Die große Aufstiegslüge - Suat Yilmaz - E-Book

Die große Aufstiegslüge E-Book

Suat Yilmaz

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Beschreibung

Kann man ein Talent erkennen? Und fördern? Der Talentscout Suat Yilmaz sagt: Ja, man kann und man muss! Denn zahllose Studien belegen, dass in Deutschland nach wie vor nur Akademikerkinder das Privileg genießen, sich zu bilden. Doch brauchen wir dringend die versteckten Potenziale von Kindern mit Migrationshintergrund, Kinder von Arbeitern und Nichtakademikern. Denn aufgrund des demografischen Wandels, den wir schon heute erleben, wird es dringend nötig sein, die Talente aller Kinder zu entdecken. Dies ist für den Erhalt unseres gesellschaftlichen Wohlstands von großer Bedeutung, denn die Zukunft dieser Kinder bestimmt die Zukunft unseres Landes.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchTitelImpressum1 BILDUNGSSYSTEM »MADE IN GERMANY«2 ICH BIN EIN FEHLER IN DER MATRIX3 VON LEHRERN UND ZUKUNFTSMACHERN4 HANNAHS UNERLAUBTER TRAUM5 VON DER MACHT DER EMOTIONEN6 DER LEHRERBERUF: NICHTS FÜR MÄNNER UND MIGRANTEN?7 ELITE VON UNTEN8 DER SCHULORGANISMUS UND DIE ELTERN9 VOM ERFOLGREICHEN SCHEITERN10 WENN DIE SHISHA-BAR ZUR WIEGE DER DEUTSCHEN DEMOKRATIE WIRD11 FLÜCHTLINGE – DAS UNERWÜNSCHTE GESCHENK?12 INTEGRATION, HERPES UND MIGRATIONSHINTERGRUNDANMERKUNGEN

Über dieses Buch

Kann man ein Talent erkennen? Und fördern? Der Talentscout Suat Yilmaz sagt: Ja, man kann und man muss! Denn zahllose Studien belegen, dass in Deutschland nach wie vor nur Akademikerkinder das Privileg genießen, sich zu bilden. Doch brauchen wir dringend die versteckten Potenziale von Kindern mit Migrationshintergrund, Kinder von Arbeitern und Nichtakademikern. Denn aufgrund des demografischen Wandels, den wir schon heute erleben, wird es dringend nötig sein, die Talente aller Kinder zu entdecken. Dies ist für den Erhalt unseres gesellschaftlichen Wohlstands von großer Bedeutung, denn die Zukunft dieser Kinder bestimmt die Zukunft unseres Landes.

SUAT YILMAZ

DIE GROSSE AUFSTIEGSLÜGE

Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Swantje Steinbrink, Berlin

Umschlaggestaltung: Christina Hucke, www.christinahucke.de

Umschlagmotiv: © Westfälische Hochschule

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-2982-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1 BILDUNGSSYSTEM »MADE IN GERMANY«

In den letzten Jahren wurden zahlreiche Bildungs-, Integrations- und Kulturdebatten geführt. Wirklich viel gebracht haben sie nicht. Die meisten Debatten waren gekennzeichnet von Ängsten, Sorgen und einem auf Defizite fixierten Blick. So haben wir kostbare Zeit mit Misstrauen und Kategorisierungen verloren, Zeit, die für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes von großer Bedeutung ist. Die Antwort auf all diese Debatten, Sorgen und Ängste in unserer Gesellschaft muss daher eine Bildungssystematik sein, die es den nachfolgenden Generationen ermöglicht, unabhängig von der Herkunft erfolgreich zu sein. Denn die Lücken in der Riege der Hochqualifizierten, die aufgrund der demografischen Entwicklung gerissen werden, schließen nicht automatisch top ausgebildete Fachkräfte. Vielmehr werden Generationen nachrücken, die zahlenmäßig kleiner sind und von »unten« kommen – darunter viele mit einem Migrationshintergrund. Aktuell wächst jedes dritte Kind unter fünf Jahren in einer Migrantenfamilie auf. Wir wissen also schon heute, wer die Bürger des zukünftigen Deutschlands sein werden. Sie sind geboren und werden in einigen Jahrzehnten dieses Land führen. Die demografischen Entwicklungen unserer Gesellschaft in den nächsten dreißig Jahren lassen sich deshalb auch relativ gut abschätzen, auf jeden Fall besser als das Wetter in den nächsten zwei Wochen. Insofern müssen wir unser Bildungssystem auch zu einem Talentförderungssystem umbauen. Schließlich ist und bleibt Bildung der Schlüssel zum Erfolg – für den Einzelnen ebenso wie für unser Land. Einen positiven Beitrag der jungen Menschen, die aus einem sozioökonomisch schwachen Milieu stammen, aus Arbeiter- und Zuwandererfamilien, von Kindern alleinerziehender Mütter oder Väter können wir nur erwarten, wenn wir ihre Talente zur Entfaltung bringen. Sie sind unsere Bildungsreserve, so schnell werden keine anderen kommen. Und auch die Heerscharen an top ausgebildeten Fachkräften aus dem Ausland, die in Zukunft passgenau die von der Demografie aufgerissenen Lücken füllen werden, dürften eine Wunschvorstellung sein. All die Talente, die wir bisher übersehen haben oder übersehen wollten, sind daher wichtiger denn je. Wir brauchen diese Kinder und Jugendlichen dringend. Aber noch sind wir meilenweit entfernt von einem gerechten und produktiven Bildungssystem. Und von einer umfassenden Talentförderung kann erst recht nicht die Rede sein. Es ist traurig, aber vor allem höchst problematisch, dass die Zukunftsaussichten für die Kinder der »Unterschichten« in keinem anderen europäischen Industrieland so schlecht sind wie in Deutschland. Ich bin jedoch sicher: Dieses Land kann mehr.

Das Bildungssystem ist kein Naturgesetz

Wenn wir in Deutschland über Bildung sprechen, dann häufig in einem negativen Zusammenhang. Insbesondere die 2001 veröffentlichte Pisa-Studie hat die Schwächen des deutschen Bildungssystems offengelegt und hitzige Defizitdebatten ausgelöst. Auch wenn sich 15 Jahre später vieles verbessert hat, so muss doch noch mehr getan werden. Zahllose Studien wie die Studie »Bildung in Deutschland 2016«1 belegen, dass wir eine Schieflage im Bereich der Bildung und sozialen Durchlässigkeit in unserem System haben. Wäre der typische Bildungsweg ein Hundertmeterlauf, würden einige Kinder nicht von der Startlinie losspurten, sondern zehn, zwanzig, ja vielleicht sogar fünfzig Meter Vorsprung haben. Wer dann als Erster die Ziellinie erreicht, ist also nicht unbedingt der schnellste Läufer. Zwei Zahlen aus der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (2012), die das eindrücklich unterstreichen: Von 100 Kindern, deren Eltern Akademiker sind, führt 77 ihr Weg an eine Universität oder Fachhochschule. Von 100 Arbeiterkindern hingegen gehen nur 23 diesen Weg. Ganz offensichtlich gibt es in unserem Bildungssystem Hürden, die sich nur schwer überwinden lassen.

Viel bewirkt haben die Erkenntnisse aus den Studien bedauerlicherweise nicht. Noch immer zertrümmern wir Biografien Hunderter, Tausender junger Menschen in unserem Bildungssystem. Kinder akademischer Eltern haben nach wie vor eine höhere Chance, im Regelsystem Schule und Hochschule erfolgreich zu sein, als die Kinder von Arbeitern und Nichtakademikern. Das Land mit einem der besten Sozialsysteme, mit einer der stärksten Ökonomien der Welt, das Land der Maschinenbauer und technologischen Meisterleistungen, das Land der Denker und Dichter verschwendet Tausende Talente, statt die Vielfalt und Dynamik seiner Jugend in positive Energie und gesellschaftlichen Fortschritt zu verwandeln.

Doch das Bildungssystem ist kein Naturgesetz, es ist nicht unantastbar und auch keine Glaubenssache, es ist eine Variante, für die wir als Gesellschaft uns einst entschieden haben – und die wir bis in die Gegenwart (er-)tragen. Die Klassengesellschaft in unserem Bildungssystem aber lähmt nicht nur die Individuen, sie lähmt das Entwicklungspotenzial Deutschlands und gefährdet damit seine Zukunftsfähigkeit.

Der »Zukunftsrohstoff«, davon bin ich fest überzeugt, ist in den Köpfen der jungen Menschen. Wir müssen ihn nur freisetzen und nutzen – ob diese Köpfe nun blond-, schwarz-, rot- oder braunhaarig, mit Irokesenschnitt versehen oder mit einem Tuch verhüllt sind. Viel zu lange haben wir das Thema Bildung kulturalisiert, mit horrenden Steuergeldern haben wir das »Ihr und Wir« zementiert, das »Oben und Unten« stabilisiert und Ungerechtigkeit etabliert. Das ist für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland fatal.

Als Grundlage für die Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik unseres Landes ist die systematische, herkunftsunabhängige Talentförderung unabdingbar. Dabei geht es nicht darum, sozialromantisch das Establishment um die Chancengleichheit im Bildungsbereich anzubetteln, sondern um ein Grundrecht, ein Menschenrecht, das wir als Gesellschaft einfordern müssen. Schließlich bedeutet die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes auch die Unantastbarkeit der Chance auf Bildung. Bildungschancen zu verwehren ist daher nichts anderes als die Verletzung der Menschenwürde.

Würde. Dieses große Wort birgt eine noch größere Verantwortung, die jeder von uns zu tragen hat. Und jeder Schwur eines Beamten, jedes Bekenntnis eines Bürgers zu den Grundwerten unseres Landes, jeder Eid eines Abgeordneten verpflichtet dazu, den Prinzipien der Menschenwürde und Gleichberechtigung gemäß zu handeln. Dazu gehört, sich für das Recht auf Bildung jenseits von der Herkunft des Einzelnen einzusetzen. Dennoch wird dieses so wertvolle Menschenrecht immer wieder und systematisch verletzt.

Risikofaktor Bildungssystem

Wenn wir die Bildungsstatistiken renommierter Forscher zusammenfassen, wird die penetrante Ungerechtigkeit, die im deutschen Bildungssystem tagtäglich praktiziert wird, mehr als deutlich: Kinder, deren Eltern arbeitslos sind oder ein geringes Einkommen oder keinen höheren Schulabschluss haben, gehören in Deutschland zur sogenannten Risikogruppe. Und wenn ein Kind aus einer bildungsfernen Hartz-IV-Familie mit Zuwanderungsgeschichte stammt, sieht seine (berufliche) Zukunft extrem düster aus, denn dann gehört es zur Hochrisikogruppe. Sind diese Kinder ein Risiko für unser Bildungssystem? Oder ist es eher umgekehrt? Ich behaupte nämlich, unser Bildungssystem setzt diese Kinder einem gefährlichen Risiko aus, dem Risiko, nicht die Zukunft zu haben, die ihnen aufgrund ihrer Potenziale und Talente zusteht. Diesem Bildungs- und Zukunftsrisiko sind sie also nur deshalb ausgesetzt, weil sie nicht die »richtige« Herkunft vorweisen können. Unser schwerfälliger, völlig veralteter Bildungsapparat neutralisiert das Talent und reproduziert herkunftsbedingte prekäre Biografien. Anders lassen sich die unzähligen empirischen Befunde kaum nachvollziehen: Nur etwa 6 Prozent der Kinder, die von allen drei Risikolagen – »Eltern arbeitslos, arm und bildungsfern« – betroffen sind, schaffen den Sprung auf das Gymnasium.2 Die 94 Prozent, die – ungeachtet ihrer Fähigkeiten und Talente – durchs Bildungsnetz fallen, haben halt Pech gehabt! Ist das die Logik unseres Systems? Müssen alle Kinder und Jugendlichen, die nicht auf der Sonnenseite der Gesellschaft geboren wurden, mit dem hohen Risiko, in unserem Bildungssystem abgehängt und vergessen zu werden, leben? Noch mal zum Vergleich: 42 Prozent aller Kinder, die bei den »richtigen« Eltern aufwachsen und den genannten Risikofaktoren nicht ausgesetzt sind, werden auf das Gymnasium versetzt. Die Zukunftsaussichten dieser Kinder sind also siebenmal rosiger als die der »Risiko«-Kinder, was auf gut Deutsch heißt: Das Recht auf Teilhabe an Bildung steht in einem skandalösen Zusammenhang mit dem Milieu, dem kulturellen und finanziellen Kapital der Eltern, mit der Herkunft. Wo bleibt da die Menschenwürde? Wo bleibt das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung? Wann wollen wir dieses unwürdige Leck in unserer Gesellschaft endlich angehen? Denn eines sollten wir uns immer vor Augen halten: Das Grundgesetz ist nicht die Hausordnung einer Kneipe, kleingedruckt an der Wand hängend, die man zufällig auf dem Weg zum Klo sieht. Unser Grundgesetz ist das Fundament unserer Gesellschaft, die zentrale, nicht diskutierbare Werteordnung, die Bedienungsanleitung der Bundesrepublik Deutschland. Und die Grundrechte ebenso wie die daraus resultierenden Pflichten gelten nicht nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen, Milieus oder Regionen, sondern für alle Menschen, die in diesem Land leben. Schaut man sich die Zustände in den meisten Staaten dieser Welt an, so wird deutlich, wie kostbar und schützenswert das deutsche Grundgesetz ist. Deshalb müssen auch wir als Gesellschaft dieses Buch mit seiner Botschaft und unsere Verantwortung ernst nehmen. »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes benennt also auch klar die Verantwortlichen, die das elementare Grundprinzip der Menschenwürde wahren und durchsetzen müssen. Übersetzt auf den Bereich Bildung heißt das: Der Staat – das sind die von uns gewählten Volksvertreter und Volksvertreterinnen – ist verpflichtet, auf seinem Territorium eine Bildungsteilhabegerechtigkeit auf allen Ebenen und für jeden Menschen zu gewährleisten.

Bildungsgerechtigkeit statt Soziallotterie

Warum ist es offenbar so schwer? Wer oder was steht bei der Durchsetzung und Wahrung der Menschenwürde im Bereich Bildung im Wege? Wer kennt die Studien, wonach sich die Chancenlosigkeit von Kindern aufgrund der heimischen Postleitzahl fast hundertprozentig prognostizieren lässt, und übernimmt trotzdem keine Verantwortung bzw. erfüllt seine Pflichten nicht? Wer profitiert von dieser Ungerechtigkeit in unserem Bildungsapparat? Wir müssen den lähmenden Schlamm endlich auskehren und unsere Schulden bei der nachfolgenden Generation begleichen. Vielleicht sind die Schulden so hoch, dass dies nur in Raten möglich ist, aber wir müssen jetzt anfangen abzuzahlen. All die Studien, die zum Thema Bildungsungerechtigkeit veröffentlicht werden, sind nichts anderes als Mahnungsschreiben unserer Gläubiger, der Kinder und Jugendlichen Deutschlands. Wir schulden ihnen die Chance auf Bildungsgerechtigkeit, auf herkunftsunabhängige soziale Etablierung und eine Zukunftsteilhabe innerhalb unserer Gesellschaft, die ihren Potenzialen entspricht. Was wir brauchen, ist ein Bildungssystem, das wie ein soziales Katapult funktioniert. Jeder sollte aufgrund seines vorhandenen Potenzials und seiner Leistungsbereitschaft dorthin befördert werden, wo er hingehört. Eine herkunftsneutrale Talententfaltung zu gewährleisten ist für die Zukunftsfähigkeit einer modernen Gesellschaft entscheidend.

Bildungsgerechtigkeit statt soziale Lotterie – das wird in einer sich ständig verändernden, vielfältigen und von niedriger Geburtenrate geprägten Gesellschaft mehr als eine moralische Norm sein. Bildungsgerechtigkeit ist eine demokratische und ökonomische Notwendigkeit und kein sozialer Luxus, den man sich gönnen kann oder auch nicht. Hier geht es nicht um das »Ob«, sondern um das »Wie« – und das nicht irgendwann, sondern sofort: Hatten wir eigentlich schon längst keine Zeit in Sachen grundlegender Bildungsreform mehr zu vergeuden, so ist es angesichts der großen Herausforderungen, die mit den Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind und noch kommen werden, das Gebot der Stunde: Unser Bildungssystem muss modernisiert und personell wie strukturell den heutigen Gegebenheiten und Ansprüchen angepasst werden. Die vielen Kinder und Jugendlichen beispielsweise, die zusammen mit ihren Familien oder alleine vor Krieg und Verfolgung in unser Land flüchten, landen automatisch im Bildungssystem. Und genau hier müssen wir die jungen Menschen an unsere Gesellschaft heranführen, sie kulturell akklimatisieren und gleichzeitig ihre Talente fördern. Der Faktor Zeit ist bei diesem Prozess enorm wichtig, denn die Kitas, Schulen und Hochschulen, aber auch Ausbildungsbetriebe können für diese Kinder das Tor zu einer lebenswerten Zukunft in und vor allem für Deutschland sein. In jedem dieser unserer Kinder steckt ein Talent, und wir brauchen diese Talente für unsere Gesellschaft. Je mehr jetzt an der (integrierenden) Bildung gespart wird und je länger die überfälligen Schritte auf sich warten lassen, desto teurer und konfliktträchtiger wird es. Sobald diese Kinder in Deutschland sind, zählt jeder Tag, um Folgeschäden so gering wie möglich zu halten. Wir müssen direkt, professionell und adäquat agieren. Jedes Kind, jeder Jugendliche sollte die für ihn passende Bildungsversorgung bekommen. Denn mit jedem Talent, das wir finden und fördern, erhöhen wir die Kraft unserer Gesellschaft.

Für Bildungsungerechtigkeit ist niemand. Im Gegenteil, die meisten Menschen, denen ich auf meinen Vorträgen quer durch die Republik begegne, wollen mehr Gerechtigkeit für alle. Auch die zahlreichen E-Mails, vom Handwerker, Angestellten, Studenten, Professor, Millionär, von der alleinerziehenden Mutter bis zur Familie mit Migrationshintergrund, zeugen davon: Sie alle stellen mir nicht nur Fragen, sondern bieten auch ihre aktive Unterstützung an. Wenn also Ungerechtigkeit im Bereich Bildung über alle gesellschaftlichen Schichten, Kulturen und demokratischen politischen Lager hinweg abgelehnt wird, warum ist es dann so verflixt schwer, diese Gerechtigkeit allen Kindern zukommen zu lassen?

An dieser Stelle ist es mir ein Anliegen, meiner harten Kritik am deutschen Bildungssystem und meinen Änderungsvorschlägen eines hinzuzufügen: Dieses Bildungssystem gehört zu den besten, die wir in Deutschland je hatten! Deshalb gilt es, nicht alles kaputt- und schlechtzureden. Nur weil die Fassade bröckelt, im Keller kein Licht ist, die Heizung nicht wärmt oder das Wasser nicht fließt, bricht ja auch niemand gleich das ganze Haus ab. Ideologische und totale Bildungsdebatten bringen uns nicht weiter, vielmehr müssen wir aufstehen und diesem »Bildungshaus« eine leuchtende, freundliche Farbe geben, Licht in den Keller bringen, die Heizung reparieren und für fließend Wasser sorgen.

Für unser Bildungssystem bedeutet es, genau zu schauen, wo das System Ungerechtigkeit, Resignation und Angst produziert statt Hoffnung, Mut und Motivation. Hier ist insbesondere der Blick auf die Orte, die Haltung der Bildungsakteure, die Strukturen und Phasen des Bildungssystems zu richten. Wo, wann und durch wen werden junge Menschen gedemütigt statt gewürdigt und von Bildung ferngehalten?

Aus der Not eine Zukunft machen

Wir befinden uns mitten in einer Zeitenwende. Unsere Gesellschaft verändert sich rapide und auch ein Stückweit dramatisch. Millionen Menschen kommen voller Hoffnung nach Europa, nach Deutschland. Eine mächtige, kaum aufzuhaltende Wanderung, die das Gesicht unseres Landes und des Kontinents zweifellos prägen wird. Da bleibt keine Zeit – weder für eine »Es wird schon irgendwie«-Haltung noch für realitätsfernes »Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg«-Gerede. Wir müssen – jetzt! – Instrumente entwickeln, um jene zu erreichen, die bisher abgeschrieben wurden. Wir müssen es schaffen, Herkunft im Bildungssystem zu neutralisieren, und stattdessen das Talent jedes Einzelnen (be-)greifen. Wir müssen Strukturen anheben und beleuchten, um zu ergründen, was und wer darunterliegt, wen wir übersehen haben – und selbst jene erreichen, die sich selbst nicht dort sehen, wo wir sie als Gesellschaft brauchen. Wir müssen ein flexibles »Aus der Not eine Tugend machen«-Management entwickeln. Angesichts der nationalen, europäischen und globalen Herausforderungen ist eine »neue Gerechtigkeit«, die neue Köpfe unabhängig von der Herkunft produziert, unabdingbar. Deutschland braucht aktive Talentförderung im Bildungs- und Einwanderungssystem. Weg von der »Elendsverwaltung« hin zu einem intervenierenden, aufsuchenden und veredelnden System, das sich an die Bedürfnisse der einzelnen Menschen richtet, aber auch den Bedürfnissen und Möglichkeiten der deutschen Gesellschaft Rechnung trägt. Ein System und ein Denken, das die Zukunftsfähigkeit, Stabilität und soziale Gerechtigkeit Jahrzehnte im Voraus plant. Dort, wo wir mit Humanismus und sozialer Gerechtigkeit auf konservative Betonköpfe stoßen, brauchen wir eine pragmatische Toleranz, sprich eine Toleranz, die auf wirtschaftlichem Kalkül basiert und nicht zwingend eine tiefe moralische oder soziale Komponente haben muss. Manchmal müssen wir halt den Bohrkopf auswechseln, um auch durch die ganz dicken Bretter zu kommen. Und dort, wo wir auf die Hüter der Ungerechtigkeit in unserem Bildungs- und Ausbildungssystem stoßen, ist ein messerscharfes Talentmanagement, eine auf das Individuum und seinen Lebenskontext zugeschnittene Entwicklungsinvestition (aufsuchen – intervenieren – veredeln) gefragt, um faulige Ungerechtigkeitsherde herauszuschneiden. Nur durch eine systematische Bildungsexpansion, die möglichst viele Bevölkerungsteile erfasst, und eine Gerechtigkeitsexpansion in alle gesellschaftlichen Himmelsrichtungen wird eine wirtschaftlich stabile, soziale und gerechte Gesellschaft auch in Zukunft wahrscheinlich. Und wer weiß, wo dieses Land heute stünde, hätten wir schon in der Vergangenheit das Thema Bildungschancen für breitere Bevölkerungsgruppen zugänglich gemacht. Also warum nicht jetzt Deutschland zum globalen Marktführer in Sachen Talentmanagement, Bildungstechnologie und -produktion machen? Denn das Grundgesetz mit seinem Artikel 1 ist ja nicht nur der Versuch seiner »Mütter und Väter« gewesen, das Unfassbare für alle Zukunft zu verhindern, sondern auch der mahnende Auftrag an ihre Erben, keinen Menschen auszugrenzen, weder Herkunft noch Religion, noch sozialen Status zu Schienen in die Ungerechtigkeit zu machen. Insofern sind die Hoffnungen aller Menschen genauso gleichwertig, wie die Ängste aller Menschen gleichermaßen ernst zu nehmen sind. Vor allem Kinder und Jugendliche, die sich unserem Bildungssystem anvertrauen und in naher Zukunft dieses Land stützen und voranbringen sollen, müssen ernst genommen werden. Ihre Ängste und ihre Hoffnungen sind staatspolitisch und strategisch immens wichtig. Ein Staat, eine Gesellschaft, ein System, das die Hoffnungen und Ängste seiner Jugend nicht kennt, rast blind in die Zukunft. Ohne die Talente, ohne das Potenzial und die Energie von Kindern und Jugendlichen sind alle technischen und kulturellen Errungenschaften nichts wert.

Der Bildungsviertakter

Von außen betrachtet wirken Schülerscharen oft ziemlich chaotisch und anonym. Mich, der sich fast täglich in einer anderen Schule und auf den unterschiedlichsten Pausenhöfen bewegt, erinnert das Ganze bisweilen an die Gnuwanderung in der Serengeti. Hunderttausende, die durch die Schullandschaften laufen, alle in eine bestimmte Richtung, und jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit, an immer derselben Wasserstelle versuchen sie, den Fluss zu überqueren. Viele von ihnen werden scheitern, wie in jedem Jahr. Auch in unserer Bildungslandschaft gelingt vielen der Übergang von der Grundschule auf die passende weiterführende Schule, von der Schule in eine Ausbildung oder nach dem (Fach-)Abitur in die Hochschule nicht. Sehe ich die Schüler eng gedrängt durch die Gänge laufen, frage ich mich immer wieder, was wohl aus diesem oder jenem jungen Menschen werden wird. Wer von ihnen wird Handwerker, wer Altenpfleger, Arzt, Kaufmann, wer Ingenieur, Lehrer oder Finanzbeamter? Und manchmal frage ich mich, ob unter ihnen nicht ein zukünftiger brillanter Forscher ist, der ein Heilmittel gegen eine tödliche Krankheit entwickeln wird. Wie viele Talente haben wir wohl schon verloren? Diese Frage treibt mich um – und gleichzeitig träume ich von einem perfekten System, das nicht nur lehrt, sondern so engmaschig nach Talenten scannt und mit bildungstechnokratischer Vehemenz die Defizite aus der sozialen Herkunft glattbügelt wie kein anderes System der Welt. Ein »Made in Germany« in den Bereichen Bildungsgerechtigkeit und Talentförderung. Dieser Traum wird sich vermutlich nicht so schnell realisieren lassen, aber der Gedanke, junge Menschen zu fördern, die vielleicht einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten können, motiviert mich. Auf diese Weise erhält jeder einzelne Schüler eine besondere Wertigkeit – und verleiht gleichzeitig auch allen Bildungsmanagern wie Lehrerinnen und Lehrern, Berufs- und Studienberatern, Kindergärtnerinnen, Erziehern und Professorinnen eine höhere Wertigkeit. Diese doppelte Selbstwirksamkeit, diese gesunde Form der Selbstaufwertung, dieser Traum von einem gerechten Bildungssystem, all das formt sich zu einer Vision, aus der sich wiederum motivierende Ziele ableiten. Meine Motivation ist wie eine Schutzweste, wenn ich beispielsweise durch die nüchterne Realität der Schulen im nördlichen Ruhrgebiet laufe.

Sie schützt mich vor der bisweilen gewaltigen Trost- und Hoffnungslosigkeit in unseren Schulen und Köpfen – und beweist den vielen Schülern und Studenten, mit denen ich spreche, dass man sich selbst erheben kann und muss. Das Recht auf eine Bildungschance beginnt mit dem Recht auf den Traum von einer besseren Zukunft. Nur auf diesem Traum können Motivation und Leistungsbereitschaft bei den jungen Menschen gedeihen. Mit dem persönlichen Traum von einem guten Leben, von Erfolg und Anerkennung ist es möglich, nicht nur die Hoffnungslosigkeit, sondern auch die abstrakte, nebulöse und nicht selten negative Zukunftsvorstellung vieler Jugendlicher zu durchbrechen.

Dieses einfache Traum-Vision-Ziel-Motivation-Prinzip ist vergleichbar mit dem Viertaktprinzip des Ottomotors. Für alle, die wie ich in puncto Technik komplett talentfrei sind: Gemeint ist das Prinzip des Verbrennungsmotors, das 1876 von Nikolaus August Otto erfunden wurde. Sehr vereinfacht dargestellt geht es darum, die durch das Verbrennen von Benzin oder Diesel freiwerdende Energie in mechanische Energie umzuwandeln. Im ersten Takt, dem Ansaugen, wird vom Vergaser ein Benzin-Luft-Gemisch durch den Kolben in den Zylinder gesaugt. Bei dem Talentförderungs-Viertakter geht es mit der Frage nach dem Traum los. Diese Frage spielt eine wesentliche Rolle, wenngleich die meisten im ersten Moment irritiert sind, dass ein »Offizieller« nicht nach ihren Noten, sondern nach ihrem Traum fragt. Doch genau damit beginnt der Prozess. Man muss sich nur mal vorstellen, wie es auf einen fünfzehn oder sechzehn Jahre alten Menschen wirkt, wenn in der Schule ein Typ von der Hochschule auftaucht und sagt: »Ich bin Talentscout, hier ist meine Karte.« Das ist ein unglaublich effektiver Einstieg, eine extrem positive emotionale Information. Junge Menschen reagieren darauf, lassen sich ein. Es ist wie das Ansaugen beim Ottomotor, nur dass hier das Interesse und die Motivation des Schülers in den Prozess der Talentförderung gesaugt wird.

Wir versuchen, die jungen Menschen in den individuellen Gesprächen für ihre eigenen Potenziale, die Selbstwirksamkeit und die Möglichkeiten, die das System bieten kann, zu öffnen. Manch einer muss erst davon überzeugt werden, dass er überhaupt ein Talent hat und es schaffen kann.

Im zweiten Takt des Ottomotor-Prinzips geht es um das Verdichten: Der Kolben presst das Gasgemisch zusammen. Übertragen auf das Talentscouting-System heißt das, dass aus dem Traum im Laufe etlicher Gespräche eine positive Zukunftsvision herausgearbeitet wird, die – in Anlehnung an den persönlichen Traum – realisierbar erscheint. Der Traum des Jugendlichen, seine Hoffnungen, das »Zukunftsgasgemisch« wird zusammengepresst und zu einer handfesten Vision verdichtet. In dieser kommt der Schule eine wichtige Funktion zu: Sie wird das Mittel zum Zweck. Mathe, Deutsch, Englisch und die anderen Fächer verwandeln sich in der Wahrnehmung des Jugendlichen von drögen Unterrichtsfächern zu Bausteinen seiner persönlichen Vision.

Zurück zum Motor und dem dritten Takt, dem Arbeiten: Der Funke einer Zündkerze entzündet das Gasgemisch, sodass es explosionsartig verbrennt. Der Druck schiebt den Kolben nach unten. Der Kolben arbeitet nun mechanisch, bewegt sich hin und her. Und über die Pleuelstange und Kurbelwelle kommt eine Drehbewegung in Gang. Bezogen auf den jungen Menschen: Aus der Vision entwickeln wir gemeinsam kurzfristige und mittelfristige Ziele. Die komplexe, bislang unberechenbare Zukunft wird plötzlich griffig und lenkbar. Leistung und die Bereitschaft, sich für den eigenen Weg einzusetzen, die Komfortzone zu verlassen und Leidenschaft für den eigenen Erfolg aufzubringen, ist ein harter Prozess. Doch das Kämpfen führt zum Gelingen – und die Jugendlichen erkennen und glauben daran, dass sie ihre Ziele erreichen können. Der Weg in eine bessere Zukunft ist kein Hirngespinst mehr, sondern liegt »sichtbar« vor ihnen: Es entsteht Motivation, es entsteht Bewegung.

Im vierten Takt des Verbrennungsmotors bewegt sich der Kolben erneut nach oben und drückt durch das geöffnete Auslassventil die Verbrennungsgase aus dem Zylinder heraus. Übersetzt heißt das: Der Traum, die Vision, das Ziel arbeiten im Kopf der jungen Menschen. Sie stoßen viele Sorgen und Ängste aus. Ähnlich wie beim Ottomotor ist es oftmals notwendig, zum ersten Takt zurückzukehren und den Prozess erneut anzukurbeln. Ist beispielsweise der Übergang von der Schule zur Hochschule gelungen, kommen neue Ängste, Sorgen und Hindernisse auf. Der Traum und die Vision müssen erneut entzündet werden, damit die Bewegung weitergeht. Hierbei kommt dem Talentscout oder anderen Bezugspersonen eine wichtige Funktion zu, denn sie müssen diesen Mechanismus immer wieder neu anwerfen. Viele der Jugendlichen aus Nichtakademikerfamilien und aus sozioökonomisch weniger privilegierten Verhältnissen haben niemanden, der an sie glaubt oder in der Lage ist, sie im Dschungel des Bildungssystems zu unterstützen respektive Prozesse und Misserfolge mit ihnen gemeinsam zu reflektieren. Die Folge: Der Entwicklungsprozess gerät ins Stocken.

Aus dieser »Haltungsmechanik«, diesem sozialen Viertakt, speist sich die Talentförderung: Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass die Kinder und Jugendlichen Potenziale haben, die es zu wecken und zu fördern gilt. Statt diese jungen Menschen auf ihre Lebenswelt zu reduzieren, wird ihre Leistung in Relation zu ihrem Lebenskontext gesetzt. Nur so wird man der erbrachten Leistung wirklich gerecht, nur so können Potenziale umfassend erkannt werden. Um wieder einen Autovergleich zu verwenden: Ein Ferrari mit 500 PS ist auf der leeren Autobahn beinahe unschlagbar und bestimmt einer der besten Sportwagen der Welt. Aber was vermag so ein flotter Ferrari im schwierigen Gelände zu leisten? Auf unbefestigten Pisten und im dichten Feierabendverkehr? Abseits gut geteerter, breiter, freier Straßen ist ein Ferrari nichts weiter als ein teures, aber nutzloses Spielzeug. Ohne Kontext ist Leistung relativ. Genau darum muss es bei der Talentförderung gehen: das Individuum und seine Leistungsfähigkeit so zu hinterfragen, das die Relationen stimmen. Fraglos handelt es sich dabei um eine langfristige, mühselige und harte Arbeit. Aber ohne diese positive Haltung und ohne die Träume und Hoffnungen der jungen Menschen aufzugreifen, um mit diesen zu arbeiten, ist es kaum möglich, die Talente und Potenziale der Jugendlichen aufzuspüren und (für die Gesellschaft) zur Entfaltung zu bringen. Auch sind natürlich nicht alle Jugendlichen künftige Nobelpreisträger. Doch ob ein junger Mann von einer Laufbahn als Schlosser träumt oder ein junges Mädchen aus einer Arbeiterfamilie Ingenieurin werden möchte, ist letztlich völlig unwichtig. Ihnen ihre Träume erst mal bewusst zu machen und ihnen den Glauben an sich selbst zu vermitteln, darum geht es, dafür arbeiten wir. Und zu sehen, wie junge Menschen »Flügel« bekommen, ist aller Mühe wert.

Auf die Haltung kommt es an

Wir müssen vorgezeichnete Biografien durchbrechen und dafür sorgen, dass Kinder vom Rand in die Mitte der Gesellschaft geholt werden und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Denn wo soll es herkommen, wenn die Eltern nie einer geregelten Arbeit nachgegangen sind, wenn sie die Sprache und die Kultur unseres Landes nicht kennen, wenn der Vater nicht mehr da ist und die Mutter morgens einfach nicht aufsteht? Wir wollen und müssen diesen jungen Menschen – und uns! – klarmachen, dass wir sie brauchen. Zu lange haben wir gute Leute einfach übersehen, weil wir sie kategorisiert haben, wie nicht zuletzt die langwierigen Migrations- und Integrationsdebatten zeigen. Dabei sind die jungen Menschen schon viel weiter! Ob mit Migrationshintergrund oder nicht, Kinder und Jugendliche wollen Teil der Gesellschaft sein. Es geht um Identität, Anerkennung und die echte Chance, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Die Zukunft in diesem Land hat genug Platz, wir müssen es den jungen Menschen allerdings weitersagen. Allen.

Bildungsgerechtigkeit ist keine Norm oder politische Größe, Bildungsgerechtigkeit ist eine Haltung, die den Träumen und Hoffnungen junger Menschen respektvoll begegnet. Wie wir mit den Kindern und Jugendlichen in unserem Land umgehen, sagt viel über uns als Gesellschaft aus und ist ein elementarer Baustein unserer Zukunft. An Debatten und Reformvorschlägen für unser Schul- und Hochschulsystem mangelt es nicht, manche Denker verlangen gar nach einer Bildungsrevolution. Die größte Reform oder die wichtigste Revolution aber spielt sich in unseren Köpfen ab. Nur wenn sich jeder Einzelne von uns – insbesondere jeder Akteur im Bildungswesen – seiner persönlichen Gerechtigkeits- und Interventionsmacht wie seiner Verantwortung gegenüber den Kindern und Jugendlichen in unserem Land bewusst wird, lassen sich vorgezeichnete Bildungsbiografien positiv verändern. Das ist die eigentliche Bildungsrevolution, die in unseren Bildungseinrichtungen bereits täglich stattfindet. Es gibt viele Bildungsakteure in den Kindergärten, Schulen, Hochschulen, sonstigen Bildungseinrichtungen und Ausbildungsbetrieben, die trotz schwierigster Rahmenbedingungen hervorragende Arbeit leisten, Herkunft neutralisieren und sich darum bemühen, kein Kind zurückzulassen. Ihre Haltung ist ihr System – und müsste entlang der gesamten Bildungskette systematisiert werden. Bildungsideologische Bekehrungen, extreme Reformen und Umbaumaßnahmen an einem so großen Apparat wie dem Bildungssystem sind ausgehend von den heutigen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht realisierbar. Gute und gerechte Strukturen, die Kinder und Jugendliche ihren Talenten gemäß fördern, sind wichtig, doch selbst das beste System ist auf den menschlichen Faktor, den positiven, den Talent unterstellenden Blick und die emotionale Intervention angewiesen. Entscheidend ist deshalb, unsere Haltung zu den Kindern und Jugendlichen zu überdenken, sie zu hinterfragen und gegebenenfalls zu reformieren oder zu revolutionieren. Der persische Dichter und Mystiker Saadi, der im 13. Jahrhundert lebte, schrieb: »Die Menschenkinder sind alle wie eine Kette miteinander verbunden. Denn in der Schöpfung sind alle aus der gleichen Kostbarkeit. Welches Glied auch immer vom Schicksal mit Schmerz beschert wird, bleibt den anderen Gliedern keine Ruhe. Sollte der Schmerz anderer dich nicht betrüben, hast du es nicht verdient, Mensch genannt zu werden.« Entsprechend wird einer demokratischen Gesellschaft, die jene Kinder zurücklässt, die nicht die besten Startvoraussetzungen mitbekommen haben, keine Ruhe haben. Sollte das Schicksal unserer Kinder, die im Bildungssystem verloren gehen, uns nicht betrüben, so verdient unsere Gesellschaft es nicht, gerecht genannt zu werden.

2 ICH BIN EIN FEHLER IN DER MATRIX

Mein Vater ist ein ostanatolischer Bauernsohn, der in den 1960er-Jahren als Zehnjähriger von seinem Vater in die schon damals überfüllte und schrille Millionenmetropole Istanbul geschickt wurde. Dort musste er, zusammen mit älteren Verwandten, bereits als Kind seinen Beitrag für die Familie leisten. Im Laufe der Jahre arbeitete er sich vom Kinderhilfsarbeiter zum Heizungsinstallateur hoch. So konnte er seine Eltern und die sieben jüngeren Geschwister unterstützen. Nach seinem Wehrdienst wurde auch er von dem grassierenden Deutschlandfieber infiziert. Deutschland war die neue, die bessere Welt. Es war das Land, in dem ein Arbeiter genug Geld verdiente, um nicht nur der Familie in der Heimat regelmäßig Beträge zukommen lassen zu können, sondern auch mindestens ein Haus zu bauen. Als mein Vater 1972 zunächst alleine nach Deutschland auswanderte, war meine Mutter einige Jahre lang praktisch alleinerziehend. Mit fünf kleinen Kindern in einem ostanatolischen Bergdorf. Nach sechs Jahren entschloss meine Mutter sich, ebenfalls das Dorf zu verlassen, um mit ihren Kindern ein neues Leben in der fremden, neuen Welt meines Vaters zu beginnen. Deshalb ist Deutschland heute mein Vaterland und die Türkei mein Mutterland. Weder aus politischen noch aus kulturellen Gründen, sondern schlicht weil meine Mutter Deutschland immer »das Land eures Vaters« nannte. Der Älteste von uns Geschwistern, mein Bruder Murat, wurde in Istanbul bei Verwandten gelassen. Er war damals schon zehn Jahre alt und sollte nach der Mittelschule nachkommen. Er kam nie – und wurde zu einem »Kofferkind«, das immer auf gepackten Koffern auf seine Eltern wartete, aber irgendwann auch gar nicht mehr nach Deutschland und zu seiner Familie wollte. Mein Bruder war ein Entfremdeter. Meine vier Schwestern – die jüngste wurde in Deutschland geboren – und ich hingegen hatten Glück, wir waren jünger und durften bei unseren Eltern aufwachsen.