Die große Hitze - Jörg Mauthe - E-Book

Die große Hitze E-Book

Jörg Mauthe

4,8

Beschreibung

Sektionschef Tuzzi aus Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" wird zum Helden eines ganzen Buches, einer ganzen Nation. Österreich ist dem Untergang geweiht: Eine nicht enden wollende Hitzeperiode ist über das Land hereingebrochen und nimmt gefährliche Ausmaße an. Als sich die Regierung nicht mehr zu helfen weiß, wird Dr. Tuzzi beauftragt, Wasser zu beschaffen und sein Land zu retten - eine Aufgabe, für deren Bewältigung er ungewöhnliche Mittel ergreifen muss ... Jörg Mauthe erzählt in seinem Roman "Die große Hitze" vom Beamtenstaat Österreich, dessen Unter- und Abgründe − irrwitzig komisch und sagenhaft wahrhaftig.

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Jörg Mauthe

DIE GROSSE HITZE

oder die Errettung Österreichsdurch den Legationsrat Dr. Tuzzi

Roman

4. Auflage

© Edition Atelier, Wien 2013

www.editionatelier.at

Lektorat: David Axmann

Covergestaltung: Jorghi Poll

Prime Rate Kft., Budapest

ISBN 978-3-900-3791-00

Das Buch ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere für Übersetzungen, Nachdrucke, Vorträge sowie jegliche mediale Nutzung (Funk, Fernsehen, Internet). Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder weiterverwendet werden.

Die Orthografie entspricht der Originalausgabe.

Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur.

 

INHALT

ALS ANFANG

DAS ERSTE HAUPTKAPITEL

EIN ERSTES ZWISCHENKAPITEL

ZWEITES HAUPTKAPITEL

ZWEITES ZWISCHENKAPITEL

BEGINN DES DRITTEN HAUPTKAPITELS

IM DRITTEN ZWISCHENKAPITEL

FORTSETZUNG DES DRITTEN HAUPTKAPITELS

VIERTES HAUPTKAPITEL

FÜNFTES HAUPTKAPITEL

EINE LISTE TEILWEISE INTERESSANTER PERSÖNLICHKEITEN

VIERTES ZWISCHENKAPITEL

SECHSTES HAUPTKAPITEL

SIEBENTES HAUPTKAPITEL

IN DER FORTSETZUNG DES SIEBENTEN HAUPTKAPITELS

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

EINE WICHTIGE ZWISCHENBEMERKUNG

WEITERE FORTSETZUNG UND ENDE DES NEUNTEN KAPITELS

DAS ZEHNTE UND FAST LETZTE KAPITEL

NACHTRÄGE

WIENER LITERATUREN

ALS ANFANG

EINE VATERLÄNDISCHE RUHM- UNDEHRENTAFEL, ZUGLEICH WIDMUNGAN MEINE FREUNDE

Der Anfang ist das Wichtigste an einem Buch, sagen meine Freunde, die sich auf das Schreiben von Büchern verstehen. Sorge dafür, sagen sie, daß der Anfang Vergnügen bereitet, und du wirst es leichter mit deinem Leser haben. Williger wird er dir in das schwierige Gestrüpp der nachfolgenden Exposition folgen, in der du ihm zu sagen versuchen wirst, was du ihm eigentlich sagen willst. Von einem gelungenen Anfang gerührt, erheitert und ein wenig neugierig gemacht auf das Kommende, wird er dir späterhin die eine oder andere Lücke oder Schwäche verzeihen, vor allem dann, wenn er aus dem guten Anfang auch auf ein ebensolches Ende hoffen darf.

Da ich diesen Rat hervorragend fand, dachte ich lange über einen wirklich guten Anfang nach und begann endlich dieses Buch mit den Worten: »Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Bewohner der Bundeshauptstadt Wien, sich vor neun Uhr morgens mies zu fühlen. Aber der Legationsrat Tuzzi fühlte sich an diesem Morgen besonders mies.« – Dieser Satz schien mir geeignet, den Leser in leicht faßlicher Weise vom Allgemeinen ins Besondere zu führen und vielleicht sogar durch den diskreten Hinweis auf bevorstehend Unbehagliches in Spannung zu versetzen. Auch zeichnet er sich für jeden, der Wien kennt, durch große Wahrhaftigkeit aus.

Alsbald wich jedoch meine Selbstgefälligkeit dem Zweifel, ob dieser Anfang auf den unvoreingenommenen Leser wirklich wichtig genug wirken würde. Zwar ist der österreichische Legationsrat, der da soeben über den staubigen Heldenplatz hinweg sich seinem Büro und einigen sehr merkwürdigen Ereignissen nähert, gewiß kein gewöhnlicher Mensch – so etwas kann wirklich nur jemand vermuten, der noch nie einem österreichischen Legationsrat Erster Klasse begegnet ist –, aber wichtiger als er werden die Dinge sein, mit denen er sich zu befassen haben wird. Und darauf weist der eben zitierte Anfangssatz leider nicht hin.

So dachte ich denn, mit etwas noch Allgemeinerem und Gewichtigerem anzufangen, und schrieb: »Seit nunmehr 32 Monaten waren keine Niederschläge zu verzeichnen gewesen«, doch strich ich nach kurzer Überlegung auch diese Worte, denn mit dem schönen Satz: »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum, es wanderte ostwärts …« beginnt bekanntlich der Roman des hl. Robert Musil, und wenn ich auch nicht daran denke, meine oder des Legationsrates Tuzzi Beziehungen zu jenem zu leugnen, scheint es mir doch nicht gerade günstig, den Leser schon mit dem ersten Satz auf diese Relation aufmerksam zu machen; das könnte ihn zu falschen und mir doch ein wenig abträglichen Schlüssen verleiten.

Mit leiser Verzweiflung immer noch den Anfang suchend, der meinen Lesern wichtig genug erscheinen würde, um sie zu fortgesetzter Lektüre zu bewegen, geriet ich schließlich an die Frage, wer denn eigentlich die Leser seien, die ich mir und diesem Buche wünschte oder von denen ich mir vorstellen könnte, daß sie es mit einigem Genuß läsen. Und da entdeckte ich, daß ich mir ja doch nur meine Freunde und einige aus diesem oder jenem Grunde sonst verehrte Personen als Leser denken konnte, ja, daß ich diese verwickelte Biographie des Legationsrates Tuzzi eigentlich nur aufgezeichnet habe, um eben ihnen Vergnügen zu bereiten. Und da mir meine Freunde äußerst wichtig sind, gehören sie und nichts anderes an den Beginn dieses Buches.

Seinen Anfang bildet also eine Liste all derer, denen ich es widme:

Ich widme es dem bald nach dem Kriege verhungerten Journalisten Dr. Emil Mika, dem einzigen Soldaten der Deutschen Wehrmacht, der es je gewagt haben dürfte, zur Uniform einen Regenschirm zu tragen; ihm habe ich es zu verdanken, daß das Schreiben mein Beruf wurde.

Ich widme dieses Buch dem Andenken der Salzburger Malerin Agnes Muthspiel in Dankbarkeit für den Blumenstrauß, den sie als Trauzeugin meiner Hochzeit vor Jahrzehnten im morgengrauen Mirabellgarten gestohlen hat. Sie war die bedeutendste Frau, die mir in meinem Leben begegnet ist, und jeder, der die Ehre gehabt hat, Agnes Muthspiel zu kennen, wird mir beipflichten.

Ich nenne die Namen, wie sie mir so einfallen, jedoch muß ich eiligst den langsam in den Zustand der Verehrungswürdigkeit eintretenden Hans Weigel nennen, dem ich einmal versprochen habe, ein Buch zu schreiben; er möge mir nicht böse sein, daß er es erst 20 Jahre später kriegt.

Dem großen Paul Flora gilt die nächste Widmung, denn durch seine Lehre, daß Unernst das einzige ist, was man wirklich ernst nehmen muß, ist er zu einem wesentlichen Schrittmacher auf dem Wege zur totalen Austrifizierung der Welt geworden.

Mit bewegtem Herzen gedenke ich nun eines Unberühmten, des Hausmeisters Alfons Bierdimpfl nämlich (er hieß wirklich so), der schlichten und mürrischen Gemütes sein Amt versah, bitterlich weinte, als im März 1938 SA-Buben die jüdischen Mietparteien drangsalierten, und in den Apriltagen 1945 von russischen Marodeuren erschossen wurde, weil er die Frauen in seinem Haus vor Vergewaltigungen schützen wollte.

Ein anderer Toter kommt mir in den Sinn, Dr. Friedrich Funder, Herausgeber der »Furche«, einer der letzten Großen der österreichischen Journalistik, dem ich, weil er es so wünschte und weil die älteren Redakteure vor diesem Auftrag zurückschreckten, den Bürstenabzug seines bereits gesetzten Nachrufs ans Sterbebett brachte; nie werde ich vergessen, wie er mit einem Bleistiftstümmelchen etliche Satzzeichen in seinem Nekrolog verbesserte und sodann, erleichtert und seine letzte Pflicht erledigt habend, den Kopf in die Polster zurücklegte und die Augen schloß.

Genug Tote, obwohl ich gerne noch des Judostaatsmeisters und Masseurs Prosper Bouchelle gedenken würde, der mir allwöchentlich, während er verrutschte Wirbel krachend ins Rückgrat zurückspringen ließ, unglaubliche, von Haß, Liebe und Leidenschaft erfüllte Geschichten aus den dunklen Peripherieslums erzählte, denen er entstammte; dieser Mann war einer von den 36 Gerechten, die, ohne es zu wissen, die Existenz der Menschheit vor dem Angesichte Gottes rechtfertigen.

Oder soll ich noch meinen Mitschüler Otto Müller erwähnen, der 1942 den unabänderlichen Entschluß faßte, spätestens 1970 österreichischer Bundeskanzler zu werden? Wenn sie diesen intelligenten und entschlossenen Burschen nicht bei der »Organisation Todt« zu Tode geschunden hätten (er war Halbjude und deshalb »wehrunwürdig«), hieße der österreichische Bundeskanzler heute vielleicht Otto Müller.

Zu viele Tote, genug der Toten.

Ich erlaube mir, dieses Buch Wolfgang Pfaundler zu widmen, der allein durch seine Existenz unwiderleglich beweist, daß Österreich nicht nur ein geographischer Begriff, sondern auch eine Wahrheit und ein Traum ist. Ferner Gerd Bacher, der zur Zeit dieser Niederschrift Generalintendant des ORF ist, am Tage ihres Erscheinens aber vielleicht nicht mehr sein wird, denn zu viele Hunde sind hinter diesem Hasen von Format her. Aber der, der ihn am Ende an der Kehle faßt, wird nicht viel Ehre davon haben.

Ich widme dieses Buch – ach, es gibt so viele, die ich noch zu nennen hätte, daß ich wohl noch ein anderes schreiben werde müssen, um alle Namen, derer ich in Freundschaft, Dankbarkeit und Verehrung zu gedenken habe, in gebührender Weise zu verzeichnen. Für diesmal muß es genügen, denn eben erreicht der Legationsrat Dr. Tuzzi die Mitte des Heldenplatzes und zieht unsere Aufmerksamkeit endgültig auf sich.

Mögen die in dieser Vaterländischen Ruhm- und Ehrentafel (denn dazu hat sich die Widmung nun ohnehin schon ausgewachsen) Erwähnten ihre Freude mit vorliegendem Werke haben; ebenso einige andere, die ich hier nicht genannt habe, weil sie im weiteren Verlaufe ohnehin deutlich in Erscheinung treten werden.

Mögen mir ferner alle jene, die sich mit geringerer Freundlichkeit und manchmal vielleicht auch mit Bosheit geschildert sehen, nicht allzu böse sein und Trost in dem Gedanken finden, daß auch sie unentbehrlich sind im unendlichen Kunterbunt des austriakischen Mikrokosmos.

Womit denn die Geschichte endlich dort beginnen kann, wo sie anfänglich wirklich begonnen hat.

DAS ERSTEHAUPTKAPITEL

BEGINNT AN STELLE EINER EXPOSITIONMIT EINER INDISPOSITION

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Bewohner der Bundeshauptstadt Wien, sich vor neun Uhr morgens ausgesprochen mies zu fühlen. Aber der dem Interministeriellen Komitee für Sonderfragen zugeteilte Legationsrat Dr. Tuzzi fühlte sich an diesem Aprilmorgen ganz besonders mies.

Das hatte zweierlei Gründe: Einesteils mußte er heute einen Stoß Akten übernehmen, den der tags zuvor von einem Kreislaufkollaps heimgesuchte Kollege Twaroch hinterlassen hatte – Akten, über deren Inhalt der Legationsrat überhaupt nichts wußte, denn der Kollege Twaroch, ein auch sonst nicht gerade redseliger Mann, hatte über die Materie, die er in letzter Zeit bearbeitete, nicht einmal andeutungsweise etwas verlauten lassen; das bedeutete, daß sie vermutlich besonders heikel war und die Vertiefung in sie viel zusätzliche Arbeit kosten würde.

Und andererseits stand Tuzzi ein abendliches Rendezvous bevor, das zwar zur Routine seiner Dienstage gehörte, aber in Anbetracht dessen, daß er sich durchaus nicht auf der Höhe seiner Leistungskraft fühlte, als voraussichtlich problematisches Fortsetzungskapitel in einer seit Jahren andauernden Liebschaft einzuschätzen war.

Mühsal war also da wie dort zu erwarten. Und das bei dieser Hitze!

Seit nunmehr 32 Monaten hatte man in Österreich keinerlei Niederschläge mehr und nur in Höhen über 1500 Meter Temperaturen unter dem Nullpunkt registriert. Selbst in den Wintern zeigten die Thermometer selten weniger als 15°. Unabhängig von der Jahreszeit war es warm bis heiß, die Luftfeuchtigkeit minimal, der Luftdruck tief unter dem hundertjährigen Durchschnitt, der Himmel meistens von Dunstschleiern bedeckt, der Unterschied zwischen Morgen- und Tagestemperaturen so unwesentlich, daß auch die taulosen Nächte schon lange keine Abkühlung mehr brachten.

Dieses abnorme Wetter suchte nicht nur unser Land heim, sondern zog, in freilich abgeschwächter Form, ganz Mitteleuropa in Mitleidenschaft. Jedoch lagen Österreich und die Grenzgebiete seiner Nachbarländer im Zentrum dieser sogenannten Großen Hitze und hatten daher unter ihr am meisten zu leiden.

Die Meteorologen boten zahlreiche Erklärungen dieses Phänomens an, die im großen und ganzen darauf hinausliefen, daß vielerlei mehr oder minder zufällig zusammentreffende Faktoren eine Pattsituation zwischen verschiedenen russischen, atlantischen und mittelmeerischen Tiefs oder Hochs bewirkt hatten, eine Verstrickung atmosphärischer Bewegungen und Rhythmen, die sich aus ihrer verhängnisvollen Etablierung nicht mehr lösen konnten. Diese Erklärungen mochten stimmen, wurden aber begreiflicherweise ebensowenig als befriedigend empfunden wie der Hinweis, daß ähnlich langdauernde Trockenzeiten in früheren Jahrhunderten nicht ungewöhnlich gewesen wären.

Als andere Ursachen der Großen Hitze wurden also von verschiedenen Seiten angeführt:

Ursachen kosmischer Natur: eine allmähliche Verschiebung der Erdachse; eine Erwärmung der Erde von innen her; eine Zunahme oder Abschwächung solarer Energien; das Herannahen einer neuen Eiszeit; und andere.

Ursachen, die im Verschulden der Menschheit selbst lägen: zum Beispiel eine zunehmende Erhitzung der Erde durch Überbevölkerung und die damit zusammenhängende Zerstörung des ökologischen etc. Gleichgewichts; oder die Verschmutzung der Erdatmosphäre durch Atombomben, Überschallflugzeuge und ähnliches.

Ursachen theologischer Art: die zunehmende Sündhaftigkeit größerer Bevölkerungsteile oder der Menschheit überhaupt.

Aber welche Erklärung man auch immer, je nach Wissen, Temperament und Weltanschauung, bevorzugte: heiß war’s jedenfalls. Und heiß blieb es.

Über dem Heldenplatz lag dort, wo eigentlich der Himmel zu sein hatte, eine bläulichgraue Dunstplatte, die von einer unsichtbaren Sonne erbarmungslos aufgeheizt wurde. Gelegentlich fegten kleine Windstöße über den Platz, zu schwach, um den Dunst hinwegzufegen, genug stark, um Staub in entzündete Augen zu treiben, und so warm, daß es einem den Atem verschlug. Die Hitze hatte die Kastanien und den Flieder, soweit sie nicht ohnehin schon verdorrt waren, austreiben lassen und vorzeitig zu kümmerlicher Blüte gebracht; es war abzusehen, daß sie auch heuer wieder schon im Juni ihre Blätter verlieren würden.

Der Riesenkulisse der Hofburg freilich tat das fahle Licht gut. Es verwischte weich die Schatten in den Fensterlaibungen und zwischen den mächtigen Säulen, es überzog das imposante Halbrund mit flimmernden Schleiern, dunkelblauen an den Sockeln und Stiegen, hellblauen im Mittelgeschoß, fast weißen an den Attiken, auf denen Siegesgöttinnen den Lorbeer einer undeutlich werdenden, jedoch majestätisch gebliebenen Vergangenheit hochhielten. Die Hofburg schien in diesen Tagen größer und weiter geworden denn je und ihre ohnehin schon übertriebenen Perspektiven ins Unendliche auszudehnen.

In den Nischen des mächtigen Architekturtunnels zwischen Neuer und Alter Hofburg haben sich muschel- oder seeigelartig allerlei kleine Geschäfte eingenistet, unter dem Wasserspiegel der Geschichte sozusagen; in der dortigen Tabaktrafik kaufte der Legationsrat seine tägliche Zigarettenration ein, zwanzig Memphis und zwanzig Gitanes, die er abwechselnd rauchte, zwischen der faden Milde eines leidlich sauberen Orienttabaks und afrikanischer Schärfe hin- und herwechselnd, was jedem Zigarettenraucher einen Einblick in die keineswegs spannungsfreie Seele dieses Mannes gestattet. Wie immer warf er auch einen Blick auf die Schlagzeilen der Morgenzeitungen und entnahm ihnen, daß die Welt seit gestern nicht untergegangen war und das wohl auch heute noch nicht tun würde.

Beim Verlassen der Trafik und angesichts der gegenüberliegenden Telephonzelle erlitt Tuzzi die erste – und nicht die letzte – Anfechtung dieses Tages. Die Klimaanlage in seinem Büro fiel ihm ein, die nicht eingeschaltet werden durfte, denn auch die höheren Beamten waren »in Anbetracht der allgemeinen Wasserknappheit zu sparsamem Umgange mit öffentlichem Kraftstrom verhalten« (Wortlaut des betreffenden Internen Erlasses). Ferner dachte der Legationsrat an die leichte Migräne, die gegen Mittag mit Sicherheit zu erwarten war. Wenn er das linke Auge fest zuzwickte – er tat es probeweise –, dann konnte er jetzt schon hinter der Schläfe das fatale Pochen wahrnehmen.

Tuzzi war drauf und dran, das Telephon zu benützen und sich krank zu melden. Ein auch moralisches Recht darauf stand ihm dank vieler Überstunden und seines sonstigen Pflichteifers ohne weiteres zu; jeder andere würde es ohne Umstände in Anspruch nehmen und kein Kollege es ihm verübeln, wie die Dinge nun einmal lagen. Natürlich wäre es ein recht schulbubenhafter Einfall, Unannehmlichkeiten auf solche Weise hinauszuschieben, obwohl man ihnen ja doch nicht entgehen konnte. Wenn man aber hinwiederum bedachte, daß man sich mit einer so glaubhaften Ausrede wenigstens für heute die Twarochschen Akten und die zusätzliche Wärme von Ulrikes Bett ersparen könnte …

Zweifelnd blickte der Legationsrat durch den Torbogen des Durchgangs hinein in den Inneren Burghof, und in sein Blickfeld trat die Figur eines, dessen Stehen am Scheidewege sprichwörtlich geworden ist.

Warum, dachte Tuzzi, haben die Bürokraten des österreichischen Barocks eigentlich eine solche Vorliebe ausgerechnet für den braven, aber doch in gar keiner Hinsicht scharfsinnigen Herkules gehabt, daß sie ihn in oder vor nahezu jedes größere Amtsgebäude gestellt haben? Weil er sich von jedem beliebigen die mühsamsten Arbeiten aufhalsen ließ? Da hätten sie gleich Sisyphus zur Symbolfigur machen können, der zweifellos geeigneter gewesen wäre als Herkules, das Wesen loyalen Beamtentums zu symbolisieren, obgleich er ein gewaltiger Trottel gewesen sein muß, denn irgendwann einmal hätte doch auch er begreifen müssen, daß – Fluch der Götter hin oder her – der bekannte Stein einfach nicht zu bewältigen war. Und mit diesem Begreifen wäre der Fluch ja wohl erloschen. Also, was tu’ ich: Geh’ ich heim? Oder ins Amt?

In diese Scheideweg-Überlegungen hinein tönte eine Stimme, die viel zu unbeschwert klang für diese noch frühe Stunde: »Servus, Tuzzi!«

Die Stimme gehörte dem Legationssekretär Trotta, der dem Legationsrat teils vom Außenministerium, teils vom Schicksal als Untergebener, Freund und Schützling zugewiesen worden und eine Quelle ständiger Komplikationen und Sorgen, aber auch der Erheiterung und Zuneigung, im ganzen also so etwas wie eine unentbehrliche Last war.

»Servus, Trotta.«

»Du denkst nach, Tuzzi. Worüber?«

»Ich denke drüber nach, welche Gefühle Sisyphus bei seiner Arbeit wohl gehabt haben mag.«

»Eine interessante Frage«, sagte Trotta, »aber nicht für mich, für sowas bin ich um achte in der Früh zu blöd.«

»Macht nichts, Trotta. – Wie geht’s sonst?«

»Unter uns gesagt: miserabel. Ich sollt’ mich eigentlich einmal untersuchen lassen.«

»Das kann nie schaden.«

»Dann hättest du also nichts dagegen, wenn ich gleich jetzt zum Arzt geh’?«

»Du legst mich schon wieder herein, Trotta.«

»Wenn du natürlich darauf bestehst, daß ich in diesem Zustand ins Amt gehe …«

»Ich bestehe nicht darauf. Zieh hin mit Gott. Servus, Trotta.«

»Servus, Tuzzi. Du bist ein Schatz, wirklich.«

Und damit war die Entscheidung gefallen. Beschwingt entschwand Trotta in die Weite des Heldenplatzes, verdrossen beschritt der Legationsrat den Weg des Sisyphus.

Im Burghof hielt der gute Kaiser Franz seine schützende Hand über untreu gewordene Völker und verrichtete Herkules in vierfacher Ausführung ebenso viele Taten; aber das graue Licht, das den Bauten des Heldenplatzes so malerische Valeurs verlieh, bewirkte hier, im engeren Raum, das Gegenteil: Fade und häßlich wie Staub lag es über der schattenlosen Fassade der Reichskanzlei. Der Wachmann vor der Adlerstiege wischte das Schweißband seiner Kappe trocken. Tuzzi blickte zur Uhr im Türmchen des Amalientraktes auf: Erst Viertel nach acht.

Viertel neun an einem Aprilmorgen, und so heiß! Wenn dieses Wetter anhielt, kam es schon im Mai, spätestens im Juni, zu einer Katastrophe mit Endgültigkeitscharakter.

Er überquerte den Ballhausplatz und erinnerte sich, daß gestern im Bundeskanzleramt der Ministerrat getagt hatte und die Überarbeitung des Kabinettsitzungsprotokolls sein Arbeitspensum beträchtlich vergrößern würde. Also beschleunigte er seine Schritte, nicht allzu heftig natürlich, sondern nur so, daß er einen kleinen Schweißausbruch eben noch vermied; solche Vorsicht war in diesen kreislaufgestörten Zeiten allgemeine Verhaltensweise geworden, auch vielfach ärztlich empfohlen. Doch nahm er sich auch heute die Zeit, ein paar Schritte von der schweigsamen Front des Haus-, Hof- und Staatsarchivs abzuweichen und einen kleinen Umweg durch die Spitzbogengalerie der Minoritenkirche zu machen. Dort nämlich, an der Südmauer dieser seit vielen Jahrhunderten von der italienischen Kolonie Wiens bevorzugten Kirche, sind Grabsteine aus einem aufgelassenen Friedhof angebracht, deren verwitterte Inschriften Tuzzi seit je in eigener Weise berührten:

THOMAE PVCCIO NOBILI FIORENTINO, der, als die Christen die Burg Gran angriffen, nach heftigem Kampf mit den Feinden die Seele Gott zurückgab, 40 Jahre alt im Jahre 1595 seit der Geburt des Herrn … MARCO ANTONIO RECASOLO, der sehr vornehme Florentiner, der aus einzigartiger Frömmigkeit für die Sache der Christenheit in das Kaiserliche Lager und wider die Türken zog … 21 Jahre, 10 Monate alt, starb er in Komorn am 1. November 1597 … AENEAE PICCOLOMINI, Herr von Sticciano in der Toskana, wurde im böhmischen Kriege im Lager des Kaisers getroffen im 33. Jahre seines Lebens am 16. August im Jahre des Heils 1619 … Seiner Gattin SUSANNA APOSSA ließ trauernd Johannus Paulus Fossatus aus Mailand dies Grabmal errichten im Jahre 1589 …

Die Tuzzis waren schon seit vier oder fünf Generationen keine Italiener mehr und hatten sich wahrscheinlich ungeachtet ihres Namens, ihrer Sprache und Herkunft schon vorher niemals als solche betrachtet, sondern als Österreicher, als Leute des Kaisers, wenn man es genauer sagen will, oder, um es abstrakter und noch genauer zu sagen, als Menschen, die sich einem höheren Prinzip zu- und untergeordnet fühlten, wie es sich in der Idee des Kaisertums ausgeprägt hatte. Auch an Tuzzi selbst erinnerte außer der Dunkelheit seines Haares und einer gewissen sehnigen Schlankheit nichts an die italienische Herkunft. Und doch bestätigten ihm diese Grabsteine stets irgendwie die eigene Existenz, und wenn er diese Namen las, fühlte er sich getröstet, falls er dessen gerade bedurfte, oder aufgeheitert, wenn kein Bedürfnis nach Trost vorlag. Heute fühlte er sich nicht aufgeheitert, wohl aber ein wenig getröstet.

Dann schritt der Legationsrat hinüber zum Eingang in die Büros des Interministeriellen Komitees, ergeben sich in sein Pflichtbewußtsein fügend, damit dem Prinzip Genüge leistend, dem schon seine Vorfahren gedient hatten. Er wußte nicht, daß er mit dieser Haltung in eine Folge von Ereignissen eintrat, die zuerst sein eigenes und dann das Schicksal der ganzen Republik entscheidend verändern sollten.

An diesem Punkte jedoch geraten wir – der Autor nämlich – mit unserem eigenen Gewissen in Konflikt. Einerseits nämlich sollten wir, die wir uns von Beginn an entschlossen haben, unseren Lesern anständig und mit einer Freundlichkeit zu begegnen, die sie aus der neuen deutschsprachigen Literatur nicht mehr gewohnt sind, kurzerhand weitererzählen und nicht so taktlos sein, sie in einer Neugier verharren zu lassen, die zu erzeugen uns (hoffentlich) bereits geglückt ist. Andererseits erheischen dieselben Gründe und übrigens eine derzeit herrschende Literaturideologie vom Autor, daß er dem Leser die sozialen und ideologischen Beweg- und Hintergründe seiner Figuren möglichst umgehend darlege und schön transparent mache.

Was also tun? Wie diesen Konflikt lösen?

Wofür sich entscheiden?

Wir entscheiden uns als guter Österreicher für einen Kompromiß, indem wir es, während der Legationsrat eben die Straße neben der Minoritenkirche kreuzt, dem Leser überlassen, das folgende Zwischenkapitel zu lesen oder zu überschlagen, um auf Seite 33 vor dem Eingang zum Interministeriellen Komitee Tuzzi wieder zu treffen.

Mehr können wir leider auch nicht tun.

EIN ERSTESZWISCHENKAPITEL

ENTHÄLT MATERIALIEN ZURPERSÖNLICHKEITSBILDUNG EINESÖSTERREICHISCHEN LEGATIONSRATS

In den letzten Jahren der Ersten Republik – also vor 1938 – trafen einander täglich gegen 17.30 Uhr im »Café Ministerium« am Postsparkassenplatz drei hohe Offiziere aus dem nahen Kriegsministerium, um nach Dienstschluß eine Runde Preference zu spielen, ein Kartenspiel zu dritt, das sich besonders gut zur Entspannung eignet, weil es so langweilig ist. Die drei Herren kannten einander seit langer Zeit, zwei von ihnen waren sogar am selben Tage als Leutnants ausgemustert worden. Es verband sie eine innige und vielfach bewährte Freundschaft, an der jeder vor allem den Umstand schätzte, daß sie schweigsam war, weil man einander im Laufe der Zeit alles gesagt hatte, was zu sagen wichtig und notwendig gewesen war. So beschränkte sich denn das täglichen Gespräch auf knappe Fragen nach dem Befinden, die meist mit einem ebenso knappen »No ja« beantwortet wurden. Erst, wenn um Punkt dreiviertel sieben der Kellner an den Tisch trat und vom Generalmajor der Kavallerie S. und vom Feldmarschalleutnant L. die Kosten von je zwei Vierteln G’spritzten samt Trinkgeld in Empfang nahm, kam es zu einem kurzen, jedoch stets gleichbleibenden Dialog, den der General der Infanterie T. mit den Worten: »Warum gehts denn schon?« eröffnete, worauf der Generalmajor sagte: »Wir essen um halb acht, weißt?« und der Feldmarschalleutnant »Schließlich hat die Familie auch ein Recht, weißt?« hinzufügte. »Ehstandskrüppeln«, sagte daraufhin verachtungsvoll der General. Wenn er besonders gut aufgelegt war, setzte er hinzu: »Hätt’ ich mir nie denkt, daß solche Pantoffelhelden aus euch werden täten! Herr Ober – mir noch einen G’spritzten!« – »Du hast es halt g’scheiter gemacht«, sagte melancholisch der Generalmajor. »Servus.« Und gemeinsam mit dem Feldmarschalleutnant spazierte er nach Hause, zurück unter das Joch des Ehestands, während der General T. noch ein Viertelstündchen sitzen blieb.

So ging das fünfzehn Jahre lang Tag um Tag, wenn nicht gerade ein Bürgerkrieg oder ein Putschversuch die Preference verhinderte.

Im sechzehnten Jahr erschien der General T. drei Tage hintereinander nicht zur Preference. Am vierten Tag erhielten seine beiden Freunde auf dem Dienstweg die Mitteilung, daß er an einem Herzstillstand gestorben sei.

Das Begräbnis erfolgte mit allen militärischen Ehren. Und ungeachtet ihrer ehrlichen Trauer waren der Feldmarschalleutnant und der Generalmajor voll des Zornes, denn auf der anderen Seite des Grabes standen eine gebrochene Witwe und ein reizendes vierjähriges Buberl.

Das Buberl war der spätere Legationsrat Dr. Tuzzi.

Die Generalswitwe, Tuzzis Mutter also, hatte ihren viel älteren Mann tief und treu geliebt (er sie übrigens auch). Nach seinem Tode fand sie am Leben keine Freude mehr, wurde eigensinnig und machte sich auf die Suche nach dem eigenen Tod. Sie begann damit, indem sie – es war nun 1938 und aus Österreich eine deutsche Provinz geworden – den Blockwart ihres Hauses ohrfeigte, weil sie ihn für schuldig hielt an der Austreibung einer jüdischen Familie. Der Blockwart hatte jedoch an diesem Geschehnis keinerlei Anteil gehabt, war aber gerade darum über die Ohrfeige der Generalin so empört, daß er im Gefühl gekränkter Unschuld unverzüglich dem Ortsgruppenleiter Meldung erstattete. Dieser Mann, ein sogenannter alter Illegaler, wollte die Sache gütlich beilegen (der verstorbene General war immerhin Maria-Theresien-Ritter gewesen und hatte überdies im Laufe der Piave-Schlacht das Eiserne Kreuz erhalten), suchte also mit einem Blumenstrauß in der Hand die Witwe auf, empfing jedoch bereits an der Wohnungstür zwei kräftige Watschen und trat den Rückzug an. Vielleicht hätte er die Sache auf sich beruhen lassen, wenn er nicht in voller Parteiuniform gewesen wäre und Nachbarn den geräuschvollen Vorgang beobachtet hätten; aber so war natürlich nicht nur seine Ehre, sondern auch die der NSDAP befleckt worden, weshalb er es für seine unabänderliche Pflicht hielt, die Geschichte dem Kreisleiter zu erzählen.

Im weiteren Verlauf der Ereignisse ohrfeigte die Generalin diesen Kreisleiter, dann einen Gestapo-Beamten, einen Obersturmbannführer in Zivil sowie dessen Sekretärin und schließlich den Gauleiter, einen gewissen Buerckel.

Als fromme Frau stiftete sie dem heiligen Antonius in der Alserkirche für jede geglückte Ohrfeige eine Kerze.

Und nachher pflegte sie sich an das Klavier zu setzen und bei weit geöffneten Fenstern laut und mit schöner Altstimme die verbotene Bundeshymne der Ersten Republik zu singen.

Tuzzi, klein und verwirrt, begriff von alledem nicht sehr viel. Aber er bewunderte seine Mutter maßlos, wenn er neben dem Klavier auf dem Teppich saß und zu ihr emporblickte, während sie die feierlich-langsame Haydn-Melodie anschlug und dazu etwas über eine wunderholde Heimaterde sang, die ohne Ende gesegnet sei. Er verstand wenig von diesem Text; aber die Wortfügung »… freundlich schmücket dein Gelände Tannengrün und Ährengold« überwältigte ihn; er konnte sich nichts Schöneres vorstellen als das, ja diese Worte wurden für ihn zu Synonymen des Schönen, Ergreifenden und Erhabenen überhaupt. Und sein Leben lang sollte Tuzzis Seele unausweichlich vom Duft, der Farbe und dem Klang von Tannengrün und Ährengold erfüllt sein, wenn er gerührt oder ergriffen war.

Die Generalin hätte sich mit ihren Ohrfeigen möglicherweise bis zum Führer und Reichskanzler hinaufgearbeitet, wäre sie nicht endlich im Stiegenhaus des Gestapo-Quartiers am Morzinplatz nach einer Vernehmung gestrauchelt und solcherart zu ihrem Tode gekommen.

Des Vaters älterer Bruder übernahm die Vormundschaft. Da dieser Onkel Tuzzi allein lebte – seine Ehe war kurz nach dem Krieg im gegenseitigen Einverständnis geschieden worden –, schickte er seinen Neffen in ein Schweizer Internat. Fünf oder sechs Jahre gingen an dem durch die Ereignisse betäubten Knaben vorbei wie ein unbegreiflicher Traum; immerhin lernte er leicht und willig ein perfektes Französisch und die schwere Kunst, auf sich selbst aufzupassen.

Nach 1945 trat der Onkel wieder in den diplomatischen Dienst, aus dem ihn die Deutschen hinausgeworfen hatten, holte alsbald seinen Neffen in der Schweiz ab und verpflanzte ihn in das wiedereröffnete Jesuitengymnasium in Kalksburg, wo man ihm, wie schon vielen anderen vor ihm, ausgezeichnetes Benehmen, ordentliches Denken und eine gründliche Abneigung gegen jede Art von Frömmigkeit anerzog.

Die Sommer- und Weihnachtsferien verbrachte der heranreifende Tuzzi in den oft wechselnden Auslandsresidenzen seines Onkels, der als Attaché, Botschaftsrat und in ähnlichen Funktionen einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zu jener globalen Verösterreicherung leistete, von der noch ausführlich die Rede sein wird.

Der allmählich zum Jüngling sich Gestaltende lernte solchermaßen einige bedeutsame Ausschnitte der Welt und etwas von den vielfachen Mechanismen ihrer Verwaltung kennen. Der Onkel war nach anfänglicher Scheuheit zu einem liebe- und verständnisvollen Freund geworden; da er schon seit langer Zeit nicht mehr jung war, behandelte er den Jüngeren wie einen reifen Mann und erzog ihn damit ohne eigentliche Absicht zu jener Desinvolture, die Tuzzi später bei Kollegen wie bei Frauen so angenehm machte.

Was letztere betrifft, so lernte der Neffe auch an den je nach dem Amtssitz wechselnden Freundinnen des diplomatischen Onkels manches Wichtige und Nützliche.

»Vor allem merke dir«, pflegte der Onkel zu sagen, nachdem er dem Neffen eine neue Michelle, Michiko oder Micaela vorgestellt hatte, »wenn du, wie ich hoffe, ein guter Diplomat werden willst, daß man niemals zu tief in das Wesen der Dinge eindringen darf. Nimm die Dinge, mein Lieber, wie sie sind, und versuche nicht, sie zu verstehen. Ihre Ursachen sind stets verwirrend, unklar und manchmal gefährlich für den, der sie zu begreifen sucht. Das Geheimnis des wahren Diplomaten ist, daß er darauf verzichtet, irgend etwas wirklich verstehen zu wollen. Und dieser Satz, mein junger Freund, gilt auch für die Frauen. Liebe sie, denn sie verdienen es. Ehre sie, denn sie verdienen es, bete sie von mir aus an, denn manchmal verdienen sie sogar das, und jedenfalls werden sie dich dafür lieben. Aber unternimm nie den Versuch – nie! –, sie auch verstehen zu wollen, denn wenn sie das merken, werden sie unerträglich. Ich bin am näherrückenden Ende eines ziemlich langen Lebens zu der festen Überzeugung gelangt, daß alles Malheur dieser Welt nur aus dem Haß kommt, den sie uns entgegensetzt, wenn wir sie begreifen wollen. – Und nun, mein lieber Neffe, würde ich proponieren: Ein Besuch in diesem neuen türkischen Bad im Viertel Shinzasa wäre vielleicht ein hübscher Abschluß des heutigen Abends – stimmst du zu?«

Das war übrigens das letzte Mal, daß Tuzzi von seinem Onkel solche Worte hörte, denn nach seiner Botschaftszeit in Tokio ging der Onkel in Pension. Und wie so viele ehemalige Kalksburger vor ihm rekonvertierte er auf seine alten Tage zur Religion seiner Jugend, tat sich wieder mit seiner Frau zusammen – sie war einst eine gefeierte Schönheit der Wiener Salons gewesen, hatte nach ihrer Scheidung wieder geheiratet und war nun eine würdige Witwe – und unternahm mit ihr eine Wallfahrt zum heiligen Jakobus von Compostela, wo ihn der Schlag traf.

Möglicherweise hatte er einen verspäteten Versuch unternommen, die Dinge doch noch begreifen zu wollen.

Es wird aus den bisherigen Angaben verständlich, warum die Beziehungen unseres Helden zur Welt – soweit sie nicht vom Prinzip des Dienstes an der Legitimität geprägt sind – vornehmlich erotischer Natur sein müssen und sich in den Kategorien der Hingabe, des Wartens auf Erfüllung, der Rücksichtnahme, des Taktes, der Liebe und der Treue bewegen. Infolgedessen scheint es uns, da wir noch ein wenig Zeit haben (denn noch hat Tuzzi, wie wir mit einem schnellen Seitenblick feststellen, die Gehsteigkante auf der anderen Seite des Minoritenplatzes nicht erreicht), sinnvoll, die Biographie des Legationsrates durch eine Liste seiner bisherigen Liebesbeziehungen zu erweitern und zu vervollständigen.

Wir schicken voraus, daß diese Liste nichts Sensationelles enthält, für einen Beamten aber doch recht beachtlich ist.

Mit 3 bis 6 Jahren bewundert Tuzzi seine Mutter. Wenn sie, nach verabreichter Ohrfeige, neben ihm vor dem Bildnis des hl. Antonius kniet oder am Klavier von Tannengrün und Ährengold singt, erscheint sie ihm im Licht der Opferkerzen oder des weit offenen Fensters überirdisch schön wie die Pallas Athene vor dem Parlament.

Mit 8 Jahren liebt Tuzzi ein kleines schwarzhaariges Mädchen, das manchmal in den Zweigen eines Kirschbaumes hinter der Mauer des Internatsgartens sitzt und so lange ernsthaft auf den Turnplatz der reichen Kinder blickt, bis es von einem Lehrer vertrieben wird. Tuzzi träumt, daß er über die Mauer klettern und das Mädchen suchen wird. Dann wird er mit ihm in den Wald laufen; es gibt in der Schweiz so große Wälder, daß man sich leicht in ihnen wird verstecken können. Aus Steinen und Moos werden sie sich ein kleines Haus bauen und am Feuer Pilze und Fische braten. Der Lehrer hat erzählt, daß man zur Not auch von Wurzeln leben kann. Tuzzi sammelt Schnüre und Spagatreste und wird daraus ein Seil flechten. Denn das braucht man in den Bergen. – Eines Tages wird der Kirschbaum gefällt, und das Mädchen läßt sich nie mehr sehen.

Mit 14 Jahren verliebt sich Tuzzi in einen Internisten, der etwas jünger ist als er. Da der Geliebte eine andere Klasse besucht und in einem anderen Flügel des Konvikts untergebracht ist, sieht Tuzzi ihn nur selten und meist nur von weitem, doch fühlt er sich von diesem Anblick jedesmal zu Tränen gerührt. Noch nie hat er etwas so wunderbar Vollkommenes gesehen wie die eleganten Bewegungen, das engelhafte Gesicht und die schmalen Hände jenes Knaben, gegen den er sich selbst häßlich und unsauber vorkommt. Einmal steht Tuzzi vor dem Tor und kramt in seinen Taschen, ob er genug Geld bei sich hat, um sich unten im Ort ein Gefrorenes leisten zu können. Da sagt hinter ihm eine Stimme: »Du hast was verloren …!« Tuzzi fährt herum. Vor ihm steht der andere und hält ihm lächelnd ein Schillingstück hin. Tuzzi glaubt, in der nächsten Sekunde sterben zu müssen. Er wagt nicht, das Geldstück zu nehmen, er fürchtet den entsetzlichen Augenblick, in dem er die Hand und die Haut des anderen berühren wird. Der aber lacht unbetroffen, vielleicht auch verstehend, drückt Tuzzi die Münze in die schwitzende Hand und läuft davon. Tuzzi geht langsam in einen dunklen Winkel des Parks, wird plötzlich von einem hemmungslosen, ihn fast erstickenden Weinkrampf befallen und ist erstaunt, daß er nicht stirbt. Später bringt er den Mut auf, den Vorfall in der Beichte zu verschweigen, und ist von diesem Augenblick an Agnostiker. Erst nach vielen Jahren begreift Tuzzi, daß es nicht Liebe war, was ihn damals so erschüttert hat, sondern der plötzliche, unvorbereitete Anblick der Schönheit. – Im übrigen endete oder verlief sich diese Episode recht prosaisch: Während der Ferien raubte die Pubertät dem anderen durch einen Wachstumsschub und viele Pickel jede Anmut. Und Tuzzi verliebte sich in ein Mädchen.

15 Jahre: Das Mädchen heißt Sylvia, und Tuzzi lernt es im Eisgeschäft des Ortes kennen. Gemeinsam wandern sie nun täglich den Weg zum Eissalon hin und her. Mehr als eine gelegentliche flüchtige Berührung der Hände oder Ellbogen ereignet sich nicht. Dennoch ist es eine große und tiefe Liebe. Noch einmal erlebt Tuzzi, doch diesmal ohne Schmerz, die Erfahrung dessen, was schön ist: Schön ist der sanfte Schimmer ihres dicken, braunroten Haares, schön ist die bräunliche Haut ihres Gesichtes, schön sind die kleinen goldenen Härchen darauf, alles ist schön, alles.

Im Alter von 15½ Jahren verbringt Tuzzi eine Ferienwoche im Landhaus eines Schulfreundes. In der Nacht von Pfingstsonntag auf Pfingstmontag betritt dessen Mutter das Zimmer, in dem Tuzzi untergebracht ist, setzt sich an sein Bett, sagt: »Du bist ein hübscher Bub, weißt du das?« und verführt ihn ohne weitere Umstände. Tuzzi lernt nach dem Schrecken und dem Zauber der Liebe auch ihre Erfüllung kennen. Es bleibt übrigens bei dieser einzigen Begegnung, doch gedenkt Tuzzi bis ins reife Mannesalter hinein jener Dame mit Rührung und Dankbarkeit. (O widerführe doch jedem heranwachsenden Jüngling ähnliches!)

Mit 16 Jahren liebt Tuzzi weiterhin die rotbraune Sylvia, vermeidet jedoch unter dem Eindruck des Pfingstnachtereignisses jede weitere Begegnung – nicht so sehr aus schlechtem Gewissen, sondern weil er in intensives Nachdenken über die Vereinbarkeit von Liebe, Bewunderung und Sexus verfällt und die daraus resultierende Verwirrung ihm jede vernünftige Beziehung zu dem Mädchen unmöglich macht. Ein solches Maß an Skrupeln spricht für Tuzzis Charakter, die Tatsache jedoch, daß er den Fronleichnamstag dazu benützt, um an der Mutter eines anderen Schulfreundes seinerseits einen erfolgreichen Verführungsversuch vorzunehmen, für sein Talent, erworbenes Wissen zu praktischer Anwendung zu bringen.

Mit 17 Jahren unterbinden gewisse Schwierigkeiten in den Unterrichtsfächern Mathematik, Chemie und Physik die Verfolgung anderweitiger Interessen. Jedoch wird Tuzzi für diese Abstinenz durch einen Sommeraufenthalt bei seinem Onkel, der gerade sein letztes Diplomatenjahr in Tokio hinter sich bringt, glanzvoll entschädigt. Der liberale Onkel läßt es sich angelegen sein, den Neffen mit den Bequemlichkeiten fernöstlicher Liebeskunst bekannt zu machen1, wobei Tuzzi den angstlosen Eros kennenlernt.

Mit 18 Jahren wird Tuzzi von einem verspäteten und darum umso heftigeren Rilke-Infekt befallen und vermeidet infolgedessen auch weiterhin jede Begegnung mit der immer noch geliebten Sylvia, weil er nun wiederum seine Tokioter Erlebnisse nicht in Kongruenz mit ihr zu bringen vermag. – Dann jedoch wird es Mai, und die Matura wird bestanden, und im Festsaal des Konvikts findet der Abschlußball statt. Und plötzlich, unerwartet, aber heimlich ja doch immer herbeigesehnt, steht in weißem Kleid und hochgesteckten rotbraunen Haares das Mädchen Sylvia da, und es geschieht das, was sonst nur in Jünglingsträumen geschieht: Sie geht geradeaus auf Tuzzi zu und macht einen kleinen Knicks vor ihm, und die kleine Musikergruppe hebt zu spielen an, und wenn sie auch keine Sarabande spielen, sondern den Blacksmith-Boogie und Tuzzi kein besonders guter Tänzer ist – an diesem Abend hat er Flügel und schwebt wie auf Wolken dahin. Im Park unten küßt er sie dann. Und sie hat überraschenderweise ganz kühle Lippen.

19-22jährig: Tuzzi und Sylvia besuchen gemeinsam die juridische Fakultät der Universität Wien. Es vergehen drei Jahre einer ebenso totalen wie verwirrten Glückseligkeit, in der die Begriffe der Rechtswissenschaft und die Worte der Liebe ganz und gar durcheinandergeraten; Bett und Hörsaal, Rigorosum und Liebkosung, Kelsen und van de Velde, die Paragraphen des ABGB und des Kamasutra, römisches Recht und Eros purzeln bunt und leidenschaftlich durcheinander. Tuzzi ist schwindlig vor Glück.

Als er 22½ Jahre alt ist, teilt ihm Sylvia mit, daß sie einen von Tuzzi bisher nur als wesenlosen Schatten im Hintergrund seines Glücks wahrgenommenen Tierarzt aus Kaltenleutgeben heiraten wird. – Tuzzi macht die Erfahrung, daß die alte Redewendung vom Herzen, das zu zerbrechen droht, eine Realität beschreibt. Sein Herz tut ihm tatsächlich zum Zerreißen weh. Die Welt wird von einem Tag zum anderen ein Hades, in dem sich Schatten stumm von ihm abwenden. Zwei volle Jahre lang leidet er sehr, umso mehr, als er nach dem Tode seines Onkels keinen Menschen hat, dem er sich mitteilen könnte, denn natürlich hat er in den Tagen der Verliebtheit keine Freunde gesucht. Diese Einsamkeit kommt jedoch dem Studium zugute, mit dem er sich zu betäuben sucht.

Mit 25 Jahren steht Tuzzi schon vor der Promotion. Er findet Freunde, unter anderen auch den jungen, seinem Studium mit geringerem Erfolg, aber nobler Lässigkeit obliegenden Trotta, und wird mit ihm lange verbunden bleiben. Der Anblick hübscher Kolleginnen schmerzt ihn allmählich nicht mehr, und endlich bemerkt er sogar, daß zwischen diesen Kolleginnen ein eifriger und mit viel Bosheit geführter Wettstreit um seine Gunst im Gange ist – durchaus verständlich, denn Tuzzi sieht nicht nur gut aus, sondern kann sich als Erbe eines wenn auch nicht übermäßigen Vermögens Maßanzüge und sogar ein Auto leisten. Da ihn seine bitteren Erfahrungen zu einem interimistischen Zyniker gemacht haben, wählt er aus diesem Angebot schließlich eine gewisse Elise, ein ausgekochtes, aber recht attraktives Luder, die vermöge ihres Esprits zu anderer Zeit als Mätresse eines großen Herrn ganz gut Karriere gemacht hätte. Das Verhältnis mit ihr ist libertinös und lustig, und es stört Tuzzi nicht einmal, daß sie im weiteren Verlaufe einen bekannten Staatsanwalt heiratet, von dessen hoffnungsloser Leidenschaft sie sehr amüsante Geschichtchen erzählen kann. Diese Beziehung löst sich erst, als Elise sich von einem dritten, einem Jazz-Klarinettisten, schwängern läßt und ihrem glückseligen Staatsanwalt einen Sohn schenkt. Sie würde ihr Verhältnis zu Tuzzi trotzdem ohne weiteres aufrechterhalten, aber der findet die Sache nun doch etwas unappetitlich und verzichtet höflich.