Die große Zerstörung - Andreas Barthelmess - E-Book

Die große Zerstörung E-Book

Andreas Barthelmess

0,0

Beschreibung

Google statt Gelbe Seiten, Uber-App statt Taxi-Stand, Tinder statt Disko. Alles ist neu und digital. Disruption, denken wir, ist ein technologischer Trend. Falsch! Sie ist das Phänomen unserer Zeit. Radikal wälzt sie unser Leben um. Parteien und Verbrennungsmotor sind tot, Nachkriegsdeutschland ist vorbei. Die Menschen fühlen sich überfordert, die Gesellschaft polarisiert sich und kippt. Künstliche Intelligenz und autonome Maschinen nehmen uns Arbeit und Selbstwirksamkeit. Der Staat zerbricht unter seiner Fürsorgelast. Facebook, Google und Chinas Datenmacht steuern auf einen globalen Staatsstreich zu. Doch im Bruch liegt auch die Lösung. Digitale Bewegungen wie #MeToo und Fridays for Future machen Hoffnung auf eine neue demokratische Weltordnung. Klar ist: National bewirken wir heute nichts mehr, wir brauchen einen globalen Ordnungsrahmen. Eine Utopie in Zeiten von Trump und Co? Nein. Dieses Buch macht konkrete Vorschläge, was wir jetzt tun müssen: Europa fasst Mut. In flexiblen Allianzen macht es sich auf zur globalen Bürgergesellschaft. Aus Old Europe wird Bold Europe. "Ein Buch mit lauter Aha-Effekten. Man kommt gar nicht mehr davon los. Wer den Zeitgeist verstehen will und wissen will, wohin Wirtschaft und Gesellschaft steuern, muss dieses packende Buch lesen!" Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn, ifo Institut München

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 313

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Barthelmess

Die große Zerstörung

Was der digitale Bruch mit unseremLeben macht

Dudenverlag

Berlin

© 2020 Andreas Barthelmess

Für diese Ausgabe © Duden 2020 D C B A

Bibliographisches Institut GmbH, Mecklenburgische Straße 53, 14197 Berlin

Redaktion Dr. Ludger Ikas

Lektorat Malte Ritter

Herstellung Alfred Trinnes

Layout und Satz Schimmelpenninck.Gestaltung, Berlin

Umschlaggestaltung sauerhöfer design, Neustadt

E-Book-Herstellung und Auslieferung readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

ISBN 978-3-411-91312-1 (E-Book)

ISBN 978-3-411-74733-7 (Buch)

www.duden.de

INHALT

1 Disruption ist jetzt. Was wir heute wissen müssen

2 Technischer Fortschritt, Globalisierung und Digitalisierung

3 Unser digitales Leben. Alles ist immer überall

4 Digitale Ökonomie

5 Nutella-Deutschland ist vorbei

6 Das Ende der Parteien

7 Polarisierung, Social Media und Welt ohne Gatekeeper

8 Instagram und die Macht der Ästhetik

9 Schizophrenie der Achtsamkeit

10 Monopole und das Plattform-Paradox

11 Wenn die Mehrheit kippt

12 Bold Europe. Was wir jetzt tun müssen

Danksagung

Literatur

1 DISRUPTION IST JETZT. WAS WIR HEUTE WISSEN MÜSSEN

Disruption bedeutet »Bruch«, und überall sehen wir technologische Umbrüche. Google statt Gelbe Seiten, Uber-App statt Taxi-Stand, Spotify statt CD. Klar, alles wird digital, das ist neu und radikal. Disruption, denken wir, ist ein technologischer Trend.

Falsch! Disruption ist viel mehr, sie ist das Phänomen unserer Zeit. Sie ist immer und uüberall und in allen Lebensbereichen: in Kultur und Konsum, Ökonomie und Gesundheit, Liebe und Ernährung – und vor allem in der Politik.

Donald Trump und Greta Thunberg sind zwei Seiten einer Medaille. Der Teufel mit Föhnfrisur, die Klima-Jeanne-d’Arc im Pippi-Langstrumpf-Look – in einem haben die Hater und Spötter recht: Chaoten und Heilsbringer, Narzissten und Autisten haben Konjunktur, und das global. So ist es in Großbritannien, wo Boris Johnson den Brexit durchgezogen hat, im Silicon Valley, wo der exzentrische Erfinder Elon Musk kinderrettende Taucher beschimpft, oder im Italien des Matteo Salvini, dessen Social-Media-Team sich »Die Bestie« nennt.

Die Welt ist digital. Greta hat bei Redaktionsschluss dieses Buches 4 Millionen Follower auf Twitter, Trump 70 Millionen, Kim Kardashian 157 Millionen auf Instagram. Sie alle umgehen die Gatekeeper der alten Welt und brechen mit den Regeln von früher. Sie alle kommen durchs Netz zu uns, einfach so, bis ins Klassenzimmer. Und nicht nur freitags. Der Narzissmus, der Trump und Kardashian antreibt, entspricht dem Rigorismus, mit dem Greta Thunberg auf die Welt blickt. Extreme digitale Virtuosen sind sie alle, ob um vier Uhr früh auf dem Klo twitternd oder um halb zehn in der Frühstückspause, wenn die anderen ins Butterbrot beißen.

Mitte der Neunzigerjahre: Ich sitze in einem Regensburger Betongymnasium mit halb schwebender Aufmerksamkeit hinten im Biounterricht, Thema Evolution. Aber plötzlich interessant, was Frau Troidl da erklärt. In ruhigen Zeiten ohne große Veränderungen, höre ich, sind die Angepassten im Vorteil. Extrembedingungen hingegen begünstigen ausgerechnet die schlecht angepassten Sonderlinge, das nennt man »disruptive Selektion«. Damals als Teenager denke ich: Oje, schlechte Aussichten für einen Schulversager ohne Barbour-Jacke, der immer noch auf eine bisher unbekannte Inselbegabung hofft!

Schlechte Aussichten also für Sonderlinge, denn die Neunzigerjahre sind in Bayern hyperkonform. Deutschland ist wiedervereinigt, der Kalte Krieg vorbei. Seine politische Spannung ist einer Post-Wende-Lethargie gewichen, in der allenfalls der Konsum ein wenig Abwechslung verspricht. Jahre des Stillstands. Edmund Stoiber gibt den bayerischen Law-and-Order-Sheriff. In der Schule gibt es für Kleinigkeiten schon Verweise, man hat ja sonst keine Probleme. Die Teenie-Mode ist amerikanisch-eskapistisch, mit Baseballcap obendrauf. Kulinarisch folgt man der Toskana-Fraktion von Schröder und Fischer. Die Küche rüstet mit Balsamico, Mozzarella und Cappuccino nach. Salat heißt jetzt Rucola. Das Eis wird besser. Manchmal kriegt man sogar schon »Gelato«.

Gegen die Wiedervereinigungslangeweile unternehmen wir überteuerte Sprachreisen nach London, um US-Turnschuhe oder Doc-Martens-Stiefel später stolz auf dem Schulhof vorzuführen. Schön, dass die Mark stark ist und das Pfund schwach! Popkulturell verläuft das Gefälle allerdings andersherum. Es gilt »cool Britannia«, Britpop ist ganz groß.

Kalifornien, wie wir es aus dem Fernsehen kennen, hätte noch besser zu unseren Träumen von offenen alten Autos, von Hornsonnenbrillen und Skateboards an der Strandpromenade gepasst. Aber noch ist für uns Regensburger Betongymnasiasten Kalifornien unerreichbar. Also legen wir uns ersatzweise ein Kurt-Cobain-kompatibles Hobby wie Schwarz-Weiß-Fotografie mit Dunkelkammer-Abzügen zu und bekleben Mix-Tapes auf total individuelle Weise mit Schnipseln aus Max oder GEO.

Die Sommeraufreger der Neunziger heißen Kaiman im Badesee – die Polizei schickt sogar Taucher – und abendliche Biergartenruhe für Anwohner. Schlüpfrige Details der Lewinsky-Affäre bringen endlich ein wenig Farbe in die Clinton-Präsidentschaft. Glamour gibt es nur im Trauerfall: Lady Di rast in einem Pariser Tunnel mit einem ägyptischen Playboy in den Tod. Die Extravaganz der Dekade verkörpert Guildo Horn. Was ich sagen will: Die »Berliner Republik« mit Adlon-Atmo, Berghain-Bums und Cookies-Coolness ist noch nicht in Sicht, erster Kosmopolit der Republik ist der Camembert-Kenner Uli Wickert. Alles bleibt sich ewig gleich, und nur Helmut Kohl läuft schon länger als Beverly Hills, 90210.

Und heute? Luke Perry und Helmut Kohl sind tot. Überall ist Disruption. Umbrüche, wohin man schaut: Nutella-Deutschland ist vorbei, die süße Sicherheit reihenhausbeheizter Gemütlichkeit, sie ist Geschichte.

Mit Start-ups und digitaler Disruption habe ich Geld verdient. Jetzt will ich verstehen, was eigentlich los ist, und mache mir Gedanken. Die politischen Meinungsbeiträge, die ich in den letzten Jahren für ZEIT, Neue Zürcher Zeitung, Handelsblatt, Spiegel und Welt geschrieben habe, sind in dieses Buch eingeflossen. Dazu noch ein Hinweis. Ich verwende in diesem Buch meist die männliche Form, auch wenn ich Frauen und Dritte meine. Das soll keine ausschließende Geste sein, sondern der Lesbarkeit des Buches dienen.

Wenn sich in den letzten Jahren so viel so schnell verändert hat, was kommt dann erst in den nächsten Jahren auf uns zu? Wird uns die Technologie überrollen? Wohin ziehen wir uns zurück, wenn uns alles über den Kopf wächst? Haben wir überhaupt noch so etwas wie eine Heimat oder ein Zuhause? Wo finden wir bei all der digitalen Aufgeregtheit um uns herum Ruhe? Und wie? Hilft uns da »Achtsamkeit«, oder bedeutet das ganze Achtsamkeitsgedöns nur noch mehr Stress, also Anti-Stress-Stress? Und wie steht es mit der Politik? Ist, wie man immer wieder hört, die Demokratie in der Krise, und wenn ja: Wie kriegen wir sie da wieder raus?

Um die Zukunft zu gestalten, müssen wir die Gegenwart verstehen. Schon Shakespeares Hamlet klagt, die Zeit sei aus den Fugen, und, ja, Krisen und Revolutionen gab es immer. Was aber ist neu an den Brüchen und Extremen unserer Zeit?

»Disruption« heißt »Bruch« oder »Zerstörung«, und obwohl es sich um ein lateinisches Fremdwort handelt, hat es zuerst in der englischsprachigen Start-up- und Tech-Welt Karriere gemacht. Ursprünglich in der Evolutionsbiologie verwendet, bezeichnet »disruptive Selektion« den Vorteil, den unter bestimmten Umweltbedingungen die Extremtypen gegenüber den Durchschnittstypen haben.

Heute ist das Wort Start-up cool. Allerdings ist der Gebrauch mittlerweile dermaßen inflationär, dass es sogar bei den CEOs der alten Industrie zur Modephrase geworden ist, die eigentlich für das Schritt-für-Schritt-Denken der Vergangenheit stehen. Dabei meint Disruption gerade nicht eine, wie es im Tech-Jargon heißt, »inkrementelle« Weiterentwicklung, etwa von der Vinylplatte zur CD, sondern eine ganz neue, plötzliche und schnelle, ja explosionsartige Entwicklung mit völlig neuen Ansätzen unter völlig neuen Bedingungen: also etwa Napster und iTunes statt CD.

In der Biologie hat man die Disruption immer wieder an den Darwinfinken beschrieben, die auf den Galapagosinseln zu Hause und nicht zufällig nach Charles Darwin benannt sind. Zunächst hatten die Finken anscheinend alle Schnäbel mittlerer Länge und Breite. Ziemlich normal. Je weiter die Abweichung von dieser Norm, desto seltener kam sie vor – Stichwort Gauß’sche Normalverteilungskurve, manche kennen diese Glockenkurve noch vom letzten Zehnmarkschein. Auf einmal jedoch setzten sich zwei Extremtypen von den Rändern gegen die angepassten Normalos durch: die breiten, kurzen Schnäbel mit der Kraft zum Knacken großer Samen und die schmalen langen Schnäbel mit der Geschicklichkeit fürs Aufpicken kleiner Samen. Die mittlere Form, sozusagen die Schnabel-Volkspartei der Galapagosfinken, war jetzt anscheinend zu schwach für die großen Samen und zu ungeschickt für die kleinen. Mit anderen Worten: Die galapagossische Schnabel-Volkspartei fiel einer um sich greifenden Polarisierung zum Opfer. Ganz ähnlich ging es den Sozialdemokraten und den Konservativen im Europa der letzten Jahre.

In der Ökonomie bezeichnet der Begriff »Disruption« radikale technologische Ablösungsprozesse in Industrien und Märkten. In einem viel beachteten Buch mit dem Titel The Innovator’s Dilemma hat der Wirtschaftswissenschaftler Clayton M. Christensen 1997 beschrieben, wie auf dem Markt immer wieder ausgereifte Produkte sowie gewachsene, marktbeherrschende Strukturen und Unternehmen zerstört und von neuen Firmen und Produkten vollständig verdrängt werden – und zwar selbst dann, wenn der Marktführer zuvor sein Produkt, den Bedürfnissen der Kundschaft folgend, kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert hatte. Denn solches Fleißkärtchensammeln, hat Christensen gezeigt, schützt ein Unternehmen nicht davor, plötzlich von der Konkurrenz hinweggefegt zu werden.

Der Trick der Disruptoren ist dabei, im Unterschied zur inkrementellen Peu-à-peu-Verbesserung radikal neue Ansätze an ganz neuen Kundengruppen zu testen, und das meist in Marktnischen. Damit scheitern sie zwar häufig. Wenn sie jedoch früh und billig genug scheitern, können sie so lange weiterprobieren, bis schließlich ein Disruptor den einen durchschlagenden Erfolg hat, der dann in kurzer Zeit den ganzen Markt umwälzt. Wer die Disruption auslöst, bricht also – das ist das Verfahren – aus den alten Mustern und Spielregeln des Marktes aus. Gerade dadurch gelingt ihm der Durchbruch. Der Disruptor ist der Rechtsüberholer, der das Rennen gewinnt.

Das habe ich selbst erlebt. Ich habe mitgeholfen, europäische Tech-Unternehmen aufzubauen. Heute berate ich digitale Angreifer. Aber von Haus aus bin ich, Jahrgang 1979, ein Kind der alten Welt. Mit den klassischen Waldorfschultalenten ausgestattet, haptisch und dyslexisch veranlagt, faszinieren mich nicht Joystick, Tetris und Counter Attack, sondern Fußball, Mittelbayerische Zeitung und selbst gemalte Wahlplakate für Johannes Rau. Wenn meine Freunde vor Papas Commodore 64 sitzen, gehe ich raus und gieße den selbst gepflanzten Rhododendron. Als Siebenjähriger kämpfe ich noch mit dem Schleifebinden, aber kaufe mir unter Einsatz des kompletten Sparbuchs mein erstes Kunstwerk. Zwanzig Jahre später bin ich Volkswirt und, nach einem Intermezzo bei den UN in New York, Geschäftsführer einer neuen Kunstmesse des damals stolzen Verlagshauses Gruner+Jahr.

2008 kommt die Finanzkrise. Scherben überall. Banken gehen pleite, Print-Titel werden eingestellt, meine Kunstmesse sowieso – aber Obama verspricht »Change«. Mir wird klar: Die Technologie treibt den Wandel, den Etablierten geht es an den Kragen, die große Zerstörung ist da. Bei Gruner+Jahr aber, dem leckgeschlagenen deutschen Verlagstraumschiff, stellt man auf dem Sonnendeck noch mal die Liegestühle um. Ich verlasse den Dampfer. Es folgen unternehmerische Lehrjahre, anfangs ohne, dann mit Erfolg, persönlich unruhig. Am runden Tisch mit den Köpfen der großen Venturecapital-Fonds lerne ich die Logik der digitalen Disruption.

Aber ist die Disruption tatsächlich ein neues Phänomen, oder gab es sie nicht immer schon? Waren nicht Buddha, Jesus und Mohammed religiöse Disruptoren, Homer als Dichter und Beethoven als Komponist künstlerische? Gutenberg als Erfinder des Buchdrucks, Louis Daguerre als einer der Erfinder der Fotografie, Thomas Alva Edison als einer der Erfinder der Glühlampe, Carl Benz als Erfinder des Automobils technologische Disruptoren? Einstein als Begründer der Relativitätstheorie und Alexander Fleming als Entdecker des Penicillins wissenschaftliche? Waren nicht Marx und Lenin, Gandhi und Martin Luther King politische Disruptoren?

Ohne Frage waren sie alle Revolutionäre auf ihrem Gebiet, und sie alle haben den Weltlauf dauerhaft verändert. Doch Disruption ist etwas anderes als Revolution. Die Revolution errichtet eine neue Ordnung auf alten Fundamenten, zum Beispiel eine Kölner Kirche auf einem römischen Jupiter-Tempel oder die Republik Indien auf der britischen Kolonialverwaltung. Die Disruption hingegen stellt eine neue Ordnung auf neue Fundamente – und braucht dazu nicht einmal mehr die Trümmer der alten. Sie bricht mit der Vergangenheit. Napster, iTunes und Spotify bedeuten: Die Plattenläden wechseln nicht wie zuvor ihr Sortiment von Vinyl zu CD, sondern sie verschwinden.

So gesehen, bewirkte das Penicillin tatsächlich eine Disruption. Als die Tuberkulose Ende der 1940er-Jahre mithilfe von Tabletten heilbar war, verschwanden plötzlich alle Lungensanatorien, die sich nicht noch rechtzeitig zum Skihotel umfunktionieren ließen. Die Erfindung der Porträtfotografie hingegen brachte keine Disruption, weil sie die alten Porträtmaler nicht arbeitslos machte, sondern die meisten von ihnen einfach Fotografen wurden. Disruption bedeutet also, dass eine bisherige Berufsgruppe arbeitslos wird: Plattenverkäufer wie Vernon Subutex aus Virginie Despentes’ gleichnamigem Roman und Liegekuren-Personal wie aus Thomas Manns Zauberberg.

Kleinere Disruptionen, jedenfalls im Weltmaßstab kleinere, gab es sporadisch immer schon. Als man Erdöl zu fördern begann und daraus Petroleum herstellte, ging mit der Tran-Industrie der Walfang ein. Das Telefon machte die Botenjungen arbeitslos, die Glühlampe den Dochtmacher, Überseecontainer und Kran die Scheuerleute, die früher Waren per Hand auf Schiffen stapelten. Als japanische LCD-Uhren aufkamen, gingen zwei Drittel der Schweizer Uhrenmanufakturen pleite. Mit dem PC starb die Schreibmaschine, mit der digitalen Fotografie der Film.

Doch alle diese Disruptionen unterscheiden sich sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von der Disruptionsdichte unserer digitalen Gegenwart. Das hat technologische Gründe. Heute sind die Voraussetzungen für disruptive Innovationen beziehungsweise, wie die Bundesregierung sie nennt, »Sprunginnovationen« viel günstiger als noch in den Neunzigerjahren, als Christensen sie beschrieb. Sie finden auch häufiger statt. Denn die digitale Technologie hat die Schwelle zum Markttest dramatisch abgesenkt und verbilligt. Damit wiederum hat sie das disruptive Potenzial des digitalen Markteintritts exponentiell gesteigert. Man kann über Nacht eine App programmieren und schauen, ob sie funktioniert. Nach ein paar Wochen weiß man, ob sie das Zeug hat, den Markt aufzurollen. Für ein Medikament wie Penicillin oder einen neuen Fahrzeugantrieb hingegen brauchte man Entwicklungs- und Versuchsreihen, die sich über Jahre hinwegzogen.

Doch so niedrigschwellig der Markteintritt im digitalen Zeitalter grundsätzlich ist, für die Konkurrenten wird er umso schwieriger, sobald der Markt einmal von einem Marktführer besetzt ist. Hier gilt das Prinzip »The winner takes it all«. Amazon ist der Online-Händler, Airbnb der Online-Marktplatz für Unterkünfte, Google die Suchmaschine, YouTube das Videoportal. Und das weltweit.

Auch unsere Alltagsbeziehungen ordnet die Digitalisierung neu. Weil wir so viel bei Amazon bestellen, schließt die kleine Buchhandlung um die Ecke, sofern sie nicht die Veränderung zur literarischen Event-Location schafft. Dafür haben wir Dauerbesteller durch unsere täglichen Paketlieferungen inzwischen eine engere Beziehung zum Paketboten als früher zur Buchhändlerin oder zum Supermarktkassierer. Die jedenfalls kannten uns nicht mit Zahnbürste im Mund im Morgenmantel. Unsere neuen Beziehungen werden jedoch nicht lange dauern. Bald werden wir der Lieferdrohne ins Kameraauge blicken. Das Zeitalter der Disruption hat gerade erst begonnen.

Die Veränderungen im Nachkriegsdeutschland bis in die Nullerjahre hinein waren ganz anderer Art. Sie waren nicht disruptiv, sondern inkrementell. Alles ging peu à peu voran, alles wurde immer ein bisschen besser. Meist sah man das nicht einmal, etwa beim Auto. Knautschzone, Airbag, ABS, ausfahrbarer Überrollbügel für Cabrios: Bosch-artig versteckten Ingenieure mit Horb-am-Neckar-Fleiß den kontinuierlichen Fortschritt hinterm Blech und unterm Armaturenbrett. Heute zeichnet sich das Ende des Verbrennungsmotors ab. Und auch wenn mittlerweile selbst die Autolobbyisten gelernt haben, vom »Paradigmenwechsel« zu schwurbeln, so verwenden sie doch nur eine Chiffre aus der alten Zeit. Induktives Handyladen jedenfalls wird das alte Auto nicht retten.

Inkrementell ist die Entwicklung von der Tageszeitung zum Sonntagsblatt. Von drei öffentlich-rechtlichen Sendern zu ein paar Dutzend privaten. Disruptiv hingegen ist der Sprung von Print zu Twitter, vom Fernsehen zu YouTube und Netflix.

Ironischerweise entstehen disruptive technologische Umbrüche aus der inkrementellen Verbesserung vieler Einzelbereiche. Steinchen auf Steinchen baut sich der Fortschritt auf, bis er plötzlich ein neues Plateau erreicht, auf dem sich dann sprunghaft Innovationen ereignen. So ermöglichten Fortschritte der Prozessorleistung, Batteriekapazität, Speichergröße und interaktive Displays im Zusammenspiel mit wachsender digitaler Vernetzung jene mobilen Endgeräte, die sich nach der Markteinführung des iPhones 2007 rasant durchsetzten.

Das Smartphone wiederum entpuppte sich als technologische Grundvoraussetzung für die soziale und kulturelle Gegenwart, in der wir heute leben: Tinder statt Disco. WhatsApp statt Diaabend. Facebook statt Weihnachtsbrief. Twitter-Gewitter im Minutentakt statt ein Papierpfund redaktioneller Welterklärung zum Wochenende. Dauer-Newsstream statt Abendnachrichten.

In dieser digitalen Gesellschaft ist jeder sein eigener Propagandasender, und das mit Reichweiten, von denen etablierte Medien wie New York Times, CNN und Bild nur träumen können. Wer Millionen erreicht und als »First Mover« ungefiltert direkt auf die Displays in unseren Händen sendet, kann bislang Unvorstellbares bewirken. Polarisieren, sensibilisieren oder mobilisieren. Wer Millionen erreicht, kann eine Mauer zu Mexiko bauen, Rassismus im Land der Political Correctness verbreiten, mit #Leave.EU ein Land aus der EU führen, die Debatte #MeToo starten und einen globalen Bewusstseinswandel herbeiführen, mit »Fridays for Future« eine globale Schülerbewegung für den Klimaschutz initiieren. Alles scheint möglich.

Zugegeben: Trump und Greta sind für die meisten von uns weit weg. Aber die großen Brüche sind es nicht, sie finden überall um uns herum statt, ganz in unserer Nähe. Konventionen kippen, Menschen ändern ihr Verhalten. Und immer häufiger müssen sie sich dabei, so viel ist dran an der viel beschworenen »Polarisierung«, zwischen zwei Lagern entscheiden. Diese Lager sind das progressive und das konservative, und so wählen wir zwischen Detox-Smoothie oder Hasseröder Biertulpe, zwischen Falafel oder Schweinebraten, Car-Sharing oder Garagen-Fetisch.

Als ich Teenager war, shampoonierten unsere Nachbarn samstags rundherum zärtlich ihre Autos. Mein Freund Fabian begeisterte sich für Diesel-Direkteinspritzung und andere technische Innovationen, die damals noch »Erfindungen« hießen. Fabian liebte Erlkönig-Fotos aus der Auto Bild. Er kannte Hubräume und PS-Zahlen. Und er wusste, dass er eines Tages zum Händler im Autoglashaus an der Ausfallstraße gehen und sich einen tollen Wagen mit sechs Zylindern »holen« würde. War auch in Ordnung so. Normal.

Heute hat Fabian Familie, aber kein Auto, lebt in Berlin und nicht mehr in der Oberpfalz. Alle paar Wochen probiert er eine neue Mobilitäts-App aus: Car-Sharing, Uber, Leihräder, E-Tretroller. Fabian ist mit der Zeit gegangen: Nicht mehr der Autobesitz verschafft uns heute Status, sondern Wahlfreiheit und permanente Flexibilität. Für die Progressiven sind heute Probieren und morgen Andersmachen wichtiger als Felgenpolieren und In-der-Garage-Haben. So hat man ein gutes Gewissen und markiert die eigene Progressivität. Ganz ähnlich macht es Tech-Ikone Elon Musk. Der Tesla-CEO baut Elektroautos, will aber eigentlich lieber mit wiederverwendbaren Raketen ins All fliegen.

Neue Melodien hören wir überall. Ich erinnere mich an eine internationale Venturecapital-Konferenz in Berlin. Am ersten Abend habe ich mich mit denselben Geschäftsfreunden wie jedes Jahr zum Essen verabredet. Wir treffen uns, ebenfalls wie jedes Jahr, im »Grill Royal«. Das Restaurant ist lange schon gesetzt und der Name Programm. Wen wundert es? Steakessen ist fleischgewordene Unternehmenskultur der hier mit mir versammelten Start-up-Macher, alles sehr männlich. Hier sitzen wir also, finden den globalen Kapitalismus prima, essen blutiges Fleisch, wollen aber nicht mit Raubtieren verglichen werden, mit Heuschrecken schon gar nicht. Marktdominanz ist eine feine Sache, im Übrigen hart erarbeitet und insofern verdient. Alles in Ordnung unter den Digitalisierungsgewinnern.

Doch im Sommer 2019 ist etwas anders. Raffael, ein guter Freund, eröffnet uns mit besorgter Miene, spät zu essen sei ungesund. Im Übrigen konzentriere er sich jetzt aufs Intervallfasten. Das habe ich selbst auch schon probiert. Trotzdem stutze ich und komme kognitiv beim Versuch ins Straucheln, Absender und Inhalt der Botschaft in Einklang zu bringen. Da legt Raffaels Geschäftspartner Ben die Speisekarte weg und das Statement nach, dass er heute auf Fleisch verzichten werde. Ernährungsstudien und Klimadiskussion ließen ihn umdenken. Er führt das fundiert, klug und selbstkritisch aus. Ich bin perplex. Vielleicht spricht Ben ja so, weil er vor wenigen Monaten Vater geworden ist? Doch die ganze Runde ist sich überraschend einig: Die Schülerbewegung für das Klima sei beeindruckend, der hohe Druck auf die Politik genau richtig, Greta solle so weitermachen.

Später kommen wir auf eines meiner Lieblingsthemen, die Regulierung oder Zerschlagung von global übermächtigen Onlineplattformen. Eigentlich ist da Widerspruch ausgemacht, doch wieder geschieht etwas Überraschendes. Raffael sagt, er habe das jahrelang anders gesehen, aber jetzt müsse er mir beipflichten: Der Staat müsse viel härter gegen Monopole vorgehen. Dann fällt ein Satz, den ich aus dem Mund eines digitalen Disruptionsgewinners nie erwartet hätte: »Wir brauchen mehr Staat, überall!«

Die Welt ist im Umbruch, und wir beginnen, auf die Brüche, Umstürze und Einbrüche der letzten Jahre zu reagieren. Nichts ist mehr, wie es war! Brexit, Trump-Wahl, #MeToo, Fridays for Future, Volksparteien-Aus: Was wir für unverrückbare Gewissheiten und unverhandelbare Gesetze hielten, ist plötzlich radikal anders. Verkehrte Welt! Ein US-Präsident setzt auf Rassismus, aber Kapitalisten mit Neunzigerjahre-McKinsey-Sozialisierung geben sich selbstkritisch pro Regulierung. Vom Saulus zum Paulus, vom Steak-Kapitalisten zum sozialen Marktwirtschaftler mit CO2-Sorge.

Alles, was ich hier bisher beschrieben habe, sind Symptome der Disruption. Sie ist das Phänomen unserer Gegenwart. Sie ist ihre Signatur. Und sie ist tatsächlich neu. Doch ich glaube, die neue Unübersichtlichkeit führt dazu, dass wir häufig den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Durchsage an alle die, die glauben, die aktuellen Umbrüche würden sich bald wieder legen, Hass und Hetze im Netz würden sich wieder beruhigen, die Hyper-Dominanz von Silicon-Valley-Unternehmen wäre nur eine Momentaufnahme, die klassischen Industrieunternehmen mit vielen Arbeitsplätzen fänden bald wieder zu alter Stärke zurück und die »Volksparteien« lägen bald wieder bei 40 Prozent: Ihr träumt. Wetten, dass ..? ist vorbei.

Wir können nicht Disruptionen ungeschehen machen, indem wir wie früher die Erfindungen der Konkurrenz nachbauen. Paypal lässt sich nicht, fünfzehn Jahre zu spät, durch ein deutsches Imitat namens »paydirekt« von den Sparkassen und Volksbanken verdrängen. Ich habe es schon gesagt: Größe bedeutet in der Plattformökonomie unüberwindliche Dominanz. The winner takes it all. Das Zeitalter der Disruption ist da. Sie stülpt die Welt um wie zuletzt die Industrialisierung, nur viel schneller und heftiger. Folgte im 19. Jahrhundert auf die technologische Revolution die ökonomische, dann die politische und darauf die kulturelle, so erfasst die Disruption heute all diese Bereiche zugleich. Im 19. Jahrhundert konnten sich die Menschen über Jahrzehnte an den Wandel gewöhnen. Jetzt ereignet er sich innerhalb weniger Jahre. So schnell mussten wir noch nie umlernen. Die digitalen Geister, die wir riefen, werden wir nicht los.

Also: Nichts wird wieder werden, wie es einmal war. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Das ist leicht gesagt, doch wir tun uns verdammt schwer damit. Manchmal geht mir das auch so. Ich bin digital, hänge aber an der Offlinehaftigkeit der Achtzigerjahre. Davon heißt es jetzt Abschied nehmen. Nur nicht zu viel Nostalgie! Wenn ich in diesem Buch immer wieder zurückblicke, will ich zeigen, wie weit wir uns schon von den Achtziger- und Neunzigerjahren entfernt haben. Einen Weg zurück gibt es nicht. Und ein kleiner Hinweis an die ab 1995 Geborenen: Ihr werdet vielleicht manches, von dem hier die Rede ist, nicht verstehen. Aber »Gelbe Seiten«, »Luke Perry« und »Augusteischer Frieden« könnt ihr im Netz nachschlagen.

Was ist zu tun? Die Traditionalisten bocken beleidigt vor der Gegenwart und leugnen die Disruption. Die Progressiven umarmen sie begeistert und werfen sich ihr manchmal allzu unkritisch an den Hals. Das Beste ist also, die Disruption kritisch zu umarmen. Denn nur so können wir sie in den Griff bekommen, politisch, ökonomisch und sozial. Was für eine Herausforderung, diese aufregenden Zeiten mitzugestalten! Die Frage ist nur: Wie tun wir das, ganz praktisch – individuell im Alltag, politisch in der Gesellschaft? Das ist die Frage, um die es mir geht.

Am Anfang des Buches steht der Kontrast von Geschichte und Gegenwart: von technischem Fortschritt, den es immer schon gab, und unserer digitalen Gegenwart, die so radikal neu ist. Was, frage ich, hat unsere politische Kultur und Gesellschaft so tiefgreifend verändert? Woher unsere Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach Heimat? Worin liegt die Eigendynamik von Social Media? Was haben Tinder, Facebook und Instagram-Ästhetik mit der Politik zu tun?

Welche Rolle spielt die künstliche Intelligenz? Woher kommt das Gefühl permanenter Überforderung, das Gefühl, nicht mehr mithalten zu können? Ist uns die Welt zu groß geworden, ist sie alternativlos? Was ist das Winner-takes-it-all-Prinzip, und bedroht es die liberale Demokratie? Wenn uns die Datenplattformen überwachen, wer überwacht die Wächter? Was tun, wenn sich bald die politische Systemfrage stellt? Und hilft uns beim Weltretten die neue Achtsamkeits-App?

Mit diesen Fragen befasse ich mich, bevor ich dazu im letzten Kapitel eine Reihe von konkreten Vorschlägen mache.

Alle Fragen zielen auf die nahe Zukunft. Wer sie beantworten will, muss die Vergangenheit kennen. Schauen wir sie uns an.

2 TECHNISCHER FORTSCHRITT, GLOBALISIERUNG UND DIGITALISIERUNG

Disruption, so die These dieses Buches, ist überall. Sie ist das übergeordnete Geschehen unserer Gegenwart. Deshalb kennzeichnet sie heute nicht nur, wie es die ursprüngliche Verwendung des Wortes »Disruption« tat, Evolutions- und Marktphänomene, sondern alle Bereiche unseres Lebens: Politik und Gesellschaft, Freundschaft und Liebe, Kunst und Ernährung, Sport und Gesundheit, Partnerschaft und Sex.

Alle diese Bereiche lassen sich unter einen weit verstandenen Begriff von »Kultur« fassen. Kultur ist, was wir Menschen aus dem machen, was uns unausweichlich vorgegeben ist. Aber was ist uns vorgegeben? Die Natur, wie viele Philosophen angenommen haben? Das Schicksal? Die göttliche Ordnung? Das Chaos?

Mein Vorschlag lautet: der technologische Fortschritt. Er treibt uns an. Ja, richtig: Nicht wir treiben ihn an, sondern er uns – jedenfalls, nachdem wir ihn einmal angeschoben und in die Welt gebracht haben. Wie genau der technologische Fortschritt in die Welt kommt, wissen wir nicht, wohl aber, welche Eigendynamik er entfaltet, sobald er in Form einer Erfindung oder Entdeckung einmal da ist. Das Feuer zum Beispiel: Wahrscheinlich zuerst in die Höhle geholt, um zu wärmen, nutzte der Mensch es dann, um Fleisch und Grassamen zu garen. Das brachte ihn zum Getreideanbau, ließ ihn sesshaft werden, Kornspeicher errichten, Stadtmauern, Türme und Tempel. Ließ ihn Götter erfinden, Könige und das Bierbrauen – und am Ende die Schrift, um die Gesetze zu fixieren, die man für ein kultiviertes menschliches Zusammenleben braucht, besonders unter Alkoholeinfluss.

Oder das Rad: Irgendwie kommen die Sumerer im 4. Jahrtausend vor Christus auf das Scheibenrad. Vier Stück an eine Kiste montiert und einen Ochsen davorgeschirrt, kriegen die Sumerer eine Wagenladung Gerste viel schneller zur Brauerei transportiert, als wenn sie sie schleppen müssten. Doch aus dem Rad lässt sich mehr machen als nur ein Bierwagen. Eine clevere bronzezeitliche Steppenkultur ersetzt die Scheibe durch Speichen, baut einen zweirädrigen Renn- und Streitwagen und spannt Pferde davor. Dieses Gespann macht im 13. Jahrhundert vor Christus bei Hethitern, Assyrern und Ägyptern Kriegskarriere, verschiebt Reichsgrenzen oder radiert sie aus.

So kommt es schon früher zur Globalisierung, als der Begriff vermuten lässt. Denn Globalisierung ist ja nichts anderes als die wachsende Vernetzung über eine zunehmende geografische Distanz hinweg. Als gradueller, kontinuierlicher Prozess verläuft sie parallel zum technischen Fortschritt. Zugleich unterstützt sie ihn bei seiner Verbreitung. Das Rad hat auch deshalb eine so zentrale Rolle gespielt, weil es weitere Innovationen angestoßen und ermöglicht hat: den Straßenbau etwa, der wiederum verstärkten Handel bringt.

Historisch haben wir uns daran gewöhnt, den Beginn der Globalisierung in der frühen Neuzeit anzusetzen. 1488 entdecken die Portugiesen am Kap der Guten Hoffnung den Seeweg nach Indien, 1492 erreicht Kolumbus, ebenfalls auf der Suche nach Indien, Amerika: Das Zeitalter von globalem Überseehandel und kolonialer Ausbeutung beginnt. Tatsächlich jedoch findet Globalisierung schon seit Jahrtausenden statt. Alexander der Große bringt die griechische Kultur nach Indien. Die Römer bauen das erste Straßennetz, das die gesamte ihnen bekannte Welt umspannt. So konnten sie über eine Distanz von 5000 Kilometern einen Brief von Babylon nach Londinium schicken. Infrastruktur schafft Mobilität, vernetzt und entgrenzt. Schon in der Antike bezog China über die Seidenstraße römisches Glas, Rom importierte chinesische Seide.

Was heißt das für den Menschen? In dem Maße, wie die Welt kleiner wird, wächst sein Bezugssystem, also der soziale, kulturelle, ökonomische und politische Bezugsrahmen. Das ist eine der Grundannahmen dieses Buches: Im Zuge des technischen Fortschritts erweitern sich diese menschlichen Referenzsysteme. Die Tendenz zur Globalisierung hatten sie dabei immer schon. Dennoch wird die globale Dimension erst in der Neuzeit sichtbar. Das wiederum hat mit einer zweiten Grundannahme dieses Buches zu tun: der Beschleunigung. Wenn distanzverkürzende Medien wie Rad und Straße die Überwindung des Raumes bewirken, dann schlägt sich dieses Schrumpfen des Raumes als Beschleunigung auf der Zeitachse nieder. Anders gesagt: Wenn die Straßen in Schuss sind und alle paar Dutzend Kilometer frische Pferde bereitstehen, kommt der Brief aus Babylon schneller in London an.

Die Menschheit schreitet also immer schneller voran. Anfangs sieht das stetig linear aus, tatsächlich jedoch befinden wir uns in einer exponentiellen Funktion. So besagt etwa das in den 1960er-Jahren formulierte sogenannte Moore’sche Gesetz, dass sich die Rechenleistung von Computerprozessoren alle ein bis zwei Jahre verdoppelt. Nach einem Zyklus ist die Leistung doppelt so hoch wie zuvor, nach zwei Zyklen viermal, nach drei achtmal, nach vier 16-mal, nach fünf 32-mal und so weiter: exponentielles Wachstum eben. Wir kennen den Graphen dazu noch aus der Schule. Erst bewegt er sich mit kaum wahrnehmbarer Steigung quälend langsam, anscheinend linear auf der Y-Achse hoch. Endlich, da hat man schon drei Viertel der X-Achse hinter sich, nimmt er ein bisschen Fahrt auf, jetzt geht es langsam los nach oben – und, rums, ist der Graph schon fast senkrecht durch die Decke geschossen.

Das liegt auch an den supraleitenden Prozessoren, die künftig zum Einsatz kommen werden. Früher kannte jedes Bit nur zwei Zustände, 0 oder 1. Heute arbeiten Quantencomputer wie Sycamore von Google bereits mit sogenannten Qubits, die, einfach gesagt, viele verschiedene Werte annehmen können. Operationen, für die klassische Computer noch mehrere Hundert Jahre gebraucht hätten, rechnen Quantencomputer binnen Minuten.

Also lautet die dritte Grundannahme dieses Buches: In der großen Disruption geht auch der technische Fortschritt durch die Decke. In diesem Zeitalter leben wir heute.

Mitte des 15. Jahrhunderts revolutioniert Johannes Gutenberg das Druckwesen. Bis dahin hatte man Texte mit der Hand abgeschrieben. Bei einem dicken Buch kostete das viel Mühe, Zeit und Geld. Als Gutenberg den Buchdruck mithilfe beweglicher Lettern erfand, konnte man plötzlich ein einmal gesetztes Buch hundertfach drucken: so etwa die berühmte Gutenberg-Bibel. Ohne sie wiederum hätte sich die von Luther angestoßene Reformation nicht so schnell verbreiten können, wie es im 16. Jahrhundert geschah. Eine wichtige Rolle bei der Emanzipation vom autoritären Katholizismus und Papsttum spielten auch schnell und billig zu druckende Propaganda-Flugblätter, die den Papst als Esel oder mit Scheißhaufen in der Hand auf einer Sau reitend zeigten: »des Teufels Sau, der Papst«, so O-Ton Luther, der seine Tiraden heute sicher über Twitter raushauen würde. Schon mit der Druckerpresse gibt es also eine Art ökonomischen Netzwerkeffekt, wie wir ihn heute im Digitalen bei Facebook, Google und anderen beobachten.

Den aus der konfessionellen Spaltung Mitteleuropas entstandenen Dreißigjährigen Krieg hat Luther, all seiner Giftigkeit zum Trotz, genauso wenig gewollt wie Gutenberg. Und doch hatte die Revolution im Druckwesen erheblich Anteil an jener politischen Mobilisierung, deren Eskalation zum Krieg ein Drittel der Bevölkerung Mitteleuropas das Leben kostete. Technologische Innovationen können zu gesellschaftlicher Polarisierung, zu dramatischen sozialen Umbrüchen führen, bis hin zum Krieg.

Das gilt heute auch für Twitter. So hat der Watergate-Enthüller Bob Woodward in einem Interview mit dem US-amerikanischen Sender CBS erläutert, wie US-Präsident Donald Trump möglicherweise um ein Haar einen Tweet verschickt hätte, den Nordkorea als Kriegserklärung hätte deuten können: nämlich die Mitteilung, alle Angehörigen US-amerikanischer Soldaten aus Südkorea abzuziehen.

Heraklit meinte, der Krieg sei der Vater aller Dinge. Ich finde, das gibt dem Krieg zu viel der Ehre. Zwar gibt es Erfindungen, die ausdrücklich vom Militär bestellt wurden – etwa die Konservendose, die auf eine Preisausschreibung Napoleon Bonapartes zurückgeht, oder das unter der Naziherrschaft entwickelte Düsenflugzeug. Tatsächlich ist es aber häufig umgekehrt so, dass sich das Kriegswesen neue Erfindungen unter den Nagel reißt und für seine Zwecke nutzt, etwa das von Alfred Nobel erfundene Dynamit. Nobel, zu Lebzeiten gelegentlich als »Kaufmann des Todes« bezeichnet, stiftete die Nobelpreise, darunter auch einen für den Frieden, ganz so, also wollte er damit den Geist, den er aus der Flasche gelassen hatte, wieder zurückholen.

Aber das ist unmöglich. So führt es uns schon die Literatur vor Augen. Goethes Zauberlehrling ruft, als der von ihm belebte Besen das Haus unter Wasser setzt: »Ach, da kommt der Meister! / Herr, die Not ist groß! / Die ich rief, die Geister / werd ich nun nicht los.« Genauso geht es Victor Frankenstein, wenn ihn das Monster, das er selbst erschaffen hat, rachsüchtig bis zum Nordpol verfolgt. In Friedrich Dürrenmatts groteskem Theaterstück Die Physiker gibt sich ein Wissenschaftler absichtlich als Irrer aus, um zu verhindern, dass seine Entdeckung zur atomaren Weltzerstörung führt.

Was gesagt ist, ist gesagt. Was entdeckt ist, ist entdeckt. Worte und Erfindungen lassen sich nicht zurücknehmen und ungeschehen machen. So eröffnet jede Erfindung neue Entwicklungsmöglichkeiten, die missbraucht – oder aber zum Wohle der Menschen verwendet werden können. Der Buchdruck hatte nicht nur Einfluss auf die Religionskriege in Europa, sondern auch unzählige positive Folgen für die Entwicklung der Menschheit. Ohne ihn hätte es in Europa keine Aufklärung und keinen Aufstieg der Naturwissenschaft gegeben. Keine Gewaltenteilung und keinen modernen Staat. Keine Schulpflicht, keine Französische Revolution. Und auch keine demokratische Republik auf deutschem Boden.

Dreierlei können wir aus dieser Erzählung von Geschichte lernen. Erstens: Wer die technologische Innovation hat, hat auch die Macht. Luther hatte bei seiner Revolution gegen den Papst den technischen Fortschritt auf seiner Seite. Zweitens: Wer die technologische Macht hat, kann sie zum Guten verwenden oder missbrauchen. Einen solchen Missbrauch gilt es zu verhindern. Das ist Aufgabe der Politik. Und drittens: Der Fortschritt gehört anfangs nur wenigen. Wir müssen also die Vorteile, die er schafft, möglichst vielen Menschen zugänglich machen, das heißt, den Fortschritt demokratisieren, seine ökonomischen Erträge eingeschlossen. Dies ist ebenfalls Aufgabe der Politik, und das besonders dringlich im Falle technologischer Sprünge, wie wir sie gerade so dramatisch erleben wie nie zuvor. Die Politik wiederum ist in einer freien Gesellschaft Ausdruck des demokratischen Willens, und das bedeutet: Die Wähler entscheiden. Wir sind gut beraten, wenn wir aus der Vergangenheit lernen.

Machen wir uns klar: Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Der Mensch entwickelt sich, evolutionär und kulturell, und damit ist auch der Fortschritt in der Welt. Einmal da, marschiert er, und wir laufen mit unserer Kultur, unseren sozialen und politischen Institutionen mit – im besseren Falle gleichauf, im schlechteren hinterher, im schlechtesten Falle abgehängt unter »ferner liefen«.

Das heißt zugespitzt, dass unsere Kultur und Politik Epiphänomene, also Begleit- oder Folgeerscheinungen des technologischen Fortschritts sind. Es ist wichtig, das zu verstehen. Der Fortschritt hat eine Eigendynamik. Wenn wir sie nicht rechtzeitig in den Griff bekommen, kann sie uns gefährlich werden. Davor warnen uns die Geschichten vom Zauberlehrling, von Frankenstein und von Godzilla.

Wir müssen die Eigendynamik des Fortschritts zähmen und zivilisieren. Sie so kanalisieren, dass möglichst viele, idealerweise sogar alle Menschen von ihrem Momentum profitieren. Wir müssen den Fortschritt ethisch vertretbar zu unserem Wohl arbeiten lassen. Dazu dient die Politik, und damit hatte sie im Laufe der Geschichte, allen Kriegen und Katastrophen zum Trotz, immer wieder Erfolg. Nachdem die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki gefallen waren und dort unverstellbares Grauen angerichtet hatten, gelang es den verfeindeten Blockmächten, einen Atomkrieg zu verhindern, das atomare Arsenal zu reduzieren und einen Atomwaffensperrvertrag ins Leben zu rufen. Zugleich entstanden Kraftwerke, die die Atomkraft friedlich zur Stromerzeugung nutzten.

Wir können den technischen Fortschritt nicht aufhalten. Wir können Erfindungen nicht zurücknehmen. Aber wir sind nicht das Kaninchen vor der Schlange, und wir stehen nicht machtlos vor einer wie auch immer gearteten Auto-Evolution der Technik. Wir müssen nicht tatenlos der Entfesselung ihrer Kräfte zusehen. Wir müssen uns nicht von Technologien überschwemmen lassen, wie Goethes wasserholende Besen den Zauberlehrling überschwemmen und der Klimawandel die Küstenregionen unserer Erde. Denn wir können den Fortschritt steuern. Wir können ihn mit den Mitteln der Politik kontrollieren. Wir können ihn zu unserem Wohle nutzen und dabei zugleich Rücksicht nehmen auf andere Menschen und auf die Umwelt. Wir sollten nicht Technik-Pessimisten sein, sondern kritische Technik-Optimisten!

Politik und Kultur dienen der Zivilisation des technologischen Fortschritts. Findet man, dass das im Großen und Ganzen gelingt, dann ist man ein Fortschrittsoptimist. Man kann die Geschichte auf unterschiedliche Arten erzählen, eine optimistische Fortschrittserzählung ist eine davon. Einer ihrer prominentesten Vertreter der Gegenwart ist der in Harvard lehrende Psychologieprofessor Steven Pinker. Er hat argumentiert, dass die Welt im Laufe der Geschichte immer besser geworden ist, weil die Menschen aus Kriegen und anderen humanitären Katastrophen überwiegend die richtigen Schlüsse gezogen haben.

Schauen wir, ob Pinker recht hat. 1769 erfindet James Watt die Dampfmaschine. Sie mobilisiert die Energieerzeugung und schafft die Voraussetzung für Eisenbahn, Automobil und Flugzeug. Auch die Kohle- und Stahlindustrie wird durch die Dampfmaschine möglich. Watts Erfindung ist die Grundvoraussetzung für die Industrialisierung, jene zweite Ära der Neuzeit, in der sich die durch den kolonialen Überseehandel angeschobene Globalisierung weiter beschleunigt. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Bank- und Kreditwesen, das sich seit der Renaissance entwickelt hat. Zusätzlich zum Eigenkapital lassen sich Unternehmensgründungen und -expansionen jetzt auch mithilfe von Fremdkapital finanzieren. Industrialisierung und Kapitalismus, darin hatten Marx und Engels recht, gehen Hand in Hand.

Von nun an ist die Beschleunigung des Fortschritts nicht mehr zu übersehen. Beim Rad hatte es noch Jahrtausende gedauert, bis jemand die plumpen, schweren Scheibenräder zu eleganten, leichten Speichenrädern verbesserte. Der Steigbügel fiel den Menschen erst nach Jahrtausenden militärischer und nichtmilitärischer Reiterei ein. Auch der Räderpflug, der mit einer breiten Pflugschar die Scholle wendet, ließ Jahrtausende auf sich warten.

In der Neuzeit aber geht es Schlag auf Schlag. Das Schwarzpulver kommt auf, und sofort verschwinden die riesigen Ritterrüstungen, die nun keinen Schutz mehr bieten. Papier und Buchdruck machen Bücher erschwinglich, mehr und mehr Menschen lernen lesen, und Ende des 18. Jahrhunderts führen die ersten Länder Europas die Schulpflicht ein. Von der Dampfmaschine bis zum automobilfähigen Verbrennungsmotor im engeren Sinne dauert es gut hundert Jahre, Otto-, Diesel- und Wankelmotor folgen dann innerhalb weniger Jahrzehnte.

Ursache dieser Innovationsbeschleunigung ist nicht nur die Institutionalisierung von Wissen in Hochschulen, Bibliotheken und Patentämtern, sondern auch die durch ihre Vernetzung ermöglichte immer schnellere Zirkulation des Wissens. So kommt es dazu, dass epochale Erfindungen wie Glühlampe und Telefon zeitgleich an unterschiedlichen Orten gemacht werden. Auch Carl Benz und Gottlieb Daimler entwickeln das von einem Viertaktmotor angetriebene Automobil zunächst unabhängig voneinander, beide stellen ihr Ur-Auto im selben Jahr 1886 vor. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, so scheint es, liegen manche Erfindungen in der Luft.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlaubt es die Dampfmaschine, jene Kohle immer effizienter abzubauen, die sie selbst in immer riesigeren Mengen verschlingt. Im Ruhrgebiet, in Lothringen, Großbritannien und den USA entstehen um Kohleminen herum Städte. Immer größer werden Eisenguss- und Walzwerke, Eisenbahnen und -brücken, Kanonen und Panzerkreuzer. Der Zeitgeist wandelt sich. Unterhielt das nostalgische frühe 19. Jahrhundert noch romantische Mittelalterfantasien, so richtet man am Ende des Jahrhunderts den Blick radikal optimistisch in die Zukunft. Noch 1831 stilisiert Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame