Die große Familie - Camille Kouchner - E-Book

Die große Familie E-Book

Camille Kouchner

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Nr.1. Bestseller aus Frankreich

„Wenn du redest, sterbe ich. Ich schäme mich zu sehr ...“

Eigentlich sind Camille und ihr Zwillingsbruder Victor beneidenswert glückliche Kinder. Jahr für Jahr genießen sie mit ihrer emanzipierten Mutter und dem lebensfrohen Stiefvater aufregende Sommerferien an der Côte d’Azur. Doch dann muss Camille miterleben, wie sich ihr Stiefvater an Victor vergeht – und sie verfängt sich in einem Netz aus Schuld, Scham und Lähmung, aus dem sie sich erst viele Jahre später befreien kann.

Das Buch, das ganz Frankreich aufwühlt - die wahre Geschichte eines dunklen Familiengeheimnisses

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 189

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Heute ist Camille Kouchner eine erfolgreiche Anwältin und Mutter. Aber wenn sie an ihre Kindheit und Jugend in der „Großen Familie“ zurückdenkt, blickt sie in einen Abgrund: „Ich war nirgendwo. Abwesenheit in der Anwesenheit. Nichts interessierte mich mehr. Dabei hatte alles so idyllisch begonnen. Als Kinder einer emanzipierten und zielstrebigen Frau und mit einem Stiefvater, der sie förderte und beflügelte, wuchsen Camille und ihr Zwillingsbruder Victor in einer Atmosphäre grenzenloser Freiheit auf. Verboten war nur, etwas zu verbieten. Doch als Camille zwölf Jahre alt ist, wird sie Zeugin, wie ihr Zwillingsbruder vom Stiefvater im Nebenzimmer missbraucht wird. Angst, Scham und Schmerz lähmen von nun an die beiden Geschwister, denn sie wissen nicht, wem sie in dieser scheinbar so liberalen und toleranten Familie noch vertrauen können.

Mit DIEGROSSEFAMILIE hat Camille Kouchner nicht nur ein aufwühlendes Buch über Schuld, Schweigen und Selbstbehauptung geschrieben - sie hält auch einer ganzen Ära linksliberaler Intellektueller einen Spiegel vor.

Zum Autor

CAMILLEKOUCHNER, geboren 1975, studierte in Paris Sozialrecht und Rechtsphilosophie. Sie lehrt als Juraprofessorin an der Universität Paris und arbeitet gleichzeitig als Rechtsanwältin. Ihr Buch „La familia grande“ wurde im Januar 2021 in Frankreich veröffentlicht und stand monatelang auf Platz 1 der französischen Bestellerliste. Es löste heftige gesellschaftliche und politische Diskussionen aus, führte zu neuen Gesetzesvorlagen zum Thema Inzest in Familien und wirkt nun auch in viele andere Länder hinein. Camille Kouchner lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Paris.

Camille Kouchner

Die große

Familie

Aus dem Französischen übersetzt

von Hanna van Laak

Blessing

Die französische Originalausgabe erscheint unter dem Titel

»La familia grande« bei Éditions du Seuil in Paris

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Camille Kouchner

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe und Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Leingärtner, Nabburg

Umschlaggestaltung: geviert.com, Christian Otto

ISBN 978-3-641-28408-4V001

www.blessing-verlag.de

Für Marie-France.

Für Tasio, Elsa und Elias

Und alle ihre Cousins und Cousinen.

Einige Vornamen wurden von der Autorin geändert.

Und mein Herz ist gefügig,

aber nicht resigniert.

Victor Hugo, »À Villequier«

(Les Contemplations)

I

Meine Mutter starb am 9. Februar 2017. Ganz allein im Krankenhaus von Toulon. In ihrer Krankenakte steht: »Sie starb in Anwesenheit ihrer Angehörigen«, aber keines ihrer Kinder war an ihrer Seite.

Meine Mutter ist ohne mich gestorben, winzig in ihrem Krankenhausbett. Und damit muss ich nun leben.

Drei Wochen zuvor hatte sie erfahren, dass sie Krebs hatte. Drei Wochen Untersuchungen, die zu einer absurden Entscheidung führten: Sie wurde operiert. Basale Segmentektomie, der Tumor wird entfernt. Kein Grund zur Beunruhigung. Sie hatte mir geschrieben: »Mach dir keine Sorgen, ich bin nicht allein.«

Meine Mutter hat sich davongestohlen. Man hat ihre Behandlung eingestellt, eine leere Floskel, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen, ohne zu warten, bis ich komme, um ihre Hand zu halten. Man hat ihrem Leiden ein Ende bereitet, indem man ihr das Herz herausgerissen hat. Man hat sie daran gehindert, die Worte ihrer Kinder zu hören, beruhigende oder aufmunternde Worte, Worte des Abschieds und der Liebe. Meine Mutter ist fern von mir gestorben.

Ich schreibe diese Worte Jahre später. Ich schreibe »meine Mutter ist gestorben«, aber ich spüre ihre Abwesenheit in diesem Moment nicht. Natürlich habe ich einen Kloß im Hals, Tränen steigen in mir auf, aber der Abschiedsschmerz ist unwirklich.

Ich habe meine Mutter tausendmal verloren, dieses Mal werde ich sie nicht verlieren.

*

Ihre Augen vielleicht.

»Die Augen. Können sie ihre Augen nehmen?« Ich gebe die Frage an meine Brüder weiter. Austausch von SMS.

»Anscheinend ist nichts außer den Augen brauchbar. Die Lunge, das Herz, die Leber, niemand will sie haben. Aber die Augen würden sie gern nehmen. Seid ihr damit einverstanden? Wir überlassen ihnen Mamas Augen? Und was machen wir sonst? Luz fragt, ob wir damit einverstanden sind, dass sie in Sanary beerdigt wird. Was ist unsere Meinung dazu? Sie hätte es so gewollt, oder?«

Zum Nachdenken ist keine Zeit mehr. Sofort antworten, damit die Fragen versiegen, damit sie aufhören. »Ja, ja, okay, wenn du glaubst, dass das gut ist, ja, in Ordnung.«

Von den Bergen aus, wohin ich mich zurückgezogen habe, regele ich die letzten Details der Beerdigung meiner Mutter. Luz, meine kleine Schwester, ist im Krankenhaus in Toulon. Am Telefon erklärt sie mir: »Jeans und blauer Kapuzenpulli, was sie gerne trug. Was hältst du davon? Stell dir vor, sie würden ihr einen Slip anziehen? Ich würde ihnen sagen: ›Kommt nicht infrage! Meine Mutter hat nie einen Slip getragen! Sind Sie verrückt oder was? Wir werden das überprüfen!‹«

Luz und ich wissen, dass diese Geschichte mit dem Slip uns zu ganz besonderen Waisen macht. Für uns Mädchen ist der Verlust unserer Mutter gleichbedeutend mit der Angst, dass diese Erinnerungen sich auflösen und verlieren. Mit der Gefahr, dass wir eines Tages nicht mehr dieses Bild vor Augen haben, wie sie in den Kräuterwiesen von Sanary kauert und vor Glück seufzt. Jeden Abend rief sie: »Kinder, es ist Zeit, ins Gras zu pinkeln!«, was bedeutete: Zeit zum Schlafengehen. Auf dem Weg zum sogenannten Bauernhaus, immer am gleichen Ort: »Hintern in die Luft, alle zusammen, was für eine Wonne! Genießt die Grashalme, Mädchen! Was für ein Glück, dass wir keine Männer sind!« Meine Schwester und ich, wir sprachen dieselbe Sprache, tauschten Blicke aus für das Morgen, für das Leben später mit unseren eigenen Töchtern, lass es uns versuchen: Sansculotten zu bleiben!

*

Ich habe meine Kinder bei ihrem Vater gelassen und fahre mit meinem Bruder Victor in den Süden. Richtung Toulon.

Im TGV das Geschrei der Kleinkinder, die Mobiltelefone, die Leute, die zu Mittag essen, die Unruhe. Mein Zwillingsbruder und ich, wir sind 42 Jahre alt, wir sitzen uns gegenüber, sprechen nur mit den Augen miteinander: Glaubst du, wir schaffen das? Ich liebe dich. Ich bin da. Was machen wir da überhaupt? Der schlimmste Tag unseres Lebens ist gekommen.

Vom Zug ins Auto. Victor fährt uns bis nach Sanary. Hôtel La Farandole am Ende der Küstenstraße, ganz in der Nähe unseres Ferienhauses und direkt hinter dem Strand, an dem ich als Kind von einer Qualle gestochen wurde. Dieses Hotel haben wir immer gesehen. Aus der Ferne hat es uns sehr beeindruckt. Ich habe mir gedacht, dass es gut wäre, hier eine Art Basisstation zu haben.

Am Tag zuvor habe ich in der Rezeption angerufen. »Für wie viele Übernachtungen?« Mal sehen … Ins Krankenhaus fahren, um zu überprüfen, dass es wirklich unsere Mutter ist, die beerdigt wird, ihre Sachen abholen, schlafen. Eine Übernachtung. Sie begraben, wieder abreisen. Es wäre sinnlos, hier Wurzeln zu schlagen. »Eine Nacht nur, bitte.« Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich diesen Satz nie hätte aussprechen müssen. Der singende Akzent des Südens, ein Lächeln am anderen Ende der Leitung: »Also nur ein Kurzaufenthalt. Ist es eine Geschäftsreise?« Ein »Nein« muss genügen. Was soll ich sonst sagen?

*

Wir sind kaum angekommen und haben unsere Zimmer bezogen, da fahren wir schon wieder los. Bloß keine Zeit vertrödeln. Richtung Hôpital Sainte-Musse von Toulon. Dort treffen wir Luz und Colin, meinen großen Bruder.

Wir sind nicht gerade ausgelassen und nicht mehr taufrisch, sondern ziemlich hilflos und verloren, aber wenigstens sind wir mal wieder zusammen. Umarmungen und Schweigen. Blicke in die Luft. Sinnlosigkeit der Worte. Der bleierne Himmel. Vermutlich beobachtet jeder mit Argusaugen die Reaktion des anderen, niemand kann mit diesem Schmerz umgehen. Sehr vorsichtig lächeln wir uns zu.

Wie eine wiedervereinigte Rockband, ein bisschen klapprig, ziehen wir durch das Krankenhaus und suchen die Leichenhalle.

Wir sind angekommen. Jemand blafft uns an: »Wer sind Sie denn?«

Die Worte lösen sich aus meinem Mund, meine Zunge schlägt an den Gaumen. Meine Stimme ist kaum vernehmbar. »Die Kinder von Madame Pisier. Wir sind ihre Kinder.« Der Angestellte spricht im gleichen Ton weiter, auch er sieht müde und erledigt aus: »Sie ist nicht hier. Nein, nicht bei mir. Keine Madame Pisier. Ich habe keine Madame Pisier. Tut mir leid.« Das ist dreist. Meine Schwester versucht es anders, mit ihrem Ehenamen. Treffer, unsere verlorene Mutter ist wieder da! Ein kurzer Wechsel der Identität hat gereicht. »Sie können eintreten. Ich habe versucht, sie zurechtzumachen, aber es hat nicht ganz geklappt …« In der Tat.

Ich hatte solche Angst davor, diesen Raum zu betreten. Ich hatte solche Angst, sie könnte aufgewacht, entstellt sein, Angst, sie würde sich weigern, mir zuzuhören, Angst, dass ich nicht weinen könnte, Angst, dass sie vergisst, dass ich ihre Tochter bin, und mir verbietet, näher zu kommen.

Einer nach dem anderen haben wir uns überzeugt. Wovon? Ich weiß es nicht. Jeder von uns ist eingetreten, hat geweint und sich dann wieder entfernt. Ich habe sie oft umarmt, sehr oft, ungeheuer oft, ihre so weiche und eiskalte Haut, und dann habe ich sie um Verzeihung gebeten. Lange.

Wo ist der Aufzug, wo die onkologische Abteilung?

Zombies im Krankenhaus, die nach den Habseligkeiten ihrer Mutter suchen.

Diesmal irren wir uns nicht. »Wir holen die Sachen der Ehefrau ab.« Eine Rockband am Limit.

Eine junge Krankenschwester schiebt einen Wagen, auf dem ein riesiger Abfallsack liegt: »Hier, ich habe nichts Besseres gefunden. Bitte sehen Sie sofort nach, ob ihre Sachen vollständig sind.« Das Los fällt auf den Ältesten.

Colin öffnet den Sack. Heftige Schwaden des Parfums unserer Mutter. Total zugedröhnte Rocker. Kein Vergnügen, diese Schlussbilanz. Fangen wir an.

Unser Bruder ergreift einen ersten Gegenstand und blickt uns an. »Eine Fernbedienung? Was ist das für eine Fernbedienung?« Die Krankenschwester, eine kaum zwanzig Jahre alte, enthusiastische Frau aus dem Süden, beantwortet stolz unsere Fragen. »Das ist die Politik des Hauses.« Breites Lächeln. »Die Fernbedienung folgt dem Patienten. Wo ist Ihre Mutter jetzt?« Meine Brüder, meine Schwester und ich angewidert, ausnahmsweise unisono: »Sie ist tot! Wie oft müssen wir das noch sagen!«

Na schön, dann mal los … Ihr Telefon, ihre Klamotten, ihr Computer, Bücher … Es ist spät, gehen wir, morgen wird ein harter Tag!

Wir essen am Strand zu Abend. Von uns übrig geblieben sind noch: Colin, der Älteste, Victor und ich – die Zwillinge –, Luz und Pablo, die beiden Adoptivkinder. Fünf insgesamt. Der Stolz meiner Mutter: »Fünf Kinder, zwei Geburten. Wer bietet mehr?!« Eine etwas angeschlagene Rockband.

Auch meine Cousine Rose ist da. Sie wird morgen bei der Öffnung des Familiengrabs anwesend sein. Ihr Bruder Timothée hat es vorgezogen, nicht zu erscheinen. Ich kann ihn verstehen. Seine und Roses Mutter, Marie-France, liegt dort begraben und wird dann in aller Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden. Blieb uns etwas anderes übrig? Die Schwestern Pisier haben Cousins ersten Grades geheiratet. Trotzdem, was für eine Dummheit, dass wir eingewilligt haben, sie so weit entfernt von ihrer eigenen Mutter und von Paris beisetzen zu lassen! So weit weg von uns. Im Familiengrab ihres Ehemanns. Was ist bloß in uns gefahren?

Große Runde im Restaurant. Die Freunde meiner Schwester sind praktisch vollzählig versammelt, meine Schwester nennt sie »meine Couz«. Ihre Cousins, Kinder der Freunde meiner Mutter, sind sanft, nett und traurig. Sie sind hier, bei uns, aber ich höre sie nicht. Auch Roses Vater kommt vorbei. Mein Onkel umarmt uns.

*

Am nächsten Tag Jeans und dicker Pulli. Sich aus La Farandole losreißen. Mit meinen Brüdern und meiner Schwester zurück zur Leichenhalle. Unsere Mutter abholen.

Vorher bitten Colin, Victor und ich um die Erlaubnis, in dem Anwesen in La Plaine du Roy, dem letzten mütterlichen Wohnsitz, vorbeizukommen. Wir haben eine Stunde Zeit. Wir dürfen ihr Zimmer betreten, aber man hat uns vorgewarnt: »Alles oder fast alles ist bereits weitergegeben worden.«

Eine Stunde in dem Anwesen, eine Stunde in dem Zimmer meiner Mutter im ersten Stock, während am Tisch auf der Terrasse ihre Freunde sitzen, die uns nicht sehen und sich weiter unterhalten.

Eine Stunde in dem Anwesen, in der wir in diesem Zimmer eingesperrt sind wie Einbrecher, wie Raubvögel, die alles durchwühlen.

Eine Stunde in dem Anwesen, in der meine Brüder nach Erinnerungen an unsere Mutter suchen. Kein Foto mehr da, kein Brief.

Ich nehme einen Pulli, ein T-Shirt, ihr Parfum, zwei, drei unechte Broschen an mich.

Diesmal das Haus für immer verlassen.

Wir fahren zur Leichenhalle. Wieder heißt es, sich beeilen. Konvoi der fünf Kinder.

In dem kleinen aseptischen Raum, in dem ich die Haut meiner Mama zum letzten Mal berühre, dehnt sich das Leben noch mehr in die Länge. Schweigend stehen Gilles, der Bruder meiner Mutter, und seine Freundin Cécile neben uns, sie sind gekommen, um mit dieser Zeit abzuschließen. Jeder hängt sich beim anderen ein. Die Luft ist stickig. Für fünf Kinder und zwei Überlebende ist diese Halle winzig. Ein Mimosenzweig im Sarg. Der erschöpfte Angestellte fragt uns: »Ich nehme an, die Mimose geht mit Madame …«

Schweigen im Auto. Toulon – Sanary. Wir folgen dem Leichenwagen. Vorsichtig.

Die lange Autofahrt durch das Esterel-Gebirge. Meine Mutter verabscheute sie so sehr. Als wir klein waren, holte sie uns in der Nähe von Fayence ab, wo wir den Juli mit unserem Vater verbrachten. Eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie selbst lange Strecken fuhr. Fahren musste. Sie organisierte die Reise wie ein Spiel: erste Etappe, bis zur Auffahrt auf die Autobahn; zweite Etappe, die Mautstelle an der Ausfahrt; dritte Etappe, Ankunft in Sanary. Jedes Mal triumphierende Küsse. Während der ganzen Fahrt malträtierten unsere fröhlichen Stimmen, die wie befreit waren durch das Wiedersehen mit ihr, wie in einem Ritual Alain Souchons Chanson:On avance à rien dans ce canoë … Tu ne pourras jamais tout quitter, t’en aller … »Wir kommen nirgendwohin in diesem Kanu … Du kannst nie alles verlassen und fortgehen: Professioneller Kanon! Und dann endlich die Ankunft in dem Ferienhaus. »Geschafft! Eure Mutter ist spitze! Was habt ihr nur für ein Glück!« Was für eine Erleichterung vor allem, dass sie uns abgeholt hat.

*

Friedhof La Guicharde. Ins Gras pinkeln mit Colin, alle halten kurz an! Und dann einen Fuß vor den anderen setzen. Die Straße hinuntergehen, den Kreisverkehr passieren. Die anderen in der Ferne sehen. Näher kommen. Die Freunde meiner Mutter. Eine Masse. Diese Leute, von denen die meisten eine Zeit lang meine Verwandten waren: Luc, Zazie, Janine, Geneviève, Jean … mein Vater. Sie wirken beschäftigt, umarmen und umfassen einander, aber sie halten sich abseits von uns, am Rand.

Niemand ist meinetwegen gekommen. Nirgends meine Freunde. Ich hatte keine Zeit, sie zu verständigen. Ihnen meinen Kummer und mein Entsetzen zu schildern, mein brennendes Herz und das Eis in meinen Knochen. Ihnen von dem Schwindel zu erzählen, der mich ergreifen würde, von dem Albtraum, die Friedhofsallee entlangzuschreiten, dort den Blicken dieser Menschen zu begegnen, die ich so sehr geliebt habe und die mir nun fern sind. Wie konnte ich das wissen? Man beerdigt seine Mutter nur ein Mal.

Am Eingang des Friedhofs verliere ich mich in schätzungsweise vier Quadratmetern. Vor meinen Augen eine chaotische Menge von Körpern. Ich remple einen an. Ich hebe den Kopf. Ich umarme Luc, der überrascht und vielleicht gerührt ist. Luc hat meine Mutter an der Universität kennengelernt. Philosophie und Politikwissenschaft. Luc kennt mich schon seit langer Zeit. Er begrüßt mich mit einem: »Da bist du ja, mein Häschen«, das mir eine Sekunde lang richtig guttut. Ich nehme ihn in die Arme und versuche, auch ihm Trost zu spenden.

Ich weiß nicht, wohin mit mir, und suche nach meinen Brüdern. Ich habe furchtbare Angst, als hätte ich die Organisation eines Konzerts verpatzt, und alle würden nur darauf warten, mich mit Tomaten und Gespött zu überhäufen. Die Leute weichen vor mir zurück, in einem drückenden und feindseligen Schweigen. Es hilft nichts. Ich habe das Gefühl zu ersticken, wie meine Mutter.

Der Leichenzug biegt in die zentrale Allee ein. Für uns wird es Zeit, sich anzuschließen. Ich hake mich an dem Arm meines kleinen Bruders Pablo und an dem des großen Bruders auf der anderen Seite unter. So drängen wir uns in einer Reihe aneinander: Victor, Luz, Colin, ich und Pablo. Einsam und verlassen. Wir schreiten voran. ¡Adelante! »Vorwärts.« Hinter uns niemand. Diese Zusammenballung von Menschen, die alle niemand Bestimmtes mehr sind, eine bloße Masse, als gäbe es keine Personen mehr, nur noch eine Liste von Vornamen.

In der Ferne, inmitten dieses Nichts, hängt sich der Mann meiner Mutter, der Vater von Luz und Pablo, bei Boris ein. Er sucht Halt bei dem Freund seiner Tochter. Umgeben von Freunden von gestern und denen von heute, schreiten die beiden Männer wie ein Ehepaar mitten auf der Allee dahin.

Der Tod vor uns, der Tod hinter uns. Unsere Rockband bewegt sich langsam an der Spitze der Prozession voran. Wie in Zeitlupe, Brüder und Schwestern aneinandergepresst. Zwischen drei, vier Schluchzern lachen wir, um uns aufzumuntern. Vor allem, um nicht zu straucheln.

»Wer hat an die Fernbedienung gedacht?«

»Hört auf zu spinnen!«

»Les feux de l’Amour.« ›Schatten der Leidenschaft‹, die Endlos TV-Serie.

»Sie muss unbedingt Fernsehen schauen können.«

»Mist, wir haben nicht nachgesehen wegen des Slips!«

»Stell dir vor, sie haben ihr einen BH angezogen?«

»Von wem sonst ist die Mimose, wenn nicht von dir?«

Der Leichenwagen kommt zum Stehen. Die Menge, die hinter uns war, verteilt sich jetzt gegenüber von uns auf den Seiten. Wie Banditen auf den Hügeln, bereit, beim geringsten Signal die Postkutsche anzugreifen.

Wir bleiben alle fünf allein neben dem Sarg unserer Mutter stehen, ganz nah neben dem Sarg unserer Tante, deren Gruft weit geöffnet ist. Meine Cousine tritt näher, wir umarmen uns wieder. Ich sage: »Meine Mama hat mich immer ›meine Camillou‹ genannt. Wer wird mich jetzt noch ›meine Camillou‹ nennen?«

*

Wie in einem Schwebezustand wohne ich dieser Zeremonie bei, ohne daran teilzunehmen. Ich denke an meine Kinder. Ich versuche, in meinem Kopf ihre Stimmen zu hören. »Mama, warum sind wir nicht da?« Vergeblich klammere ich mich an meine Brüder, als könnten sie meine Kinder ersetzen.

Ein Programmansager eröffnet die Feindseligkeiten. »Ein Chanson von Julien Clerc, wie ihre Kinder es gewünscht haben … On s’en fout, ma doudou … ›Ist uns doch egal, meine Süße, ist uns doch egal … eines Tages werden wir sterben …‹« Es folgen die Ansprachen von Freunden der Verstorbenen.

Mein Blick richtet sich auf diese einträchtige und ferne Menschenmenge. Man könnte meinen, sie rufen etwas herbei, man könnte meinen, sie warten darauf, dass ich zusammenbreche, man könnte meinen, sie wollen, dass es uns leidtut und dass wir verschwinden.

Die Reden bestehen aus leeren Worten, und die Trauergäste, die sie halten, sind entweder Heuchler oder einfach nicht im Bilde. Meine Mutter und die Politikwissenschaft, meine Mutter und die Leitung des Ressorts Buch im Kultusministerium, meine Mutter und ihr Feminismus, meine Mutter und die sexuelle Befreiung … So langatmig, so einfältig. Eine Dame, die uns eine Standpauke hält, »damit wir besser verstehen können, wer unsere Mutter war«, wie sie sagt, leiert eine selbstgefällige und schlecht geschriebene Ansprache herunter. Meine Brüder und ich treten von einem Fuß auf den anderen, Pablo verlässt die Stellung. Alles ist falsch, vollkommen uninteressant. Schal, substanzlos. Zum Verzweifeln.

Die Zeremonie nähert sich ihrem Ende. Endlich.

Luz, Pablo und die meisten Freunde meiner Mutter fahren in das Haus in La Plaine du Roy zurück. Bestimmt haben sie dort eine Gedenkfeier nach ihrem Geschmack organisiert. Colin, Victor und ich hingegen kehren nach Paris zurück. Jeder für sich. Eine kurzlebige Rockband. Ich nehme den Zug um zehn Uhr abends. Davor ein letztes Glas im Nautique, ihrer Lieblingsbar im Hafen von Sanary.

*

Die Beerdigung meiner Mutter, eine Erinnerung an die vielen Blumen überall und an diese Menschen, die ich lange Zeit geliebt habe.

Die Beerdigung meiner Mutter, eine Erinnerung an diese Menschen in der Ferne, die mir nicht nähergekommen sind. Diese Menschen aus meiner Kindheit, aus dem Süden, aus der großen Patchworkfamilie. Die familia grande.

Als ich klein war, animierte meine Mutter mich dazu, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen: Évelyne. »Évelyne Andrée Thérèse Antoinette. Kannst du dir das vorstellen? Andrée!« Ich betrachtete meine Mutter, wie sie lachte, und lauerte begierig auf ihr Lächeln. Ich suchte ihren Blick. Ich liebte sie so sehr.

Meine Évelyne war stärker als alle und unglaublich intelligent, aber sie war auch die Sanftmütigste von allen. Ihre winzigen, von der Sonne gesprenkelten Hände, die Kuhle ihres Halses, in die ich so gern meinen Kopf schmiegte. Sie sagte, das einzig Wichtige sei, miteinander zu sprechen, und dass es für alles eine Erklärung gebe, dass der Fernsehapparat ein Fenster zur Welt und Freiheit das höchste Gut sei. Ich hatte das Recht, alles zu tun, solange ich verantwortungsvoll handelte. Und verantwortungsvoll war ich, wenn ich versuchte zu verstehen. Alles, alle und jederzeit zu verstehen.

Wir konnten Stunden damit zubringen, die Welt zu zerpflücken. Sie suchte mein Vertrauen, sie schenkte mir ihres. Unsere Differenzen spielten keine Rolle, wir waren eins, im gleichen Team.

*

Achtzigerjahre. Mit dem Kindermädchen nach der Schule nach Hause kommen. Fünf Francs Taschengeld pro Tag, damit ich mir Bonbons kaufen konnte. Die Rue Madame hinauf, die Rue d’Assas, und dann endlich in Évelynes Arme, ihre Liebkosungen.

Ich stieß die Tür zu ihrem Arbeitszimmer auf. Sie saß vor mir, rauchte Zigaretten, ihre kleinen Füße ruhten auf einem Papierkorb, damit die Beine hochgelagert waren.

Meine Mutter, meine Évelyne, war ganz klein. Sie schummelte. Ein Meter achtundfünfzig, behauptete sie. Stimmt nicht. Man musste mindestens zwei Zentimeter abziehen. Ihre hellblauen Augen, ihr blondes Haar, der Geruch ihrer Haut, eine Mischung aus Zigaretten und Sonne, mein Atem.

Ich ging um den Schreibtisch herum, und sie hörte auf zu schreiben, fragte mich, wie mein Tag gewesen war, sie gierte nach Anekdoten und guten Noten. Sie wollte wissen, wie es meinen Freundinnen ging, wie sich die Lehrerin verhalten hatte, ob das, was ich gelernt hatte, interessant war.

Fünf, zehn heiß geliebte Minuten, bevor ich sie ihren Schriften, ihren Recherchen und ihren Kippen überließ.

Sie wirkte immer so begeistert auf mich, sie schrieb pausenlos. Die Geschichte der politischen Ideen. Proudhon, Montesquieu, Rousseau, Hobbes. Marx und die Marxisten, Frantz Fanon. Auch Léon Duguit.

Sie erklärte mir alles, wies auf Nuancen hin, verlieh allen Begriffen und Dingen eine Bedeutung. Sie zeigte mir, warum es so wichtig war, dass sie, eine Frau, sich damit befasste. Wir waren Komplizinnen, Feministinnen, jede ihrem Alter entsprechend engagiert.

Dann zog ich los, um meine Hausaufgaben zu erledigen, meine erste Pflicht. Erst danach durfte ich mir etwas ausdenken. Ich arbeitete bedächtig und sorgfältig, damit sie stolz auf mich war und auch weil es mir selbst, dank ihr, wichtig war. Wir beide, jede an ihrem Schreibtisch, beide mit den Füßen auf einem Papierkorb.

Ihre Tür blieb verschlossen, aber ich wusste, dass sie da war. Ich spürte ihre Anwesenheit auf der anderen Seite der Mauer, ihren Elan, ihren Drang, alles zu verstehen und zu erklären.