgilde, wo die Aufnahmezeremonie für Mica stattfinden sollte.

 

Noch ehe sie dort ankamen, spürte Mica, dass etwas nicht stimmte. Doch sie konnte nicht benennen, was es war. Erst, als sie die letzte Tür passierten und die weitläufige Höhle des Zentrums vor ihnen lag, sah sie es und zog scharf die Luft ein.

Ihr Herz verkrampfte sich, als ihr Blick über all die Menschen glitt, die sich hier versammelt hatten. Nie hätte sie gedacht, dass die Diebesgilde derart viele Mitglieder zählte. Die meisten glichen einfachen Menschen, denen sie jederzeit auf der Straße hätte begegnen können. Nur die wenigsten waren ähnlich gekleidet wie Cassiel, der meist schwarzes Leder trug, das an manchen Stellen zusätzlich mit Metalleinsätzen verstärkt worden war, die ihn vor Verletzungen schützen sollten. Wahrscheinlich handelte es sich bei denjenigen, die dieselbe Kleidung trugen, um die Sorte Diebe, die auf Missionen geschickt wurden. Diejenigen, die sich ›Gesandte‹ nannten.

Doch was Micas Blick vor allem anzog, war eine hölzerne Vorrichtung, eine Art Rahmen, in den ein Mensch gespannt war. Die Hände waren oben befestigt, sodass die Person sich nicht bewegen konnte. Beim näheren Hinsehen erkannte sie mit Entsetzen das lange, schwarze Haar von Samja und ihr Herz zog sich abermals zusammen.

Samjas Körper stand aufrecht an das Gestell gefesselt und ihr ganzer Rücken wies Wunden auf, die eindeutig von einer Peitsche stammen mussten. Ihr helles Oberteil war zerfetzt und rot von Blut. Ihr Kopf hing auf ihre Brust gesenkt, aber sie schien noch zu atmen.

Daneben stand Aren mit versteinerter Miene. Noch nie hatte Mica den Meisterdieb so gesehen. Seine grünen Augen waren ohne jedes Gefühl, sein schwarzes Haar zerzaust. Den Mund hatte er zu einer Linie zusammengekniffen, was seine ohnehin kantigen Züge noch verstärkte. In der Hand hielt er eine Peitsche, von der Blut tropfte.

Micas Körper durchlief ein Schauer, als sie erkannte, dass er Samja höchstpersönlich bestraft hatte. Die Diebin, die er noch gestern seine Tochter nannte – so wie er es auch Mica heute Morgen angeboten hatte.

Dieser Mann kannte tatsächlich keine Gnade und man tat gut daran, ihn nicht wütend zu machen oder zu hintergehen – so wie Samja es getan hatte, als sie Mica in die ›unmögliche Prüfung‹ geschickt hatte.

Auch Cassiel blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, als er seine ehemalige Gefährtin derart zugerichtet sah, dann erstarrte sein Gesicht ebenso wie das von Aren und er ging langsam durch die Menge, die sich respektvoll vor ihm teilte, auf seinen Vater zu.

Sein Gang war sicher, seine Bewegungen geschmeidig, aber Mica kannte ihn inzwischen gut genug, sodass ihr die Anspannung in seinen Schultern und seinem Nacken nicht entging. Er musste sich zusammenreißen, um den Anblick von Samjas geschundenem Körper zu ertragen. Kein Wunder, er war ein Jahr lang mit ihr zusammen gewesen, und auch wenn sie ihn hintergangen hatte, bedeutete sie ihm womöglich immer noch sehr viel.

Mica war zunächst unschlüssig, ob sie ihm folgen sollte, tat es dann jedoch, da sie für die Aufnahmezeremonie ohnehin zu Aren gehen musste. Sie holte tief Luft und machte den ersten Schritt auf die Menschenmenge zu.

Ihr Herz klopfte wie wild, als sie die vielen Blicke auf sich spürte. Sie hatte sich unter fremden Menschen noch nie wohl gefühlt und kämpfte jetzt umso mehr gegen den Impuls, kurzerhand kehrtzumachen und davonzurennen. Trotzdem setzte sie einen Fuß vor den anderen und versuchte, sich von den starrenden Dieben nicht einschüchtern zu lassen.

Nur die wenigsten Gesichter kamen ihr bekannt vor und noch viel weniger schienen ihr wohlgesinnt zu sein. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Samja war in der Gilde beliebt, sie war wunderschön, die Ziehtochter von Furin, der Gildenältesten, und ihr Leben war an Cassiels Seite vollkommen gewesen – bis Mica aufgetaucht war.

Sie versuchte, sich ihre Unsicherheit möglichst nicht anmerken zu lassen. Ihr taubes Ohr begann besorgniserregend zu rauschen und zu pochen, wie immer, wenn sie nervös wurde.

Cassiel schien ihre Beklemmung zu spüren, denn er wartete, bis sie an seiner Seite war, um dann demonstrativ den Arm um sie zu legen. Jetzt konnten alle sehen, dass er sich für sie entschieden hatte. Leises Gemurmel war die Folge dieser provokanten Geste.

Der Weg zu Aren schien Mica trotz Cassiels Begleitung unendlich weit.

Als sie endlich dort ankamen, atmete sie leise aus.

»Aren.« Cassiel nickte seinem Vater knapp zu und ließ Mica los.

Der Meisterdieb erwiderte das Nicken seines Sohnes, ohne mit der Wimper zu zucken. Als sein Blick zu Mica glitt, wurden seine Augen eine Spur wärmer. »Willkommen, Mica«, begrüßte er sie. »Es tut mir leid, dass ich dir diesen Anblick nicht ersparen konnte, aber Samja musste öffentlich für das bestraft werden, was sie getan hat.« Er deutete mit dem Kopf leicht in die Richtung des Holzgestells.

Mica schluckte hart, als ihr Blick seinem folgte. Aus der Nähe sahen die Wunden noch viel schlimmer aus.

Und das alles nur ihretwegen …

Jetzt entdeckte sie Furin, die etwas abseitsstand und sie mit ihren grauen Augen aufmerksam beobachtete. Seit der Prüfung schien sie sie mit neuem Respekt zu betrachten, wenn auch ihr kühles Wesen Furin weitere Gefühle verbot. Mica meinte, sie kurz nicken zu sehen. Aber es konnte sich auch um ein unbewusstes Zucken der Nackenmuskeln gehandelt haben.

Mica wandte ihren Blick wieder Aren zu und versuchte, sich ihr Grauen ob der Bestrafung von Samja nicht anmerken zu lassen. »Ich habe das Ritual mit Cass zusammen durchgeführt«, sagte sie so leise, dass nur die Diebe sie hören konnten, die in unmittelbarer Nähe standen.

»Sehr gut.« Aren gab die Peitsche einem Jungen, der auf sein Winken eilig herbeigetreten war, nahm den Blick jedoch nicht von Micas Gesicht. »Dann bist du bereit, um in die Gilde aufgenommen zu werden.«

Mica nickte nervös und schluckte abermals. Es war so weit: Jetzt würde sich ihr Leben für immer verändern …

Kapitel 2 – Mica

Aren wandte sich an ein paar Diebe, die zu seiner Rechten standen. »Bindet sie los und bringt sie zu Malec«, befahl er ihnen, während er mit dem Kopf zu Samja deutete.

Die Diebe folgten sofort seinem Befehl und befreiten die junge Frau von ihren Fesseln. Sie sackte leblos zu Boden und wurde von den Männern hochgehoben. Wahrscheinlich war sie ohnmächtig geworden oder hatte so viel Blut verloren, dass sie keine Kraft mehr hatte, sich selbst auf den Beinen zu halten.

Mica konnte in Cassiels Augen widersprüchliche Gefühle lesen, während er stumm beobachtete, wie seine ehemalige Gefährtin aus dem Zentrum getragen wurde. Neben Schmerz waren auch Verachtung und eine Spur von Schuld zu erkennen.

Sie trat einen Schritt zu ihm und drückte unauffällig seine rechte Hand. Er drehte ihr sein Gesicht zu, aber seine Miene blieb versteinert. Nur seine Augen drückten jetzt zusätzlich auch noch Sorge aus. Ob diese ihr oder Samja galt, konnte Mica nicht ergründen.

Aren lenkte ihre Konzentration auf sich, als er seine Worte an die Diebe richtete, die sich versammelt hatten. Seine tiefe Stimme hallte durch die hohe Höhle. »Ihr alle seid hergekommen, um Mica in unserer Gilde zu begrüßen«, sprach er mit fester Stimme. »Sie hat die Aufnahmeprüfung bestanden, jedoch nicht nur irgendeine, sondern die ›Unmögliche‹.«

Ein Raunen ging durch die Menge. Offenbar hatten die Diebe bisher nicht wirklich gewusst, warum Samja bestraft worden war, denn das Raunen wurde lauter, während Aren fortfuhr: »Samja hat dafür gesorgt, dass Mica in diese Prüfung gehen musste, obwohl sie in unsere Gilde aufgenommen werden sollte. Für dieses Vergehen wurde Samja bestraft, denn es stand ihr nicht zu, diese Entscheidung zu fällen. Sie wird weiterhin Mitglied unserer Gilde bleiben, jedoch all ihrer Aufgaben enthoben.« Nun wurde das Gemurmel zustimmender. Aren machte eine Pause und ließ seinen Blick durch die Höhle schweifen, schien jeden Einzelnen zu fixieren, ehe er weitersprach: »Wir Diebe leben nach dem Kredo ›Unsere Beute, unser Leben, unser Schicksal‹. Samja hat dieses Kredo missachtet und ihr Leben über das einer Anwärterin gestellt. Ihre Bestrafung soll für jeden eine Lehre sein, der es ihr gleichtun will.«

Abermals legte er eine Pause ein und ließ seine Worte wirken. Er hob die Hand und deutete auf Mica. Alle Blicke richteten sich auf sie und Mica wünschte sich, im Boden versinken zu können. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu sein. Allein Cassiels Nähe, der wie die Ruhe selbst neben ihr stand und immer noch ihre Hand hielt, war es zu verdanken, dass sie nicht zu zittern begann.

»Mica ist eine Magiebegabte, die das Feuer in sich trägt«, erklärte Aren weiter. »Jedoch ist ihre Begabung nicht groß genug, als dass sie in den magischen Zirkel gehen müsste. Noch ist sie gildenlos, aber das wird sich ändern, wenn demnächst die Aufnahmezeremonie der Elementgilden stattfindet und sie ein vollwertiges Mitglied der Feuergilde werden kann. Furin und ich haben beschlossen, dass sie trotzdem bereits jetzt in unsere Gilde aufgenommen werden soll. Behandelt sie ab sofort wie eine von uns.«

Die Diebe nickten und klatschten zustimmend. Mica wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger. Sie wusste nicht, wohin mit ihrer zweiten Hand und noch weniger, wohin sie sehen sollte. Ihr Magen zog sich zusammen und sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen, während sie ein Stoßgebet zu den Göttern sandte, die Zeremonie möge endlich vorbei sein.

»Sie wird sich den ›Gesandten‹ anschließen und ihre Ausbildung dort machen dürfen«, fuhr Aren fort.

Abermals wurde Gemurmel laut. Es galt als Ehre, zu denjenigen Dieben zu gehören, die auf Missionen geschickt wurden. Dementsprechend zeichneten sich auf den Gesichtern der Diebe Erstaunen und Respekt ab.

»Tritt nun vor, Mica, und schwöre der Diebesgilde deine Treue«, wies Aren sie mit ruhiger Stimme an.

Mica hätte sich vor Aufregung fast übergeben, als sie Cassiels Hand losließ und neben den Meisterdieb trat. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, wie Cassiel sich abwandte und von einem anderen Dieb etwas entgegennahm.

»Sprich meine Worte nach«, lenkte Aren ihre Aufmerksamkeit wieder zu sich, ehe sie erkennen konnte, was Cassiel in den Händen hatte. »Ich gelobe, mich der Diebesgilde zu verschreiben. Meine Beute soll stets geteilt werden, mein Leben gehört den Ratten, mein Schicksal liegt in ihrer Hand. Ich schwöre, meine Brüder und Schwestern zu beschützen, wie sie mich beschützen, wo auch immer ich ihnen begegnen werde. Wir sind ab heute eins: unsere Beute, unser Leben, unser Schicksal.«

Mica sprach die Worte langsam und so laut nach, dass jeder in der Höhle sie vernehmen konnte.

Aren nickte zufrieden, als sie geendet hatte. »Jetzt wirst du die Tätowierung erhalten, die dich für immer als Diebin kennzeichnen wird.«

Mica sah Aren mit weit aufgerissenen Augen an. Im selben Moment spürte sie, wie Cassiel ihr Obergewand über die Schulter nach unten zog, gerade so weit, dass der oberste Teil ihres Armes sichtbar wurde. Sie wollte den Ärmel wieder hochziehen, aber er hielt ihre verbundene Hand mit einem schiefen Lächeln fest. »Darauf habe ich mich schon den ganzen Tag gefreut.«

Seine Augen blitzten, als er einen Gegenstand anhob, der einer schwarz gefärbten Metallnadel glich. Er drückte sie ohne zu zögern in ihre Haut und Mica entfuhr ein spitzer Schrei.

»Schau weg, das hilft«, sagte Cassiel, der seine ganze Konzentration auf seine Arbeit legte. Ein kleiner Junge stand neben ihm und hielt eine Schale mit schwarzer Farbe, in die der Dieb immer wieder die Nadel eintauchte.

Mica biss die Zähne zusammen, um nicht abermals zu schreien, als Cassiel mit der Tätowierung fortfuhr. Ihr wurde elend vor Schmerz und ihr Arm begann zu zittern.

Aren trat vor sie und legte beide Hände auf ihre Schultern. Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. Seine grünen Augen, die Cassiel von ihm geerbt hatte, suchten die ihren und hielten ihren Blick fest. Sie spürte, wie eine Ruhe von ihm ausging, die einen Teil ihrer Schmerzen nahm. Wahrscheinlich wirkte er gerade einen Zauber und beeinflusste ihren Geist, denn er beherrschte ja Luftmagie. Wie auch immer, Hauptsache, die Qualen wären endlich vorbei.

Womöglich reagierte sie zu stark, aber sie hatte schon immer diesen Schmerz von Nadeln gehasst. Das konnte Cassiel ja nicht wissen.

Sie hob ihre Hände an Arens Unterarme und krallte sich daran fest, als ihre Knie drohten, unter ihr nachzugeben. Ihre Augen füllten sich beim Schmerz, der nun zusätzlich ihre Hände durchströmte, mit Tränen – verdammt, schon wieder! – und rannen ungehindert über ihre Wangen.

»Bald ist es geschafft«, murmelte Aren beruhigend.

Mica vergaß alles um sich herum, auch, dass die Diebe sie immer noch beobachteten. Sie verlor sich in Arens Augen, die einem tiefen, ruhigen See glichen. Sie beschloss, dass sie ab sofort Nadeln noch mehr hassen würde, als sie es ohnehin schon getan hatte. Mit jedem anderen Schmerz konnte sie umgehen, aber nicht mit diesem.

Irgendwann hörten die stechenden Schmerzen auf und hinterließen ein brennendes Pochen.

Aren ließ sie los und sie taumelte unwillkürlich.

»So, das wär's. Ist nicht schlecht geworden, oder?«, nickte Cassiel zufrieden, nachdem er dem Jungen das Tätowierbesteck zurückgegeben hatte.

Mica wagte einen Blick zu ihrer Schulter, an der feine Rinnsale von Blut herunterliefen. Cassiel hatte ihr drei erbsengroße Punkte tätowiert.

»Was bedeutet das?«, fragte sie und sah zu, wie er mit einem feuchten Tuch das Blut wegwischte. Es brannte so sehr, dass sie keuchte. Offenbar war der Stoff mit Alkohol getränkt, um die Wunde zu desinfizieren.

»Das bedeutet, dass du nichts sagst, nichts siehst und nichts hörst«, beantwortete Aren an Cassiels Stelle ihre Frage. »Das ist die Tätowierung der ›Gesandten‹. Du deckst diejenigen, die mit dir auf Missionen gehen, verrätst sie nicht, wenn du gefangen wirst, und hilfst ihnen mit deiner uneingeschränkten Unterstützung.«

Mica wandte sich Cassiel zu. »Du hast auch so eine?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

Cassiel nickte lächelnd. »Ja, hab ich.«

»Es ist nun an der Zeit, dass du dein altes Leben hinter dir lässt«, unterbrach Aren Micas weitere Fragen, die ihr auf der Zunge brannten. »Du hast einen Teil deiner Vergangenheit bereits begraben. Nun wirst du einen Teil deiner Zukunft erhalten. Von heute an wirst du unter einem neuen Namen bekannt sein: Tochter der Flammen.«

Mica sah den Meisterdieb ehrfürchtig an. Der neue Name gefiel ihr, er klang irgendwie abenteuerlich und gefährlich. Nun ja, auch wenn er etwas übertrieben war, denn so gut konnte sie mit dem Feuer in sich nicht umgehen. Aber das würde sie hoffentlich noch lernen.

Die Diebe wiederholten den Namen und nickten ihr zu.

»Damit bist du ab sofort ein vollwertiges Mitglied der Gilde«, sagte Aren feierlich und umarmte die erstaunte Mica. Automatisch legte sie ihre Hände auf seinen Rücken, ließ sich an seine Brust ziehen.

Sie liebte es, wenn er sie in die Arme nahm, da es ihr auf der Stelle das Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Er roch so gut nach Leder und Erde, dass sie glaubte, diesen Geruch für immer um sich haben zu müssen.

Erst ein einziges Mal hatte er sie auf diese Weise umarmt: Heute Morgen, als er sie in seiner Familie willkommen geheißen hatte. Sie hoffte, dass es in Zukunft öfters geschehen würde. Sie mochte den Meisterdieb fast wie einen Vater und schickte ein Stoßgebet zu den Göttern, dass sie ihn nie enttäuschen möge.

»Komm jetzt, lass uns feiern«, unterbrach Cassiel ihre Gedanken. Er war hinter sie getreten und hatte ihren Arm ergriffen, an dem er sie von seinem Vater wegzog. Er mochte es im Gegensatz zu Mica überhaupt nicht, wenn Aren sie umarmte. Widerwillig ließ sie den Meisterdieb los und zuckte zusammen, als dieser dabei ihre Tätowierung streifte.

Cassiel legte den Kopf schief und schmunzelte. »Der Alkohol wird dich die Schmerzen bald vergessen lassen.«

Erst jetzt merkte Mica, dass die Diebe sich abgewandt hatten und jeder von ihnen einen Krug in der Hand hielt. Sie unterhielten sich angeregt und schienen Aren, Cassiel und sie nicht mehr wahrzunehmen.

»So ist es immer, wenn man ihnen gratis Bier gibt«, meinte Aren mit einem leichten Lächeln, während sein Blick über die Diebe schweifte.

In dem Moment legte sich eine Hand auf Micas Schulter. Noch während sie sich umdrehte, zuckte sie zusammen, als sie sich Furin gegenübersah, die sie mit ihren grauen Augen aufmerksam betrachtete. Wie immer hatte sie die Kapuze ihres Umhangs tief ins Gesicht gezogen, sodass ihr kurzes, graues Haar kaum zu erahnen war. Ihre magere Gestalt überragte Mica um einiges. »Willkommen in der Diebesgilde«, sagte sie mit ihrer tonlosen Stimme.

»Danke.« Mica runzelte die Stirn. Nach der Prüfung von gestern wusste sie nicht genau, wie sie mit der Gildenältesten umzugehen hatte. Ein Teil von ihr hasste diese gefühlskalte Frau, ein anderer Teil war neugierig, mehr über sie zu erfahren und ein dritter Teil fürchtete sich vor ihr.

Auch Furin schien sich nicht wohlzufühlen, denn sie nickte Aren und Cassiel kurz zu, ehe sie in der Menge untertauchte und verschwand.

»Schade, dass sie nicht auch ausgepeitscht wurde«, zischte Cassiel neben Mica. Seine Stimme klang zornig und sein Blick war finster auf die Stelle gerichtet, wo Furin eben noch gestanden hatte.

»Es hätte nichts gebracht, das weißt du«, bemerkte Aren ruhig. »Komm, Mica, lass uns zum dicken Wil gehen und dort auf deine Aufnahme anstoßen.« Er legte eine seiner großen Hände auf ihren Rücken und schob sie durch die Menge, die ihnen Platz machte.

Dieses Mal trafen Mica nicht nur abschätzige Blicke, sondern auch bewundernde und sogar ein paar freundliche. Vielleicht würden die Diebe sie doch noch in ihrer Mitte akzeptieren.

 

Als sie beim dicken Wil ankamen, waren die Schmerzen an Micas Oberarm einigermaßen erträglich geworden. Trotzdem blutete die Wunde immer noch und Cassiel wickelte fürsorglich ein Tuch darum.

Es fühlte sich befremdlich an, mit ihm und Aren zusammen an einem Tisch zu sitzen. Irgendwie freute sich Mica darüber, andererseits war es auch ein beklemmendes Gefühl, denn die beiden mieden jeglichen Blickkontakt und tauschten nur die nötigsten Worte aus. Doch sobald Mica etwas sagte, galt ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden Männer, was ihr schmeichelte.

Bei ihnen stand sie gerne im Mittelpunkt.

Cassiel saß neben ihr und hatte wieder demonstrativ den Arm um ihre Schulter gelegt. Eine Geste, über die Mica insgeheim lächelte. Aren stellte nun wirklich keine Bedrohung dar. Der Meisterdieb war mehr als doppelt so alt wie sie und sein schwarzer Kinnbart war bereits von silbernen Strähnen durchzogen, die ihm ein charismatisches Aussehen verliehen. Auch wenn sie Aren mochte, sie fühlte sich nicht auf dieselbe Weise zu ihm hingezogen wie zu seinem Sohn. Aber offenbar sah Cassiel das anders.

»Auf dich!« Aren hob seinen Becher, aus dem dunkelroter Wein einen würzigen Duft abgab.

»Auf Mica!« Auch Cassiel hob seinen Becher mit Bier hoch.

Mica prostete ihnen zu und nippte dann an ihrem Getränk, das eine Mischung aus Wein und Wasser war. Sie hatte in ihrer Zeit als Kanalratte nie die Gelegenheit gehabt, richtigen Alkohol zu trinken, da der viel zu teuer gewesen wäre, und so waren ihr nur die selbstgebrannten Schnäpse geblieben, von denen man jedoch kaum mehr als zwei Schlucke herunterbrachte, ohne einen Hustenanfall zu riskieren.

Daher war sie nun äußerst vorsichtig mit dem Wein, den Aren ihr eingeschenkt hatte. Sie wollte sich nicht betrinken.

»Was wird nun mit Samja geschehen?«, fragte sie und bemerkte, wie der Blick von Aren ebenso schnell zu Eis wurde wie derjenige von Cassiel. Ja, sie waren eindeutig Vater und Sohn.

»Sie wird, wenn sie sich von ihrer Strafe erholt hat, niedere Arbeiten im Zentrum verrichten«, antwortete Aren ruhig.

Doch Mica ahnte, dass ihm die Worte nicht so leicht fielen, wie er nach außen hin tat. Er war enttäuscht worden von ihr und er hatte sie dafür bestrafen müssen. Zum ersten Mal fragte sie sich, wie es sich wohl anfühlte, den Menschen auspeitschen zu müssen, dem man vertraut hatte. Es musste schrecklich sein.

Aren senkte den Blick und fuhr mit dem Finger über den Rand seines Bechers. »Außerdem wird sie die Gilde nicht mehr verlassen dürfen.«

»Das klingt … grauenvoll.« Mica verschluckte sich fast am Wein. Die Vorstellung, für immer unter der Erde leben zu müssen, war für sie kaum auszuhalten.

»Das ist es auch, obwohl ihre Bestrafung milder ausfiel, als es womöglich bei einem anderen Dieb der Fall gewesen wäre. Normalerweise muss man mit seinem Leben für einen Verrat wie dem ihren bezahlen. Aber Furin hat sich für sie eingesetzt, sodass wir sie am Leben gelassen haben.« Der Blick des Meisterdiebes war hart wie Stahl, als er fortfuhr: »Dass sie für immer in der Gilde bleiben muss, ist die einzige Möglichkeit, wie wir sie unter Kontrolle behalten können.«

Mica nickte. Sie verstand, dass eine Diebin, die wie Samja öffentlich gedemütigt worden war, eine zu große Gefahr für die Gilde darstellte, als dass man sie frei herumlaufen lassen konnte. Wenn sie auf Rache aus gewesen wäre, hätte sie jederzeit die Diebe verraten können, zumal sie viele Jahre im Herzen ihrer Organisation tätig gewesen war und womöglich von Geheimnissen wusste, die nur den wenigsten Dieben bekannt waren. Das musste die Gilde verhindern – wenn nicht mit dem Tod, dann mit lebenslangem Arrest.

»Schau nicht so betrübt.« Cassiel stupste sie in die Seite. »Du bist jetzt ein Mitglied der Diebesgilde. War es nicht das, was du dir immer gewünscht hast?«

»Ja«, Mica nickte leicht. ›Aber nicht zu diesem Preis‹, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Du musst dir nicht die Schuld daran geben, was mit Samja passiert ist.«

Aren hatte sie aufmerksam gemustert und wieder einmal wurde Mica bewusst, dass er ja Luftmagier war und damit ihre Gedanken lesen konnte. Besser als sein Sohn, der zwar das Luftelement in sich trug, aber zu wenig magische Kräfte, um ein richtiger Magier zu sein.

»So. Hört auf mit diesem Thema«, fuhr Cassiel dazwischen und schenkte Mica Wein nach. »Morgen wird dein Training beginnen. Ich werde es mir natürlich nicht nehmen lassen, dich, soweit es geht, selbst zu trainieren.« Er zwinkerte ihr zu.

»Mit Cassiel hast du einen hervorragenden Lehrer, was Kampftechniken, Schleichen und alle anderen Dinge betrifft, die du als Gesandte beherrschen musst«, nickte Aren bestätigend. »Was die Magie angeht, werde ich mein Bestes geben, um dir deren Beherrschung beizubringen. Allerdings kenne ich mich mit Feuerzaubern leider nicht allzu gut aus. Aber ich denke, ich werde dir genügend zeigen können, um aus dir eine ausgezeichnete Diebin zu machen. Zudem wird dir – sobald du Mitglied in der Feuergilde bist – freistehen, am Unterricht der Magiebegabten in der Elementgilde teilzunehmen. Dort wirst du lernen, deine Kräfte vollends zu beherrschen.«

Mica spürte, wie ein ungeahntes Hochgefühl sie überkam – und das lag nicht nur daran, dass sie, ohne es zu merken, bereits einen Becher Wein getrunken hatte.

Endlich war sie Mitglied in einer Gilde und endlich würde sie lernen, mit ihren Kräften richtig umzugehen!

Aren und Cassiel lächelten gleichzeitig, als sie ihr strahlendes Gesicht sahen.

Kapitel 3 – Cilian

»Ihr werdet für Eure schändliche Tat geradestehen müssen.« Cilian trat vor Néthan und sah ihn mit seinen azurblauen Augen herausfordernd an.

»Nur mit der Ruhe. Natürlich werde ich für das, was ich mir habe zu Schulden kommen lassen, die Verantwortung übernehmen.« Der Schurke musterte den Sohn des ehemaligen Zirkelleiters ebenso kühl. »Doch erst sagt mir, ob Ihr der König der Ratten seid oder nicht.«

»Das geht Euch nichts an!« Cilians Augen hätten Funken gesprüht, wäre er nicht von Natur aus ein ruhiger Mann gewesen.

»Oh doch, das geht mich sehr wohl etwas an.« Néthan versuchte, sich von den zwei Wachen zu befreien, die der Zirkelrat auf ihn angesetzt hatte und die ihn nun festhielten. Es widerstrebte ihm, Magie einzusetzen, denn er wollte nicht riskieren, von Cilian getötet zu werden. Néthan war nicht dumm, er wusste, dass der Zirkelrat das mühelos gekonnt hätte, da er ein viel mächtigerer Magier war als er.

Cilian atmete tief durch, um dann in ruhigerem Ton zu sagen: »Was würde es Euch denn bringen, wenn ich der König der Ratten wäre?«

»Sehr viel.« Néthan hielt dem bohrenden Blick stand. »Ich würde endlich eine Gelegenheit haben, mich mit den Dieben von Chakas in … Verbindung zu setzen.«

»Um was zu tun?«

»Das ist meine Angelegenheit.« Die Miene von Néthan verschloss sich.

»Wenn Ihr mir nicht verratet, was Ihr vorhabt, werde ich Euch keinerlei Antworten geben.« Cilian stand breitbeinig vor dem Schurken und strich sich eine seiner braun-blonden Locken nach hinten, die jedoch augenblicklich wieder in seine Stirn fiel.

»Ihr habt sie mir schon gegeben, indem Ihr nicht verneint habt.« Néthan lächelte wissend.

»So?« Cilian zog eine Augenbraue hoch und seine Miene glich einer undurchdringbaren Maske.

»Ja.« Néthan schüttelte endlich die Soldaten ab und trat einen Schritt auf den Sohn des Mannes zu, der ihn jahrelang beschützt hatte. »Hättet Ihr nicht den Posten des Königs der Ratten von Eurem Vater übernommen, hättet Ihr anders reagiert.«

Cilian atmete abermals tief durch, dann senkte er tatsächlich den Blick. »Und wie hätte ich Eurer Meinung nach reagiert?«

»Nicht, indem Ihr mich festnehmen ließet.« Néthan sah, wie die Kiefermuskeln des Zirkelrates arbeiteten.

»Was hat mein … Vater in Euch gesehen?« Cilian hob den Blick und musterte den Schurken mit neuem Interesse.

»Keine Ahnung«, antwortete Néthan ehrlich und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht einen zweiten Sohn, vielleicht eine Marionette – wer konnte Roís schon durchschauen? Außerdem war es mir einerlei. Ich war glücklich, dass ich jemanden hatte, der mir alles beibrachte, was ich als Magier wissen musste und mir eine … Perspektive bot.«

»Warum gilt Euer Interesse den Dieben? Habt Ihr Probleme mit ihnen?«

Néthans Blick wurde undurchschaubar. »Ja und nein … wie gesagt, das ist meine Angelegenheit.«

In dem Moment krächzte der Greif unruhig, der sich immer noch hinter Cilian verbarg, und lenkte damit die Aufmerksamkeit des Magiers auf sich.

»Ich werde Euch in den Kerker sperren lassen, bis ich entschieden habe, was ich mit Euch mache«, sagte Cilian energisch und gab den Wachen einen Wink, Néthan und Steinwind festzunehmen.

»Lasst Euch nicht zu lange Zeit dafür.« Néthan sah ihn mit schmalen Augen an.

»Ich lasse mir so lange Zeit, wie ich will«, antwortete Cilian mit einem unterkühlten Lächeln. »Führt sie weg!«

Steinwind musterte seinen Anführer verblüfft. Er schien damit gerechnet zu haben, dass Néthan den Magiern zumindest einen Kampf lieferte. Aber dieser ließ sich ohne Gegenwehr abführen. Also folgte ihm Steinwind ebenso widerstandslos.

Ehe die Wachen sie durch die Tür gebracht hatten, drehte sich Néthan nochmals zu Cilian um. »In der Tasche dort sind übrigens noch weitere … Geschenke für Euch.« Er zwinkerte ihm zu, während die Wachen sich darum bemühten, ihn weiterzuzerren.

Der Zirkelrat bückte sich nach der Tasche, die er erst jetzt bemerkte. Sie wog schwer. Als er sie öffnete, fand er darin drei Greifeneier, die sorgsam in dicke Wolle gewickelt waren.

Ein verblüffter Laut drang über seine Lippen, als er die Eier befühlte. Dieser Fremde hatte tatsächlich die Frechheit, Eier eines Königsgreifen zu stehlen und war dann auch noch kühn genug, sie ihm vorzusetzen. In seinen Ärger vermischte sich jedoch auch Neugier. Wer war dieser Mann, der seinen Vater dazu hatte bewegen können, ihn zu beschützen? Warum hatte er ihn nie im Zirkel gesehen? Andererseits – wenn Roís jemanden verbergen wollte, dann war ihm dies auch mühelos gelungen. Er hatte Möglichkeiten gehabt, deren Ausmaße Cilian erst in letzter Zeit immer mehr begriff.

Seine Gedanken wanderten zu dem Tag, an dem kurz nach dem Tod seines Vaters dieser Dieb namens Aren bei ihm aufgetaucht war.

Zunächst hatte er ihn für einen einfachen Luftmagier gehalten, der ihm seine Treue hatte schwören wollen. Das war nichts Ungewöhnliches, denn alle Posten im Zirkel waren zu der Zeit neu besetzt worden und manche Magier erhofften sich einen Vorteil, wenn sie sich dem neuen Zirkelrat gegenüber freiwillig loyal zeigten. Hinzu kam, dass Cilian den Magier als einen von seinem Zirkel erkannte. Er war hier in Chakas ausgebildet worden.

Aber dann hatte dieser sich als Dieb zu erkennen gegeben. Die Tätowierungen auf seinem Oberarm hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass er außerdem ein sehr erfolgreicher Dieb war. Ein Meisterdieb. Die schwarzen Tränen, die für getötete Menschen standen, hatten seine Haut regelrecht übersät. Allein die Tatsache, dass er sich Cilian ohne mit der Wimper zu zucken offenbart hatte, hatte den Zirkelrat neugierig gemacht und davon abgehalten, umgehend die Wachen zu rufen.

»Ich bin hier, um Euch um etwas zu bitten«, hatte Aren gesagt.

Cilian hatte die Stirn in Falten gelegt und ihn abwägend gemustert. Damals wie heute besaß der Meisterdieb eine Ausstrahlung, der man sich kaum entziehen konnte. Sein schwarzes Haar war nach hinten gekämmt gewesen, seine grünen Augen klug und wachsam. Die breiten Schultern, muskulösen Oberarme und seine geschmeidigen Bewegungen hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass er auch ohne Magie ein ernst zu nehmender Gegner war.

»Um was wollt Ihr mich bitten?«, hatte Cilian gefragt.

»Darum, das Erbe Eures Vaters anzutreten.«

Cilian hatte diesen ihm bereits sehr vertrauten Stich in seiner Brust gefühlt. Seit dem Tod des ehemaligen Zirkelleiters war seine Welt, wie er sie gekannt hatte, in tausend Teile zerbrochen. Nie würde er das Entsetzen vergessen können, das ihn jedes Mal zu übermannen drohte, wenn er daran dachte, was sein eigener Vater ihm hatte antun wollen. Rasch hatte er die aufkommende Bitterkeit und die Trauer verdrängt. Sein Vater war tot und würde es bleiben. Für immer. Ebenso wie seine Mutter, die sich aus Gram, als sie von den Machenschaften ihres Gemahls erfuhr, das Leben genommen hatte.

»Welches Erbe?«, hatte Cilian wissen wollen und sich dazu gezwungen, ruhiger zu klingen, als er sich fühlte.

»Das Erbe, das er Euch hinterlassen hat«, hatte der schwarzhaarige Dieb geantwortet. »Ich nehme nicht an, dass er Euch darüber unterrichtete, dass er mit der Diebesgilde in Kontakt stand?«

Cilian hatte den Kopf geschüttelt. Es war ihm unangenehm gewesen, vor dem Dieb zuzugeben, dass er und sein Vater im Grunde nicht oft miteinander gesprochen hatten. Sie waren einfach zu unterschiedlich gewesen.

Aren hatte geseufzt. »Das hatte ich mir schon gedacht. Euer Vater hat der Gilde große Dienste erwiesen. Er war derjenige, der uns geholfen hat, all die Jahre in unserem Versteck zu überleben. Er hat uns beschützt und unterstützt, wenn es darum ging, Gesetze etwas zu … verbiegen. Er war der König der Ratten.«

Cilian hatte vor Überraschung gekeucht. Er wusste, dass die Diebe von Chakas eine organisierte Bande waren, der noch keiner das Handwerk hatte legen können. Der Grund dafür war ihm jedoch bis zu diesem Moment nicht klar gewesen, obwohl er so offensichtlich auf der Hand lag. Natürlich konnte ihnen niemand etwas anhaben, wenn der Mann, der dafür zuständig gewesen wäre, sie selbst unterstützte.

Doch … was hatte sich der ehemalige Zirkelleiter davon versprochen? Nun ja, auch das war nicht schwer zu erraten. Eine ganze Gilde unter sich zu haben, die es mit den Gesetzen nicht so genau nahm, verschaffte eine Macht, die sich jeder Herrscher nur wünschen konnte. Und Cilians Vater war Herrscher durch und durch gewesen.

Nach einem langen Gespräch, in dem Cilian viele Dinge über die Diebesgilde erfuhr, hatte er eingewilligt, für unbestimmte Zeit der König der Ratten zu sein. Auch wenn er sich nicht gänzlich wohlfühlte in dieser Rolle. Aber die Vorteile, die er dadurch erhielt – gerade zu Beginn seiner neuen Arbeit als Zirkelrat – waren einfach nicht von der Hand zu weisen gewesen. Deswegen hatte er Aren schließlich sein Wort gegeben, die Diebesgilde zu schützen.

Seither war einige Zeit vergangen, in der Cilian den Meisterdieb besser kennenlernen konnte. Er hatte gemerkt, wie klug Aren war und sein Respekt für ihn war mit jedem Gespräch, das er mit ihm führte, gewachsen. Inzwischen vertraute Cilian ihm sogar, auch wenn er nie den Fehler machte, zu vergessen, dass Aren ein Dieb war, der jede Gelegenheit nutzen würde, sich einen Vorteil zu verschaffen. Eine Fähigkeit, die ihn an die Spitze der Diebesgilde gebracht hatte.

Vor allem aber verband Aren und ihn etwas, das er erst lange nach ihrem ersten Treffen herausgefunden hatte: Auch der Dieb hatte seine Familie verloren – so wie Cilian, dessen Frau und Kinder schon lange Zeit tot waren, da sie normalsterblich gewesen waren. Den Schmerz, den er mit ihrem Tod verband, hatte er in Arens grünen Augen wiedergefunden.

Cilians Kinder hatten nie geheiratet, da sie viel zu früh mit ihrer Mutter bei einem schlimmen Sturm auf See ums Leben gekommen waren. Daher hatten sie auch keine Nachkommen gezeugt, die seine Linie hätten fortbestehen lassen.

Inzwischen war sich Cilian sicher, dass ein Fluch auf seiner Familie lag. Alle seine Angehörigen waren tot und keiner war auf natürliche Weise verstorben. Nur seine Greife waren ihm noch geblieben, aber so sehr er sie auch mochte, sie ersetzten seine Familie nicht. Seine Cousine, die einzige Verwandte, die noch lebte, war weit im Süden und er fand nur wenig Zeit, sie zu besuchen.

Viel zu oft fühlte er sich einsam und mit jedem Jahr, das verstrich, des Lebens überdrüssiger. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er es noch als Segen empfunden, so mächtig zu sein, dass er sich mit seiner Magie jederzeit verjüngen konnte. Nun aber wurden seine Kräfte immer mehr zum Fluch. Allein das Wohl des Landes hielt ihn davon ab, damit aufzuhören, sich zu verjüngen, und seinem Leben endlich das natürliche Ende zu setzen, das er all die Jahrzehnte hinausgezögert hatte.

Auch Aren hatte nur noch einen einzigen Sohn, der sich jedoch weitgehend von ihm abgewandt hatte, wie er ihm eines Nachts erklärte, als sie gemeinsam bei einem Glas Wein zusammensaßen. Dabei hatten sich Trauer und Schmerz in seinem Blick vermischt. Es war das einzige Mal gewesen, dass Aren Cilian in seine Seele hatte blicken lassen. Aber es hatte genügt, um das Vertrauen des Zirkelrats in den Dieb zu verstärken.

Warum wollte jetzt dieser Schurke, der sich als Néthan vorgestellt hatte und so gekonnt in den Zirkel geschlichen war, unbedingt von ihm wissen, ob er der neue König der Ratten war? Und was hatte er mit den Dieben zu schaffen?

Einen Moment lang verwünschte Cilian sich dafür, dass er versäumt hatte, den Oberarm des Schurken anzusehen, um zu überprüfen, ob auch er ein Dieb war. Doch das würde er nachholen, wenn er ihn das nächste Mal zu sich bestellte.

Zunächst war es wichtiger, sich um den jungen Greif zu kümmern, der immer noch verstört und ängstlich in seinem Zimmer stand und sich verloren umsah.

»Komm, meine Kleine«, sagte er mit sanfter Stimme, die das Tier aufhorchen ließ.

Cilian hatte sofort gemerkt, dass es sich bei dem Jungtier um ein Weibchen handelte. Er hatte nun seit mehreren Jahrzehnten mit Greifen und ihrer Aufzucht zu tun und kannte sie wohl besser als jeder andere Mensch in Altra.

In den letzten Jahren war es ihm endlich gelungen, immer mehr Jungmagier an Greife zu binden. Aber diese Tiere waren äußerst wählerisch und es bedurfte viel Geduld und Zuwendung, sie für die Verbindung mit einem Menschen empfänglich zu machen.

Als er in die Adleraugen des Tieres blickte, stutzte er. Einen Moment lang schien ihm, als sähe ihn ein weiteres Augenpaar daraus an. Aber das konnte unmöglich der Fall sein. Der Greif war zu jung, um sich bereits mit jemandem verbunden zu haben.

Cilian fuhr sich durch die braun-blonden Locken und strich sie nach hinten, obwohl er wusste, dass sie ihm gleich wieder ins Gesicht fallen würden. Er würde diesem Néthan tatsächlich noch einige Fragen stellen müssen. Wie waren die beiden bloß an ein solch edles Tier geraten? Nach Cilians Kenntnis gab es derzeit keine Königsgreife in Chakas. Und doch stand hier einer lebendig vor ihm – und drei weitere warteten in ihren Eiern darauf, zu schlüpfen.

Kopfschüttelnd wandte er sich ab und bedeutete dem Greif, ihm zu folgen. Dieser schien einen Moment zu zögern, tappte dann aber hinter dem Mann her.

»So ist brav.« Cilian sprach sanft, um dem Greif gegenüber Vertrauen und Zuversicht auszustrahlen. »Ich werde dich nun erst mal in ein Quartier bringen, wo du dich ausruhen kannst. Dann sorge ich dafür, dass dieser Gestank«, er deutete auf das Fell des Greifen, das mit Schmutz und Kot verklebt war, »verschwindet. Außerdem wirst du etwas Anständiges zu essen bekommen.«

Aus der Kehle des Greifen entwich ein taubenähnliches Gurren, als hätte er Cilians Worte verstanden.

»Ja, Kleine, du hast nun ein neues Zuhause«, lächelte dieser, während er weiter durch die Gänge lief.

Kapitel 4 – Faím

Faím versuchte, seine Aufregung zu verbergen, doch es wollte ihm nicht wirklich gelingen. Er stand auf den Planken der Smaragdwind und die Mannschaft hatte wieder einmal einen Halbkreis um ihn gebildet. Oben auf dem Puppdeck war Sartons beeindruckende Gestalt zu erkennen. Seine schwarzen Augen ruhten auf dem Jungen, der sich alle Mühe gab, weniger nervös zu wirken, als er sich fühlte.

Seit dem Abend vor drei Tagen, als der Kapitän und er zusammen die Meerjungfrau gerufen hatten, hatte sich einiges geändert. Faím spürte keine Schmerzen mehr, weder im Kopf noch in der Brust, wenn diese mystische Kreatur in seiner Nähe war. Was im Grunde immer der Fall war, wenn er Land betrat. Ab und an vermeinte er auch, Chandra zu spüren, wenn er seinen Dienst an Bord der Smaragdwind verrichtete. Das Schiff lag immer noch im Hafen von Baltros und wurde für die bevorstehende Fahrt vorbereitet.

Keiner wusste, was der Kapitän als Nächstes vorhatte. Er hielt sich bedeckt, was die Gerüchte über seine neuen Ziele entsprechend anheizte. Viele munkelten, er wolle mithilfe der Meerjungfrau einige Schiffe kapern, doch Faím bezweifelte dieses Vorhaben. Er kannte Sarton inzwischen etwas besser und glaubte nicht, dass er planlos Schiffe entern würde. Nein, Sarton heckte etwas Größeres aus. Doch was, das behielt der breitschultrige Kapitän vorerst für sich.

Wie auch immer, im Moment zählte vor allem, dass Faím ein großer Schritt bevorstand, von dem er immer noch nicht glauben konnte, dass er Realität werden sollte: Er wurde zum Vollmatrosen ernannt. Bereits jetzt, nach so wenigen Wochen Dienst, was an Bord eines Schiffes eine Seltenheit war.

Aber seit der Verbindung mit der Meerjungfrau war Faím eines der wichtigsten Mannschaftsmitglieder geworden. Der Kapitän behandelte ihn stets mit einer gewissen Bevorzugung, die ganz offensichtlich nicht allen Männern an Bord passte. Doch keiner wagte, sich dagegen aufzulehnen. Stattdessen zeigten sie ihren Unmut, indem sie Faím mit bösen Blicken straften oder ihn mieden und von ihren Gesprächen ausgrenzten, indem sie sich in anderen Sprachen unterhielten.

Dem Jungen tat diese Behandlung zwar weh, aber er war es gewohnt, dass er ein Außenseiter war. Bereits bei den Kanalratten in Chakas war er derjenige gewesen, über den sich alle geärgert hatten, weil er anders und vor allem nutzlos gewesen war. Nun ja, im Grunde hatte sich an dieser Rolle nicht allzu viel geändert. Trotzdem hatte er insgeheim gehofft, hier auf der Smaragdwind Freunde zu finden und endlich dazuzugehören.

Dennoch gab es auch jene, die zu ihm hielten. Allen voran Kart, der ihn fast täglich darüber ausquetschte, wie es sich anfühlte, mit einer Meerjungfrau verbunden zu sein. Der Schiffsjunge mit dem weizenblonden Haar und den ernsten, tiefblauen Augen hatte zugegeben, dass er froh war, dass es nicht ihn erwischt hatte und dennoch bewunderte er Faím für seine neuen Fähigkeiten – von denen dieser selbst bisher jedoch noch nichts gespürt hatte. Es war, als hätte sich die Meerjungfrau seit dem ersten Tag etwas zurückgezogen und ihre Kräfte für sich behalten.

Doch Sarton war sich sicher, dass Faím, sobald sie auf See waren, der Meerjungfrau würde Befehle geben können. Und der Kapitän musste sich ja auskennen, schließlich war er selbst einmal mit einer Meerjungfrau verbunden gewesen.

Jetzt stand Sarton breitbeinig auf der Kommandobrücke und seine tiefe Stimme hallte laut über das Achterdeck: »Tritt vor, Schiffsjunge Faím«, sprach er in feierlichem Ton.

Dieser tat, wie ihm geheißen, und spürte, wie sein Herz, das ohnehin schon beängstigend schnell geschlagen hatte, zu rasen begann. Für einen Moment wurde ihm fast schwindelig vor Aufregung, dann riss er sich jedoch zusammen und konzentrierte sich auf die schwarzen Augen des Kapitäns.

Alle Blicke waren auf Sarton gerichtet, als dieser weitersprach: »Ab heute wirst du ein Vollmatrose sein mit allen Pflichten, die mit diesem Rang verbunden sind.«

Faím nickte stumm. Kart hatte ihm bereits lang und breit erklärt, was seine Aufgaben als Vollmatrose sein würden. Er würde im Takelwerk dafür sorgen müssen, dass die Befehle des Kapitäns augenblicklich befolgt wurden, regelmäßig die vierstündigen Wachen übernehmen – sowohl im Krähennest als auch an Deck –, immer wieder Einsätze am Steuer haben, im Kampf bei den Kanonen am Oberdeck aushelfen und sich im Nahkampf beteiligen. Vor allem Letzteres gab ihm bereits jetzt zu denken. Er hatte bei den Kanalratten nie gelernt, mit einer Klinge umzugehen, da sich immer Mica dafür eingesetzt hatte, dass ihm nichts geschah.

Aber der Quartiermeister Lenco führte mit seinen Vollmatrosen jeden Tag ein Waffentraining durch, an dem er ab sofort teilnehmen musste. Das beruhigte Faím ein wenig. Endlich würde er kämpfen lernen und wissen, wie er sich zu verteidigen hatte. Nebenbei würde er jedoch weiterhin für Reparatur- und Reinigungsarbeiten verantwortlich sein.

Sarton fuhr fort: »Du wirst außerdem einen zusätzlichen Namen erhalten, unter dem man dich an Land und auf See erkennen wird. Dein altes Leben geht hiermit zu Ende und dein neues als Vollmatrose auf der Smaragdwind beginnt.«

Faím schauderte. Zwar hatte Kart ihn damit beruhigt, dass er an Bord weiterhin seinen alten Namen tragen würde, aber die Vorstellung, einen zusätzlichen Namen zu besitzen, erfüllte ihn mit Angst und Stolz gleichermaßen. Da es jedem Vollmatrosen zustand, sich selbst einen Namen zu erwählen, hatte er lange überlegt, welchen er annehmen wollte, aber sich für keinen entscheiden können. Schließlich hatte er an die verhängnisvolle Nacht gedacht, als er so unfreiwillig auf der Smaragdwind gelandet war. Damals wütete ein bitterer Sturm, der ihn fast von den Planken gefegt hatte.

»Wie lautet dein Name?«, wollte Sarton nun wissen.

»Sturm«, antwortete Faím und reckte sein Kinn vor.

Er konnte einige Männer leise lachen hören, aber die meisten nickten zustimmend.

»Gut, Faím Sturm.« Sartons Gesicht regte sich nicht, während er den Namen aussprach, wie Faím erleichtert feststellte. »Ab sofort bist du ein vollwertiger Matrose und wirst der Smaragdwind bis zu deinem Tod dienen.«

Faím nickte abermals und tat so, als ob er sich damit abgefunden hätte, dass sein Leben auf diesen Planken stattfinden und auch enden würde. Doch insgeheim hoffte er, sobald wie möglich wieder nach Chakas fahren zu können, um seiner Schwester mitzuteilen, dass es ihm gut ging. Dass er noch am Leben war und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Ob er dann wieder auf die Smaragdwind zurückkehren wollte, konnte er jetzt noch nicht sagen. Das würde er entscheiden, nachdem er Mica alles erzählt hatte.

»Erhebt nun eure Becher, um Faím auf seinen neuen Namen ›Sturm‹ zu taufen!«, befahl Sarton.

Alle Mannschaftsmitglieder hoben ihre geteerten Lederbecher, in denen sich Rum befand. Auf ein Zeichen ihres Kapitäns hin schütteten sie den Inhalt über Faím, der unwillkürlich die Augen schloss.

Wenn er sie wieder öffnete, würde er ein Vollmatrose sein.

Er zitterte innerlich und zögerte den Moment noch etwas hinaus.

Dann, ganz langsam, öffnete er seine Augen und blinzelte. Der Rum lief ihm brennend zwischen den dunklen Wimpern hindurch und er rieb ihn rasch weg, ehe seine Augen zu tränen beginnen konnten. Das fehlte noch, dass er vor versammelter Mannschaft weinte!

Vor ihm stand Sarton mit einem Krug, den er ihm entgegenhielt. »Hier, trink ihn in einem Zug aus«, befahl er.

»Was ist darin?«, wollte Faím wissen.

»Na was wohl?« Sartons schwarze Augen funkelten amüsiert. »Rum, was denn sonst.«

Die Mannschaft lachte und feuerte den Jungen an, der zögernd das Gefäß entgegennahm. Zwar hatte er schon einige Male an Bord Alkohol getrunken, doch nie solch starken Rum. Und auch noch nie so viel davon …

»Los, trink! Sonst werden wir dich statt in ›Sturm‹ in ›Windchen‹ umtaufen!« Der Kapitän verschränkte seine Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an.

Zögernd setzte Faím den Krug an den Mund und hustete, als die ersten Schlucke brennend seine Kehle hinunterrannen.

»Weiter! Weiter!«, feuerte ihn die Mannschaft an.

Faíms Augen begannen nun doch zu tränen, während ihm gleichzeitig schwindelig wurde. Doch er trank, bis er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Das Schiff hatte noch nicht abgelegt, daher konnte das Schwanken, das immer stärker wurde, unmöglich von dessen schlingernden Bewegungen stammen. Alles in seinem Kopf wurde unendlich langsam und so sehr er auch versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, es gelang ihm nicht.

Schließlich, als der letzte Schluck in seiner Kehle verschwunden war, nahm ihm Sarton den Krug schmunzelnd ab. »Sehr gut, du verträgst mehr, als ich gedacht hätte.«