Die Gülen Bewegung - Ercan Karakoyun - E-Book

Die Gülen Bewegung E-Book

Ercan Karakoyun

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Beschreibung

Ercan Karakoyun liefert in seiner aktualisierten und erweiterten Neuausgabe einen spannenden Insider-Bericht. Er beschreibt, was die Gülen-Bewegung, auch Hizmet genannt, wirklich will: Aufstieg durch Bildung, die Orientierung an den Prinzipien der Demokratie und einen menschlichen Islam. Eindrücklich berichtet Karakoyun auch darüber, wie die Gülen-Anhänger in Deutschland, darunter Ärzte, Unternehmer und Restaurantbesitzer, Boykottaufrufen, Anfeindungen und sogar Todesdrohungen durch das Erdogan-Regime ausgesetzt sind.

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Ercan Karakoyun

Die Gülen-Bewegung

Was sie ist, was sie will

Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2018

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein

ISBN (E-Book) 978-3-451-81322-1

ISBN (Buch) 978-3-451-39980-0

Inhalt

Hizmet, Hass und Hetze – weshalb ein friedliches Miteinander Schulen und Dialog brauchtGeleitwort von Pater Klaus Mertes, SJ

1. Der Putschversuch und seine Folgen

Der 15. Juli 2016 in der Türkei

Konsequenzen für das Leben in Deutschland

Verwirrung in den deutschen Medien: Wer ist gut, wer ist böse?

Crashkurs Türkei – der Konflikt in zwanzig Minuten erklärt

Unbeirrt: Einladung zum Dialog

2. Hizmet in Deutschland – ein Missverständnis

Hizmet und die Gerüchte – zwischen Postillon und Wikipedia

Hizmet – eine Sekte?

Lichthäuser – was steckt dahinter?

Zerrbild mit Folgen: Ein Spiegel-Artikel von 2012

Sohbets – Gesprächszirkel und Weltkulturerbe

Akribische Erforschung eines folgenschweren Enthüllungsberichts

Manipulation: Eine Predigt von Gülen

Übersetzungshürden und Verständnisschwierigkeiten

Ins Gegenteil verkehrt: Gülens Aufruf zur Gewaltlosigkeit

Entwarnung: Verfassungsschutz und kleine Anfragen

Manipulation der Wirklichkeit

Skandale in der Türkei: Die Verhaftung von Ahmet Şık

3. Ungesehen: Hizmet-Aktivitäten in Deutschland

Dialog in Berlin: Iftar-Essen im Bundestag

Hizmet: Gegenstand der Wissenschaft

Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund

Hizmet Deutschland: Struktur und Transparenz – ein Anfang

4. Unter Verdacht – Terrorismus in Deutschland, Türkei und der Welt

Einreiseverbot in der Türkei als deutscher Staatsbürger

9/11 und die Folgen für deutsche Muslime

Angst vor Terror, Angst vor dem Islam

Gülens Botschaft: Gewalt hat keine Religion

Innere Emigration: Die Angst der Gläubigen

Engagiert gegen das böse Image des Islam

5. Der Islam: Eine Religion mit vielen Gesichtern

Hizmet und Islam: Bildung und Moderne

Koranschulen: Religiöse Rituale

Eine zeitgemäße Interpretation des Korans

Die Rolle der Imame: Vorleser und keine Theologen

Politischer Islam und Sufi-Islam

Staat versus Religion, Erdoğan versus Gülen

Religion ohne Dogma: Jeder ist sein eigener Lehrer

Islam in Deutschland: Zwischen Glauben und Skepsis

Islam in der Türkei: Kopftuchverbot und Religionsbehörde

6. Sufi-Prediger Gülen als Bildungsmodernisierer

Gülen: Vom Dorfschüler zum Religionsbeamten

Bildung als Schlüssel: »Baut Schulen, nicht Moscheen!«

Dialog mit Minderheiten: Für Frieden und Toleranz

Der Kurdenkonflikt: Gülen als Menschenfreund

Exil in den USA – Wirken in aller Welt

Generation Hizmet: Bildungselite

7. Scheindemokratie in der Türkei: Der Putsch und seine Vorgänger

Hoffnungsträger Erdoğan: Demokratie und Minderheitenrechte

Das Vermächtnis Atatürks: Gelenkte Demokratie

Erdoğan und Gülen: Verbündete oder Feinde?

Ergenekon: Eine undemokratische Überreaktion

Mavi Marmara: Der Anfang vom Ende der Pressefreiheit

Gezi-Park: Eine Kriegserklärung an die Zivilgesellschaft

Offener Konflikt: Der Korruptionsskandal 2013

Der Putsch: Das Ende des Rechtsstaats

8. Hizmet – eine deutsche Bewegung mit internationaler Zukunft

Hizmet in Deutschland: Türkei im Blick

Zwischen den Identitäten: Deutscher, Türke, Muslim

Das deutsche Bildungssystem: Weltberühmt bis zum PISA-Schock

Die Streber Allahs: Nachhilfevereine und Schulen

Abnabelung von der Türkei – Deutschland wird Vorbild

9. Quo vadis Hizmet?

Erdoğans langer Arm in Deutschland bringt Hizmet in Gefahr

Bedrohungen durch den türkischen Geheimdienst

Vereinzelte Spinner? Oder aus Ankara koordinierter Staatsterror?

Dank

Über den Autor

Weiterführende Literatur

Hizmet, Hass und Hetze – weshalb ein friedliches Miteinander Schulen und Dialog braucht

Geleitwort von Pater Klaus Mertes, SJ

Seit dem Putschversuch in der Türkei steht die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen unter Beschuss. Erdoğan fordert von den USA die Auslieferung Gülens. Der Mob überbietet sich mit Hasstiraden auf die Gülenisten. In der Türkei, aber auch in der türkischen Community in Deutschland, brach nach dem 15. Juli 2016 eine erschreckend brutale Hetze gegen die Gülen-Bewegung los. Mich ließ sie nicht kalt, da ich aus meiner Zeit in Berlin persönliche Begegnungen mit Vertretern der Gülen-Bewegung hatte. Was immer man kritisch über Gülen und die Hizmet-Bewegung sagen mag, nichts davon rechtfertigte diese Hetze.

Wer das kirchliche und gesellschaftliche Leben erneuern will, muss Schulen gründen. So sahen es auch die protestantischen und die katholischen Reformbewegungen im 16. Jahrhundert – trotz aller Gegensätze gleichermaßen. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, wurde gefragt, wie man dem kirchlichen Leben seiner Zeit wieder auf die Beine helfen könnte. Seine Antwort bestand aus einem Wort: Schulen.

Die Hizmet-Bewegung von Gülen betreibt international etwa 1000 privat finanzierte Schulen. Vor allem in Entwicklungsländern gelten sie als hervorragend. Gülen-Schulen werden nun in der Türkei und auf Druck Ankaras in vielen anderen Ländern stillgelegt. Auch die Gülen-Schulen in Deutschland stehen unter Druck. Angesichts der Hetze im Netz haben viele Eltern, Lehrer und Schüler dieser Schulen in Deutschland Angst, wenn in diesen Tagen der Unterricht wieder beginnt.

Man muss nicht in allem mit der Gülen-Bewegung einverstanden sein. Es gibt auch Opfer ihrer jahrelangen Kooperation mit der AKP von Erdoğan. Aber es ist bedrückend zu sehen, wie die Propaganda Erdoğans wirkt und Kollateralschäden verursacht. Der Hass kommt in Deutschland an und findet Verbündete in allgemeinen Verdächtigungen bis in seriösere Kreise hinein.

Gülen gibt die Parole aus: »Baut Schulen statt Moscheen.« Will er also die Gesellschaft von unten unterwandern und »islamisieren«, wie im PEGIDA-Ton gemutmaßt wird? Genauso gut könnte man dem Jesuitenorden damals wie heute Weltmachtstreben unterstellen. Der betreibt ja auch zurzeit weltweit ca. 900 Schulen und Hochschulen.

Gülen fordert die Mitglieder seiner Bewegung auf, führende Positionen in der Gesellschaft und Politik zu besetzen. Na und? Das tat Ignatius zu seiner Zeit auch. Er wollte, dass Jesuitenschüler Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen. Soll man jetzt etwa jungen Menschen abraten, Positionen in der Gesellschaft anzustreben, weil man das missverstehen könnte als Unterwanderungsstrategie?

Hizmet-Engagierte treffen sich in Zirkeln, in denen sie gemeinsam den Koran auf der Basis der Schriften Gülens interpretieren. Vergleichbares tun auch Jesuiten und Jesuitenschüler mit dem Evangelium. Intransparent ist daran nichts.

Die Gülen-Bewegung habe ein reaktionäres Frauenbild – mag sein, aber das hatten Katholiken jahrhundertelang auch, und viele haben es heute noch. Daraus folgen auch noch keine zentral geplanten Unterwanderungsstrategien.

Alle diese Verdächtigungen sagen wenig über die Verdächtigten. Sie sagen dafür viel aus über Ängste und Angstanfälligkeit in Zeiten der Hetze.

Ich lernte Mitglieder der Gülen-Bewegung als Rektor der Berliner Jesuitenschule in den Nullerjahren kennen. Sie waren am Austausch für Bildungsfragen interessiert. Wir veranstalteten gemeinsame Projekte mit muslimischen und christlichen Schülern. Ich durfte in großen Sälen zum Fastenbrechen sprechen und fand Interesse von frommen Muslimen an meiner christlichen Auslegung der Heiligen Schrift. Ich lernte Redakteure der Zeitschrift Zaman kennen; sie stellten sich der öffentlichen Diskussion und hielten Kritik aus, ohne sich als Opfer von Islamophobie dagegen zu immunisieren.

Ich traue in diesen Tagen des Hasses und der Hetze lieber meinen eigenen Augen und Ohren als der Propaganda und ihren Echos in der deutschen Öffentlichkeit. Eine Reform des Islam, ohne dass Muslime selbst zu Subjekten von Bildung werden, wird es nicht geben. Und das läuft über Schulen, mehr als über Moscheen. Was Christen für sich in Anspruch nehmen, dürfen Muslime auch für sich in Anspruch nehmen – nämlich Träger von Bildung zu sein, auch heute. Unterstellungen, Vorurteile, Hass und Hetze hingegen sind die Feinde von Bildung. Am Ende trifft es dann auch mich. Ich beteilige mich daran nicht. Ich bleibe lieber bei den Tatsachen, die ich mit meinen eigenen Augen sehe, und lese die Berichterstattung in Deutschland kritisch.

Was mich am meisten erstaunt und beeindruckt: Die Hizmet-Bewegung erduldet die Verfolgung durch Erdoğan und seine Anhänger, ohne ihrerseits in Hass-Sprache zu verfallen. Die Äußerungen Gülens aus dem Sommer 2016 – vielleicht eines in den Jahren spirituell gereiften Gülen – sind frei von Hass-Sprache. Vermutlich wird die Erfahrung der Verfolgung die Bewegung auf Dauer nicht nur verändern, sondern auch spirituell stärken, je weniger sie sich vom Hass anstecken lässt. Natürlich kann man das Ausbleiben von Hass-Sprache, von Gewalt, Suizidmorden und anderen Racheakten durch Hizmet-Anhänger auch wieder als besonders geschickte Taktik ansehen. Aber wer das tut, hat die Regeln eines rationalen Diskurses verlassen.

1. Der Putschversuch und seine Folgen

Der 15. Juli 2016 in der Türkei

15. Juli 2016. Freitag. Ich bin beruflich in Nürnberg. Am Abend ist eine Informationsveranstaltung unserer Stiftung. Ich bin schon wieder im Hotel, da entdecke ich auf Twitter die ersten Nachrichten aus der Türkei:

Panzer auf den Straßen in Ankara. Soldaten besetzen den Flughafen Istanbul. Bomben auf das türkische Parlament. Putsch!

Mein erster Gedanke: Lieber eine schlechte Demokratie als ein Putsch! Ich poste den Satz auf Twitter und auf Facebook. Oft habe ich Erdoğan kritisiert, aber ein Putsch gehört nicht zur Demokratie.

Noch in der Nacht versuche ich so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Im Internet kursieren unendlich viele Gerüchte. Alles ist in Aufruhr. Es gibt Nachrichten von Schießereien, tieffliegenden Militärflugzeugen, von Toten. Wer steckt dahinter? Wie ernst steht es um die Türkei?

Diese Nacht veränderte mein Leben. Ich bin hier aufgewachsen, bin deutscher Staatsbürger und überzeugter Demokrat. Schon in meiner Jugend wurde ich Mitglied erst der Jusos, dann der SPD. Und nun geschahen 2500 Kilometer entfernt Dinge, die mein Leben hier in Deutschland auf den Kopf stellten. Auf einmal war alles anders, in einem enormen Tempo. Die Ereignisse überschlugen sich: Nachts rollten die Panzer, morgens war der Putschversuch niederschlagen – und mittags war ich schuld. Nicht ich allein, aber alle, die mit Hizmet, der sogenannten Gülen-Bewegung, zu tun hatten. Ob in der Türkei, in Tansania, in den USA oder in Deutschland – wir alle – Tausende, nein, Millionen von Menschen rund um den Globus – werden beschuldigt, für etwas verantwortlich zu sein, was wir zutiefst ablehnen: Gewalt. Ich gelte als Sprecher der Hizmet-Bewegung in Deutschland und stehe ganz oben auf der Liste der Beschuldigten. Ich habe – schon seit Sommer 2015 – Einreiseverbot in die Türkei und bekomme seit dem 15. Juli 2016 übelste Beschimpfungen, ja sogar Morddrohungen. Ich stehe in engem Austausch mit der Polizei. Als Deutscher fühle ich mich sicher. In Deutschland funktioniert der Rechtsstaat. Doch natürlich habe ich Angst – auch um meine Familie. Die Stimmung ist nach wie vor aggressiv, auch hierzulande.

Einrichtungen der Hizmet-Bewegung werden beschimpft, beschmiert und beschädigt. In Gelsenkirchen werden in einem Jugendzentrum die Scheiben eingeworfen. In Stuttgart wird eine Schule von der Polizei bewacht. An DITIB-Moscheen hängen türkische Plakate, die verkünden, dass »Gülen-­Anhänger« keinen Zutritt haben, dazu Listen mit den Namen der unerwünschten Personen. Vielerorts kursieren Boykott-Aufrufe, betroffen sind Dutzende Geschäfte, Restaurants und andere Einrichtungen, die sich, so der Vorwurf, zum Prediger Gülen bekennen. Im Internet schreibt jemand anonym: »Diese Menschen hätte man im Osmanischen Reich geköpft. Heute sollte man sie hängen.«

Der Vorstand der staatlich geförderten Kita »Frohsinn« in Augsburg, einer Hizmet-nahen Einrichtung, antwortet auf der Kita-Homepage: »An alle Erdoğan-Anhänger in Augsburg und Umgebung: Ich habe den Putsch nicht angezettelt. Unser Verein hat ihn nicht angezettelt. Falls ihr das trotzdem glaubt, dann macht es wie wirkliche Demokraten und geht den Rechtsweg. Aber lasst die Einrichtungen in Frieden!«

Dass es in der Türkei rumorte und dass ein Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher wurde, davon war seit Monaten die Rede. In einzelnen Medien wurde sogar schon vor einem Putsch gewarnt, aber meist hatten Experten die dafür nötige Schlagkraft des Militärs bezweifelt. Ich war froh darüber. Politische Auseinandersetzung funktioniert mit Worten, nicht mit Waffen. In Deutschland ist das selbstverständlich. In der Türkei muss man das manchen Menschen erst erklären. Spätestens seit jener Juli-Nacht scheint derlei demokratisches Grundverständnis in der Türkei vergessen. Im ganzen Land herrscht seither der Ausnahmezustand. Grundlegende demokratische Rechte sind außer Kraft gesetzt. Presse- und Meinungsfreiheit ausgehebelt. Zehntausende Menschen mussten ihren Pass abgeben, dürfen das Land nicht mehr verlassen. Wissenschaftler können nicht mehr zu internationalen Kongressen reisen, Geschäftsleute nicht mehr zu Messen im Ausland, Privatpersonen nicht mehr zu ihrer Verwandtschaft außerhalb der Türkei. Die Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative – tragende Säule jeder Demokratie – gilt in der Türkei nicht mehr. Erdoğan und seine engsten Vertrauten beherrschen und entscheiden über alles.

Musste man bis dahin nach Berichten aus und über die Türkei in Deutschland gezielt suchen, so waren die deutschen Medien plötzlich voll von Nachrichten aus der Türkei. Im Fernsehen liefen Sondersendungen mit Experten und solchen, die erst über Nacht zu welchen wurden. Doch so viel man auch berichtete, redete und analysierte: Jede Antwort schien neue Fragen aufzuwerfen. Was war da los? Wer steckte dahinter?

Konsequenzen für das Leben in Deutschland

Keine vierundzwanzig Stunden, nachdem der Putsch niedergeschlagen war, der Rauch hing noch über den bombardierten Häusern, hatte die türkische Regierung einen Schuldigen gefunden: Gülen. Fethullah Gülen habe den Putsch angezettelt, seine Anhänger hätten ihn ausgeführt. Es gab und gibt bis heute weder Bekennerschreiben noch Beweise; doch für Erdoğan und seine Minister gab und gibt es keinen Zweifel.

In der Nacht des Putschversuchs hatte Erdoğan die Bevölkerung aufgerufen, sich den Panzern entgegenzustellen, ihr Leben zu opfern. Viele folgten diesem Aufruf, 265 Menschen kamen dabei um. Kurz darauf nannte Erdoğan den Putschversuch »ein Geschenk Gottes«, der ihm die Möglichkeit gebe, das Land gründlich zu »säubern«.

Noch am gleichen Wochenende rollte eine Verhaftungswelle bisher unbekannten Ausmaßes durch die Türkei. In den folgenden Tagen und Wochen werden Tausende Menschen ins Gefängnis gebracht. Die Säuberungswelle trifft Soldaten, Journalisten, Akademiker, Piloten und Geschäftsleute. Wer nicht selbst im Visier des Staatsschutzes steht, kennt jemanden. Es ist eine Hexenjagd, schlimmer als die Verfolgung vermeintlicher Kommunisten in der McCarthy-Zeit in den 1950er-Jahren der USA.

Tausende landen zumindest vorübergehend im Gefängnis. Ihnen soll, so heißt es, irgendwann ein ordentlicher Prozess gemacht werden. Bis dahin sitzen sie wochenlang in Haft. Amnesty International beklagt unwürdige Zustände in den Gefängnissen. Im August kündigt Justizminister Bekir Bozdag an, 38 000 Kriminelle aus den Gefängnissen zu entlassen, um Platz zu schaffen für die vielen neuen Gefangenen. Im September passiert das dann tatsächlich. Rund 50 000 Menschen wurden inzwischen verhaftet und gegen weitere knapp 100 000 Ermittlungen aufgenommen. Der immer gleiche Vorwurf: Vorbereitung und Beteiligung am Putsch. Beweise: keine. Es trifft vor allem die intellektuelle Oberschicht. Schon bald wird gespottet: In den Gefängnissen hat die Türkei die größte Akademikerdichte der Welt!

Zehntausende vermeintliche Staatsfeinde macht Erdoğan aus. Woher die langen Listen mit ihren Namen auch stammten, wann und von wem sie auch vorbereitet wurden, nun werden sie systematisch abgearbeitet. Rund 135 000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes wurden bis Mitte November 2016 suspendiert. Darunter mehrere 100 000 Lehrerinnen und Lehrer, 8800 Mitarbeiter des Innenministeriums, 7700 Sicherheitskräfte, 4700 Militäroffiziere, 3500 Richter und Staatsanwälte, 5000 Akademiker, Uni-Präsidenten, Professoren, Schulleiter, 1500 Mitarbeiter der Religionsbehörde und, und, und. Dazu wurden 3500 Firmen und Einrichtungen geschlossen: 1300 Schulen, 15 Universitäten, 800 Wohnheime, 35 Krankenhäuser, 129 Stiftungen usw.

Solche Zahlen werden von einer Gruppe junger Journalisten auf der Webseite www.turkeypurge.com veröffentlicht, die dort auch transparent machen, wie sie arbeiten und was ihre Quellen sind. Die Zahlen stammen großteils von der türkischen Regierung selbst.

Die türkische Regierung erklärt offiziell und ungeniert, dass sie gerade im großen Stil Unternehmer und Selbstständige enteignet. Es gehe um ein Gesamtvermögen von 60 Milliarden US-Dollar, das »den Gülenisten entrissen« wurde. Doch die Umsätze, die die enteigneten Unternehmen machen, gehen in dreistellige Milliardenhöhe. Die Maßnahmen treffen auch zahlreiche deutsche Unternehmen. Ein renommierter Herrenausstatter lässt seine exklusive Ware von einem türkischen Zulieferer in der Nähe von Izmir mit 4000 Leuten schneidern – das Unternehmen ist jetzt enteignet und wird unter staatlicher Zwangsverwaltung geführt, mit fatalen Folgen für die Wirtschaft. Betroffen von den wirtschaftlichen Folgen der Säuberungsaktionen sind rund 6000 Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Es geht um viel Geld, verdammt viel Geld. Denn weil es um so viel geht, hüllen sich alle Betroffenen und Beteiligten in Schweigen. Bloß nicht den Zorn Erdoğans auf sich ziehen!

Dabei halten alle die Begründung der Säuberung für vorgeschoben. Sie lautet immer gleich: Die Verhafteten und Enteigneten seien Anhänger von Fethullah Gülen. Als Beweis reicht der Besitz von Büchern – oder die Denunziation durch irgendeinen Unbekannten. Die regierungsnahe Tageszeitung Sabah richtet im September 2016 eine Hotline ein, über die anonym »Gülen-Anhänger« angezeigt werden können, und zeigt Bilder von berühmten Künstlern, die das Volk »verraten« hätten. Wenn sich ein Beschuldigter der Verhaftung entzieht, wird kurzerhand seine Familie in Haft genommen. Wer dies Vorgehen offen kritisiert, gilt als Staatsfeind und Terrorist – so auch die beiden international bekannten Künstler, der Pianist Fazil Say und der Schriftsteller Orhan Pamuk, die – jedenfalls bis zum Druckbeginn dieses Buches – nicht verhaftet wurden. Ihre Prominenz schützt sie. Noch.

Das Tempo der Entwicklung ist rasant. Der Putschversuch. Die Niederschlagung. Die Erklärung des Ausnahmezustands. Die erste Verhaftungswelle, dann die zweite, die dritte und die vierte. Schließung und Beschlagnahmungen von Medienhäusern. Parallel die einerseits schockierte, andererseits aufgewühlte türkische Bevölkerung, die von Erdoğan immer wieder aufgefordert wird, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Das alles passiert binnen weniger Tage und dauert Wochen an.

Im gleichen Atemzug werden die Beschuldigungen und Vorwürfe gegen Gülen und seine vermeintlichen Anhänger immer aggressiver. Erst sind sie für den Putschversuch verantwortlich, dann für den Abschuss des russischen Militärflugzeugs Monate zuvor, dann für ein Grubenunglück im Vorjahr, dann für PKK-Terroranschläge in Südostanatolien und irgendwann für alles, was irgendjemandem missfiel. Absurdeste Behauptungen werden durch staatlich kontrollierte türkische Medien verbreitet: Dass Gülen gemeinsam mit der CIA den Putsch organisiert habe. Dass Gülen mit der PKK und dem BND unter einer Decke stecke. Dass Gülen vom Papst heimlich zum Kardinal gekürt worden sei. Dass Joachim Gauck der Imam der deutschen Hizmet-Bewegung sei und Angela Merkel ihre große Schwester.

Was albern klingt, ist bitterernst. Es herrscht eine Pogromstimmung, die bis nach Deutschland schwappt. Plötzlich gibt es auch hierzulande gewaltsame Übergriffe gegen Einrichtungen türkischer Migranten. Die Hexenjagd geht von der Botschaft und den Konsulaten aus und wird von Mitarbeitern des türkischen Geheimdienstes, von der Moscheegemeinde DITIB, vom AKP-Ableger UETD und von Millî Görüş in die breite Bevölkerung getragen. Es gibt Morddrohungen und Beschimpfungen, Boykottaufrufe und Sachbeschädigungen. Gläubige Muslime werden aufgefordert, nicht mehr in bestimmten Geschäften zu kaufen. Eltern wird gedroht, sie bekämen Schwierigkeiten, wenn sie ihre Kinder nicht von der Schule abmelden.

Das alles wirkt, weil auch die in Wuppertal, München oder Offenbach lebenden Deutsch-Türken mitbekommen, dass Bekannte Einreiseverbote in die Türkei erhalten, dass dort Besitz beschlagnahmt wird, dass Menschen verhaftet werden.

Man stelle sich vor, in Deutschland würden die »Steiner-Anhänger« in gleicher Weise verfolgt. Wessen Kind einen Waldorf-Kindergarten oder eine Waldorfschule besucht, wer ein Konto bei der GLS-Bank hat, wer sein Haus mit Auro-Naturfarben streicht oder bei dm, tegut oder Alnatura einkauft, wird verhaftet und als Terrorist verfolgt. Unvorstellbar? In der Türkei für die »Gülen-Anhänger« Realität. Und in Deutschland leider auch.

In Deutschland werden Mitarbeiter von türkischen Unternehmen entlassen. Inoffiziell weiß jeder, dass die Betroffenen Hizmet nahestehen. Offiziell gibt es andere Begründungen. Nicht alle Fälle landen vor dem Arbeitsgericht, weil diese Art von Widerstand Folgen für die Verwandtschaft in der Türkei haben könnte. Manche Eltern nehmen ihr Kind von der Schule, die Hizmet nahesteht, weil sie wissen: Wer nach drei Jahren Verfolgung von Hizmet-Engagierten in der Türkei selbst jetzt noch sein Kind auf eine solche Schule gibt, steht unter größtem Verdacht. Manche schimpfen möglichst laut und möglichst öffentlich auf Gülen, weil sie Sorge haben, selbst vom Bannstrahl der türkischen Regierung getroffen zu werden. Schließlich hatten sie mal ein Konto bei der renommierten Bank Asya, oder weil sie mal die anspruchsvolle Zaman abonniert hatten. Die Bank Asya war einmal die viertgrößte Bank der Türkei und steht jetzt als »Gülen-Bank« unter staatlicher Zwangsverwaltung. Die Zaman war einmal die größte Tageszeitung der Türkei mit 1,2 Millionen Abonnenten, wurde im Juli 2015 als »Gülen-Medium« unter Zwangsaufsicht gestellt und ist inzwischen ganz vom Markt.

Die Menschen bekommen Angst. Und zwar nicht nur deutsche Bürger mit türkischen Wurzeln. Selbst deutsche Journalisten haben Angst, Artikel zu veröffentlichen, in denen sie sich positiv über Gülen äußern. Sie fürchten, an der türkischen Grenze zurückgeschickt zu werden – wie es dem ARD-Korrespondenten Volker Schwenck tatsächlich passiert ist.

Das Ganze nimmt Ausmaße an, die auf höchster politischer Ebene mehr als bedrohlich wirken. Deutsche Bundestagsabgeordnete dürfen ihre Soldaten am türkischen NATO-Standort in Incirlik nicht besuchen. Der türkische Botschafter wird aus Berlin abgezogen. Erdoğan trifft sich mit Putin. Türkische Panzer fahren in Syrien ein. In Köln kommen Zehntausende Menschen zu einer Großdemonstration zusammen, schwenken türkische Nationalfahnen und skandieren Pro-Erdoğan-Slogans und fordern die Einführung der Todesstrafe.

Verwirrung in den deutschen Medien: Wer ist gut, wer ist böse?

Die deutsche Öffentlichkeit scheint überfordert. Die Politik auch. Wer kämpft hier eigentlich gegen wen? Wer ist gut, wer ist böse? Wer hat welche Interessen und wer gehört zu wem? Bevor eine Frage gestellt, geschweige denn beantwortet werden kann, passiert schon das Nächste und wirft neue Fragen auf.

Die deutschen Medien versuchen mit den Verwicklungen Schritt zu halten. Von türkischer Innenpolitik haben nur wenige fundierte Kenntnis. Wissen über Kemalisten, Aleviten, Sunniten, die Kenntnisse über diverse Strömungen des Islam – das alles ist jetzt erforderlich, aber wer weiß wirklich Bescheid? Zur Überraschung vieler entpuppen sich die Türken in Deutschland als eine nicht-homogene Gruppe, als ein Sammelsurium unterschiedlichster, untereinander zerstrittener Splittergruppen. Niemand versteht so richtig, wer mit wem worüber streitet.

Und dann immer wieder dieser Name: Gülen. Die meisten Redaktionen wissen anfangs kaum, wer das ist und auch später nicht, was sie von ihm halten sollen, angesichts der Flut an Meldungen aus der Türkei, die unermüdlich die eine Botschaft wiederholen: Gülen ist schuld und den »Gülen-Anhängern« nicht zu trauen. Wird etwas nur oft genug wiederholt, wird es irgendwann zur Wahrheit: Gülen ist ein Terrorist. Die türkischen Machthaber dachten sich für die – zum Sündenbock auserkorene – große Gruppe von engagierten frommen Demokraten eigens einen Namen aus: »FETO – Fethullah Terrorist Organisation«. Das klingt schlagzeilentauglich nach internationaler Terrororganisation. Doch anders als ETA, IRA, PKK, ISIS, RAF oder NSU ist FETO nicht die Selbstbenennung einer Kämpfergruppe, sondern die Erfindung einer Staatsmacht, die nichts auslässt, um die demokratische Grundordnung außer Kraft zu setzen.

Selbst kritische Journalisten aus renommierten deutschen Medienhäusern lassen sich von der türkischen Propaganda beeinflussen: Irgendetwas muss ja schließlich dran sein an all den Vorwürfen!

Währenddessen versucht die türkische Regierung sogar, deutsche Behörden zur Beobachtung und Kriminalisierung der Hizmet-Bewegung zu veranlassen. Ihr Vorgehen ist aggressiv, die Verunsicherung groß. Dabei haben deutsche Behörden bereits vor Jahren festgestellt, dass die Hizmet-Bewegung keinerlei Bestrebungen gegen die demokratische Grundordnung unternimmt.

Wir Menschen in Hizmet sind Bürger dieses Landes. Wir sind Akademiker, Ärzte und Ingenieure, wir sind so etwas wie die neue deutsch-türkische Mittelschicht. Doch angesichts des Ausmaßes und der schieren Masse an Vorwürfen fragen sich viele Menschen, ob die türkische Regierung und die Gülen-­Gegner nicht Recht haben – und bestenfalls uns, was dran ist an den Vorwürfen.

Crashkurs Türkei – der Konflikt in zwanzig Minuten erklärt

Schon am Samstagnachmittag – keine vierundzwanzig Stunden nach dem Putschversuch – telefonierten meine Bürokollegen und ich mit den ersten Journalisten. Es ging um eine Sondersendung der Anne-Will-Talkshow gleich am Sonntag, zwei Tage nach dem Putsch. Niemand von uns war eingeladen, aber die Redaktion war dankbar, dass wir ein paar Hintergründe und Zusammenhänge erklären konnten. Es folgten zahllose weitere Anfragen, Interviews, Hintergrundgespräche. Absurderweise suchte man nun endlich, was wir seit Jahren anboten: den Dialog mit der Bewegung.

Doch selbst hier spürten wir den Einfluss der türkischen Regierung: Ich wurde zu einer Talkshow erst ein-, dann wieder ausgeladen. Ein AKP-Vertreter weigerte sich, mit mir als »Gülenisten« zu diskutieren. Stattdessen drehte man einen Einspieler mit mir, der im Laufe der Sendung gezeigt wurde. Unter echtem Dialog stelle ich mir etwas anderes vor, aber ich kann verstehen, dass die Redaktion sich entscheiden musste.

Dennoch: Endlich interessierten sich die deutschen Medien für die Ereignisse in der Türkei. Noch wenige Monate vorher hatte ich versucht, in unterschiedlichen Redaktionen auf die Lage in der Türkei hinzuweisen; bot an, Gastkommentare zu schreiben oder Interviews zu geben. Da bekam ich nur Absagen. Jetzt wandelte sich die Lage deutlich. Permanent klingelte das Telefon. Es kam eine Mailanfrage nach der anderen. Die Journalisten stellten alle die immer gleichen Fragen zur Türkei, zum Islam, zu Gülen und zur türkischen Community in Deutschland.

Der Haken: Sie alle hatten nur 20 Minuten Zeit. Wie sollte ich diese fundamentalen Fragen in so kurzer Zeit beantworten? Ich versuchte mein Bestes. Nach und nach lernte ich, wie ich den Crashkurs Islam, den Crashkurs Türkei und den Crashkurs Gülen in immer knapperen Worten rüberbringen konnte. Ich lernte, dass Journalisten schnell griffige Antworten brauchen und dass die Komplexität auf ein Minimum reduziert werden muss.

Die Darstellung des Konfliktes zwischen Erdoğan und Gülen reduziert sich meist auf die Formulierung »Machtkampf zweier Männer« und »Aus Verbündeten wurden Feinde«. Das ist kurz und griffig. Die Wahrheit ist eine andere. In den Wochen nach dem Putschversuch lernte ich, in wenigen Minuten verständlich zu machen, dass Erdoğan und Gülen sich nur drei Mal begegnet sind, und dass Erdoğan anfangs die Nähe zu Gülen gesucht hat, weil er wusste, dass viele Menschen Gülen vertrauen. Dabei stehen Erdoğan und Gülen für ein unterschiedliches Islam-Verständnis:

Erdoğan vertritt einen politischen Islam, in dem Anders­denkende und Minderheiten keinen Platz haben. Außerdem will er ein Staatssystem aufbauen, das auf ihn zugeschnitten ist. Gülen dagegen steht für einen mystischen Sufi-Islam, der viel Wert auf das Individuum legt. Er tritt für eine zeitgemäße Interpretation des Islam ein, in der es eine klare Trennung zwischen Staat und Religion gibt.

Diese beiden völlig unterschiedlichen Islam-Interpretatio­nen konnten eine Zeit lang zusammenkommen, weil der in der Türkei lange vorherrschende Kemalismus alle anderen politischen Bewegungen unterdrückte – insbesondere religiöse Bewegungen. Doch als Erdoğan ab 2012 immer autoritärer wurde und selbst versuchte, andere zu unterdrücken, begann ein Prozess der Entfremdung. Die Menschen in der Hizmet-Bewegung wollten Erdoğans Politik nicht länger unterstützen und kritisierten ihn öffentlich. Seither führt Erdoğan einen Krieg gegen alle Menschen in Hizmet – mit Verleumdung und mit allen Mitteln staatlicher Repression.

Woher rührt der Hass gegen die Hizmet-Bewegung? Das werde ich oft gefragt. Ich frage zurück: Woher rührt der Hass gegen Schwarze, gegen Frauen, gegen Juden, gegen Minderheiten? Wer darauf nach einer Antwort sucht, tappt schnell in die Falle der Verleumdung. Es sind nicht die Eigenschaften einer Gruppe, die sie zu Verfolgten machen. Es sind die Eigenschaften der Verfolger. Hass sagt mehr über den Hassenden aus als über den Gehassten. Gülen und die Hizmet-Bewegung sind Sündenböcke für Türken, die eine Ausrede brauchen, um zu tun, was sie tun.

Unbeirrt: Einladung zum Dialog

Erdoğan hat bis zum Druckbeginn dieses Buchs, also mehr als ein Jahr nach dem Putsch, immer noch keinen einzigen Beleg dafür vorgelegt, dass der Putsch von Hizmet angestiftet wurde. Schon seit Jahren versucht er gegen Hizmet vorzugehen. Nun hat er den Vorwand. Deshalb hat er den Putsch als »Geschenk Gottes« bezeichnet. Erdoğan hat wiederholt gesagt, er wünsche Gülen den Tod durch Erhängen. Gülen antwortete darauf, er bete, dass Erdoğan nicht mit seinen Taten vors Jüngste Gericht treten müsse.

Manche Journalisten nehmen sich mitten in dem Aufruhr Zeit für echte Fragen – auch wenn dafür oft erst nach dem hektischen Interview oder nach der Sendung Gelegenheit ist. Die wiederkehrende Reaktion: »Das klingt doch alles toll! Das ist doch der Islam, den wir uns in Deutschland wünschen. Warum machen Sie denn nicht mehr Öffentlichkeitsarbeit?«

Hizmet zu erklären braucht mehr als 20 Minuten. Dieses Buch will es auf 200 Seiten versuchen. Am Abend des Putschversuchs war dieses Manuskript eigentlich abgeschlossen. Es sollte am 25. Juli in den Druck gehen und vor der Buchmesse im Oktober erscheinen. Über Nacht war alles anders! Ich habe alles noch einmal neu sortiert und auf den aktuellen Stand gebracht.

Zwanzig Jahre Geschichte von Hizmet in Deutschland, der Hintergrund der Bewegung in der Türkei und in 160 anderen Ländern auf der Welt – die Vorgeschichte ist nicht nur lang, sondern auch kompliziert.

Das türkische Wort Hizmet bedeutet »Dienst«, »Engagement« oder »Service«. Wir reden also von der »Engagement-Bewegung« (Hizmet Hareketi), von »Menschen, die sich engagieren« (Menschen in Hizmet) und von »Gemeinde« oder »Community« (Cemaat). In Deutschland lassen sich der Bewegung etwa 150 000 Menschen zuordnen. Wenn im Folgenden von Hizmet, Menschen in Hizmet oder Hizmet-Bewegung die Rede ist, so entspricht dies unserem Selbstverständnis. Gleichwohl wird in der deutschen Öffentlichkeit eher von »Gülen-Bewegung« gesprochen. Diese Bezeichnung wurde in der Türkei von Gegnern der Hizmet-Bewegung etabliert, um die Menschen in der Hizmet-Bewegung nicht als eigenständige Persönlichkeiten, sondern als »Anhänger« eines »Führers« zu diffamieren. Aus pragmatischen Gründen benutzen auch Menschen aus der Bewegung diese Bezeichnung. Sie sind inzwischen selbstbewusst genug, um den ursprünglich negativen Unterton zu ignorieren. Und sie zeigen damit offen die Zuordnung zum geistigen Anreger und Initiator.

Sie engagieren sich in über 300 Vereinen, die seit den 1990er-Jahren in Deutschland entstanden sind. Sie unterliegen den gleichen Transparenzregeln wie alle anderen Vereine in Deutschland. Es gibt 30 Hizmet-nahe Schulen, die unter staatlicher Aufsicht stehen und regelmäßig sehr genau, oft sogar genauer als andere, von den zuständigen Stellen geprüft werden. In Österreich gibt es zwei Schulen, das Friede-Institut für Dialog, eine Wochenausgabe der Zaman, die jetzt allerdings eingestellt wurde, und mehrere Kulturzentren und Nachhilfevereine. Auch in der Schweiz gibt es eine Schule, ein Dialog­institut und mehrere Nachhilfezentren. In Genf sitzt die – in der Türkei gegründete und Hizmet-verbundene – Stiftung der Journalisten und Schriftsteller (Gazeteciler ve Yazarlar Vakfı, kurz GYV), die einzige türkische Institution, die als Partner des UN-Wirtschafts- und Sozialrats Ecosoc anerkannt ist, eines der sechs Hauptorgane der Vereinten Nationen.

Um einen zentralen Ansprechpartner der Bewegung in Deutschland zu schaffen, habe ich 2013 gemeinsam mit 80 Stiftern die »Stiftung Dialog und Bildung« gegründet. ­Kongresse mit Wissenschaftlern unterschiedlichster Fachrichtungen gab es schon vorher. Es gibt auch schon Veranstaltungen mit Bundestagsabgeordneten, mit Vertretern unterschiedlichster Religionen. Es gibt Webseiten, Zeitungen und Magazine.

Wer mehr über uns wissen wollte, konnte die Informationen schon immer finden – nur war das Interesse bislang nicht sehr groß. Das geben auch die Journalisten zu, wenn ich auf ihre Frage zur Intransparenz zurückfrage: Waren Sie auf einem unserer Kongresse? Haben Sie eine unserer Schulen besucht? Die mediale Wahrnehmung hat sich verändert. Unsere Bewegung ist die gleiche geblieben.

Wer sich aus dem Dunkel der sozialen Medien heraustraut und direkt mit uns in Kontakt tritt, kann sich ein eigenes Urteil bilden. Viele Bürgerinnen und Bürger tun das tagtäglich: Wissenschaftler, Eltern, Schüler, Lehrer, Pastoren und Pfarrer, Rabbiner und Imame, Politiker und viele andere Bürger. Es gibt einen Hizmet nahestehenden Wirtschaftsverband, in dem Unternehmer zusammenkommen, die insgesamt etwa 40 000 Mitarbeiter aller möglichen Religionen und Nationen beschäftigen.

Alle diese Menschen wissen, dass sich in der Hizmet-Bewegung größtenteils ganz normale, freundliche und harmlose Menschen engagieren. Manche trauen sich nicht mehr, das laut zu sagen, weil sie dann selbst als »Gülen-Anhänger« gelten und Sanktionen fürchten. Wir haben ein prominent besetztes Stiftungs-Kuratorium, dessen Mitglieder auf unserer Webseite namentlich zu finden waren – bis man uns bat, sie von der Webseite zu nehmen, da einzelne Kuratoriumsmitglieder Drohungen aus der Türkei bekamen.

In solchen Momenten ruft dann immer jemand: Seht ihr! Selbst XY zieht jetzt seine Unterstützung für die Gülenisten zurück!

Und wieder gerate ich in Erklärungsnot und muss die Bewegung, wie so oft, verteidigen, die implizierten Unterstellungen offenlegen und die Vorwürfe zurückweisen. Kaum jemand fragt neutral und offen interessiert. Fast immer verbergen sich hinter den Fragen Beschuldigungen, wenn auch indirekt: Was sagen Sie denn zu den Putsch-Vorwürfen? Wieso werden Sie von der türkischen Regierung so gehasst? Warum werden Sie beschuldigt, ein Geheimbund zu sein? Stimmt es, dass Sie den Staat unterwandern wollen? Sie sind doch eine Sekte, oder?

Selbst scheinbar neutrale Fragen gleichen einem Kreuzverhör: Wie stehen Sie zu Demokratie und Menschenrechten? Was halten Sie von Homosexualität? Sind Frauen und Männer gleichberechtigt? Wie ist Ihre Meinung zum Völkermord in Armenien?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Geschäftsführer anderer Bildungsvereine oder Stiftungen solche Fragen jemals beantworten mussten.

Wer sind Sie? Was wollen Sie? Was tun Sie? Selbst einfache, offene Fragen kann ich nicht mehr neutral beantworten, weil immer andere Stimmen zu hören sind: Glaub denen kein Wort! Das ist alles nur Kulisse! In Wahrheit sind die ganz anders! Die meisten Menschen, die so etwas sagen, bleiben anonym – aus Angst, wie sie behaupten. Dabei bin ich es, der Morddrohungen erhält.

Es ist eine Herausforderung, inmitten des zornigen Lärms ruhig und sachlich zu bleiben, um die eigene Arbeit und das eigene Wertesystem darzustellen. Aber: Demokratie und Verständigung leben von Kompromissen. Wahrheit braucht Zwischentöne. Die Wirklichkeit ist nicht schwarz-weiß, sondern grau in allen Schattierungen. Toleranz und Dialogbereitschaft erfordern Anstrengung – vor allem in Zeiten anonymer Hassreden im Netz, in denen abweichende Meinungen niedergebrüllt werden und tätliche Angriffe auf Menschen anderer Meinung, anderen Aussehens, anderer Sprache oder Religion zum Alltag gehören.

Viele Menschen in Deutschland sind von den Entwicklungen in der Türkei direkt oder indirekt betroffen. Der Großvater, der im Sommer seine Enkel in Deutschland besucht, wird von einem Tag auf den anderen in die Türkei zurückbeordert, weil er Beamter ist. Der Universitätslehrer kann nicht zur Hochzeit seiner Cousine reisen, weil er als Akademiker ein Ausreiseverbot hat. Der renommierte Physiker kann nicht zum Kongress fliegen, um seine Forschungsergebnisse zu präsentieren. Der türkische Handelspartner einer deutschen Modekette wird erst kurzzeitig verhaftet, dann enteignet und sitzt nun mittellos auf der Straße – genau wie seine nunmehr arbeitslose Belegschaft.

Eines Julimorgens saß der Chefarzt einer Universitätsklinik bei mir im Berliner Büro, unsicher, ob er nach Kayseri zurückfahren soll. Er fürchtete, verhaftet zu werden und die Todesstrafe zu riskieren. Seinen Job ist er sowieso los. Die Schule seiner 12-jährigen Tochter ist geschlossen; keine andere Schule will sie aufnehmen. Er fragt sich, wie sein Leben weitergehen soll. Er fürchtet, die Eigentumswohnung nicht mehr verkaufen zu können. Wie soll er seine Familie schützen und seine Existenz bestreiten? Er hat Angst. Wir alle haben Angst.

Wie soll es weitergehen? Mit der Türkei? Mit den Türken in Deutschland? Mit Hizmet? Mit der Weltpolitik?

Die Türkei fordert Gülens Auslieferung. Die USA sehen dafür keine rechtsstaatlichen Beweise, gleichzeitig wollen sie den wichtigsten NATO-Partner nicht vor den Kopf stoßen. Es geht um große Debatten: IS, Syrien, Kolonialismus. Alle reden durcheinander. Wem soll man glauben? Was stimmt?

Ich weiß nicht alles. Aber ich will versuchen, die vielen miteinander verhedderten Fäden zu sortieren und ein bisschen Struktur in das Durcheinander zu bringen. Für manches werde ich ein paar Seiten Zeit brauchen, anderes wird klingen wie eine Verteidigungsrede. Die türkische Zivilgesellschaft steht mit dem Rücken zur Wand, aber wir Menschen in Hizmet werden weiterhin Gesicht zeigen!

2. Hizmet in Deutschland – ein Missverständnis

Hizmet und die Gerüchte – zwischen Postillon und Wikipedia

Direkt am Tag nach dem nächtlichen Putschversuch erklärte die türkische Regierung den Prediger Fethullah Gülen für schuldig und fordert seither die Politiker aller Länder weltweit auf, »die Gülen-Anhänger auszuliefern«.

Die amüsanteste Reaktion auf diese Forderungen lieferte das deutsche Online-Satiremagazin Postillon. Dort wurde am 29. Juli 2016 unter der Überschrift »›Macht dann 10 Millionen Euro‹: Deutschland liefert 500 Gülle-Anhänger an Erdoğan aus« eine frei erfundene Meldung veröffentlicht: