Die Historiker und die Verfassung - Dieter Grimm - E-Book

Die Historiker und die Verfassung E-Book

Dieter Grimm

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Beschreibung

Die Geschichte der Bundesrepublik ist maßgeblich vom Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt worden. In den Darstellungen der Historiker kommt das jedoch nur unvollkommen zum Ausdruck. Dieter Grimm, selbst von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht, zeigt, wo es zum Verständnis der historischen Entwicklung hilfreich gewesen wäre, auf Verfassung und Verfassungsrechtsprechung ausführlicher einzugehen. Sein scharfsinniges Buch trägt damit zugleich zu einer Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes bei, die bisher fehlt. Die Bundesrepublik verdankt ihre insgesamt recht glücklich verlaufene Entwicklung zu einem Gutteil dem Grundgesetz. So konnte man es jedenfalls bei allen Jubiläen des Grundgesetzes immer wieder hören. Liest man die Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte, findet man dieses Urteil jedoch nicht bestätigt. Das Grundgesetz und seine Auslegung und Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht spielen in den Werken der Historiker nur eine verhältnismäßig geringe Rolle. Dieter Grimm zeigt, wo es zur Erklärung und zum Verständnis der Ereignisse, Zustände und Entwicklungen, welche die Historiker schildern, hilfreich gewesen wäre, die Verfassung und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen. Das Buch stößt damit in eine Leerstelle zwischen den Disziplinen: Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich zwar mit den Wirkungen derVerfassung, beschränkt sich aber auf die Wirkungen im Rechtssystem, während die Geschichtswissenschaft vor der Anwendungsebene des Rechts haltmacht, wo sich jedoch erst entscheidet, ob und wie der normative Anspruch der Verfassung eingelöst wird.

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Dieter Grimm

Die Historiker und die Verfassung

Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes

C.H.Beck

Zum Buch

Die Geschichte der Bundesrepublik ist maßgeblich vom Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt worden. In den Darstellungen der Historiker kommt das jedoch nur unvollkommen zum Ausdruck. Dieter Grimm, selbst von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht, zeigt, wo es zum Verständnis der historischen Entwicklung hilfreich gewesen wäre, auf Verfassung und Verfassungsrechtsprechung ausführlicher einzugehen. Sein scharfsinniges Buch trägt damit zugleich zu einer Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes bei, die bisher fehlt.

Über den Autor

Dieter Grimm ist einer der auch international angesehensten deutschen Juristen. Von 1979 bis 1999 war er Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, von 1987 bis 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Seit 2000 lehrt er Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin, von 2002 bis 2017 unterrichtete er außerdem an der Yale Law School. Von 2001 bis 2007 war er Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Für sein Wirken wurde er vielfach ausgezeichnet. Bei C.H.Beck ist zuletzt von ihm erschienen: «Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie» (32016).

Inhalt

Vorwort

Vorbemerkung zur Auswahl der untersuchten historischen Literatur

I: Verfassungsgeschichte und Allgemeine Geschichte

1. Das Grundgesetz als Quelle für die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik

2. Grundgesetz und Verfassungsrechtsprechung als Faktoren der geschichtlichen Entwicklung der Bundesrepublik

3. Wieviel Verfassungsrecht ist nötig und möglich?

II: Entstehung und Regelungsgehalt des Grundgesetzes

1. Entstehung

2. Inhalt

3. Bewertungen

III: Die Anfänge der Verfassungsgerichtsbarkeit

1. Errichtung des Gerichts

2. Frühe Kämpfe

3. Autorität und Akzeptanz

IV: Verfassungswandel durch Grundgesetzänderungen

1. Regelung der Verfassungsänderung

2. Gewichtige Grundgesetzänderungen

3. Die Verfassungsänderungen in der Geschichtsschreibung

V: Anlauf zur Totalrevision des Grundgesetzes

1. Das «antiquierte» Grundgesetz

2. Einstellung auf neue Erfordernisse

3. Die Grundgesetz-Revisionen in der Geschichtsschreibung

VI: Die Verfassungsfrage im Prozess der Wiedervereinigung

1. Eine neue Verfassung für die DDR?

2. Beitritt oder Neukonstituierung?

3. Die Verfassungsfrage in der Geschichtswissenschaft

VII: Die Liberalisierung der Gesellschaft als Frage der Grundrechte

1. Besonderheiten der Grundrechtsinterpretation

2. Lüth und die Folgen

3. Die Grundrechte in der Geschichtsschreibung

VIII: Die Verfassungsprägung des Mediensystems

1. Die Bedeutung der Spiegel-Affäre

2. Die Verfassungsrechtsprechung zur Medienfreiheit

3. Die Relevanz der Medienrechtsprechung

IX: Die sozialliberalen Reformen auf dem Prüfstand

1. Eine neue Phase im Verhältnis von Gericht und Politik

2. Die Reformen auf dem Prüfstand

3. Aufnahme im Publikum und in der Geschichtswissenschaft

X: Die Zähmung des Parteienstaats

1. Rolle der Parteien

2. Parteienfinanzierung

3. Offenhaltung der Demokratie

XI: Die Durchsetzung der Geschlechtergleichheit

1. Verfassungswidriges Verfassungsrecht?

2. Gleichheit in der Ehe

3. Gleichberechtigung in der Geschichtsschreibung

XII: Das Grundgesetz in der Risikogesellschaft

1. 1973 als Wendejahr

2. Gegenstände und Formen des Protests

3. Extremismus und Terrorismus

XIII: Die Verfassung im Prozess des Zusammenwachsens von Ost und West

1. Einigungsvertrag und Wahlvertrag

2. Übergangskonflikte

3. Die Bilanz – ein Desiderat

XIV: Die Bundesrepublik als Mitgliedstaat der EU

1. Veränderte Staatlichkeit

2. Die Eigenart der Europäischen Union

3. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts

XV: Die unterschätzte Konstitutionalisierung der Politik

1. Bedeutungssteigerung der Verfassung

2. Wahrnehmung in der Geschichtswissenschaft

3. Was zu tun wäre

Anhang

Die Bedeutung des Rechts in der Gesellschaftsgeschichte Eine Anfrage

I.

II.

III.

Auswahl verfassungsrechtlicher Literatur für die zeitgeschichtliche Forschung

1. Quellen

2. Darstellungen

Entscheidungsregister

Sachregister

Vorwort

Ursprung dieses Buches ist ein Vortrag, den ich vor einigen Jahren bei der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München unter dem Titel «Kann man die Geschichte der Bundesrepublik ohne ihre Verfassungsgeschichte schreiben?» gehalten habe. Der Titel erklärt sich daraus, dass gerade dies nach meiner Lektüre verschiedener Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik geschehen war. Das Grundgesetz und seine Auslegung und Anwendung vorwiegend durch das Bundesverfassungsgericht spielten darin eine vergleichsweise unbedeutende Rolle. In der Öffentlichkeit, von der Verfassungsrechtswissenschaft ganz zu schweigen, wird das anders wahrgenommen. Diese Diskrepanz wollte ich aufklären.

Heinrich Meier, der Geschäftsführer der Siemens Stiftung, der mich eingeladen hatte, regte eine Veröffentlichung des Vortrags an. Wolfgang Beck, der unter den Zuhörern war, drängte auf eine Ausweitung zum Buch. Wolfgang Beck und Heinrich Meier sind sozusagen die Väter des Werks. Geburtshelfer war die Pandemie. Trotz aller Restriktionen und Verluste, die sie mit sich brachte, war sie für mich doch auch ein gänzlich unverhoffter Zeitgewinn. Er ist dem Buchplan zugute gekommen. Das Manuskript oder Teile davon hatten in verschiedenen Stadien der Entstehung fünf kritische Leserinnen und Leser aus unterschiedlichen Ländern, Disziplinen und Forschungsrichtungen: Aurore Gaillet, Ingrid Gilcher-Holtey, Jürgen Kocka, Barbara Stollberg-Rilinger und Rainer Wahl. Ich betrachte sie ebenfalls als Geburtshelfer und -helferinnen und bin ihnen zu großem Dank verpflichtet.

Das Buch will keine Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik sein und kann eine solche auch nicht ersetzen. Es hat ein bescheideneres Ziel, nämlich zu zeigen, wo man die Geschichte der Bundesrepublik nicht ausreichend ohne ihre Verfassungsgeschichte verstehen kann. Aber unter der Hand ist aus ihm ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes und seiner Auslegung und Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht geworden, die als solche ebenfalls noch nicht geschrieben ist und nur aus der Zusammenschau von juristischer, politologischer und historischer Forschung hervorgehen kann. Vielleicht dient dieses Buch als Anregung dazu.

Berlin, im April 2022Dieter Grimm

Vorbemerkung zur Auswahl der untersuchten historischen Literatur

Der Untersuchung sind die Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik zugrunde gelegt, die nach der Zäsur der Wiedervereinigung erschienen sind. Nicht berücksichtigt sind die älteren Werke zur bundesrepublikanischen Geschichte, namentlich die fünfbändige, bis 1982 reichende und von Karl Dietrich Bracher, Theodor Eschenburg, Joachim C. Fest und Eberhard Jäckel herausgegebene «Geschichte der Bundesrepublik Deutschland». Auch neuere Bücher, die nur einen Abschnitt der Geschichte behandeln, wie zum Beispiel Andreas Wirschings «Abschied vom Provisorium» oder Christoph Kleßmanns Deutsche Geschichte von 1945 bis 1955 («Die doppelte Staatsgründung») und von 1955–1970 («Zwei Staaten, eine Nation») sind nicht in die Untersuchung einbezogen worden. Wohl aber sind die beiden Teilbände 19 und 19A aus der Reihe «Oldenbourg Grundriss der Geschichte», obgleich von zwei Autoren verfasst, aufgenommen worden. Unberücksichtigt geblieben sind die beiden von Politikwissenschaftlern verfassten Darstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte (Dietrich Thränhardt, «Geschichte der Bundesrepublik Deutschland», 1996; Peter Graf Kielmansegg, «Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland», 2000), obwohl es interessant gewesen wäre zu sehen, ob sie sich in dem hier interessierenden Punkt, der Rolle von Grundgesetz und Verfassungsrechtsprechung, von den historischen Darstellungen unterscheiden. Verzichtet worden ist ferner auf «Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland» von Guido Thiemeyer, weil sie ihren Titel zu Unrecht trägt; es handelt sich in Wahrheit um eine Geschichte der Internationalisierung und Europäisierung der Bundesrepublik. Unberücksichtigt geblieben ist ebenfalls die Kurzfassung von Manfred Görtemakers großer Darstellung («Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland») sowie das Buch von Bernd Stöver, «Die Bundesrepublik Deutschland», 2002, aus der Reihe «Kontroversen um die Geschichte», weil sie erklärtermaßen nur eine Auswahl von «Deutungskontroversen» behandeln will. Vor allem haben aber geschichtswissenschaftliche Monographien und Aufsätze keine Berücksichtigung gefunden, obwohl hier Beispiele für eine intensivere Einbeziehung der Verfassungsgeschichte zu finden sind. Die Beschränkung erscheint aber gerechtfertigt, weil das Bild eines breiten Publikums von den Gesamtdarstellungen, nicht von den spezialisierten Werken geprägt wird und weil Geschichtsstudenten, für die ja die Zeitgeschichte nur einen kleinen Teil ihres Stoffes ausmacht, vor allem auf die didaktische Literatur zugreifen werden.

Die ausgewerteten Werke lassen sich einteilen in die großen Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte, die großen Gesamtdarstellungen, die Teil eines zeitlich umfassenderen Werks sind, die Studienliteratur (der ich trotz Zögerns auch das Buch von Christian Henrich-Franke zugeschlagen habe, weil es einem Vorlesungsskript ähnelt); schließlich die drei Kurzdarstellungen aus der Reihe C. H. Beck Wissen.

Große Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik:

Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, 1999, 915 S.

Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 2006, 694 S.

Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart, 2009, 1071 S.

Große Gesamtdarstellungen in einem umfassenderen Werk:

4.

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, Deutsche Geschichte vom «Dritten Reich» bis zur Wiedervereinigung, 2000, ab Kapitel 2, 626 S.

5.

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, Bundesrepublik und DDR 1949–1990, 2008, 529 S.

6.

Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Teile IV und V, 2014, 905 S.

Studienliteratur:

7.

a) Adolf M. Birke, Die Bundesrepublik Deutschland. Verfassung, Parlament und Parteien, 1997, 153 S.

b) Neuauflage bearbeitet von Udo Wengst, 2010, 195 S.

8.

a) Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1969, 5. Aufl., 2007, 343 S.

b) Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969 bis 1990, 2004, 330 S.

9.

Christian Henrich-Franke, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung 1949 bis zur Gegenwart, 2019, 220 S.

Kurzdarstellungen:

10.

Maria-Luise Recker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2009, 128 S.

11.

Andreas Wirsching, Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 2011, Kapitel IV–VI, 42 S.

12.

Dominik Geppert, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2021, 128 S.

I

Verfassungsgeschichte und Allgemeine Geschichte

1. Das Grundgesetz als Quelle für die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik

Das Grundgesetz steht in dem Ruf, eine geglückte und effektive Verfassung zu sein. Die Verfassungsrechtswissenschaft bestätigt es wieder und wieder. Aber auch die öffentliche Meinung ist davon durchdrungen. Wie man bei jedem Verfassungsjubiläum hören und lesen kann, ist das Grundgesetz ein Glücksfall für das Land, erst recht wenn es am Schicksal der Weimarer Verfassung gemessen wird. Die insgesamt erfolgreiche Entwicklung, welche die Bundesrepublik im Unterschied zur Weimarer Republik genommen hat, verdankt sich danach nicht zuletzt ihrer guten Verfassung, der besten, die Deutschland je hatte, wie es oft genug heißt. Ihr Ansehen in der Bevölkerung wuchs beständig. Am Ende konnte in der Bundesrepublik selbst etwas so Ungewöhnliches aufkommen wie ein «Verfassungspatriotismus», also ein sich gerade auf die Verfassung und nicht etwa auf die Nation oder die heroischen Phasen ihrer Geschichte gründender Stolz und Zusammenhalt der Gesellschaft.

Blickt man dagegen in die Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte, die nach der Zäsur der Wiedervereinigung in ansehnlicher Zahl entstanden sind, bestätigen sie die große Bedeutung des Grundgesetzes nicht. Sie bestreiten sie allerdings auch nicht, sie kommen nur weithin ohne es aus. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Grundgesetz keine Beachtung fände. Seine Entstehung und die Grundzüge seines Inhalts haben ihren Platz in den Darstellungen. Aus den Schilderungen ergibt sich aber nicht, dass es, einmal in Kraft getreten, für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik signifikante Bedeutung gehabt hätte. Nur hin und wieder blitzt in der Geschichtsschreibung eine Verfassungsbestimmung oder eine verfassungsgerichtliche Entscheidung auf, verglimmt aber schnell wieder, ohne markante Folgen zu hinterlassen. Zu den bestimmenden Faktoren für die Entwicklung der Bundesrepublik scheint es nicht zu gehören.

Wie kommt es zu diesem Kontrast? Wird die Bedeutung der Verfassung in der Öffentlichkeit und der Rechtswissenschaft überschätzt? Oder lässt sich die Geschichtswissenschaft einen wesentlichen Aspekt ihres Gegenstandes entgehen? Freilich gibt es Grenzen des Machbaren. Die Allgemeine Geschichte ist keine Totalgeschichte, selbst wenn einzelne Schulen diesen Anspruch erhoben haben. Vorwiegend versteht sie sich als Politikgeschichte. In unterschiedlicher Gewichtung finden zudem andere Großbereiche, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Platz. Daneben etablieren sich Spezialgeschichten, Kunstgeschichte, Medizingeschichte, Philosophiegeschichte usw., die meist von Vertretern der anderen Disziplin, nicht von Fachhistorikern betrieben werden. Angesichts der Vergeblichkeit einer Totalgeschichte und der Notwendigkeit von Akzentsetzungen und Verzichten wird niemand einem Historiker vorwerfen, die Architekturgeschichte oder die Hygienegeschichte beiseite gelassen zu haben.

Aber gilt das auch für die Verfassungsgeschichte? Ist Architekturgeschichte verzichtbar, Verfassungsgeschichte aber nicht? Anders gefragt: Gehören Verfassung und Recht in eine Reihe mit Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, an denen die Allgemeine Geschichte heute nicht mehr vorbeigehen kann? Oder gehören sie in die lange Reihe der Spezialgeschichten, denen man in der Gesamtdarstellung einer Epoche je nach Zielsetzung und Kapazität Raum geben, auf die man als Allgemeinhistoriker aber auch verzichten kann, ohne Gefahr zu laufen, dass man seine Aufgabe verfehlt?[1] Die Antwort verlangt eine Klärung des Verhältnisses von Verfassung und Politik. Kann diese ohne jene nicht hinreichend begriffen werden, dann wäre ihre Vernachlässigung ein Mangel. Andernfalls gäbe es keinen zwingenden Grund, sie in eine Allgemeine Geschichte der Bundesrepublik aufzunehmen.

Allgemeingültiges lässt sich darüber nicht sagen. Verfassungen in dem Sinn, wie wir sie heute üblicherweise verstehen, gab es nicht immer und überall. Zwar ist jede politische Einheit in einer Verfassung, aber nicht jede hat eine Verfassung. Haben politische Einheiten, regelmäßig Staaten, Verfassungen, heißt das noch nicht, dass sie überall die gleiche Bedeutung besitzen. Für Verfassungen gibt es viel mögliche Einteilungen und Typisierungen.[2] Eine der wichtigsten ist die in effektive und ineffektive Verfassungen. Zwischen den beiden Polen sind wiederum zahlreiche Abstufungen denkbar. Ein und dieselbe Verfassung kann von der einen in die andere Stufe hinübergleiten. Verfassungen können ihre Bedeutung wandeln, wenn sich der Kontext verändert. Über ineffektive Verfassungen gibt es für den Historiker wenig zu sagen, vielleicht nur, warum sie ineffektiv sind und was das wiederum für das Land bedeutet, dessen Verfassung ohne Bedeutung ist.

Wenn von Verfassung im Zusammenhang mit der Geschichte der Bundesrepublik gesprochen wird, dann ist damit die moderne Staatsverfassung gemeint, wie sie aus den beiden großen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts hervorgegangen ist.[3] Diese unterscheidet sich von den vormodernen Regelungen politischer Herrschaft dadurch, dass sie die Existenz legitimer Herrschaft nicht voraussetzt und lediglich in einzelnen Hinsichten beschränkt. Sie konstituiert legitime Herrschaft vielmehr allererst und regelt ihre Einrichtung und Ausübung systematisch und umfassend, nicht bloß punktuell und zugunsten einiger Privilegierter wie die älteren Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen usw. Da sie ihre Funktion jedoch nur erfüllen kann, wenn sie den Trägern von Herrschaft und deren Akten übergeordnet ist, gehört zur modernen Verfassung der Vorrang. Politische Herrschaft ist nur legitim, soweit sie auf der Grundlage und im Rahmen der Verfassung ausgeübt wird.

Es gibt freilich Staatsverfassungen, die diese Merkmale nur zum Teil aufweisen, so beispielsweise die deutschen Verfassungen im 19. Jahrhundert, die nicht herrschaftsbegründend, sondern nur herrschaftsmodifizierend waren. Derartige Verfassungen wurden jedoch stets als Minderformen des modernen Konstitutionalismus betrachtet. Das Grundgesetz zählt nicht zu ihnen. Obwohl nicht «Verfassung» genannt und nur als Provisorium für eine Übergangszeit bis zur Wiedervereinigung gedacht, ist es eine Verfassung im Vollsinn des modernen Begriffs. Die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik verdankt ihm ihren Gegenstand. Die Bundesrepublik entstand mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes. Vor dem 23. Mai 1949 gab es keine Bundesrepublik, und von da an gab es sie in der Form, die im Grundgesetz vorgesehen war. Nach ihm hatte sich fortan die Politik zu richten.

Die moderne Verfassung ist allerdings selber ein Produkt der Politik. Sie geht aus einer politischen Entscheidung hervor, die ihrerseits keiner rechtlichen Bindung unterliegt, sondern das zur Rechtsetzung befähigte und ermächtigte Gebilde erst hervorbringt. Das ist das Paradox der verfassunggebenden Gewalt, dessen Auflösung der Rechtswissenschaft nicht gelingen will und dem sie daher entweder durch Fiktionalisierung (Hans Kelsens hypothetische Grundnorm) oder Externalisierung (Georg Jellineks normative Kraft des Faktischen) ausweicht. Der geschichtlichen Betrachtung kann das gleichgültig sein. Für sie zählt vielmehr der Informations- und Erklärungswert, den der Akt der Verfassungsgebung und die aus ihm hervorgehende Verfassung für die Verhältnisse, Entwicklungen und Ereignisse haben, mit denen die Geschichtswissenschaft sich befasst.

Dieser Wert kommt zunächst den rechtlichen Regeln selbst zu, insofern sie die strukturellen und inhaltlichen Bedingungen künftiger Politik formulieren. Es geht dann nicht mehr nur darum, was die Politik will und kann, sondern auch darum, was sie darf oder muss. Der Wert erschöpft sich aber nicht in dem rechtlichen Gehalt der Verfassung. Als Produkt einer politischen Entscheidung sind Verfassungen immer auch Ausdruck der Machtverhältnisse in einer sich politisch organisierenden Gesellschaft und der Ordnungsvorstellungen ihrer tonangebenden Kräfte. Diese spiegeln sich in ihnen wider, und zwar in besonders kondensierter und authentischer Weise. Das macht die Verfassung für die Geschichtswissenschaft zu einer höchst aussagekräftigen Quelle.

Das gilt auch für das Grundgesetz. Es erlaubt Rückschlüsse auf die Werthaltungen und Ordnungsvorstellungen, die im Zeitpunkt der Staatsgründung maßgeblich waren, also vor allem darüber, woran man sich nach dem Fehlschlag der ersten Demokratie, der Periode totalitärer Herrschaft und der katastrophalen Niederlage 1945 orientieren wollte, und wie die Vorstellungen ins Werk gesetzt werden sollten. Im Grundgesetz bündeln sich die Aspirationen, die die westdeutsche Gesellschaft in einer tiefen Umbruchsituation hegte und für ihre politischen Repräsentanten handlungsleitend machen wollte. Obgleich vorwiegend als Bruch mit der Vergangenheit und Neubeginn verstanden, gibt das Grundgesetz aber auch zu erkennen, welche Traditionsbestände des deutschen Politik-, Staats- und Verfassungsverständnisses fortwirkten oder wieder aufgenommen wurden.

Überdies vermittelt das Grundgesetz Einblick in die politischen und sozialen Kräfteverhältnisse zur Zeit der Staatsgründung. Die Zusammensetzung des Parlamentarischen Rats offenbart, wer mit welchen Vorstellungen und welcher Klientel Einfluss auf die Verfassung nehmen konnte und wer davon ausgeschlossen war. Die Beratungen und Entscheidungen lassen wiederum erkennen, wer sich mit welchen Auffassungen durchzusetzen vermochte und wessen Vorstellungen keinen Niederschlag in der Verfassung fanden. Welche Themen umstritten waren und wie mit den Konflikten umgegangen wurde, sagt etwas über die Breite des Konsenses und die Kompromissfähigkeit der Beteiligten aus. Auch der Handlungsspielraum der Staatsgründer unter der Kontrolle der Besatzungsmächte lässt sich gerade am Prozess der Verfassungsgebung abmessen, weil die Frage hier Klärung verlangte.

Allerdings handelt die verfassunggebende Gewalt ungeachtet ihrer rechtlichen Ungebundenheit faktisch keineswegs in völliger Freiheit, sondern immer schon historisch bedingt. Die meisten Verfassungen folgen einem tiefen Umbruch in der Geschichte eines Landes, einer triumphalen Revolution oder einem katastrophalen Zusammenbruch. Verfassungen, die nicht aus einem solchen Bruch mit der Vergangenheit hervorgehen, sind erheblich seltener. Sie kommen vor, wenn Herrscher es für nützlich halten, ihre Herrschaft konstitutionell zu begrenzen, wie im deutschen Frühkonstitutionalismus, oder zu bemänteln, wie seit Napoleon oft in der Geschichte. Sie kommen ferner vor, wenn bereits bestehende Staaten sich zu einem neuen, übergeordneten Staatsverbund zusammenschließen, wie bei der Reichsgründung 1871. Neue Verfassungen, die lediglich einem Modernisierungsbedürfnis entspringen, sind dagegen sehr selten. Man gibt sie dann lieber als Totalrevisionen aus, die in Form einer Verfassungsänderung erfolgen, wie 1999 in der Schweiz.

Immer sind mit der Vorgeschichte einer Verfassung aber Festlegungen verbunden, die im Prozess der Verfassungsgebung nicht mehr in Frage gestellt werden können. Schon ehe die verfassunggebende Gewalt ihre Arbeit aufnimmt, sind einige Gestaltungsmöglichkeiten aus dem Spiel und andere vorgezeichnet. Auch wenn sie in der verfassunggebenden Versammlung noch einmal thematisiert werden, wie etwa von den beiden kommunistischen Abgeordneten im Parlamentarischen Rat, bleiben sie doch chancenlos. Das ist der zutreffende Kern an Carl Schmitts Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz.[4] Die Folgerung, welche Schmitt daraus ableitete und in der finalen Krise der Weimarer Republik als Lösung vorschlug, die Aufweichung des Verfassungsgesetzes zugunsten der weder irgendwann förmlich beschlossenen noch irgendwo textlich fixierten und also diffusen Verfassung, geht damit aber nicht zwingend einher.[5]

Das Grundgesetz gehört zu denjenigen Verfassungen, die einem katastrophalen Zusammenbruch folgten, der so weit reichte, dass es nach dem 8. Mai 1945 keine deutsche Staatsgewalt mehr gab und die langsam wieder entstehende unter Aufsicht der Siegermächte stand. Auch für das Grundgesetz hatten die drei Westalliierten Vorgaben gemacht, die der Parlamentarische Rat nicht in Frage stellen konnte, aber auch gar nicht gewollt hätte: Demokratie, Föderalismus, Grundrechte. Doch auch jenseits dieser höchst abstrakten und konkretisierungsbedürftigen Vorgaben gab es Vorprägungen, die aus den Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Sozialstruktur, der Machtverteilung zwischen den neu gebildeten politischen Kräften und den post-nationalsozialistischen Werthaltungen hervorgingen und bei der Verfassungsgebung nicht mehr zur Disposition standen.

Ungeachtet der rechtlichen Unbegrenztheit der verfassunggebenden Gewalt sind Verfassungen empirisch betrachtet also ein Produkt der Verhältnisse, unter denen sie zustande kommen. Wären sie nichts als das, könnte man sie in die geschichtliche Betrachtung einbeziehen und als Medium nutzen, in dem man seinen Gegenstand erkennt. Notwendig wäre es nicht. Verfassungen sind indessen durch die Verhältnisse nicht erschöpfend erklärt, denn weder ergeben sie sich unmittelbar aus den Verhältnissen, noch gehen sie in der Festschreibung der Verhältnisse auf. Die moderne Verfassung ist keine Beschreibung der Wirklichkeit, wie es dem älteren Verfassungsbegriff entsprach.[6] Sie richtet vielmehr Erwartungen an die Wirklichkeit und macht diese verpflichtend. Was in der Verfassung steht, ist nicht mehr Meinung oder Theorie, sondern gilt. Ermöglicht wird das durch das Medium des Rechts. Verfassungsgebung ist die Transformation von Machtverhältnissen und Ordnungsvorstellungen in Recht. Das Spezifikum der modernen Verfassung ist ihre Normativität.

Die Transformation verlangt Selektionen aus der Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten sowie Konkretisierungen der Ordnungsvorstellungen. Sie sind nicht schon durch die Verhältnisse determiniert, sondern erfordern eigenständige Entscheidungen. Die Verfassung muss Institutionen vorsehen, die autorisiert sind, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu fällen und auszuführen, Verfahren vorschreiben, die dabei einzuhalten sind, und den Handelnden inhaltliche Ziele setzen und Grenzen ziehen. Eine umstandslose Überführung von Macht in Recht ist dadurch ausgeschlossen. Der Weg zur Rechtsgeltung führt nur über die verfassungsrechtlichen Kanäle, und diese sind nicht für beliebige Absichten und Inhalte offen. Vermittels ihres Rechtscharakters hat die Verfassung also einen Eigenwert als Quelle und ist nicht vollständig auf andere Faktoren reduzierbar.

Auch ihre Eigenschaft als besonders authentische Quelle für die Geschichtswissenschaft verdankt sich gerade der Rechtsform. Die Verfassung geht aus einem diskursiven Prozess hervor, der in Entscheidungen mündet. Diese beziehen sich auf Texte, die, weil Befolgung heischend, möglichst exakt formuliert sein müssen. Die Entscheidungen fallen im Wege der Abstimmung. Sie erst schafft Sicherheit, was gilt. Erst die Rechtsform bewirkt auch, dass sich die Quelle nicht in einer Momentaufnahme erschöpft. Sie löst sie vielmehr vom Moment der Entscheidungsfindung und den am Entscheidungsprozess beteiligten Personen ab und erstreckt ihre Geltung in die Zeit und auf alle Personen in ihrem Geltungsbereich. Es ist schließlich die Rechtsform, die bewirkt, dass die Verfassung nicht nur durch die Verhältnisse bedingt ist, sondern nach dem Inkrafttreten wiederum die Verhältnisse beeinflusst. Sie ist Resultante und Determinante zugleich.

Für die zunehmend pluralistischen Gesellschaften der Moderne erbringt die rechtliche Verfassung Leistungen, die anderweitig nicht ersetzt werden können. Als Konsensbasis der Konkurrenten um die politische Macht und Spielregel für den Austrag der Konkurrenz sorgt sie dafür, dass die Konkurrenten einander als Gegner und nicht als Feinde gegenüberstehen. Das erleichtert die Hinnahme von Niederlagen und ermöglicht friedliche Machtwechsel. Die für Partizipation offenen Entscheidungsprozesse und die inhaltlichen Grenzen der Mehrheitsherrschaft begünstigen Folgebereitschaft auch für Entscheidungen, die man abgelehnt hat. Die verfassungsrechtlich garantierte Chance von Minderheiten, Mehrheit zu werden, verringert die Neigung zu Radikalisierungen. Wo von einer relativ homogenen und auf hergebrachte Werte verpflichteten Bevölkerung nicht mehr ausgegangen werden kann, stellt die Verfassung noch einen Sinnspeicher jenseits der Divergenzen dar. In all dem ist sie eine bedeutende zivilisatorische Errungenschaft, freilich immer unter der Voraussetzung, dass sie nicht nur auf dem Papier steht.

2. Grundgesetz und Verfassungsrechtsprechung als Faktoren der geschichtlichen Entwicklung der Bundesrepublik

Allein wegen dieses Vorbehaltes ist es mit der Beschreibung des Grundgesetzes im Zeitpunkt seines Inkrafttretens nicht getan. Es ist aber auch deswegen nicht damit getan, weil Verfassungen änderbar sind. Nicht alle Änderungen werden für die Geschichtswissenschaft von Bedeutung sein. Manche beheben lediglich Schwächen der anfänglichen Formulierung, die in der Praxis zutage getreten sind, oder klären aufgetretene Zweifel. Verfassungsänderungen können jedoch auch grundlegende Systemveränderungen herbeiführen oder der Verfassung neuartige Elemente oder Inhalte hinzufügen. Bleiben sie unberücksichtigt, besteht die Gefahr, dass die historischen Darstellungen von falschen Voraussetzungen ausgehen. Auch das Grundgesetz war zur Zeit der Wiedervereinigung, wo die meisten historischen Werke enden, nicht mehr das Grundgesetz von 1949. Ab einer gewissen Menge oder Intensität können Verfassungsänderungen die Frage nach der Identität einer Verfassung aufwerfen.[7]

Gerade gewichtige Verfassungsänderungen deuten zudem auf sozialen Wandel hin, aus dem Probleme erwachsen, deren politische Bearbeitung eine Änderung der Verfassung voraussetzt. Desgleichen können sie ein Indiz für Wertewandel in der Gesellschaft sein, der auf verfassungsrechtliche Hindernisse stößt oder nach verfassungsrechtlicher Anerkennung verlangt. Kämpfe um Verfassungsänderungen, wie zum Beispiel um das Asylrecht in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, können Machtverschiebungen oder Machtbehauptungen sichtbar machen. Es ist sogar möglich, dass die Regelung des Änderungsverfahrens einen eigenständigen Grund für Versteinerungen, Anachronismen, Fehlentwicklungen im politischen System bildet. Die Verfassung der USA mit ihren außergewöhnlich hohen Hürden für Änderungen in Art. V liefert dafür zahlreiche Beispiele.

Das ist indes nicht der einzige Grund dafür, dass die Geschichtswissenschaft es bei der Beschreibung des Grundgesetzes nicht bewenden lassen kann. Es erschöpft sich ja nicht in dem einmaligen Vorgang der Organisation der Staatsgewalt, sondern regelt auch, mehr oder weniger dicht, ihre Ausübung, formell durch Kompetenzzuweisungen und Verfahrensvorschriften, materiell durch Staatszielbestimmungen und Grundrechte, nicht selten auch durch Handlungsaufträge für die Politik. Die künftige Entwicklung ist damit nicht festgelegt. Verfassungen sind Rahmenordnungen, kein Vollzugsplan. Sie sollen Politik ermöglichen, anleiten und begrenzen, aber nicht ersetzen. Sie schließen bestimmte Optionen aus und schreiben andere vor. Dazwischen öffnet sich ein breiter Raum für politische Gestaltung, je nach den Präferenzen der Bürger, die in der Wahl zum Ausdruck gekommen sind, oder den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, die sich herausgebildet haben, aber eben ein von der Verfassung strukturierter Raum.

Dass alles so kommt wie in der Verfassung vorgesehen und sie deswegen nicht weiter der Rede wert ist, kann allerdings nicht unterstellt werden. Das Grundgesetz ist ja wie jede Verfassung zunächst einmal nur ein Text, allerdings ein Text, dem Geltung im Rechtssinn zukommt. Er tritt der Wirklichkeit mit Ansprüchen entgegen, deren Einlösung verpflichtend ist. So wie es das Grundgesetz vorschreibt, soll es tatsächlich sein. Der Text genügt sich also nicht selbst. Er ist auf Verwirklichung sowohl angelegt als auch angewiesen. Das hat der Staatsrechtslehre niemand so eindringlich in Erinnerung gerufen wie Konrad Hesse.[8] Geltung und Wirkung müssen auseinandergehalten werden. Ließe man es bei dem Geltungsanspruch des Grundgesetzes bewenden, würde man dem Wirklichkeitsbezug von Verfassungen nicht gerecht. Als Faktor für die geschichtliche Entwicklung kämen sie nicht in den Blick.

Verwirklichung heißt nichts anderes, als dass die im Text erhobenen Forderungen von seinen Adressaten befolgt werden. Zwischen den normativen Anspruch und die empirische Wirklichkeit müssen also Handlungen treten, die beide zur Deckung bringen. Die Norm kann sie zwar verlangen, aber nicht selbst vornehmen. Rechtliche Geltung und faktische Umsetzung liegen auf verschiedenen Ebenen. Dass es zur Deckung kommt, ist nicht ausgemacht. Im Zuge der Verwirklichung trifft die Verfassung vielmehr auf eine ihr vorausliegende Wirklichkeit, die sich als widerständig erweisen kann, weil sie anderen Logiken folgt als der rechtlichen, nämlich politischen, ökonomischen, religiösen usw. In der Angewiesenheit der Verfassung auf Verwirklichung ist daher von vornherein die Möglichkeit inbegriffen, dass sie nicht oder nicht vollständig oder nicht so wie vorgestellt verwirklicht wird.

Verfassungen, heißt es, müssen sich bewähren. Bewährung ist eine Frage der Zeit. Endgültig lässt sie sich erst beantworten, wenn die Verfassung nicht mehr in Kraft ist. Ein guter Text ist noch kein Garant für Bewährung. Es scheint zwar unwahrscheinlich, dass ein missglückter Text sich bewährt. Der Umkehrschluss gilt aber nicht. Es kann durchaus sein, dass ein geglückter Text sich nicht bewährt. Lange nahm man an, dass der Grund für das Scheitern der Weimarer Republik in den Mängeln ihrer Verfassung zu suchen sei. Auch der Parlamentarische Rat war bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes nicht frei von dieser Annahme. Mittlerweile hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Weimarer Verfassung keine schlechte Verfassung war, aber auf ungünstige Bedingungen traf, die ihrer Bewährung im Wege standen.[9] Bewährung entscheidet sich in dem Dreieck aus dem Text der Verfassung, den Herausforderungen, die an sie herantreten, und den Antworten, die ihre Interpreten darauf geben.[10]

Im Extremfall kann es sein, dass eine in Geltung gesetzte Verfassung völlig wirkungslos bleibt, etwa weil sie gar nicht in Verwirklichungsabsicht erlassen wurde, sondern nur den Anschein von Verfassungsstaatlichkeit erwecken sollte, oder weil sie ihre Wirkung später verliert, etwa wenn ihre Gegner an die Macht gelangen und die Verfassung ignorieren oder denaturieren, so wie es 1933 in Deutschland geschah. Dann gilt eine Verfassung als gescheitert. Ähnlich verhält es sich, wenn eine Verfassung von den Handelnden nur insoweit als bindend betrachtet wird, wie sie eine ihr übergeordnete Zielvorstellung nicht behindert. Dabei kann es sich um religiöse Wahrheiten oder politische Ideologien handeln, nicht selten aber auch um bloße Macht- oder Besitzinteressen der Herrschenden. Ferdinand Lassalle nannte das in seiner berühmten Rede von 1862 die «wirkliche Verfassung».[11]

Auch dort, wo die Verfassung nicht nur zum Schein oder unter Vorbehalt angenommen wird, besteht aber die Möglichkeit, dass die Verwirklichung lückenhaft bleibt. Damit sind nicht einzelne Verstöße gegen überwiegend befolgte Verfassungsnormen gemeint. Solche Verstöße lassen sich auch in funktionierenden Verfassungsstaaten nicht ausschließen. Rechtsgesetze sind keine Naturgesetze. Die Verwirklichung der Verfassung ist vielmehr erst tangiert, wenn Verstöße habituell werden, sich strukturell verfestigen oder wenn wesentliche Teile der Verfassung gänzlich unbeachtet bleiben oder systematisch verzerrt werden, oder wenn eine Institution, welche in der Verfassung vorgesehen ist, nicht eingerichtet oder so ausgestaltet wird, dass sie wirkungslos bleibt, desgleichen wenn Handlungsaufträge der Verfassung nicht ausgeführt werden.

Dabei kann es freilich erhebliche Gradunterschiede geben. Die Folgen ausbleibender Verwirklichung können variieren, je nachdem ob das Versäumnis einen zentralen oder einen peripheren Teil der Verfassung betrifft. So ist die ursprüngliche Intention des Grundgesetzes nicht nachhaltig dadurch beeinträchtigt worden, dass das in Art. 95 GG vorgesehene Oberste Bundesgericht, das Widersprüche in der Rechtsprechung der verschiedenen Bundesgerichte ausräumen sollte, nie eingerichtet wurde.[12] Anders verhält es sich aber damit, dass an dem in Art. 117 GG festgesetzten Stichtag des 31. März 1953 die familienrechtlichen Bestimmungen des BGB, die der in Art. 3 Abs. 2 GG erklärten Gleichberechtigung von Mann und Frau entgegenstanden, vom Gesetzgeber nicht beseitigt worden waren.[13] Art. 3 Abs. 2 GG war eine hart erkämpfte und von beträchtlicher Anteilnahme in der Bevölkerung unterstützte Errungenschaft des Grundgesetzes.

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird oft mit dem Begriffspaar Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit zu erfassen gesucht. Auch die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik verwendet es, wenn sie zeigen möchte, dass das Grundgesetz nicht immer hält, was es verspricht. Indessen sind Verfassungsverletzung und Verfassungswirklichkeit zweierlei. Verfassungswirklichkeit ist eine Folge des Umstands, dass Verfassungen vielfach Bedingungen für politisches Handeln aufstellen, ohne es umfassend oder abschließend zu determinieren, oder Handlungsoptionen eröffnen, ohne ihre Wahrnehmung vorzuschreiben. Andernfalls wäre Politik nur Verfassungsvollzug und Demokratie überflüssig. Stets sind mehr Handlungsmöglichkeiten zulässig, als verwirklicht werden können. Mit Verfassungswirklichkeit hat man es zu tun, wenn sich unter den Gestaltungsmöglichkeiten, die eine Verfassung eröffnet, eine Alternative zeitweise oder dauerhaft durchsetzt.

In dem offen gelassenen Bereich können sich dann Usancen einspielen, Praktiken ausbilden, Machtverhältnisse verfestigen, die von der Verfassung zugelassen werden, sie unter Umständen auch strapazieren, aber nicht verletzen. Sie sind durch Regelungen der Verfassung bedingt, aber nicht abschließend determiniert. Wenn die Historiker die Bundesrepublik gern als «Kanzlerdemokratie» beschreiben, handelt es sich um einen solchen Fall. Das Parteiensystem ist ein anderer. Die Gründungsfreiheit für politische Parteien, die Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert, bedeutet zugleich, dass das Parteiensystem der politischen Entwicklung überlassen wird. So war etwa das Drei-Parteien-System zwischen 1961 und 1983 bundesrepublikanische Verfassungswirklichkeit. Zu einer Strapazierung führte beispielsweise die Praxis der 90er und frühen 2000er Jahre, gesetzliche Regelungen durch informelle Absprachen mit den Problemverursachern zu ersetzen, weil damit Anforderungen von Demokratie und Rechtsstaat umgangen wurden.[14]

Es kann aber auch sein, dass von einer verfassungsrechtlichen Option kein Gebrauch gemacht wird, wie etwa von der in Art. 15 GG eröffneten Möglichkeit, Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zu vergesellschaften. Die Möglichkeit wird durch Nichtgebrauch nicht obsolet, sondern kann jederzeit genutzt werden. Ebenso kommt es vor, dass sich für verfassungsrechtliche Regelungen kein Anwendungsfall ergibt. So musste beispielsweise die besonders gerühmte Neuerung des konstruktiven Misstrauensvotums bisher nicht dazu dienen, den Sturz einer Regierung durch eine negative Mehrheit, die selbst nicht zur Regierungsbildung im Stande war, zu verhindern. Die Regelung kam jedoch in einer Fallkonstellation zur Anwendung, die mit der ursprünglichen Intention nichts zu tun hatte, nämlich um eine Auflösung des Bundestages zu ermöglichen, obwohl der Kanzler seine parlamentarische Mehrheit nicht verloren hatte.[15]

Dass die von der Verfassung postulierte Entsprechung von Norm und Wirklichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt erreicht sein könnte, ist nicht zu erwarten. Einen solchen Stillstand verhindert schon der ständige soziale Wandel, der immer neue Aktualisierungen der Verfassung verlangt. Die Entsprechung bleibt als Anspruch an die Wirklichkeit und Maßstab ihrer Beurteilung präsent. Stets wird die Wirklichkeit an der Verfassung gemessen, und stets werden neue Verwirklichungsdefizite aufgespürt und neue Forderungen aus ihr abgeleitet. Verfassungen können als Triebkräfte wirken. Im politischen Prozess sucht man mit der Berufung auf die Verfassung, Forderungen Legitimität zu verschaffen und diejenigen, welche sie ablehnen, ins Unrecht zu setzen. Unter Berufung auf die Verfassung werden andererseits solche Forderungen zurückgewiesen. Das Verwirklichungspostulat der Verfassung ist auf Dauer gestellt.

Ist die Verfassung in Kraft getreten, wird die Verfassungsgeschichte also zur Verwirklichungsgeschichte. Dass sie gelingt, ist selbst in funktionierenden Rechtsstaaten keine Selbstverständlichkeit. Obwohl der Sinn von Verfassungen nicht allein in der Beschränkung politischen Handelns liegt, sondern auch in seiner Ermöglichung und Legitimierung, werden Verfassungsnormen in der konkreten Handlungssituation doch häufig als Restriktionen erfahren. Verfassungen verlangen von der Politik ja nicht weniger als die Relativierung der Eigenlogik des politischen Systems durch die systemfremde Logik des Rechtssystems. Im Verfassungsstaat genügt nicht die Überzeugung, dass eine politische Maßnahme notwendig, zweckmäßig, vorteilhaft ist, sie muss auch verfassungsmäßig sein, und beides befindet sich nicht von vornherein in Übereinstimmung. Verwirklichungsgeschichte ist daher nicht nur eine Geschichte des Wie, sondern auch des Ob.

Gehen Verstöße gegen Rechtsnormen von Privaten aus, kann der Staat das Recht mit seiner Zwangsgewalt durchsetzen. Beim Verfassungsrecht ist das anders. Im Unterschied zum Gesetzesrecht, mit dem das Verhalten Privater sowie untergeordneter staatlicher Stellen geregelt wird, richtet sich das Verfassungsrecht an die Inhaber der Staatsgewalt selbst einschließlich ihrer obersten Organe. Adressat und Garant des Rechts fallen hier also in eins. Eine übergeordnete Durchsetzungsinstanz gibt es nicht. Schon die frühen Verfassungen enthielten daher Bestimmungen zum Schutz oder zur Sicherung der Verfassung. Im 19. Jahrhundert waren sie überwiegend strafrechtlicher Art. Die vorsätzliche Verletzung der Verfassung durch Minister konnte – meist vor Sondergerichten – geahndet werden. Zu Verurteilungen kam es jedoch selten, und schon gar nicht ließ sich der verfassungswidrige Akt mit der Bestrafung seines Urhebers aus der Welt schaffen.

Heute hat sich die Verfassungsgerichtsbarkeit als Mittel zur Durchsetzung der Verfassung auch gegenüber den obersten Trägern der Staatsgewalt weithin etabliert. Allerdings können Verfassungsgerichte das Problem nur abmildern, nicht beseitigen. Sie sind zwar befugt, Rechtsakte, welche gegen die Verfassung verstoßen, für ungültig zu erklären, aber nicht in der Lage, die realen Folgen ihrer zeitweiligen Anwendung zu beseitigen. Sie können die politischen Organe in konkreten Fällen zu Handlungen oder Unterlassungen verpflichten, die von der Verfassung gefordert werden, aber nicht im realen Sinn zwingen. Die Zwangsmittel bleiben in den Händen der obersten Organe, letztlich der Exekutive. Verfassungsgerichte sitzen ihr gegenüber am kürzeren Hebel. So wie es wirkungsarme Verfassungen gibt, gibt es auch wirkungsarme Verfassungsgerichte. Wo sie die Chance haben, ihre Funktion zu erfüllen, und sie auch wahrnehmen, hat das aber erhebliche Konsequenzen.

Änderte sich mit dem Übergang vom absoluten Staat zum Verfassungsstaat das Verhältnis von Recht und Politik grundlegend,[16] so trat mit der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit abermals ein fundamentaler Wandel ein. Das zeigt sich an der Geschichte der Bundesrepublik mit besonderer Deutlichkeit. Durch die Existenz des Bundesverfassungsgerichts gewinnt die Frage, was das Grundgesetz verlangt, erlaubt oder untersagt, gesteigerte Relevanz. Die Verfassung, die bis dahin nur «als reine Sollensordnung» vorgelegen hatte, wurde erst durch die Verfassungsgerichtsbarkeit «zu einem ‹richtigen› harten Recht mit juristischem Biss», bemerkt Rainer Wahl; die Verfassung habe dadurch eine «neue Entwicklungsstufe» erreicht.[17] Da zudem die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts jedermann offensteht und weidlich genutzt wird, ist das Grundgesetz allgegenwärtig, und die Frage, ob politische Vorhaben verfassungsmäßig oder verfassungswidrig sind, ist im öffentlichen Diskurs ständig präsent.

So leicht die Frage sich stellt, so schwer ist doch oft die Antwort. Das hängt mit der Funktion der Verfassung zusammen. Als rechtliche Grundlage der politischen und gesellschaftlichen Ordnung hat sie in weiten Teilen eher Prinzipien- als Regelcharakter. Ihre Vorschriften sind daher erheblich abstrakter und vager formuliert, als das bei gewöhnlichen Gesetzen der Fall ist. Insbesondere Staatsziel- und Staatsstrukturbestimmungen wie Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat sind äußerst unbestimmt. Ähnlich verhält es sich mit den Grundrechten, die ihr Schutzobjekt oft nur mit einem Wort bezeichnen: Würde, Religion, Kunst oder Beruf, diese dann für frei oder unverletzlich erklären und eine meist sehr allgemein gehaltene Beschränkungsermächtigung hinzufügen. Ihre Bedeutung in Bezug auf konkrete Fälle erschließt sich selten unmittelbar aus dem Wortlaut. Sie sind hochgradig konkretisierungsbedürftig, ehe sie auf die zu entscheidenden Fälle angewandt werden können.

Die Grunderfahrung im Umgang mit Verfassungsnormen ist daher, dass die Lektüre Zweifel über ihren Sinn angesichts konkreter Fälle hinterlässt. Was bedeutet die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 GG für ein Gesetz, das der Luftwaffe den Abschuss eines von Terroristen gekaperten Passagierflugzeugs erlaubt? Was bedeutet die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete freie Entfaltung der Persönlichkeit für ein Gesetz, das eine Volkszählung anordnet und dabei auch nach Wohnverhältnissen, Ausbildungs- oder Arbeitsstätte usw. fragt? Was bedeutet die Freiheit des Glaubens in Art. 4 Abs. 1 GG für die Frage, ob eine Gerichtsreferendarin muslimischen Glaubens im Gericht ein Kopftuch tragen darf? Was bedeutet die Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG für die Höhe der Rundfunkgebühr? Was bedeutet es, dass der Kunstfreiheit und der Religionsfreiheit keine Schrankenklausel beigefügt ist? Darf man unter Berufung auf diese Rechte alles?

Das sind durchweg Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, und die mittlerweile 158 Bände seiner Entscheidungen sind voll von solchen Fragen, bei denen der Wortlaut des jeweiligen Grundrechts zwar den Anknüpfungspunkt für die Interpretation bildet, aber keine entscheidende Hilfe bei ihrer Durchführung ist. Das heißt freilich nicht, dass sich aus der Verfassung keine Antwort auf derartige Fragen ergibt und das Verfassungsgericht seine Unzuständigkeit erklären muss. Es bedeutet vielmehr nur, dass unter Umständen lange Ableitungsketten notwendig sind, ehe die Kluft zwischen der unbestimmten Norm und dem Fall, der zur Entscheidung ansteht, überbrückt ist. Die Fälle, in denen nur eine einzige Deutung möglich erscheint, sind im Verfassungsrecht die Ausnahme. Auch unter den acht Richtern der beiden Senate herrscht nicht immer Einigkeit, ohne dass sich eine Seite notwendig im Irrtum befindet.

Verfassungsinterpretation ist zwar nicht beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert. Sie findet überall statt, wo es in Handlungssituationen auf die Anforderungen der Verfassung ankommt, also vor allem bei den Staats- und Verwaltungsorganen, die ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen wahrnehmen, aber ebenso bei den Bürgern oder gesellschaftlichen Organisationen, die ihre grundgesetzlichen Rechte verteidigen, und den Rechtsabteilungen und Anwälten, die sie dabei beraten und vertreten, usw. Aus der «offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten»[18] ragt jedoch in politischen Systemen mit Verfassungsgerichtsbarkeit wie der Bundesrepublik das Verfassungsgericht heraus, weil es in Verfassungskonflikten das letzte Wort hat, so dass sich die anderen Interpreten nach ihm richten müssen. Man kann daher sagen, dass das Grundgesetz im Ergebnis so gilt, wie das Bundesverfassungsgericht es versteht.

Die Verfassungsrechtsprechung wäre deshalb in ihrer Bedeutung unterschätzt, wenn man sie lediglich als «bouche de la loi» wahrnähme, welche die Vorentscheidungen des Verfassungsgebers in konkreten Fällen ohne eigenes Zutun zur Geltung bringt. Verfassungsanwendung ist nicht bloß die Aufdeckung eines in der Norm schon immer deponierten Sinns. Der Sinn der Norm wird vielmehr im Prozess ihrer Anwendung zum größeren oder kleineren Teil erst konstituiert. Hier kommt es nicht auf das Legitimationsproblem an, das sich aus der Determinationsschwäche des Verfassungstextes für die Verfassungsgerichtsbarkeit ergibt, sondern darauf, dass die Verfassungsrechtsprechung als ein zwar verfassungsrechtlich gebundener, aber nicht vollständig bestimmter Vorgang einen eigenständigen Faktor der Verfassungsverwirklichung bildet, der nicht im Nachvollzug einer Anordnung des Verfassungsgebers aufgeht und auch in seiner Wirkung nicht auf den Anlassfall beschränkt bleibt.

Wenn Gesetze Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung sind, ergibt sich das schon daraus, dass ein verfassungswidriges Gesetz nicht bloß im konkreten Fall außer Acht gelassen, sondern aufgehoben wird und damit auch auf künftige Fälle nicht mehr angewendet werden darf. Aber auch unabhängig von der Frage der Nichtigkeit oder Fortgeltung eines Gesetzes reicht die Wirkung verfassungsgerichtlicher Urteile oft weit über den Anlassfall hinaus und bestimmt die Strukturen ganzer Sozialbereiche, zum Beispiel des Medienwesens, verlangt Anstrengungen, zum Beispiel für den Klimaschutz, verändert Praktiken, zum Beispiel beim Umgang mit Bürgerprotest, erzwingt großflächige Schutzkonzepte, zum Beispiel beim Datenschutz. Diese Fernwirkungen ergeben sich oft nicht aus dem Urteilsausspruch, dem Tenor, sondern aus den Gründen, die, soweit sie tragend sind, ebenfalls an der Bindungswirkung teilnehmen. Sie dürfen deswegen bei der Frage nach den Auswirkungen der Verfassungsrechtsprechung nicht übergangen werden.

Wer zum Beispiel das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag mit der DDR,[19] das in den meisten historischen Werken vorkommt, nur nach dem Tenor – der Vertrag ist mit dem Grundgesetz vereinbar – beurteilte, hätte Wesentliches versäumt, denn die gesamte Begründung ist darauf ausgerichtet, die Politik auf das Wiedervereinigungsziel zu verpflichten. Das wurde nur durch Erhebung der Präambel des Grundgesetzes, von der man bis dahin überwiegend gemeint hatte, dass sie nicht am Rechtscharakter der Verfassung teilnehme, zu geltendem Recht möglich. In einer Zeit, als man sich mit der Teilung Deutschlands abzufinden begann, war das dem Gericht so wichtig, dass es sich zu dem außergewöhnlichen Schritt entschloss, sämtliche Gründe zu tragenden zu erklären. Die Fernwirkungen dieses Urteils reichten bis zur Entscheidung über den Modus der Wiedervereinigung.[20]

Die Verfassungsrechtsprechung bleibt schließlich nicht ohne Auswirkung auf die Machtbalance zwischen den Organen des Staates. Mit jeder interpretatorisch vorgenommenen Bedeutungsanreicherung des Grundgesetzes erweitert sich zugleich der Aktionsradius des Bundesverfassungsgerichts zulasten des parlamentarischen Handlungsspielraums. Das ist nicht die Intention, wohl aber der Effekt einer auf Maximierung der verfassungsrechtlichen Wert- oder Zielvorgaben bedachten Verfassungsrechtsprechung. Bei der Grundrechtsjudikatur wird das besonders spürbar. Aufgrund der Karlsruher Rechtsprechung darf der Gesetzgeber einerseits weniger tun, als ihm der Verfassungstext zu erlauben scheint; andererseits muss er mehr tun, als er aus eigenem Antrieb möchte. Deswegen wird die Verfassungsgerichtsbarkeit immer auch unter Demokratiegesichtspunkten diskutiert.[21]

Nach dem Inkrafttreten der Verfassung wird also ihre Auslegung und Anwendung zur entscheidenden Quelle und hier wiederum vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Für die Geschichtswissenschaft folgt daraus, dass sie bei der Beschäftigung mit den Wirkungen des Grundgesetzes die eigenständige Rolle der Verfassungsinterpretation und Verfassungsrechtsprechung in Rechnung stellen muss. Die Verfassung als Faktor der geschichtlichen Entwicklung erfährt durch die Verfassungsgerichtsbarkeit eine entscheidende Verstärkung. Der Weg, den das Gericht dabei einschlägt, ist selten alternativlos. Er beruht in der Regel auf einem möglichen Verfassungsverständnis unter anderen. Für die geschichtliche Betrachtung ist daher das Bewusstsein wichtig, dass es auch anders hätte kommen können mit allen Weiterungen, die das für den Verlauf der Entwicklung gehabt haben würde.[22] Ab Kapitel VII dieses Buches wird es hauptsächlich darum gehen, welchen Niederschlag das in den Darstellungen der Historiker gefunden hat.

Ohne die dominierende Rolle der Verfassungsrechtsprechung in der Bundesrepublik, die die Relevanz der Verfassung für das Publikum alltäglich erfahrbar machte, wäre es schwer vorstellbar, dass das Grundgesetz sich so tief ins Bewusstsein der Bevölkerung eingeprägt hätte, wie das im Lauf der Zeit geschehen ist. Hieran zeigt sich, dass sich seine Bedeutung nicht in den rechtlichen Wirkungen erschöpft, sondern auf weitere Dimensionen erstreckt. Das Wort «Verfassungspatriotismus» ist bereits gefallen.[23] Es deutet an, dass es dabei um einen affektiven Bezug zum Grundgesetz geht. Es wirkt nicht allein auf der juristischen, sondern auch auf der symbolischen Ebene.[24] Das ist möglich, wenn es einer Verfassung gelingt, für mehr zu stehen als ihren juristischen Inhalt, namentlich wenn die Bevölkerung in ihm ihre Leitvorstellungen von einer gerechten politischen und sozialen Ordnung widergespiegelt findet. Die Identität einer Gesellschaft speist sich dann zumindest auch aus ihrer Verfassung. Diese wird zum Integrationsfaktor.[25]

Dieser Effekt ist nicht zwangsläufig mit Verfassungen verbunden und war auch beim Grundgesetz nicht von Anfang an gegeben. Er setzt die juristische Wirksamkeit der Verfassung voraus. Auch diese erweist sich erst im Lauf der Zeit. Juristisch schwache Verfassungen böten keinen Anknüpfungspunkt für affektive Bindungen. Aber nicht jede juristisch effektive Verfassung ist schon deswegen auch symbolisch wirksam. Verfassungen können für die Identität und Integration einer Gesellschaft oder Nation irrelevant sein. Diese speisen sich dann aus anderen Quellen. Verfassungen können sogar den gegenteiligen Effekt haben, keine allgemeine Akzeptanz finden oder sie verlieren und dann desintegrativ wirken. Integration durch Verfassung ist die Ausnahme, nicht die Regel. Die USA waren lange Zeit das beste Beispiel für eine integrativ wirkende Verfassung. Die Bundesrepublik ist hinzugetreten.