Die Hallig - Johann Christoph Biernatzki - E-Book

Die Hallig E-Book

Johann Christoph Biernatzki

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Beschreibung

In 'Die Hallig' von Johann Christoph Biernatzki wird die Geschichte eines jungen Fischers erzählt, der auf einer einsamen Hallig lebt. Der Roman, der im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde, zeichnet sich durch seinen realistischen Schreibstil aus und bietet einen tiefen Einblick in das harte Leben der Menschen in den Küstenregionen Norddeutschlands. Biernatzki stellt die zerbrechliche Beziehung zwischen Mensch und Natur dar und reflektiert über Themen wie Isolation, Sehnsucht und Überlebenskampf. 'Die Hallig' kann als bedeutendes Werk des Norddeutschen Realismus betrachtet werden und ist ein herausragendes Beispiel für die literarische Darstellung des einfachen Lebens in ländlichen Gemeinschaften. Johann Christoph Biernatzki, geboren 1802 in Ostpreußen, war selbst Fischer und kannte die Lebensumstände an der Küste aus erster Hand. Seine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen inspirierten ihn dazu, 'Die Hallig' zu schreiben und damit die harte Realität der Küstenbewohner zu porträtieren. Als Vertreter des Norddeutschen Realismus setzte Biernatzki sich für eine authentische Darstellung des Lebens einfacher Menschen ein und wurde zu einer wichtigen Stimme in der regionalen Literaturszene. Sein Werk reflektiert nicht nur historische Realitäten, sondern bietet auch zeitlose Einblicke in die menschliche Natur und den Kampf um das Überleben. Empfehlung: 'Die Hallig' ist ein fesselndes und authentisches Werk, das Leserinnen und Leser in eine vergangene Welt entführt. Biernatzkis realistischer Stil und die eindringliche Darstellung des Lebens in den Küstenregionen machen das Buch zu einem lesenswerten Schatz für Literaturinteressierte, die sich für sozialen Realismus und geschichtliche Einblicke interessieren. Dieses Buch ist eine eindringliche Erinnerung an die unsichtbaren Kämpfe und Hoffnungen einfacher Menschen und bietet eine einzigartige Perspektive auf die menschliche Natur.

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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Johann Christoph Biernatzki

Die Hallig

Die Schiffbrüchigen auf dem Eiland in der Nordsee

Books

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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2630-6

Inhaltsverzeichnis

Einleitung
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
XXI.
XXII.
XXIII.
XXIV.
XXV.

Einleitung

Inhaltsverzeichnis

Auf die weder durch Deiche noch durch Dünen geschützten ganz kleinen Eilande an der Westküste Schleswigs, die als Hallige bezeichnet werden, richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit, als man von der furchtbaren Sturmflut des 3. Februar 1825 vernahm, welche Kirchen, Hütten und jedes Besitztum weggeschwemmt und die dem Untergang Entronnenen in solche Not versetzt hatte, daß sie auch in weitern Kreisen zu thatkräftiger Mildthätigkeit antrieb. Als Prediger der nordwestlichsten dieser Halligen, welche von der im Jahre 1634 durch das tobende Meer größtenteils verschlungenen umfangreichen Insel Nordstrand, den Namen Nordstrandischmoor führt, wirkte damals Johann Christof Biernatzki. Er war am 17. Oktober 1795 als Sohn eines Gastwirts in dem holsteinischen Flecken Elmshorn geboren. Von Jugend an schwach und kränklich, von den Blattern stark entstellt, kam er erst spät auf das Altonaer Gymnasium, wo der durch langes Leiden in sich gescheuchte Knabe eine gründliche Vorbildung empfing. Er war hier Zeuge der Leiden des benachbarten Hamburg während des französischen Krieges. Nach Deutschlands Befreiung widmete er sich zu Jena, Halle und Kiel der Theologie und den morgenländischen Sprachen, aber die auf den Hochschulen herrschende, das Herz leer lassende Behandlung des Christentums konnte ihn nicht befriedigen. Seine Seele verlangte nach Erwärmung und Erhebung, die er aus der lebendig aufgefaßten Offenbarung in Gottes Wort und seiner Natur schöpfte. Frischer Natursinn begeisterte ihn, die Schönheit des Deutschen Vaterlandes, (denn als Deutscher fühlte er sich) und die Wunder der Schweiz aufzusuchen. Als er im Jahre 1821 die Prüfung weniger glänzend, als er gehofft, in Glückstadt bestanden, nahm er die ihm angebotene Stelle als Prediger auf der Hallig Nordstrandischmoor an, wie kümmerlich und von aller Welt abgeschnitten auch das Leben der mit Spott oder Mitleid betrachteten „Halligpriester“ sein mochte. Nordstrandischmoor zählte auf seiner kleinen Viertelquadratmeile neun Hütten mit etwa fünfzig Einwohnern, die sich kärglich von der Schafzucht nährten. Die alte Kirche war 1816 von der Flut weggerissen worden, der die Hallig so sehr ausgesetzt war. Bei dem höchst schwachen Einkommen hatte der Priester, wie man die Prediger nannte, auch den Schulunterricht zu besorgen. Alles dies schreckte ihn nicht ab; er wollte als christlicher Prediger auf seine Gemeinde wirken, und eine lenkbarere konnte er nicht finden, da auf der Hallig strengste Sittlichkeit herrschte, dabei aber mußte er auf jede erheiternde Geselligkeit verzichten, da die Bewohner in sich verschlossen, nur dem Bedürfnis des Tages und dem alten Gotte lebten. Gleich in der ersten Zeit riß das aufgeregte Meer die neue Kirche weg und beschädigte das Pfarrhaus, aber gläubig hielt der treue Priester aus. Schon zwei Jahre später führte er in seine bescheidene Wohnung die Geliebte seiner Seele, Henriette de Vries, die ihn mit einer ihm bald wieder entrissenen Tochter beschenkte. Die Geburt einer zweiten erfreute ihn unmittelbar vor der Sturmflut des Jahres 1825, die ihm nur Gattin und Tochter ließ, auch Kirche und Pfarrhaus verschlang, blos der alte goldene Abendmahlskelch von 1549 fand sich wunderbar erhalten.

Für Biernatzki war dieses Unglück die Veranlassung nicht allein zu seiner Versetzung als Prediger der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Friedrichstadt, sondern auch zu seinem ersten Auftreten als Dichter; denn noch in demselben Jahre ließ er sein „religiöses Lehrgedicht, der Glaube“, zum Besten seiner durch die letzte Ueberschwemmung zu Grunde gerichteten Gemeinde erscheinen. Die Teilnahme war so groß, daß noch in demselben Jahre eine zweite Auflage folgte. Ruhte auch Biernatzki’s Muse nicht, die sich gern in reinen Herzenstönen erging, so trat er doch in den nächsten neun Jahren nur bei besondern Gelegenheiten öffentlich auf: das Jahr 1829 brachte das Festgedicht „Der König und sein Volk“, und als der durch den Pariser Julisturm aufgeregte Freiheitsgeist aus Schleswig-Holstein und Dänemark ergriff, suchte er durch eine im Druck erschienene Predigt „Die Pflichten des Bürgers in einer unruhigen Zeit“ christliches Oel auf die brandenden Wogen zu gießen. Bei der allgemeinen Bewegung trieb es ihn, auch die Form des Romans, dessen sittenverderblichen Einfluß er tief bedauerte, in christlicher und sittlicher Wirkung zu verwerten. Zehn Jahre nachdem er seine Hallig verlassen, trat er mit den Erzählungen „Wege zum Glauben oder die Liebe aus der Kindheit“ hervor, deren Absicht die nähere Bezeichnung „Wanderungen auf dem Gebiete der Theologie im Modekleide der Novelle“ entschieden ausspricht. Denselben Nebentitel führt auch die im nächsten Jahre erschienene „Die Hallig“, die schon 1840 zum zweiten, 1852 zum drittenmal aufgelegt, auch ins Englische und Holländische übersetzt wurde. Ihr folgt 1839 die einfach als Novelle bezeichnete, von demselben Geiste durchdrungene, Erzählung „Der brave Knabe oder die Gemeinde in der Zerstreuung“. Im Jahre 1840 wurde Biernatzki auf seinen Wunsch zum Pfarrer von Rüdern in Holstein befördert, aber schon hatte ihn eine schmerzliche Krankheit ergriffen, die ihn, ehe er seine neue Gemeinde übernehmen konnte, am 11. Mai 1840 hinraffte. Seine 1844 gesammelten Schriften brachten auch eine Novelle „Des letzten Matrosen Tagebuch“ und seine zum Teil in Zeitschriften zerstreuten Gedichte. Daß von diesen, wie auch von der Sammlung der Werke, eine neue Auflage sich nötig erwies, deutet auf die Wirkung, welche der frühe hingeschiedene Dichter, auch im Gedränge verschiedenster Richtungen, auf empfängliche Gemüter geübt.

In seiner „Hallig“, die uns in den wenigen Monaten vom 9. September 1824 bis zum folgenden 3. Februar eine große Menge von Ereignissen auf dem kleinen, einsamen Eilande zeigt, hat Biernatzki seiner frühern Gemeinde und sich selbst, als Priester und Dichter, ein dauerndes Denkmal gegründet, aber auch zum Besten der armen Halligpriester einen nicht wirkungslosen Mahnruf erlassen. Die gemütliche, in tiefster Seele wurzelnde Liebe der Bewohner von Nordstrandischmoor zur Heimat, ihre still zufriedene Beschränkung, ihr gläubiges Vertrauen auf Gottes Wort als Leitstern in allen Leiden und Nöten tritt lebendig hervor, und wir erschauen, wie gerade die äußern Verhältnisse diesen Charakter immer mächtiger den Halligern aufdrücken mußten, die von aller Welt geschieden, auf dem kleinsten Raum vom Meer beschränkt, auf den Anblick dieses gewaltigen Elementes, einer äußerst kärglichen Natur und der ewigen Himmelsschrift angewiesen, von einem gläubigen, wie sie selbst, in dürftigen Umständen lebenden Priester geleitet, fast nur durch schiffbrüchige Fremde und die geforderten Abgaben mit der Außenwelt verbunden waren. Und auf einem solchen Boden muß die echte Treue wachsen, die sich nur des stillen Genusses freuen will und sich mit allen Wurzelfasern in den einmal liebgewonnenen Zustand einsenkt. Nur eine übermächtige Wirkung kann eine solche Treue wankend machen, wie es Biernatzki auf ergreifende Weise zu schildern weiß, so daß kaum ein leiser Zweifel an diese Möglichkeit aufzusteigen vermag. Unerschütterlicher als die Treue, zeigt sich die Heimatsliebe, der das unnatürliche Verhältnis weichen muß, zu dem der Verlobte, der so viele Jahre lang nach seiner Geliebten sich gesehnt, durch einen wunderlichen Zufall gerade beim Betreten seiner Hallig hingerissen worden. Wenn der Geliebte, den auf der weiten Erde, die er gesehen, nichts abwendig machen konnte, in einem unbewachten Augenblick sich vergißt, so hält das liebende Mädchen unerschütterlich fest an seiner Treue, an seiner reinen Einfalt und Unschuld; in ihrem Herzen ist „Gottes Erdreich“.

Aber der Dichter zeigt uns nicht allein, wie die Hallig auf die Eingeborenen wirkt, der Aufenthalt auf ihr bewirkt auch die Bekehrung eines hochgebildeten fremden Kaufmanns, den Gott hier erkennen läßt, „was uns Not thut“. Dazu müssen freilich andere Umstände und auch der Priester mitwirken, aber alles dies beruht doch im Wesen des der Herrschaft des Meeres unterworfenen Halligs. Hierin wie in der ganzen Erfindung entwickelt Biernatzki großes Geschick. Nicht weniger zeigt die Entwicklung der Seelenzustände einen feinen Beobachter, wenn auch bei einzelnen Zügen die Absichtlichkeit hervortreten mag. Die größte Meisterschaft aber bewährt er in den großartigen Naturschilderungen, beim Schiffbruche und der Rettung nach der Hallig, bei dem schon gleich am Anfang angedeuteten, später so ergreifend in Scene gesetzten Schicklaufe und zuletzt bei der die unglückliche Geschichte von Godber und Maria zu einem bei allem Grausigen doch zu einem beruhigenden Abschluß bringenden Sturmflut.

Neben allem aber tritt die Persönlichkeit Biernatzki’s selbst uns in dem voll ausgeführten Bilde Holds, zu dem er selbst fast alle Züge geliefert hat, höchst verehrungsvoll als Muster eines vom innersten Geiste getriebenen werktätigen christlichen Geistlichen entgegen, das auch diejenigen ansprechen wird, die eine ganz abweichende Ansicht von der Offenbarung und der geistigen Bestimmung des Menschen haben, und seinen Träumen von einer Zeit des Rechtes und der Wahrheit auf Erden eben nur das Recht eines Traumes einräumen. Freilich möchten manche wünschen, daß die Bekehrungsgespräche nicht einen so breiten Raum einnähmen, besonders aber, daß die eigenen Bemerkungen, mit welchen der Dichter zuweilen gleichsam mit dem Finger auf die sittliche Verführung mahnend hindeutet, weggeblieben oder, so viel nötig, in die Darstellung verflochten wären.

Auch aus der ganzen sprachlichen Darstellung weht uns ein dichterisches Gemüt entgegen, das lebendig zu schildern, die rechten Farbentöne zu wählen, durch leicht fließenden, treffenden Ausdruck zu fesseln weiß, so daß nur hier und da etwas Schleppendes, nie etwas Ungehöriges oder die Reinheit der Sprache Trübendes stören möchte. So ist auch der äußern Form nach die „Hallig“ durchaus der Abdruck einer reinen, wolgestimmten Seele.

Heinrich Düntzer.

I.

Inhaltsverzeichnis

Der erste Blick, der auf zum Lichte schaut, Der erste schwanke Schritt im Staube, Des Mutternamens erster schwacher Laut: Giebt’s eine Zeit, die sie dem Herzen raube?

An der Westküste des Herzogtums Schleswig finden sich, umflutet von den Wogen der Nordsee, mehrere Inseln, die als Ueberreste einer zusammenhängenden Landstrecke, welche dem Meere zum Raube geworden ist, den Bewohner des festen Küstenlandes daran erinnern, sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln der Fluten zu erwehren.

Die größeren dieser Eilande sind teils durch Deiche (künstliche Seedämme), teils durch Dünen (natürliche Höhen von Meersand) vor den Wogen geschützt, die, täglich mit Flut und Ebbe kommend und gehend, immer neue Versuche zu machen scheinen, die letzten Brocken ihres großen Raubes in den gierigen Schlund des Meeres hinunterzuziehen. Bei der Ebbe geht die See so weit zurück, daß ein meilenweiter Schlickgrund bloßgelegt wird, der noch in kräuselnden Zügen das Bild der Wogen darstellt, die ihn vor wenigen Stunden überfluteten. Einzelne Rinnen und andere Senkungen werden aber auch dann nicht wasserleer, und besonders winden sich für jene Zeit sichtbar rings um die Inseln die, mit einander und dem zurückgewichenen Ocean zusammenhängenden, sogenannten Tiefen, gleichsam Schlangenarme, mit denen der eine Zeit lang an andern Gestaden kämpfende Riese die nie vergessene Beute umschlungen hält, daß sie nicht einen Augenblick der Hoffnung sich überlasse, von ihm aufgegeben zu sein. Diese Tiefen, welche dem einsamen Wanderer, der auf dem weichen, feinem Fußtritt für eine kurze Zeit überlassenen Meeresgrunde Krabben, Rochen oder einen von dem schnellen Abfluß der Wogen überraschten Seehund sucht, auch bei der hohlsten Ebbe unüberschreitbare Grenzen setzen, verhindern die Verbindung zwischen den Inseln zu Lande selbst dann, wenn sie am scheinbarsten ist. Nur einzelne kleinere Eilande erfreuen sich beim Rückgange des Meeres einer kurzen Gemeinschaft mit einander oder mit dem festen Lande, auch ohne das umständliche Mittel der Schifffahrt; aber wehe dem Wanderer, der zu viel dem trügerischen Riesen vertraute! Dieser kehrt oft mit ungewöhnlicher Schnelligkeit zurück, führet den Nebel mit sich als Bundesgenossen, und der Schlickläufer, so nennt man den, welcher die Ebbe zu größeren Wanderungen benutzt, siehet das heimische Gestade vor seinen Blicken verschwinden, er fühlt die Flut um seine Füße spielen, Entsetzen sträubt sein Haar bei diesem Spiel, er eilt mit Todesangst vorwärts, die schon ganz gefüllten Rinnen versperren seinen Weg, er wendet sich seitwärts, um sie zu umgehen, er verliert dadurch seine Richtung, läuft hin und her, ist gefangen ohne Ausweg, und mit jedem Augenblick kriecht die Flut höher an ihn hinan, sein Geschrei verhallt in der großen, weiten Wasserwüste und wird zuletzt von den ihn überrauschenden Wogen ganz erstickt, die bald seine Leiche bedecken; denn ein tiefflutendes Meer ist da, wo noch vor Kurzem die Fußstapfen des Armen sichtbar waren.

Im Gegensatz der größeren, durch Deiche und Dünen gesicherten Inseln werden die kleineren Eilande Halligen genannt. Eine solche Hallig ist ein flaches Grasfeld, das kaum zwei bis drei Fuß höher liegt, als der Strand der gewöhnlichen Flut des Meeres, und daher, weder durch Kunst noch durch Natur beschützt, sehr oft, und besonders in den Wintermonaten sogar wol zweimal an einem Tage, von der wogenden See überschwemmt wird. Die bedeutendsten dieser Halligen sind noch keine halbe Quadratmeile groß; die kleineren, oft nur von einer Familie bewohnten, kaum ein paar tausend Fuß lang und breit; die kleinsten und unbewohnten dienen nur dazu, ein wenig kurzes und feines Heu zu gewinnen, das aber sehr oft, ehe es geborgen werden kann, von der Flut weggespült wird. Das geborgene Heu wird in Diemen zusammengehäuft, über die ein Flechtwerk von Stroh, an beiden Enden mit Steinen belastet herabhängt, wodurch sie eine solche Festigkeit gewinnen, daß nur mit eisernen Spaten das zum jedesmaligen Gebrauche Nötige abgestochen werden kann, und diese Heuberge an der Seite des Hauses oft noch eine Zuflucht geben, wenn die Mauern vor der Gewalt der Wellen niederbrechen. Auf künstlichen Erderhöhungen oder Werften stehen die einzelnen Wohnungen, die selten mehr Raum auf der sich schräge absenkenden Höhe lassen, als zu einem schmalen Gang um die Hütte erforderlich ist. Daher trifft man denn auch auf fast allen Halligen keinen Fleck Gartenland für ein wenig Gemüse, keinen einzigen Strauch mit einer erquickenden Beere, keinen Baum zu einem Ruheplatz im Schatten. Für solche Genüsse müßte die Werfte größer sein, deren Aufführung und Unterhaltung aber schon, so klein sie ist, mehr Kosten erfordert, als das einfache Gebäude, das darauf steht. Auf der Ebene sproßt der Ueberschwemmungen wegen kein fröhliches Gewächs, keine nährende Frucht. Sie ist eine Wüste, die freilich durch ihr fahles Grün, das noch dazu vielfach von schmutziggrau überschlickten Stellen unterbrochen wird, andeutet, wie das genügsame Schaf hier wol seine spärliche Nahrung finden mag, die aber keineswegs jenen frischen, duftigen Graswuchs kennt, in welchen sich behaglich die fette Kuh hinstreckt, oder über welchem das wiehernde Roß mutwillig hin und her sprengt. Suchst du sprudelnde Quellen, die einen Labetrunk geben könnten, da, wo die Sonnenstrahlen, ohne durch eine buschigte Blätterkrone gebrochen zu werden, auf das matte Grasfeld brennen? Wol findest du vom Wellenschlag zerrissene Ufer; wol tiefe Einbrüche des Meeres, die sich oft in langen Krümmungen weit in’s Land hinein erstrecken, als wollten sie es in noch kleinere Stücke zerteilen, um leichter desselben Herr zu werden; wol viele stehende Lachen, ein Nachlaß der letzten Ueberschwemmung, zur Erinnerung, daß das Land schon halb dem Ocean gehöre und ihm bald ganz zufallen werde: aber Trinkwasser? Auf der Werfte wird ein Behältnis ausgegraben und ringsum mit Grassoden ausgesetzt; dahin mag sich Regenwasser von oben her sammeln oder von den Seiten durchsickern es dient den Schafen zur Tränke und ihren Herren zur Bereitung ihres Thees, obwol es von dem mit Meersalzteilen durchdrungenen Boden den widerlichsten Geschmack angenommen hat, der es für den nicht daran Gewöhnten ungenießbar macht. Vielleicht bringt auch gar einmal ein Boot ein Tönnchen Wasser mit vom festen Lande, und in Zeiten der Dürre kann solche Zufuhr zur dringendsten Notwendigkeit werden. Eine Freude hat doch wol der Halligbewohner: das muntere Treiben eines täglichen und reichen Fischfangs? Nein, nicht einmal den schönen Anblick eines in hellen, grünlichen Wellen flutenden Meeres hat er; ein widriges, trübes Gelb in Grau ist die gewöhnliche Farbe der Gewässer um ihn her, und vor dem Aufenthalt in einer Meeresstrecke, die bei der Ebbe stundenweit ihren Schlammboden aufdeckt, hüten sich die Fische und überlassen gern dem Seehund und der häßlichen Roche allein das wenig einladende Gebiet. Und dies Meer, das die Halligen umgiebt und so oft überwogt, und das auf seinen verschiedenen Punkten nach den Namen der im Lauf der Jahrhunderte darin begrabenen Landstellen und ihrer Eigner bezeichnet wird, dies an Gaben so arme und an Raub so reiche Meer ist noch dazu fortwährend ein Räuber, der bald mit langsamer, still untergrabender Macht, bald mit wildstürmender Gewalt ein Stück Land nach dem andern von dem Eilande abbricht, so daß der Halligbewohner schon die Jahre zählen kann, wann den Hütten und den Heerden der letzte Raum genommen sein wird.

Doch glücklich die Hallig, wenn hiemit ihr Bild vollständig gezeichnet wäre! Aber es bleibt noch eine furchtbare Seite übrig. Zur Gewohnheit sind die Ueberschwemmungen geworden, die, alles flache Land überwogend, an die Werfte hinaufsteigen und an die Mauern und Fenster der Hütten mit ihrem weißen Schaum anschlagen. Da blicken denn diese Wohnungen aus der weiten, umrollenden Wasserfülle nur noch als Strohdächer hervor, von denen man nicht glaubt, daß sie menschliche Wesen bergen, daß Greise, Männer, Frauen und Kinder unterdessen vielleicht ruhig um ihren Theetisch hersitzen und kaum einen flüchtigen Blick auf den umdrängenden Ocean werfen. Manch’ ein fremdes, aus seiner Bahn verschlagenes Schiff segelte schon in solchen Zeiten bei nächtlicher Weile über eine Hallig weg und die erstaunten Seeleute glaubten sich von Zauberei umgeben, wenn sie auf einmal neben sich ein freundliches Kerzenlicht durch die hellen Fenster einer Stube schimmern sahen, die halb von den Wellen bedeckt, keinen andern Grund als diese Wellen zu haben schien. Aber es bricht der Sturm zugleich mit der Flut auf das bange Eiland ein. Die Wasser steigen gegen zwanzig Fuß über ihren gewöhnlichen Stand hinauf. Die Wogen dehnen sich zu Berg und Thal, und das Meer sendet in immer neuen, langen Zügen seine volle, breite Gewalt gegen die einzelnen Werften, um sie aus seiner Bahn wegzuschieben. Der Erdhügel, der nur eine Zeit lang zitternd widerstand, giebt nach; bei den unausgesetzten Angriffen bricht ein Stück nach dem andern ab und schießt hinunter. Die Pfosten des Hauses, welche die Vorsicht eben so tief in die Werfte hineinsenkte, als sie darüber hervorstehen, werden dadurch entblößt; das Meer faßt sie, rüttelt sie. Der erschreckte Bewohner des Hauses rettet erst seine besten Schafe hinauf auf den Boden, dann sieht er selbst nach; und hohe Zeit war es! Denn schon stürzen die Mauern, und nur noch einzelne Ständer halten den schwankenden Dachboden, die letzte Zuflucht. Mit furchtbarem Siegesübermut schalten nun die Wogen in dem untern Teil des Hauses, sie werfen Schränke, Kisten, Betten, Wiegen mit wildem Spiel durch einander, schlagen sich immer freieren Durchgang, um Alles hinauszureißen auf den weitern Tummelplatz ihrer unbändigen Kraft, und der Stützpunkte des Daches werden immer weniger, des Daches, dessen Niedersturz rettungslos einer noch vor wenigen Stunden in häuslicher Geschäftigkeit mit einander wirkenden, oder im sanften Arm des Schlummers neben einander ruhenden Familie ein schäumendes Grab bereitet. Aengstlich lauscht das Ohr, ob nicht das Brausen des Sturmes abnehme; ängstlich pocht das Herz bei jeder Erschütterung; immer enger drängen die Unglücklichen sich zusammen. In der Finsternis sieht Keiner das entsetzenbleiche Antlitz des Andern; im Donnergeroll der tobenden Wogen verhallt das bange Gestöhn; aber Jeder kann an seiner eigenen Qual die marternde Angst seiner Lieben ermessen. Der Mann preßt das Weib, die Mutter ihre Kinder mit verzweiflungsvoller Todesgewißheit an sich; die Bretter unter ihren Füßen werden von der drängenden Flut gehoben; aus allen Fugen quellen die Wasser auf; das Dach wird durchlöchert vom Wogensturz; ein irrer Mondstrahl dringt durch die zerrissenen Wolken, fällt hinein auf die Jammerscene, die, von seinem bleichen, zuckenden Lichte beleuchtet, in all’ ihrer Furchtbarkeit erscheint und die angstverzerrten Gesichter einander spiegelt. Da kracht ein Balken. Ein furchtbarer Schreckruf! Noch eine martervolle Minute! Noch eine! Der Dachboden senkt sich nach einer Seite; ein neuer Flutenberg schäumt herauf, und im Sturmgeheul verhallt der letzte Todesschrei. Die triumphierenden Wogen schleudern sich einander Trümmer und Leichen zu.

Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat; liebt sie über Alles, und der aus der Sturmflut Gerettete baut sich nirgends sonst wieder an, als auf dem Fleck, wo er Alles verlor, und wo er in Kurzem wieder Alles, und sein Leben mit, verlieren kann.

Wir bewundern den Sohn der afrikanischen Wüste, der sein Zelt aufschlägt unter der Glut einer versengenden Sonne, in der Mitte einer unübersehlichen, brennenden Sandstrecke. Er hat doch ein weites Gebiet, das er nach allen Richtungen hin auf seinem flüchtigen Renner durchstreift. Er hat doch seine Oasen, diese Inseln des Sandmeeres, wo er im Schatten der Palme die Quellen sprudeln hört und Lieder singt zur Ehre der Wüste, oder den wunderreichen Erzählungen eines vielgereisten Karawanenführers horcht. Die Heimat, die er liebt, ist doch nicht ohne Abwechslung, sein Leben nicht ohne Veränderung. Er schleppt sich nicht hin in steter Einförmigkeit des Daseins, findet doch Raum für seine Kraft, und hat doch Fernen, denen der Reiz der Neuheit nicht ganz fehlt. Der Halligbewohner übersieht mit einem Blick alle seine nahen Grenzen, sein Thun und Treiben ist dasselbe einen Tag wie den andern, außer daß eine seltene Fahrt ihn zum Verkauf der Wolle seiner Schafe nach dem festen Lande führt; und er fühlt sich bei seiner Abgeschiedenheit vom Menschenverkehr fremd unter Fremden, sobald er seine Scholle im Meere notgedrungen einmal verlassen hat. Alle seine Freuden und Genüsse bleiben wie seine Arbeiten in einem kleinen Umfang beschränkt, ohne lebhaften Reiz, ohne die Spannung einer Ungewöhnliches erwartenden Aussicht. Ein bei der geringen Zahl der Bewohner oft erst nach Jahren auf der Hallig wiederkehrender Hochzeitstanz gehört zu seinen höchsten Vergnügungen.

Die Gefahren selbst, denen der Halligbewohner ausgesetzt ist, entbehren den einzigen Reiz, den die Gefahr haben kann, den Gegenkampf. Mag der Sand der Wüste, vom Sturm aufgewirbelt in die Wolken, als sollte das Gewölbe des Himmels auch eine Sahara werden, daherjagen und Zeltdörfer und Karavanenzüge in sein heißes, erstickendes Bett begraben: die Möglichkeit der Flucht ist doch gegeben, und die Menschen versuchen auf Rossen und Kamelen mit dem Sandsturm in die Wette zu jagen; und oft gelingt es ihnen, dem drohenden Verderben zu entgehen. Der Halligbewohner hat seinen Feind rund um sich; erhebt der sich in seiner schauervollen Macht, so muß er, hülfloser als ein Kind auf dem Wege des tobenden Stieres, sich diesem Gewaltherrscher hingeben und zitternd erwarten, ob er mitleidig schonend vorüberziehe oder in blinder Wut alles niederwälze; er muß Leben oder Tod als ein willenloses Schlachtopfer annehmen, ohne Hand oder Fuß zur völlig unmöglichen, weder Gegenwehr noch Flucht zu regen. Verstand und Kraft sind ihm unnütz; nur Ergebung ist sein Loos in dem vollen Bewußtsein seiner Ohnmacht.

Und nicht etwa die Unbekanntschaft mit den Vorzügen anderer Länder ist es, was dem Halligbewohner seine Heimat lieb macht. Nein, er hat die fruchtbarsten, reichsten Strecken vor seinen Augen. Hinter den Deichen des festen Landes in seiner Nähe ist ein Boden, der seinen Bewohnern einen Ueberfluß bietet wie wenige Länder der Erde ihn haben. Da reift das schwere Korn; da streckt sich der breite Stier in den duftigsten Klee; da erheben sich große und schöne Bauernhöfe, deren Bewohner, mit allen Genüssen des Lebens vertraut und im Gefühl ihrer Wichtigkeit, mit Stolz sich Bauern nennen. Oft auch, und früher noch mehr als jetzt, führt den Halligbewohner in seiner Jugend und Mannheit der Dienst auf Schiffen in ferne Lande. Durch seine Genügsamkeit und Rechtlichkeit auch in der Fremde schwingt er sich zum Schiffsherrn auf; die reichsten Handelsplätze, die herrlichsten Gegenden werden ihm bekannt wie die eigene Heimat. Aber er hat Alles gesehen, Alles verglichen, und — Alles vergessen. Er kehrt mit seinem Ersparten heim zu seinem geliebten Eilande, heim zu diesem trostlosen Boden, zu diesem gefahrvollsten Fleck der Erde, zu dieser Oede voll Entbehrung und Entsagung, und dankt Gott, daß seine Hallig noch nicht weggespült ist; und kaum hat er sich da wieder eingerichtet, so ist er in seinem Wesen und seinen Neigungen wie Einer, der nie die Welt sah.

Es ist auch nicht die Freiheit, die dem Halligbewohner seine kleine Heimat, wie dem Mauren die Wüste, zum Paradiese macht. Er fühlt vielmehr den Druck der Civilisation mit Abgaben, Zöllen und dergleichen, und benutzt dagegen wenig von ihren Vorteilen: von Sicherheit des Eigentums, — ihn schützt ja schon genug seine Armut und seine Wogengrenze — von allgemeinem Verkehr, — zu ihm führt keine gebahnte Straße, — von vermehrten Kenntnissen, — zu ihm verirrt sich selten eine andere Schrift als Bibel und Gesangbuch, — von heiteren Künsten, — die Kunst dringt nicht zu seinen Hütten. Nicht einmal die Geselligkeit, die er haben könnte, gilt ihm etwas. Er ist meistenteils wenig gesprächig, lebt gern auf seiner Werfte für sich, und obwohl sein Prediger oder Priester, wie er ihn nennt, von ihm sehr geehrt wird, so gelingt diesem doch nicht leicht, es zu einer herzlichen Gemeinschaft zu bringen; da er, besonders bei dem weiblichen Geschlecht, außer im Religiösen, den völligen Mangel eines Anknüpfungspunktes an seine Bildung erkennen muß, und seine hochdeutsche Sprache ihn der friesisch sprechenden Gemeinde entfremdet. Nur auf diesen Eilanden hat nämlich das Friesische, das dem Englischen nahe verwandt ist, und worauf der deutsche Sprachforscher mehr, als bisher, sein Augenmerk richten sollte, noch fast seine ganze Eigentümlichkeit sich bewahrt, während es auf den Küsten des festen Landes schon nahe daran ist, in ein bloßes Gemisch auszuarten.

Eine dieser Halligen, von welchen wir im Obigen ein allgemeines und der Wahrheit getreues Bild zu zeichnen versucht haben, ist der Ort der nachfolgenden Handlung. Sie war damals, im Sommer des Jahres 1824, von ungefähr fünfzig Menschen in neun Hütten, auf sechs über die Fläche einer kleinen Viertelmeile zerstreuten Werften bewohnt, welche sich durch Schafzucht kärglich, aber für die geringen Bedürfnisse ausreichend, nährten. Eine, wenig vor den andern Wohnungen ausgezeichnete, neue Kirche, nachdem 1816 die alte, und 1821 wieder eine eben aufgebaute vom Meere weggerissen war, diente den gottesdienstlichen Versammlungen der frommen Gemeinde.

II.

Inhaltsverzeichnis

Das schlanke Schiff mit seinen weißen Schwingen Durchschäumt die Wogen, strebt hinauf, hinab; Auf Abgrunds Tiefen muß es vorwärts ringen: „Der Weg zum Hafen führt ja über’s Grab.“

Es war ein stiller, heiterer Nachmittag am 9. September 1824; der klare Himmel spiegelte sich in der glatten Flut des Meeres, das eben nur durch solchen Wiederschein sich heute schöner als sonst malte, so rein und deutlich ab, daß selbst das duftigste Wölkchen, das einen leisen Schatten auf seine Klarheit geworfen hätte, auch auf dem Gegenbilde sichtbar geworden wäre; aber weder Wolkenstreifen noch kräuselnde Wellen trübten das lichte Blau.

Maria saß mit ihrer Mutter, einer betagten Witwe, in der kleinen, niedrigen Stube ihrer Wohnung beim Spinnrade. Die höchste Reinlichkeit und die blau und rot gemalten Wände und Fensterbänke, die mit blankem Messing gezierte Lade, die den Hausschatz von Leinenzeug, Feierkleidern und seidenen Tüchern enthielt und zugleich in einem Schiebfach einzelne Kleinodien an goldenen Ringen und Ketten barg, die der Halligbewohner so sehr liebt, gaben dem Ganzen ein freundliches Ansehen, wozu die mit vielfarbigen Malereien geschmückten Thüren der Wandbetten besonders beizutragen bestimmt schienen. Freilich waren die mit losen Kissen belegten Stühle und der Tisch, der durch seine Größe den Raum der Stube sehr beengte, nur von ungefärbtem Holze und verdankten ihre Politur allein dem beständigen Gebrauch und der fleißig reinigenden und glättenden Hand. Selten unterbrach ein einzelnes Wort aus dem Munde der fleißigen Spinnerinnen die Stille, welche nur von den schnurrenden Rädern mit ihrer eintönigen Geschäftigkeit belebt wurde. Eben so still saß der weiße Schäferhund auf der Fensterbank und blickte mit seinen hellen und klugen Augen durch die kleinen, in Blei gefaßten Scheiben unverwandt auf das Meer hinaus, ohne daß sich doch dort irgend Etwas gewahren ließ, das seine Aufmerksamkeit so rege erhalten konnte.

Doch auch Maria warf zuweilen, wenn ihre Arbeit es erlaubte, einen Blick auf die See. Denn nach neunjähriger Abwesenheit sollte endlich in diesen Wochen Godber wiederkehren, der nach weiten Seereisen zuletzt von Hamburg aus geschrieben, wie er sich ein kleines Kapital erworben, um seine väterliche Stelle auszulösen, und nun sich sehne, zu seiner Hallig und zu seiner Maria zurückzukommen. Ihm war sie schon, nach der Gewohnheit des Landes, seit ihrer frühesten Kindheit verlobt und hatte ihm still und treu eine Liebe bewahrt, die freilich von jener ungeduldigen Leidenschaftlichkeit, welche Viele ihrer Zeitgenossinnen als eine notwendige Eigenschaft der Liebe zu betrachten scheinen, weit entfernt war, die aber nichtsdestoweniger durch ihre Tiefe und Innigkeit sich mit dem ganzen Dasein Maria’s verschmolz, jede andere, auch nur flüchtige Neigung gänzlich ausschloß und allen Gedanken und Empfindungen der Jungfrau die bestimmteste und entschiedenste Richtung auf ihre Pflichten als die Braut und künftige Gattin Godber’s schon längst gegeben hatte und erhielt. Wohl kam in den Briefen Godber’s Manches vor, das weit über die Fassungskraft seiner einfach erzogenen Braut hinaus war, und sie konnte sich einer heimlichen Scheu vor ihm, der so Vieles gesehen und gelernt haben müßte, da er so überklug zu schreiben verstände, nicht immer ganz erwehren; aber er hatte doch auch wieder des Glückes gedacht, wenn er nun die Welt gleichsam hinter sich abschlösse und allein für seine Hallig und seine Maria lebe, um all’ das bunte und wirre Wesen und Treiben, das ihn ganz anwidere, auf dem kleinen, friedlichen Raume, an der Seite einer geliebten, gleichgesinnten Gattin zu vergessen. In solchen Aeußerungen fand ihr Herz sich heimatlich. Sie zauberten ihr ein Morgenrot lieblicher Hoffnungen herauf, vor dem sie die ihr fremde Färbung anderer Stellen seiner Briefe leicht übersah.

„Heute muß er kommen,“ sprach sie zu ihrer Mutter, „mir ahnet so etwas.“

Dabei aber spann sie eben so emsig fort wie sonst; denn sie, wie ihre Schwestern alle auf jenen Eilanden, wußte nichts von einer Liebe, die untreu macht den nächsten, bescheidenen Pflichten des Berufs.

„Heute möchte ich Godber lieber nicht auf der See wissen,“ meinte die Mutter, „denn es ist ein Sturm im Anzuge. Hörst du nicht, wie die Möven schreien?“

„Mutter,“ rief Maria, „das thut der liebe Gott nicht! Ich habe ja so fleißig gebetet, und Er hat mir ein so gewisses, fröhliches Herz gegeben, daß ich weiß, Er thut es nicht.“

„Was thut er nicht?“ fragte die Mutter.

„Er läßt keinen Sturm kommen, Godber zu verderben. Er läßt nur die Winde los, daß sie die Segel straffer füllen und ihn recht schnell heimtragen zu mir — zu uns.“

„Er mache es nach seinem Wohlgefallen,“ sagte andächtig jene. „Was Gott thut, das ist wohlgethan! — Komm, der Spitz ist schon vom Fenster gesprungen und wartet voll Unruhe auf uns. Laß uns die Schafe eintreiben, ehe das Wetter hereinbricht.“

Und sie gingen hinaus auf das Feld, wo der Hund, der schon lange, sei es durch seine Beobachtung der gewöhnlichen Vorzeichen, oder durch die nur seinen reizbaren Nerven merkliche Veränderung der Luft, die Witterung von dem kommenden Sturm gehabt hatte, in raschen Sprüngen vor ihnen voraus eilte und mit eifrigem Bellen die Schafe zusammen- und entgegentrieb. Schon gingen in einzelnen Stößen die ersten Boten des Sturmes über die Wellen hin. Diese rauschten unmutig auf und sanken langsam wieder herab, als seien sie zu träge, um sich zum Kampf zu erheben. In Südwesten stand noch die Abendsonne, aber nur nach oben hin warf sie ihre Strahlen. Unter ihr war ein dunkles Gewölke hervorgetreten, dessen Rand in gelbgrauen Farben spielte und das beinahe eine Viertelstunde lang weder in der Höhe, noch in der Breite wuchs, sondern gleichsam nur als Vorwacht über die See hinlugte. Plötzlich rauschte ein neuer stärkerer Luftstrom daher, der aber mit noch unsicherem Fuß über das Meer wandelte, so daß nur hier und da eine einzelne Welle vor ihm aufschäumte; und Alles ward wieder still. Nun aber, wie gehoben von einer nachdrängenden Macht, tauchten schwarze Wolkenmassen empor und verhüllten das Antlitz der Sonne. Immer schneller und heftiger folgten die Windstöße einander, immer unruhiger schüttelten die Wogen das dunkle Haupt. Da streckte sich das düstere, schwere Schattenbild am Rande des Horizonts zu langen Armen aus, die immer weiter und weiter über den noch lichten Himmel streiften, und deren mächtige Schatten über den Ocean hinjagten. Auf diesen Armen, wie auf ihm gebahnten Straßen, flog der Sturm daher in seiner Kraft, neigte sich zum Meere nieder und die furchtbare Schlacht begann. Die Wellen wogten in breiten, gewaltigen Reihen auf, als wollten sie die Wolken in ihre Tiefe niederziehen; aber der Sturm peitschte sie wieder von ihrer Höhe herab, daß sie, vor Grimm schäumend, gleich stürzenden Gebirgen niederbrachen, um mit neuer Wut nur noch höher sich zu erheben; und immer rasender sauste der Sturm, und immer hohler rollten die Wogen mit dumpfem Rauschen.

Unterdessen war eilig die kleine Herde auf die Werfte getrieben und Maria wandte nun erst wieder den besorgten Blick auf das Meer, das bereits über das Land hinausgetreten war und die einzelnen Hütten durch seine Wellen von einander trennte. Da sah sie, und ihr Herz schlug höher auf, einen weißen Punkt, der bald auf dem Schaumrande einer hochbrausenden Woge keck dahertanzte, bald, in den schwarzen Abgrund niederfahrend, sich ihrem Auge entzog, als wolle er nimmer wiederkehren. „Ein Schiff, Mutter!“ rief sie, und dachte an Godber. Auch die Mutter heftete teilnehmend ihren Blick nach der bezeichneten Gegend, wo sie aber anfangs mit ihren vom Alter geschwächten Augen nichts entdecken konnte. Aber näher und näher kam es; erst wie ein weißer Fittig, der einer verspäteten Möve anzugehören schien, die bald einen Ausweg durch das dunkle, drückende Gewölbe über ihr zu suchen bemüht war, bald in die verschlingenden Wellen untertauchte. Allmählig entfalteten sich die Formen von Segeltüchern, dann wurden die Masten sichtbar und endlich konnte man den ganzen schönen Bau beobachten, wie er jetzt, völlig auf eine Seite gelehnt, den vollen Bogen des straffen Leins zu den Wogen niedersenkte, und jetzt, wenn diese wie im kindischem Spiel den flüchtigen Kuß den Segeln gegeben, wieder gerade sich aufrichtete, und wie ein stolzer Sieger, der seinem glorreichen Grabe jauchzend entgegeneilt, in die Tiefe hinabschwebte. Aber immer tauchte wieder der leichte Kiel mit seinen glatten Wänden und seinen schlanken Masten, mit seinem vielfach, aber in fester Ordnung verschlungenen Tauwerk und seiner vom Meeresgruß dunkler gefärbten Segelfülle aus dem Ocean hervor und wiederholte stets auf’s Neue denselben Auf- und Niedergang, dabei mit mannigfacher Wendung einen scheinbar regellosen, aber von erfahrener Hand geleiteten Weg durch die zahlreichen Untiefen jenes Fahrwassers verfolgend.

„Sie haben einen guten Steuermann,“ sagte die Mutter; und: „Godber!“ tönte es leise von Maria’s Lippen nach.

Jetzt machte das Schiff eine neue Wendung, die es glücklich durch zwei einander beinahe berührende Untiefen hindurchbrachte, und trat aus dem schäumenden Schwall der brandenden Wogen eben siegesfroh in die dunklere Flut hinein.

„Steuer in Lee!“ kreischte die Mutter, als könnte sie mit ihrem im Sturm verhallenden Kommando das Schiff regieren; aber links drehte es sich und jeden Augenblick erwarteten die ängstlichen Zuschauer, daß es nun an die ihnen bekannte gefahrvolle Stelle kommen würde, wo es bei der geringsten Abweichung zur Linken oder zur Rechten auf den dort zu beiden Seiten der Tiefe mehr als anderswo erhöhten, jetzt freilich auch von der Flut überdeckten Grund stoßen mußte. Doch plötzlich fielen alle schon lange gerefften Segel gänzlich von den Masten ab, daß diese mit ihren nackten Spieren verdorrten Fichten glichen, durch die die Wucht des Sturmes unschädlich hinstreift, und das schwankende Schiff bewegte sich langsam in einem Halbkreis herum, so daß das Boogspriet nun gegen den Wind stand, nachdem es so lange die Richtung mit dem Winde angedeutet.

„Sie haben Anker geworfen;“ rief Maria erfreut, und die alte kundige Witwe bemerkte:

„Wenn sie, wie ich glaube, nach Husum wollen, so können sie nun wieder mit der eintretenden Ebbe in den rechten Kurs kommen, von dem sie vor dem Sturm zu weit nach Norden abgetrieben sind.“

Von ihrer Furcht für die Seefahrer befreit, gingen die Beiden in ihre Wohnung. So lange die Tageshelle es erlaubte, warf Maria noch manchen Blick aus dem Hinterstübchen zu dem Schiffe hinüber, das bei nun eingetretener Ebbe ruhig auf seinem Platze liegen blieb, ohne daß man vom Lande aus irgend eine Bewegung auf demselben bemerken konnte. Als die Abenddämmerung die Aussicht hinderte, spann sie wieder ungestörter an der Seite ihrer Mutter fort, wobei zwischen den Beiden Manches über die Aussteuer und künftige Einrichtung verhandelt wurde. Denn auch die Mutter war durch Maria’s Zuversicht allmählig mit dem Gedanken vertraut geworden, daß Godber auf dem Schiffe sei. Mit freundlichen Hoffnungen gingen sie dann, später als sonst, zur Ruhe; jedoch nicht eher, als bis sie andächtig mit einander mit folgendem kurzen, kunstlosen Versgebet sich dem Schutze des Höchsten empfohlen:

In Sturm und Wellenbraus Behüte Gott, mein Leben Und um mein schwaches Haus Laß Deine Engel schweben, Daß sich die wilden Wogen scheu’n Wie Lämmer vor dem starken Leu’n.

Doch hast Du andern Sinn, Naht mir ein jähes Ende: So nimm mich gnädig hin In Deine Vaterhände;

III.

Inhaltsverzeichnis

Das Meer ist hier und dort Wie’s woget und wie’s weht, Gehorsam seinem Wort, Ein See Genezareth.

Wenden wir uns nun zu dem Schiffe, das, von des Ankers Zahn gehalten, sich auf seiner gewählten Stelle von den Wellen schaukeln ließ, um das Aufhören des Sturmes zu erwarten. Godber war wirklich, wie Maria es geahnt hatte und wie die kundige Führung des Schiffes in diesen Gewässern es erwarten ließ, auf demselben als Steuermann, und außer ihm befanden sich der Kapitän und vier Matrosen am Bord, nebst drei Passagieren: Herr Mander, Kaufmann aus Hamburg, zugleich Eigentümer der Ladung, und seine schon erwachsenen Kinder, ein Sohn: Oswald, und eine Tochter: Idalia. Nicht um der Geschäfte willen, sondern allein den Bitten seiner Kinder zu Gefallen, die von einer Seetour sich das größte Vergnügen versprochen, hatte Mander die Reise unternommen.

Die Hoffnung des Kapitäns, auf die, von der Mutter Maria’s angegebene Weise seinen Kurs wieder zu gewinnen, wurde getäuscht. Denn als nach einigen Stunden die Ebbe wieder eintrat, lief das Wasser wegen des fortdauernden Südwestwindes mit so geringer Strömung ab, daß es nicht möglich war, mit Hülfe derselben das Schiff gegen den Wind aufzuarbeiten, wodurch auch die Absicht Godber’s, der gerade jenen Ankerplatz vorgeschlagen, weil der Zug der abfließenden Wasser dort sonst besonders stark trieb, vereitelt wurde. Nun trat der gefährliche Uebelstand ein, daß das Schiff, auf seiner Stelle notgedrungen gefesselt, bei der Ebbezeit mit seinem Boden manchen schweren Stoß gegen den Meeresgrund auszuhalten hatte. Als darauf, nach Verlauf einiger erwartungsvoller Stunden, die Flut wiederkehrte, und mit ihr der Sturm in noch größerer Wut ausbrach, zeigte es sich bald, daß einige von jenen Stößen gelöste Fugen Wasser sogen. Jetzt galt es, einen entscheidenden Entschluß zu fassen, da auch die Dunkelheit der Nacht die Gefahr noch vermehrte. Die angefangene Beratung zwischen Kapitän und Steuermann wurde wider ihren Willen nur zu schnell beendigt. Ein furchtbarer Stoß, der das Schiff in allen seinen Teilen erschütterte, als sollte es auf einmal ganz aus einander gehen, deutete auf einen unerwarteten Fall.

„Die Ankerkette ist gebrochen!“ Dieser Schreckensruf gab die Lösung des Rätsels. „Die Taue auch?“ schrie der Kapitän. Diese, viel schwächer, aber lenksamer und dehnbarer, als die eiserne Gliederreihe, hielten freilich für den Augenblick noch an zwei kleinen Ankern, es war aber zu erwarten, daß der nächste Windstoß auch diesen letzten Halt nehmen würde. „Alle Segel auf! alle Lappen bei! die Anker gekappt!“ war nun, nach schneller Uebereinkunft der Sachverständigen, das nächste Kommando; und, die ganze Wucht des Sturmes in seine weiten Fittige fassend, die schäumenden Wogen wie ein leichtes Schneegewölk auseinander stäubend, flog das Schiff dem Strande zu. Ueber diesen waren freilich die Wellen auch schon wieder mit der Flut hinübergegangen; aber der so ganz kundige Mann am Steuer würde, obwohl die Dunkelheit die Werften nicht mehr deutlich erkennen ließ, ihn nicht verfehlt haben. Allein zu viel war den Masten zugemutet. Sie bogen sich, als hätten sie noch ganz die zähe, elastische Kraft, mit der sie früher auf den Bergen der Heimat die Gewalt der Stürme täuschten; sie strebten vorwärts, als wollten sie den schweren Leib des Schiffes weit hinter sich lassen; doch schon kündeten immer hellere verdächtige Laute eine Ueberspannung ihrer Kräfte. Der Ruf: „Alle Beile, alle Messer zur Hand!“ führte die Matrosen auf ihre Posten, wo sie in ängstlicher Erwartung, mit gehobenem Arm horchten auf das nächste Kommando. „Krach! Krach!“ ging es plötzlich, Sturmgeheul und Wogengebraus übertönend, durch alle Teile des Schiffes, und die ganze volle Takelage schmetterte schräge auf das Vorderende nieder und tauchte seitwärts in die Wogen hinab, daß die untern, gebrochenen Enden der Masten sich aufwärts kehrten. „Kappt! Um Gotteswillen, kappt, kappt!“ gellte die Stimme des Kapitäns den Matrosen zu, die, obgleich vom Sturz der Masten das Schiff im ersten Augenblick so tief in die Flut hineingedrückt wurde, als sollte es nie wieder aus dem Abgrund sich erheben, mit bewundernswürdiger Gewandtheit, getrieben von dem Bewußtsein, daß ihr Leben von der schnellen und sichern Ausführung abhinge, dem Befehl volle Genüge leisteten. Da schwankte denn in dem nächsten Momente das ganze Segelwerk, das eben noch mit seinen vollen, weiten Schwingen und den kühnen Masten so stolz sich zu heben und so anmutig sich zu neigen wußte, eine wirre und schlaffe Masse auf der dunklen Oberfläche des Meeres dahin, und das völlig seines besten Schmuckes und seines führenden Zuges beraubte Schiff ward, ein willenloser Spielball der gewaltigen Wogen, hin und her geschleudert. Es war aus einem scheinbar belebten Wesen voll Zier, Mut und Stärke, zu einem stumpfen, toten Holze, zu einem lecken Wrack geworden.