Die Heuchelei von der Reform - Rainer Balcerowiak - E-Book

Die Heuchelei von der Reform E-Book

Rainer Balcerowiak

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Beschreibung

Arbeitsmarktreform, Rentenreform, Gesundheits- und Pflegereform, Bahnreform, Asylrechtsreform, Mietrechtsreform, Steuerreform … – seit mehr als zwanzig Jahren haben wir in der Bundesrepublik den Eindruck, eine Reform jage die andere. Die führenden Politiker wollen glauben machen, all jene Umgestaltungen seien dringend notwendig, alternativlos und fortschrittlich, damit Land und Leute unverzagt weiterexistieren können – doch wird für die Mehrzahl der Menschen nichts besser. War eine Reform nicht einmal eine planvolle Veränderung des Bestehenden zum Besseren, ohne grundsätzlich etwas zu ändern? Sowohl mit dem bewusst falschen Benutzen des Begriffs durch aktuelle Politiker, um dem Volk Unangenehmes als zwangsläufig zu verkaufen, als auch mit der Herkunft des Begriffs und seinem Bedeutungswandel seit dem Mittelalter bis zur heutigen Zeit setzt sich der Autor kritisch und polemisch auseinander und zeigt, dass das Gefühl von vielen Menschen, schlecht oder falsch informiert zu sein, auch an der bewussten Umwertung von scheinbar klaren Begriffen liegt. Rainer Balcerowiak liefert eine unverzichtbare Argumentationsstütze für alle, die sich eine eigene Meinung bilden und von der Politik nicht in die Irre führen lassen wollen.

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Rainer Balcerowiak

Die Heuchelei von der Reform

Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt

eISBN 978-3-95841-537-91. AuflageAlexanderstraße 110178 BerlinTel. 01805/30 99 99FAX 01805/35 35 42(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)© 2017 by BEBUG mbH / edition berolina, BerlinUmschlaggestaltung: Buchgut, Berlinwww.buchredaktion.de
VorwortEs gibt wohl kaum einen Begriff, der seit dem Mittelalter bis zur heutigen Zeit eine derartige Bedeutung für gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Prozesse entwickelt hat, wie die »Reform«. Und es gibt auch kaum einen Begriff, der so unterschiedlich ausgelegt werden kann. Das beginnt bereits bei der Ableitung aus dem lateinischen Verb »reformare« beziehungsweise dem zusammengesetzten Substantiv »Reformatio«, was sowohl Umgestaltung als auch Wiederherstellung bedeuten kann, wobei die Vorsilbe »Re« eher auf Letzteres hindeutet. So gesehen, kann man den historisch gewachsenen Gegenbegriff »Restauration« nicht unbedingt als Antagonismus zu »Reformen« verstehen.Wie dem auch sei: Ohne »Mut zu Reformen« geht heute gar nichts mehr. Keine Partei und kein relevanter Interessenverband kommt ohne entsprechende Bekenntnisse und Forderungen aus, sei es punktuell oder auch umfassend. Wer sich dem verweigert, wird schnell als »reformunwillig« oder »-unfähig« abgestempelt, was in der Regel mit eigenen »Reformprogrammen« gekontert wird. Keine Regierung, sei es auf Landes- oder Bundesebene, verzichtet mehr darauf, »tiefgreifende Reformen« in ihrem Programm zu verankern.Nun gab es auch in der jüngeren deutschen Geschichte durchaus Reformen, die als fortschrittlich im Sinne großer Teile der Bevölkerung zu bezeichnen sind, sei es die Rentenreform der Adenauer-Regierung, die das Prinzip der den Lebensstandard weitgehend sichernden Altersversorgung implementierte, oder seien es die Bildungsreformen der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt, die Arbeiterkindern den Zugang zu höherer Bildung bis hin zu akademischen Abschlüssen erleichterten. Doch es gehört zum Zwittercharakter von »reformorientierter Politik«, dass spätere Reformen diese Errungenschaften wieder zunichtegemacht haben. Und spätestens seit den »Hartz-Reformen« für den Arbeitsmarkt hat sich die Erkenntnis, dass Reformen keineswegs immer gesellschaftlichen Fortschritt implizieren, recht rapide verbreitet.Eine nüchterne Betrachtung ist angebracht. Reformen haben in der Regel zum Ziel, bestehende rechtliche und gesellschaftliche Normen zu verändern. Das kann sowohl Eigentumsverhältnisse und Vermögensverteilung betreffen, wie zum Beispiel bei Steuerreformen, als auch Grundrechte, wie zum Beispiel Gleichberechtigung der Geschlechter, diskriminierungsfreie sexuelle Orientierung oder den Schwangerschaftsabbruch. Manche Reformen greifen in die Machtbalance zwischen gesellschaftlichen Gruppen beziehungsweise Inte­ressenverbänden ein, wie zum Beispiel beim Mietrecht und der Bürgerbeteiligung. Andere beziehen sich auf staatliche und behördliche Befugnisse, zum Beispiel beim Demonstrationsrecht und bei Sicherheitsgesetzen. Reformen können rein kosmetischer Natur sein, aber auch tief in die politischen und ökonomischen Machtverhältnisse eingreifen, wie zum Beispiel Landreformen. In der bürgerlichen Demokratie bedürfen sie meistens der Gesetzesform und somit einer parlamentarischen Mehrheit und können im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung des jeweiligen Staates dem entsprechenden unabhängigen Gericht zur Prüfung vorgelegt werden. Allerdings gibt es auch in formaldemokratischen Staaten zunehmend Bestrebungen, eben jene Kontrollmechanismen, also Parlamente und Gerichte, durch entsprechende Reformen auszuschalten, wie aktuell in Ungarn und Polen. In autokratisch regierten Ländern oder Präsidialdemokratien können Reformen ohnehin per Dekret eingeführt werden.Reformen dienen zum einen der Durchsetzung von Klassen- und Gruppeninteressen, aber auch als Befriedungsstrategie zur Entschärfung gesellschaftlicher Konflikte. Je nach Blickwinkel kann ein und dieselbe Reform als fortschrittlich oder reaktionär eingestuft werden, wie sich unter anderem an den Hartz-Gesetzen gezeigt hat. In allen Fällen dienen Reformen letztlich der Stabilisierung bestehender Herrschaftsverhältnisse, auch wenn sie bedeutende Zugeständnisse an oppositionelle Bewegungen enthalten.Karl Marx und Friedrich Engels, die bekanntlich viele kluge Dinge von sich gegeben haben, widmeten sich dem Wesen von Reformpolitik im Kapitalismus unter anderem im 1848 veröffentlichten Kommunistischen Manifest. Dort heißt es:»Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Missständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher: Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkel­reformer der buntscheckigsten Art. Und auch zu ganzen Systemen ist dieser Bourgeoissozialismus ausgearbeitet worden. (…)Eine zweite, weniger systematische, nur mehr praktische Form dieses Sozialismus sucht der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden, durch den Nachweis, wie nicht diese oder jene politische Veränderung, sondern nur eine Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse ihr von Nutzen sein könne. Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt vereinfachen.«Das klingt nicht nur ziemlich aktuell – sondern ist es auch. Gerade jetzt, im beginnenden Wahlkampf für den nächsten Bundestag, werden wir wieder mit Reformvorschlägen jeglicher Couleur förmlich zugeschüttet. Bei aller Unterschiedlichkeit ist ihnen gemein, dass sie die realen Macht- und Besitzverhältnisse in unserer Gesellschaft nicht wirklich in Frage stellen. Das heißt nicht, dass der Kampf für gute Reformen per se sinnlos ist. Aber man sollte sich angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ein tiefes Misstrauen gegen Reformversprechen aller Art bewahren. Dieses Misstrauen zu schüren, ohne eine auf Reformen abzielende Politik pauschal zu verunglimpfen, ist eines der wichtigsten Anliegen dieses Buches.
Agenda 2010: Die Mutter aller »modernen« ReformenEs war ein Paukenschlag. Am 14. März 2003 gab es im Deutschen Bundestag eine jener Reden zu hören, denen ohne Übertreibung historische Bedeutung beigemessen werden kann. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) kündigte in einer Regierungserklärung nicht weniger als »die bisher umfassendste Reform der deutschen Sozial- und Wirtschaftsordnung« an. Das »Agenda 2010« genannte Programm beinhaltete vor allem tiefgreifende, teilweise systemische Änderungen des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherungssysteme. Als Kernstück definierte Schröder den »aktivierenden Sozialstaat«, der mehr »Eigenverantwortung vom Einzelnen« einfordert; Stichwort: »Fördern und Fordern«. Und der Kanzler machte keinen Hehl da­r­aus, dass er dieses Reformprogramm gegen alle Widerstände in der Gesellschaft und auch in seiner eigenen Partei durchzusetzen gedenke.Kernstück der Agenda waren Reformen des Arbeitsmarkts und der Arbeitslosenversicherung, die auf Vorschlägen einer Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen VW-Vorstands Peter Hartz basierten und später als »Hartz-Gesetze« in die Geschichte eingingen. Die Arbeitslosenhilfe als Versicherungsleistung für längerfristig Erwerbslose wurde abgeschafft und durch eine umgangssprachlich »Hartz IV« genannte Grundsicherung ersetzt, deren Niveau dem der Sozialhilfe angeglichen und deren Bezug an die Unterwerfung unter ein bislang unvorstellbares Kontroll- und Repressionssystem gekoppelt wurde. Parallel zu diesem Verarmungsprogramm für Millionen Menschen und derzeit jedes siebente Kind in Deutschland sorgten die ebenfalls auf Peter Hartz zurückgehenden Arbeitsmarkt­reformen für die Schaffung eines institutionalisierten Niedriglohnsektors und das exponentielle Wachstum alter und neuer Formen prekärer Beschäftigung wie Leiharbeit, Werkverträge und Scheinselbständigkeit. Der nunmehr gesetzlich verankerte Zwang für alle Erwerbslosen, jeglicher angebotenen Beschäftigung unabhängig von der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen nachzugehen, erhöhte – verbunden mit der Lockerung des Kündigungsschutzes – natürlich den Druck auf das Lohnniveau regulär Beschäftigter. In der Dekade nach Einführung der Hartz-Gesetze gab es faktisch keine realen (inflationsbereinigten) Lohnerhöhungen, in vielen Branchen sanken die Real­löhne sogar. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem dann unmittelbar drohenden Absturz in dauerhafte Armut entwickelte sich zum erfolgreichen Disziplinierungsinstrument. Weitere flankierende Reformen, besonders bei der Unternehmensbesteuerung und bei den Sozialversicherungssystemen, sorgten dafür, dass die von Gerhard Schröder und Joschka Fischer seit 1998 geführte »rot-grüne Reformregierung« ihr ausdrückliches Ziel, die Entlastung der deutschen Wirtschaft zwecks Erhöhung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, auch erreichte. Es war und ist eben diese »Wettbewerbsfähigkeit«, die zu jenen ökonomischen Verwerfungen innerhalb der EU und besonders der Eurozone geführt hat, die schließlich im drohenden ökonomischen Kollaps ganzer Volkswirtschaften kulminierten, und eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben in einer bislang in der Bundesrepublik nicht für möglich gehaltenen Dimension einleitete.Die Tragweite und die Konsequenzen der Hartz-Reformen waren zum Zeitpunkt ihrer Verkündung für viele Menschen noch nicht abzusehen. Dennoch lösten die Hartz-Gesetze eine große Protest­bewegung aus. Auch in der SPD regte sich Widerstand. Zwar wurde das Quorum für einen Mitgliederentscheid über die Reformen nicht erreicht, dennoch sah sich die sozialdemokratische Führung genötigt, einen Sonderparteitag am 1. Juni 2003 nach Berlin einzuberufen. Dort sprach sich die Mehrheit der Redner mehr oder weniger eindeutig gegen die Hartz-Gesetze aus, doch nachdem Schröder für den Fall eines negativen Votums mit seinem Rücktritt als Parteivorsitzender und Bundeskanzler gedroht hatte, bekamen er und die Parteiführung schließlich die Unterstützung von rund zwei Dritteln der Delegierten. Auch bei Bündnis 90/Die Grünen gab es auf deren Sonderparteitag am 14./15. Juni 2003 ein deutliches Votum für die Regierungslinie. Auf beiden Parteitagen wurden einige Abschwächungen des Reformprogramms beschlossen, die aber im späteren Gesetz­gebungsverfahren keine Rolle mehr spielten.Für Schröder war dies ein Pyrrhussieg, für seine Partei entwickelten sich die Hartz-Reformen zu einem Desaster. Es kam zu Massen­austritten, und die folgenden Landtagswahlen brachten drama­tische Stimmenverluste. Auch die Gewerkschaften, der traditionelle Bündnis­partner der Sozialdemokraten, gingen deutlich auf Distanz zu »ihrem« Bundeskanzler und beteiligten sich teilweise an großen Protestdemonstrationen – ohne allerdings auch nur im Entferntesten in Erwägung zu ziehen, ihre Mobilisierungsfähigkeit dahingehend auszureizen, die Hartz-Reformen tatsächlich verhindern zu wollen. Zwar wurde zu einem »heißen Herbst« gegen die Agenda 2010 aufgerufen, deren Höhepunkt eine Großdemonstration am 1. November 2003 in Berlin mit über hunderttausend Teilnehmern war. Doch mehrere Gewerkschaftsvorsitzende – Hubertus Schmoldt (IG Bergbau, Chemie, Energie), Norbert Hansen (Transnet) und Franz-Josef Möllenberg (Nahrung-Genuss-Gaststätten) – hatten bereits angekündigt, die Agenda 2010 »konstruktiv begleiten« und »durch Änderungsvorschläge und Kompromisslinien« auf die Regierung zugehen zu wollen. Die beiden größten Einzelgewerkschaften, ver.di und IG Metall, vertraten zwar eine deutlich konfrontativere Linie, scheuten aber die Zuspitzung, die beispielsweise »illegale« politische Streiks gegen die Hartz-Gesetze bedeutet hätten.Breite ProtestbewegungUnabhängig von diesen großen, quasi institutionalisierten Protesten gegen die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen entstand sozusagen aus dem Nichts eine große Basisbewegung. Ausgehend von Magdeburg verbreiteten sich die »Montagsdemos« gegen Hartz IV ab dem Sommer 2004 binnen kurzer Zeit zunächst in Ostdeutschland und dann flächendeckend im ganzen Land. Zusammen mit der Enttäuschung vieler Sozialdemokraten über den »Verrat« ihrer Partei und dem Unmut vieler Gewerkschafter entstand daraus schließlich eine neue politische Bewegung, die zu einer nachhaltigen Veränderung des Parteien­spektrums in Deutschland führte. Zunächst als Verein und im Januar 2005 schließlich als Partei wurde die »Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit« (WASG) gegründet, die im Juni 2007 mit der bislang fast ausschließlich in Ostdeutschland präsenten PDS zu der neuen, bundesweiten Partei DIE LINKE fusionierte.Zwar konnte sich damit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine auch von sozialen Protestbewegungen getragene Partei dauerhaft als relevante politische Kraft links von der SPD bundesweit etablieren, doch weder konnten die neoliberalen Reformen der 2005 abgewählten »rot-grünen« Bundesregierung gekippt werden, noch haben sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in emanzipatorischem Sinne positiv entwickelt. Im Gegenteil: Die Agenda 2010 erwies sich als Ausgangspunkt für eine nicht enden wollende Kette weiterer Reformen, die einige gemeinsame Merkmale haben: Deregulierung und (Teil-)Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Ausgrenzung und Marginalisierung »unproduktiver« Teile der Gesellschaft. Die Agenda-Reformen markieren eine bereits nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der Auflösung der DDR eingeleitete Zeitenwende: weg vom auf weitgehende Klassenharmonie bedachten »Rheinischen Kapitalismus« hin zu einer markt­radikalen Neuformierung der Gesellschaft.Entsprechend fallen die Bilanzen aus. Nicht nur die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und andere Lobby­verbände des Kapitals, sondern auch die SPD-Führung ziehen ein nahezu uneingeschränkt positives Fazit. Der damalige BDA-Präsident Dieter Hundt schrieb am 14. März 2014 in der Welt: »Grundlegende Reformen waren unausweichlich. Sie verlangten Mut und Konsequenz. Dafür steht die Agenda 2010. Sie brachte die Wende zum Besseren. Besonders bedeutsam ist die damit geschaffene Flexibilität am Arbeitsmarkt, einhergehend mit funktionierender Sozialpartnerschaft und verantwortungsvoller Tarifpolitik. Das ist gelungen und hat Wirtschaft und Gesellschaft hierzulande neu geformt.«SPD ist immer noch stolzIn einem gemeinsamen Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 5. Januar 2015 loben der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles – einst eine scharfe Kritikerin der Hartz-Gesetze – nahezu euphorisch die segensreichen Wirkungen der Agenda-Reformen. Dort heißt es : »Heute, zehn Jahr später, sind in Deutschland zwei Millionen Menschen weniger arbeitslos. (…) Nicht zu unterschätzen ist etwa auch die funktionierende Sozialpartnerschaft in Deutschland und die beschäftigungsorientierte Tarifpolitik der Industriegewerkschaften, die durch ›interne Flexibilität‹ das System der Flächentarifverträge abgesichert haben.« Zwar wird eingeräumt, dass »die Reformpolitik der Agenda 2010 Unsicherheiten ausgelöst hat, deren Ausmaß und Auswirkungen wir unterschätzt haben«, und man habe daher auch »einiges korrigiert«. Doch sei »der Streit um Hartz IV und Agenda 2010, den wir in der SPD über Jahre sehr leidenschaftlich geführt haben, letztlich kon­struktiv gewesen und hat gute Ergebnisse erbracht – für die Stabilität der Sozialsysteme, aber auch für die Betroffenen«. Nun ist es Zeit, »den Blick nach vorne zu richten«.Angesichts der Armut und Ausgrenzung von Millionen Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften und der bevorstehenden Welle der Altersarmut kann man das nur als blanken Zynismus bezeichnen. Doch Gabriel und Nahles machen unmissverständlich klar, dass sie diesen Weg weitergehen wollen: »Die Hartz-Reformen haben einen Prozess der moderierten Anpassung des Sozialstaats an die Verhältnisse der digitalen Gesellschaft eingeleitet, von dem wir heute – bei aller Gestaltungsnotwendigkeit – profitieren. Vor allem aber: Sie vermitteln uns Zuversicht, dass Deutschland es schaffen kann, wenn wir entschlossen handeln. Wir sind davon überzeugt, dass wir die momentane wirtschaftliche Stärke des Landes nutzen können, um uns einen guten Platz auch in Zukunft zu sichern. So wie wir am Anfang dieses Jahrtausends die Kraft und den Mut zu handeln hatten, so wird es heute wieder die Aufgabe der SPD sein, den Fortschritt und die Zukunft zu gestalten.«Verheerende BilanzZu einem vollkommen anderen Fazit gelangte der in Köln lehrende Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge bereits im März 2013 auf den NachDenkSeiten. Hartz IV sei »die berühmt-berüchtigte Chiffre für den bis heute mit Abstand tiefsten Einschnitt in das deutsche Sozialmodell«. Mit der beschönigend »Zusammenlegung« genannten Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sei »zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung abgeschafft worden«. Die Einführung der Grundsicherung für Erwerbsfähige ohne gleichzeitige gesetzliche Mindestlohnregelung leiste »einer Abwärtsspirale Vorschub, bei der Entlohnungsbedingungen immer mehr nach unten ausfransen und ergänzende staatliche Unterstützung erforderlich machen«. Mit der Agenda-Politik habe die rot-grüne Bundesregierung eine Doppelstrategie verfolgt: Einerseits sollte die Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Fürsorge den Staatshaushalt entlasten, andererseits wollte man durch materiellen Druck und Einschüchterung der Betroffenen mehr beziehungsweise stärkere »Beschäftigungsanreize« schaffen. »Die teils ausgesprochen drastischen Leistungskürzungen sowie erneut verschärfte Zumutbarkeitsklauseln zwingen Langzeitarbeitslose, ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen«, was Auswirkungen auf das gesamte Lohngefüge habe. Verwiesen wird auf Gerhard Schröder, der auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 28. Januar 2005 als großen Erfolg seiner Politik als Bundeskanzler feierte, »einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut« zu haben und »bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt« zu haben.Butterwegges Fazit lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: »Die Hartz-Gesetze brachten unsägliches Leid über davon Betroffene und ihre Familien und machten die Bundesrepublik zu einem kalten Land. Letztlich wurde das soziale Klima der Bundesrepublik vergiftet, die politische Kultur im allgemeinen Sinne belastet sowie die Spaltung des Landes in Arm und Reich vertieft.«Doch die »Hartz-Gesetze« haben nicht nur das soziale Gefüge der Bundesrepublik grundlegend verändert, sondern auch das politische Koordinatensystem durcheinandergewirbelt. Eine vermeintlich eher linke, fortschrittliche Regierungskoalition entpuppte sich in sozialen Fragen als wesentlich reaktionärer als die nominal eher rechte, »konservative« Vorgängerregierung. Auch der bislang größtenteils positiv besetzte Begriff »Reformpolitik« erfuhr schlagartig einen Bedeutungswechsel. Doch bevor wir uns der früheren und jüngeren Reformgeschichte widmen, sei ein weiteres Beispiel für diesen Prozess geschildert.
Die Rente ist sicher? Von wegen …Es liegt angesichts der neoliberalen Agenda, die als Arbeitsgrundlage des »rot-grünen Reformprojekts« diente, auf der Hand, dass nicht nur die Regeln für den Arbeitsmarkt und die damit zusammenhängenden Sozialgesetze gründlich »modernisiert« wurden. Auch die gesetzliche Rente als Eckpfeiler der Altersversorgung galt es, gründlich zu demontieren beziehungsweise im Rot-Grün-Jargon »zukunftsfest zu gestalten«. Dabei konnte die Schröder-Fischer-Regierung an einige Reformen der Vorgängerregierung unter Helmut Kohl anknüpfen. Ihr blieb es allerdings vorbehalten, die dynamische Absenkung der gesetzlichen Rente und deren Reduzierung auf eine Basisabsicherung nebst massiver Förderung privatwirtschaftlicher Altersvorsorgeprodukte in das System zu implementieren.Gerade an der Geschichte der deutschen Rentenversicherung lässt sich der Zwittercharakter von Reformpolitik anschaulich demonstrieren. Die »rot-grünen« Rentenreformen stehen exemplarisch für die große, nicht nur sozialpolitische Bruchlinie, die durch das Verschwinden der sozialistischen »Systemkonkurrenz« um 1990 entstand. Die politische Notwendigkeit zur Befriedung von Klassengegensätzen durch die Gewährleistung materieller Teilhabe und sozialer Daseinsvorsorge für die große Mehrheit der Bevölkerung war verschwunden, das Kapital konnte wieder »blankziehen«.Eigentlich eine gute IdeeLange Zeit galt das deutsche Modell der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) als beispielhaft. Seinen Ursprung hat es in den 1883 bis 1889 erlassenen Gesetzen zur sozialen Absicherung der Arbeiter. Damit sollte vor allem den erstarkenden Sozialisten im Kaiserreich der Wind aus den Segeln genommen werden. Bereits damals gab es eine anteilige Finanzierung aus Beiträgen der Unternehmen und der Beschäftigten sowie staatliche Zuschüsse für einen »Rententopf«, der nach dem Kapitaldeckungsprinzip funktionierte. Allerdings war dieses System weit davon entfernt, den Lebensstandard im Alter zu sichern. Später sorgten der Erste Weltkrieg, die Hyperinflation und schließlich der Zweite Weltkrieg dafür, dass die Rentenkassen weitgehend zusammenbrachen.Die Rentenreform von 1957 änderte das System der Rentenversicherung grundlegend: Arbeiter und Angestellte wurden gleichgestellt und die lohnbezogene, dynamische Rente eingeführt. Die Altersrente sollte zum zentralen Einkommensbestandteil im Ruhestand werden und wurde an die Lohnentwicklung gekoppelt. Das Kapitaldeckungsverfahren, welches naturgemäß instabil ist, wurde durch ein Umlageverfahren in Form eines »Generationenvertrages« ersetzt. Das heißt, die erwerbstätigen Beitragszahler finanzieren die Bezüge der Ruheständler, eventuelle Defizite werden durch staatliche Zuschüsse oder auch durch Erhöhungen der Beiträge ausgeglichen. In der Folgezeit entwickelte sich das Rentenniveau trotz einiger Schwankungen stetig nach oben. Die Standard-Nettorente betrug 1980 fast 70 Prozent des durchschnittlichen Netto-Erwerbseinkommens von gesetzlich Versicherten, die Standard-Bruttorente erreichte 1977 ihren Höchststand mit 59,7 Prozent. 1972 wurde für die Nachkriegsgeneration zudem eine Art Untergrenze eingezogen. Die bis dahin erworbenen Rentenanwartschaften von Geringverdienern wurden auf bis zu 75 Prozent der jeweiligen »Eckrente« hochgewertet. Das galt auch für Zeiten der Arbeitslosigkeit. Zudem wurde die Rentenversicherung in diesem Jahr auch für Selbständige und Hausfrauen geöffnet, nebst großzügigen Möglichkeiten zur Nachentrichtung von Beiträgen. Auch Ausbildungszeiten wurden als Rentenanwartschaftszeiten gewertet. Ferner konnten verschiedene Arbeitnehmergruppen Regelungen zu flexiblen Altersgrenzen für den Ruhestand in Anspruch nehmen, ohne gravierende Abschläge bei den Rentenanwartschaften hinnehmen zu müssen. In den folgenden zwanzig Jahren erwies sich das System als relativ stabil. Doch 1992 – wohl kaum zufällig zwei Jahre nach der Wiedervereinigung – begann ein systematischer Prozess der Demontage der GRV als Garant für einen einigermaßen auskömmlichen Lebensabend.Rentenkassen werden geplündertDer Coup war gut vorbereitet worden. Die Rentenkassen, die ursprünglich als reiner Generationenfonds von Beitragszahlern und Rentenbeziehern konzipiert waren, wurden gründlich geplündert. Dickster Brocken war dabei die Übernahme der von früheren DDR-Bürgern erworbenen Rentenansprüche, die ja nicht durch entsprechende Einzahlungen in die GRV der Bundesrepublik gedeckt waren. Bei diesem riesigen Posten handelte es sich zweifellos um eine gesamtstaatliche Aufgabe im Zuge des Vereinigungsprozesses, die demnach aus Steuermitteln hätte finanziert werden müssen, stattdessen aber der GRV aufgebürdet wurde. Die daraufhin entstehenden dramatischen Löcher in deren Kasse wurden – ergänzt durch Horrorszenarien über den »demographischen Wandel« – zum Background für die erste von vielen folgenden »Rentenreformen«.Diese hatte es bereits in sich: Die Rentenanpassungen wurden nicht mehr anhand der Brutto-, sondern der Nettolohnentwicklung vorgenommen und fielen entsprechend niedriger aus, da Nettolöhne aufgrund höherer Abgaben nach Bruttolohnsteigerungen stets geringer wachsen. Die Bundesgarantie für die GRV galt von nun an nicht mehr uneingeschränkt, Finanzierungslücken sollten künftig von den Beitragszahlern aufgebracht werden. Die Altersgrenzen für den Renteneintritt wurden stufenweise angehoben, auf 65 Jahre (bislang 60) für Frauen und für Männer, die bislang nach 40 Versicherungsjahren bereits mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen konnten. Die Möglichkeiten zur Höherbewertung der Rentenanwartschaften von Geringverdienern wurden auf maximal zehn Jahre beschränkt (vorher 25 Jahre). Wer früher in Rente ging, musste von nun an pro Jahr 3,6 Prozent Abschlag auf die Rentenhöhe in Kauf nehmen. Gekürzt wurden ferner die Anrechnungszeiten für schulische und universitäre Ausbildungen sowie deren Bewertung.Neun Jahre später erfolgte dann der offizielle Bruch mit dem seit 1957 gültigen Rentensystem. Die »rot-grüne« Bundesregierung verkündete, dass künftig die Bezüge aus der GRV zur finanziellen Sicherung eines ausreichenden Lebensstandards im Alter nicht mehr ausreichen würden. Zur Schließung dieser »Sicherungslücke« wurde die nach dem damaligen Arbeits- und Sozialminister und vormaligen IG-Metall-Vorsitzenden Walter Riester (SPD) benannte »Riester-Rente« aus der Taufe gehoben. Private Vorsorge in Form von Bank- oder Fondssparplänen, privaten Rentenversicherungen und später auch selbstgenutzten Immobilien wird seitdem mit einem System aus Zulagen und Steuerabschreibungen gefördert. Die Berechnungsverfahren der gesetzlichen Rente wurden erneut modifiziert, was zu einer weiteren drastischen Absenkung führte. Ferner wurde das alte System der gesetzlichen Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten am 1. Januar 2001 durch die neue »Erwerbsminderungsrente« abgelöst. Die Höhe dieser neuen Rente richtet sich nur noch danach, wie viele Stunden der Versicherte trotz gesundheitlicher Einschränkungen täglich noch arbeiten kann: Sind es weniger als drei Stunden pro Tag, bekommt er die volle Erwerbsminderungsrente. Wer in der Lage ist, drei bis sechs Stunden täglich zu arbeiten, erhält die halbe Erwerbsminderungsrente. Die berufliche Qualifikation ist seither bedeutungslos.In einer Modellrechnung, die 2002 von der »Aktion Demokratische Gemeinschaft« veröffentlicht wurde, stellt sich die Entwicklung wie folgt dar: Ein 1941 geborener Arbeitnehmer mit Abitur und Hochschulausbildung, der mit 55 Jahren arbeitslos wurde und mit 60 in Rente ging, verlor im Vergleich zum 1977 geltenden Rentenrecht rund ein Drittel seiner Altersrente.Das Reformtempo steigt2004 folgte die nächste Reform. Im »Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung« wurde als »Nachhaltigkeitsfaktor« die stufenweise Absenkung des Rentenniveaus auf 43 Prozent des durchschnittlichen Einkommens (bezogen auf den »Eckrentner« mit 45 Versicherungsjahren) festgeschrieben. Anrechnungszeiten für Schul- und Hochschulausbildung wurden komplett gestrichen, die Beitragszahlungen für Erwerbslose drastisch gekürzt. 2007 wurde dann die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre beschlossen, 2011 folgte unter anderem die komplette Streichung der Rentenbeiträge für Hartz-IV-Bezieher.Um dem wachsenden Unmut über diese Rentenpolitik ein wenig die Spitze zu nehmen, brachte die Große Koalition 2014 zwei kleine »Reförmchen« auf den Weg: Die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren und die »Mütterrente« in Höhe von 28,14 Euro im Westen und 25,74 Euro im Osten pro Kind und Monat. Dies, so die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles (SPD), in einer Bundestagsrede kurz vor der Verabschiedung des Rentenpakets der Bundesregierung im Mai 2014, sei ein Beleg dafür, »dass wir die Lebensleistung von Menschen in unserem Land anerkennen«.