Die Hoffnung stirbt am Bosporus - Yavuz Baydar - E-Book

Die Hoffnung stirbt am Bosporus E-Book

Yavuz Baydar

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Beschreibung

Die Politik der Türkei unter Erdogan und der AKP: Nach dem Putsch im Juli 2016 ließ Recep Tayyip Erdogan in der Türkei Tausende Menschen verhaften; regimekritische Medien wurden mundtot gemacht, und die Meinungsfreiheit wurde suspendiert. "Warum haben Menschenrechte und Demokratie in der Türkei keine Chance?", fragt Yavuz Baydar, ein im Exil lebender türkischer Journalist in seinem politischen Sachbuch. Um die Jahrtausendwende hatte die Hoffnung gekeimt, die Türkei sei auf dem Weg nach Europa. Das Land war nicht nur wirtschaftlich erstarkt; auch ein westlicher Lebensstil fand immer mehr Anhänger. Doch der Aufstieg des Recep Tayyip Erdogan vom Oberbürgermeister Istanbuls zum AKP-Vorsitzenden und Präsidenten machte dies zunichte und führte in die Diktatur. Yavuz Baydar, einer der führenden Journalisten der Türkei, beschreibt die Entwicklungen in der Türkei zwischen den Militär-Putschen von 1980 und 2016. So wird verständlich, warum Nationalismus und die autokratische Herrschaft à la Erdogan und seiner AKP eine größere Anziehungskraft haben als Demokratie, Menschenrechte und Pluralismus. Yavuz Baydar ist ein profilierter Kritiker der Politik von Recep Tayyip Erdogan und der AKP. Geboren 1956 in Istanbul, ging nach dem Putsch 1980 ins Exil. 1994 kehrte er in die Türkei zurück und war dort als Journalist tätig. 2016 emigrierte er 30 Stunden nach dem Putsch erneut, um seiner Verhaftung zu entgehen. "Die Türkei steuert auf ein Gestapo-Regime zu." Can Dündar, ehem. Chefredakteur von Cumhuriyet

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Yavuz Baydar

Die Hoffnung stirbt am Bosporus

Wie die Türkei Freiheit und Demokratie verspielt

Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Werner Roller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Um den Jahrtausendwechsel hatte die Hoffnung gekeimt, die Türkei sei endlich auf dem Weg nach Europa. Der Tiger am Bosporus war nicht nur wirtschaftlich erstarkt; auch westliche Werte und ein westlicher Lebensstil fanden immer mehr Anhänger. Doch der rasante Aufstieg Erdogans machte dies zunichte. Nach dem Putsch im Juli 2016 wurden Tausende Menschen verhaftet und regimekritische Medien mundtot gemacht. Wie konnte es dazu kommen? Yavuz Baydar, einer der führenden Journalisten der Türkei, beschreibt die Entwicklungen zwischen den Militärputschen von 1980 und 2016 und macht deutlich, was die Herrschaft Erdogans für die Türkei, ihre NATO-Partner und die EU-Staaten bedeutet – eine aufwühlende Analyse.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoNach FeierabendAus der FinsternisDie SchreckensherrschaftDer lange Weg nach HauseDas überhitzte SystemEin Schritt vorwärts, zwei zurückDank
[home]

Für Selim

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Wir sind, was wir denken.

Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken.

Mit unseren Gedanken formen wir die Welt.

Buddha

 

 

Memory is the personal journalism of the soul.

Richard Schickel

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Nach Feierabend

Wo um alles in der Welt war dieses Buch?

Ich war, gelinde gesagt, hektisch. Es kam auf jede Sekunde an, zumindest dachte ich das. Der Schweiß tropfte mir von der Nase. Es war heiß, es herrschte jene Art Hitze, die einen in Istanbul packt, wenn der Sommer seine Schwüle über die Stadt legt und man kaum atmen kann.

Ich hastete in der Wohnung umher und kramte eilig meine Siebensachen zusammen.

Dann hielt ich einen Augenblick lang inne.

»Wie ein Dieb, in meiner eigenen Wohnung«, sagte ich lachend zu mir.

Es war ein bitteres Lachen, das in der Leere widerhallte.

Es war Mittag. Draußen wurde die unerträgliche Luft von Stimmen belebt. Sämtliche Moscheen im Stadtviertel – so stellte ich mir zumindest vor – sandten von ihren Minaretten Gebete aus und wetteiferten in einer großen Kakofonie miteinander.

Seit Freitagabend war dies so – wenngleich es sehr ungewöhnlich war. Diese Gebete waren nicht die üblichen, mit denen die frommen Bürger zur Andacht gerufen wurden; es war jene Art von Gebeten, wie sie nur bei Beerdigungen und bei Versammlungen in den Moscheen am Freitagmittag skandiert wurden.

Es waren die asynchronen Stimmen von Imamen, die sich in Trauer befanden und einen unbehaglichen Gesang gen Himmel sandten.

Dieser Gesang währte nun ununterbrochen seit vielen Stunden; wenn ein Minarett fertig war, übernahm ein anderes, mit dem höchstmöglichen Lautstärkepegel.

Wo aber war jetzt dieses Buch?

In jenem Augenblick begann ich zu verzweifeln. Meine innere Stimme sagte mir, dass es falsch sei, ohne das Buch zu gehen. Ich war im Stress; in der Stadt herrschte Chaos, und ich würde es nicht so leicht in einer Buchhandlung finden, selbst wenn ich dafür riskierte, noch mehr Zeit zu verlieren.

Ich hatte mich mit dem Zusammensuchen und Packen beeilt und war fast fertig. Mein ganzes Gepäck und ein paar Kisten standen an der Tür bereit.

Dann erkannte ich, dass ich noch nicht in meinen Bücherregalen im Arbeitszimmer nachgesehen hatte. Könnte es dort vielleicht hinter den Geschichtsbüchern stehen? Aus Platzmangel standen manche Bücher in zwei Reihen hintereinander, sodass man nicht alle sah.

Und da war es.

Die Welt von Gestern von Stefan Zweig.

Hastig griff ich danach, packte es in eine meiner prall gefüllten Taschen, atmete tief durch und lief, begleitet von den wabernden Gebeten, ein letztes Mal durch die Zimmer. Eine Minute lang studierte ich die Einzelheiten im Zimmer meines Sohnes, dann ging ich ins Schlafzimmer, als ob ich mir alles ganz genau in mein Gedächtnis einprägen wollte.

Ich hatte Tränen in den Augen, da ich wusste, dass es ein endgültiger Abschied war, ein notwendiger Sprung ins Ungewisse, ein Schritt, der ein Kapitel in meinem Leben als Journalist und einfacher Bürger beenden würde.

Ein Augenblick des Abschieds von allem, was ich in der Hoffnung auf ein besseres Leben für mich und alle anderen über die Jahre aufgebaut hatte.

Das war’s.

Halt, nein, doch nicht.

Im Wohnzimmer fiel mein Blick auf eine Flasche. Es war mein Lieblings-Whiskey, ein sehr seltener Malt. Ich schnappte sie, ahnend, dass die kommenden zwei oder drei Stunden entscheidend sein würden. Irgendwie fühlte es sich sicherer an, zu wissen, dass auch diese Flasche irgendwo im Kofferraum war.

Ich schloss die Tür hinter mir.

Es kam mir vor, als senkte sich der Vorhang nach einem Akt in einem Theaterstück.

Als ich eilig den Wagen belud, bemerkte ich, dass niemand auf der Straße war. Nur ein paar im Schatten dösende Katzen scherten sich nicht um die Gebete.

Dann trat meine Nachbarin aus dem Stockwerk unter meiner Wohnung heraus. Im Vorbeigehen schenkte sie mir ein vielsagendes Lächeln: »Ich glaube, ich weiß, was du hier machst«, bedeutete es.

Ich wusste, dass sie unglücklich darüber war, wie ihr Land regiert wurde. Wir sagten kein Wort, vielleicht, weil wir beide fanden, dass es in jenem Augenblick nichts zu sagen gab. Wir sahen uns kurz an, dann ging sie über die Straße und verschwand.

Ich drehte den Zündschlüssel um. Der Tank war voll. Gut, dachte ich, so werde ich keine Zeit verlieren.

Eine Frage jedoch ließ mich nicht los.

Ich wusste, dass die Brücken über den Bosporus früh an jenem Tag wieder geöffnet worden waren. Am Freitagabend hatte man diese Verbindungen zwischen der asiatischen und der europäischen Seite gekappt. Ich lebte auf der asiatischen Seite und wollte in den Westen.

Allerdings wusste ich nichts vom Verkehrsaufkommen, von möglichen Straßensperren, Scharmützeln oder Schießereien. Die Emotionen kochten hoch, und eine gewisse Gesetzlosigkeit hatte die Stadt erfasst.

Nicht weit vom Fuß der mächtigen Nordbrücke blieb ich an einer Kreuzung stecken. Menschenmassen, fast allesamt Männer, hatten sich versammelt und blockierten wild diskutierend Teile der Straße. Aus einem Kiosk an der Ecke drang, für alle unüberhörbar, die zornige Stimme von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und übertönte die andauernden Gebete.

Ich brauchte etwa fünfzehn Minuten, um durch die Menge zu gelangen, die offensichtlich pro-AKP eingestellt war. Danach war ich im Handumdrehen auf der Brücke, wo der Verkehr reibungslos zu fließen schien.

Ich ging etwas vom Gas und blickte zu beiden Seiten über die prächtige Schönheit des sich nach Norden und Süden erstreckenden Meeresarms, der Asien von Europa trennt, die wundervollen Anwesen an den grünen Hängen und die weißen Boote, die träge dahintrieben und einen Streifen Schaum hinter sich ließen, während sie das Wasser wie ein Stück blauen Stoff zerschnitten.

Ich musste diesen Anblick so intensiv in mich aufsaugen wie möglich: Ich wusste nicht, wann oder ob ich ihn jemals wieder zu Gesicht bekäme.

Ich war nun wesentlich ruhiger. Mein Ziel war die westliche Grenzstadt Edirne, gut zwei Stunden entfernt. Ich machte Musik an, ohne zu wissen, welche CD im Abspielgerät war.

Eine Sekunde später ertönte Us and Them von Pink Floyd. Es war ein verblüffender Zufall, ein erstaunlicher Kommentar zum Geschehen.

Ich sang mit und trat aufs Gas.

* * *

Die vergangenen Stunden waren ein einziger Albtraum gewesen. Und wenn ich auf meine starke Intuition vertrauen konnte, würde er in eine entsetzliche Zukunft münden.

Zu Anfang war es ein angenehmer, warmer, leicht windiger Freitagabend; der Abend des 15. Juli 2016.

Wir saßen auf einem Balkon im Herzen Istanbuls. Ein Kollege – der Herausgeber eines der größten Medienunternehmen der Stadt – und seine Frau, eine Wissenschaftlerin und Dissidentin, hatten mich zu sich eingeladen. Ab und zu strich uns eine Brise sanft übers Gesicht und legte sich dann wieder.

Das Abendessen war köstlich, der Wein perfekt; die Unterhaltung war unbeschwert und die Witze äußerst fröhlich. Wir tauschten uns über den Stillstand in der türkischen Politik aus, klagten sarkastisch über die Bürde unseres Berufs, waren uns einig in unserem Zynismus, welch großer »Fehler« es gewesen sei, die journalistische Laufbahn einzuschlagen, und erfreuten uns nebenbei an allerlei Klatsch und Tratsch.

Ein wenig später, gegen zweiundzwanzig Uhr, piepte mein Mobiltelefon. Es war ein anderer Kollege und gemeinsamer Freund, der in Bodrum war. »Etwas Seltsames geht vor sich«, lautete seine Nachricht.

»Was?«, schrieb ich zurück.

»Offenbar herrscht Chaos auf der asiatischen Seite der südlichen Bosporusbrücke, Soldaten blockieren sie und rufen ›Kriegsrecht erklärt‹, alle sollen heimgehen. Könnt ihr das überprüfen?!«, fuhr er fort.

Das klang höchst bedenklich.

Er hatte immer schon einen sechsten Sinn gehabt; ich musste die Sache ernst nehmen.

Keine Minute später landete eine Nachricht mit einem Link zu einer aktuellen Mitteilung auf meinem Display.

Darin hieß es, dass es im Bezirk Beylerbeyi, unterhalb der Brücke, zu seltsamen Unruhen gekommen sei. Das war nicht weit entfernt vom Hauptquartier der 1. Armee und der Militärschule Kuleli.

Mein Kollege – wir saßen mittlerweile nur noch zu zweit am Tisch, da seine Frau zu Bett gegangen war – war jedoch skeptisch. Er war in einer Stimmung, die sich am ehesten mit folgenden Worten umschreiben ließe: »Das ist ein Land, das wie ein Irrenhaus wirkt, und es ist Freitagabend, warum also sollten wir das Ganze ernst nehmen?« Vielleicht dachte er, dass es wieder einen oder zwei Selbstmorde gegeben hätte. Die Bosporusbrücken sind für solche Akte berüchtigt.

Ich erhob mich vom Tisch.

»Ich glaube, da ist ein Staatsstreich im Gange«, sagte ich kühl zu ihm. »Ich werde das besser überprüfen. Und du rufst deine Redaktion an …«

Während mein Kollege zum Telefon griff, um mit seinen Mitarbeitern zu sprechen, nahm ich meinen Helm und sprang auf meinen Motorroller – der in den letzten vier Jahren mein Hauptverkehrsmittel gewesen war: eine persönliche Antwort auf den grauenhaften Istanbuler Verkehr.

Die Wohnung des Kollegen lag zehn Minuten vom »Schauplatz« entfernt. Bald war ich auf der Brücke, in der Hoffnung, dass mich mein Roller so nah wie möglich an die Soldaten heranbringen würde, die den Verkehr blockierten, die Menschen anwiesen, nach Hause zu gehen, und diejenigen bedrohten, die sich weigerten, das zu tun.

Ich stieß bis in ins Zentrum des Chaos vor, wo Autos und Lastwagen sogar noch mehr hupten als gewöhnlich. Mein Zweirad verschaffte mir zwar einen gewissen Bewegungsspielraum, doch selbst damit kam ich nicht viel weiter. Auf halbem Wege über die Brücke musste ich umkehren, als ich sah, wie Menschen in Panik zurückrannten.

Der Anblick war wirklich grotesk: Der Verkehr von Europa nach Asien war zum Erliegen gekommen, während er in die andere Richtung ganz normal floss.

Rasch entschied ich mich, in Richtung Nordbrücke zu fahren, in der Hoffnung, dass diese noch offen war und ich so näher an das Geschehen herangelangte. Ich hoffte außerdem, dass ich bald daheim sein würde – mein Zuhause lag nicht weit vom Epizentrum des Aufstands entfernt –, um Anrufe zu tätigen und zu schreiben.

Ich raste wie ein Verrückter, da hörte ich mein Handy klingeln und fuhr an den Straßenrand. Es war ein anderer Kollege, der von zu Hause anrief. »Ich glaube, ein Staatsstreich ist im Gange«, wiederholte ich meinen Verdacht.

»Ja, stimmt, es ist ein Putsch«, antwortete er ruhig. »Mach, dass du sicher und so schnell wie möglich nach Hause kommst, bevor die Brücken geschlossen werden«, drängte er mich. Wir wohnten nicht weit voneinander entfernt.

Die Fahrt von der Nordbrücke aus verlief relativ problemlos. Während ich mich durch den Stau manövrierte, sah ich nur ein paar Brückenwärter und Polizisten in Zivil herumrennen, die in ihre Handys und Walkie-Talkies sprachen.

Panik hatte sich ausgebreitet.

Auf der asiatischen Seite liegen die Enden der beiden Brücken etwa drei Kilometer auseinander. Genau in der Mitte befand sich die Militärschule Kuleli, wo Hunderte von Kadetten wohnten. Möglicherweise stand die Schule in einer Verbindung zu dem Umsturz – wenn es denn einer war.

Der Journalist in mir hatte inzwischen einen gewaltigen Adrenalinstoß erhalten. Was zum Teufel passierte da?

Ein Staatsstreich mitten in der Rushhour an einem Freitagabend?

Das ergab keinerlei Sinn.

Ich fuhr umgehend Richtung Meerenge (später erfuhr ich, dass zehn Minuten nachdem ich die Brücke überquert hatte, diese für den Verkehr von der asiatischen auf die europäische Seite gesperrt worden war), doch es gelang mir nicht, in die Nähe der anderen Brückenauffahrt zu gelangen.

Die drohende Gefahr, angekündigt von fernen Schüssen, lag nun spürbar in der Luft.

»Bis hierhin und nicht weiter«, sagte ich zu mir selbst. »Fahr nach Hause und such dort Schutz.«

Als ich zu Hause eintraf, klingelten meine Telefone wie verrückt. Freunde und Kollegen aus der Türkei und dem Ausland wollten wissen, was sich tatsächlich abspielte. Ich war nur dankbar, dass der Rest der Familie nicht da war. Meine Frau war am Ägäischen Meer und mein Sohn im Ausland. Das war mir eine gewisse Erleichterung.

Im Fernsehen herrschte Chaos.

Bald lauschte ich einer Fernsehsprecherin auf dem staatlichen Sender TRT, einer zitternden Dame, die (offenbar bei vorgehaltener Waffe) eine lange Verlautbarung der Putschisten verlas und dabei von einer Übernahme des Staates und der Regierung sprach.

Nur etwa eine Stunde später wurden private Nachrichtenkanäle wie CNN Türk von Soldaten gestürmt. Die Kameras übertrugen tumultartige Szenen zwischen unseren Kollegen – darunter auch jenem, der mich zum Abendessen eingeladen hatte – und dem Militär.

Während ich noch mit Telefonieren beschäftigt war, erschütterte ein gewaltiger Knall das Viertel und ließ meine Fenster zerspringen. Er kam von F-16-Kampfjets, die extrem tief über die Häuser hinwegflogen, offensichtlich, um die Menschen zu verängstigen.

Stundenlang ging dieser Lärm weiter und sandte Schockwellen über die Stadt.

Mitternacht war inzwischen vorüber, und die Ungewissheit wuchs. Präsident Erdoğan erschien via Mobiltelefon auf dem Sender CNN Türk und rief die Bürger dazu auf, auf die Straße zu gehen. In den frühen Morgenstunden gab es immer wieder Nachrichten, dass Ankara im Chaos versunken sei und das Parlamentsgebäude sowie Erdoğans grandioser Palast bombardiert würden.

Schlaflos und benommen trat ich im Morgengrauen auf den Balkon.

Von der einen Seite konnte ich aus einiger Entfernung Menschen »Allah-u Akbar« (Gott ist groß) rufen hören, begleitet von sämtlichen Moscheen des Bezirks, die über ihre Lautsprecher Gebete aussandten. Von der anderen waren entfernte Schüsse wie aus Gewehren zu vernehmen. Etwa dreieinhalb Kilometer entfernt direkt am Bosporus gelegen befand sich die Kadettenschule Kuleli in einem der Epizentren. Etwas ging dort vor sich, aber ich konnte nur erahnen, was es war.

Ich stand da, verwirrt und verdutzt, und sagte leise zu mir selbst: »Welch Grauen, welch bittere Ironie; mein Land steckt zwischen den Moscheen und den Kasernen fest! Was wir am meisten fürchteten, geschieht nun tatsächlich.«

* * *

Frühmorgens am Samstag, dem 16. Juli, setzte ich mich hin und begann meine Kolumne über diese ungeheure historische Torheit zu schreiben, die – meiner Meinung nach – in der modernen türkischen Geschichte nicht ohne Beispiel war.

Es war am 23. Januar 1913, als eine Gruppe Offiziere unter Führung von Talat und Enver – die später das taumelnde Osmanische Reich zu einer Allianz mit Deutschland und einer Rolle im Ersten Weltkrieg drängten und zwei Jahre darauf den Völkermord an den Armeniern verantworteten – die Hohe Pforte, den Sitz der Regierung, stürmten und den Großwesir (Ministerpräsidenten) Kâmil Pascha mit vorgehaltener Waffe zum Rücktritt zwangen. Fünf Monate später, am 11. Juni 1913, wurde auf Kâmils Nachfolger Mahmut Şevket Pascha ein Attentat verübt – eine Verschwörung der Opposition.

Die von der damaligen Militärjunta verhängten Gegenmaßnahmen waren rigoros. Enver und Talat führten in den Reihen ihrer politischen Gegner eine rücksichtslose Säuberung durch, liquidierten jeden, den sie als potenzielle Bedrohung sahen, und errichteten eine Einparteienherrschaft, die von 1914 an per Dekret regierte.

Dieses Vorgehen führte nicht nur zur Implosion des Osmanischen Reiches, sondern lieferte paradoxerweise auch die Vorlage für ähnliche Störakte in der gesamten Geschichte der modernen Türkei.

Mit anderen Worten: Was an jenem warmen Abend des 15. Juli geschah, an dem mindestens zweihundertvierzig Zivilisten ums Leben kamen und eine unbekannte Anzahl Soldaten gelyncht wurde, war nichts Neues. Nur ein großes Déjà-vu. Und ein entscheidender Wendepunkt, dessen Konsequenzen gewaltig sein könnten und die Türkei möglicherweise unumkehrbar verändern würden.

So lautete das Kernargument in meinem Kommentar.

Ich brachte meine Gefühle auf den Punkt, verurteilte die Putschisten mit scharfen Worten, bezeichnete ihr Handeln als »den schlimmsten vorstellbaren Akt des Bösen, der vernichtet, was immer von der bereits brüchigen, instabilen demokratischen Ordnung der Türkei übrig war«.

Dennoch verwirrte mich – wie viele meiner wissbegierigen Kollegen – eine entscheidende Frage.

Wer war der Anführer dieser Putschisten?

In ihrem übers Fernsehen ausgestrahlten Manifest hatten sie Atatürks berühmten Ausspruch »Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt« zitiert und sich als »Rat für Frieden in der Heimat« bezeichnet.

Wer waren diese Offiziere?

Ein Staatsstreich ist bekanntlich eine ernste Angelegenheit, bei der es um Leben und Tod geht.

Um erfolgreich zu sein, musste man äußerst verschwiegen sein und mustergültig organisiert. Die Vorbereitungen mussten sorgfältig ausgeführt werden. Außerdem musste man wissen, wer nach erfolgter Übernahme wen ersetzen sollte.

Man benötigte eine Junta, einen zivilen Arm dieser Junta und auf allen örtlichen Ebenen Menschen in Bereitschaft. Man brauchte einen klaren Handlungsplan und eine transparente Kommandostruktur.

Und natürlich ein eindeutiges Motiv.

Sobald klar wurde, wie schlecht organisiert der Staatsstreich war, drängten sich diese Fragen immer mehr in den Vordergrund.

Wer war der Anführer?

Wer hatte, um es salopp zu sagen, »den Knopf gedrückt«?

Wer säße jetzt an der Spitze, wenn der Putsch erfolgreich gewesen wäre?

Ich war sicher, dass diese Fragen uns Journalisten und ausländische Türkeibeobachter noch eine Weile beschäftigen würden.

Allein die Choreografie des Aufstands war sehr undurchsichtig, sehr verwirrend: ein Rätsel.

* * *

An jenem Samstagmorgen gab es noch etwas anderes, etwas, das mich noch mehr beschäftigte als jede dieser Fragen.

Was würde nun geschehen?

Wenn dieser Akt von langer Hand geplant war, von welcher Seite oder welchen Akteuren auch immer, wie würde er sich dann auf uns Journalisten, auf die Intellektuellen und die Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft auswirken, die an vorderster Front schwere Kritik an der regierenden AKP und ihrem scheinbar allmächtigen Führer Erdoğan geübt hatten?

Was sollte ich nun tun? Wie sollten wir, als Teil des Kampfes um eine demokratische Ordnung, entscheiden?

Ironischerweise waren ich und eine Gruppe ausgewählter Journalisten an jenem Samstagmorgen zu einer Pressekonferenz mit Kemal Kılıçdaroğlu eingeladen, dem Führer der größten Oppositionsfraktion. Der Hauptpunkt auf seiner Agenda war das Versagen der türkischen Außenpolitik.

Natürlich wurde die Pressekonferenz abgesagt. Kılıçdaroğlu war zwar am Abend davor nach Istanbul gekommen, hatte jedoch in der Wohnung eines Parteifreundes nicht weit entfernt vom Flughafen Atatürk Unterschlupf suchen müssen und die ganze Nacht dort verbracht.

Als mein Artikel fertig und einige Interviews mit ausländischen Kanälen im Kasten waren, verließen mich die Kräfte. Ich nickte ein.

Als ich etwa eine Stunde später von einem Anruf geweckt wurde, packten mich die Fragen von Neuem.

Was hatten wir Journalisten zu erwarten?

Dutzende von uns saßen bereits im Gefängnis. Wer ein gutes Gedächtnis besaß, der erinnerte sich, dass spätestens die unterdrückerischen Maßnahmen im Gefolge der Gezi-Proteste im Sommer 2013 gezeigt hatten, dass der Journalismus als Beruf an sich in Gefahr war und dass diejenigen von uns, die um Freiheit und Unabhängigkeit kämpften, früher oder später mit Arbeitslosigkeit, wenn nicht gar langen Haftstrafen zu rechnen hatten.

Wochen vor dem Putschversuch hatte ich eine Unterhaltung mit einem gut bekannten Kollegen. Wir waren zwar nicht immer einer Meinung, doch wir teilten die Sorgen hinsichtlich unseres Berufsstands und waren uns einig, dass es für uns, wenn sich die Dinge so weiterentwickelten, unweigerlich nur einen Weg gab – nämlich, die Türkei zu verlassen.

Sowohl er als auch ich wurden von den Mächtigen »bestraft«, indem man uns die Möglichkeit zum Broterwerb raubte. Die Medien, für die wir schrieben, wurden eines nach dem anderen beschlagnahmt und geschlossen. Unsere Wege hatten sich in Schwermut getrennt.

Den ganzen Samstagvormittag lang sprach ich über eine sichere Telefonverbindung mit vertrauenswürdigen Freunden aus den Medien sowie einigen Oppositionspolitikern.

Alle waren ebenso ratlos und besorgt wie ich selbst.

Dann, etwa um die Mittagszeit, meldete sich meine Intuition. In den entscheidenden Phasen meines Lebens hatte sie mich noch nie im Stich gelassen. Ich war erleichtert, dass sie nun zurück war.

»Wie auch immer diese entsetzliche Prüfung ausgehen mag, werden doch du und andere Journalisten gezwungen sein, einen Preis zu zahlen«, sagte die innere Stimme. »Also entscheide dich. Das Gefängnis oder neue Möglichkeiten, in Freiheit über die Wahrheit zu berichten.«

Meine Entscheidung stand sofort fest.

Alles, was ich wusste, war, dass ich umgehend handeln musste. Doch bevor ich begann, meine Abreise in die Wege zu leiten, rief ich einige Kollegen an und riet ihnen diskret, sich möglichst aus der Gefahrenzone zu bringen.

Manche schenkten meinen Worten Aufmerksamkeit, andere nicht. Ich wusste, dass ich sie warnen musste. Ich hatte seit Jahren großen Respekt vor ihrem Engagement und ihrem Mut, ich sorgte mich um sie.

* * *

Die Nachmittagshitze in Edirne war noch heftiger als in Istanbul. Jedenfalls kam es mir so vor. Ich fuhr an der prächtigen Selimiye-Moschee vorbei – Sinans Meisterwerk – und machte sogar einen Umweg, um die restaurierte Große Synagoge, die drittgrößte in Europa, zu sehen. Ich liebte diese Stadt und wollte, vielleicht instinktiv, einige Bilder in mich aufsaugen, bevor ich weiterreiste.

Nun näherte ich mich dem Grenzposten, nicht wissend, was mich erwartete. Ich hatte absolut nichts Falsches getan, nichts Illegales, außer dass ich den universellen Prinzipien des Journalismus treu geblieben war. In den Augen der Mächtigen und angesichts der erbitterten Machtkämpfe bedeutete das jedoch überhaupt nichts.

Als kritischer Journalist war man nicht nur ein Nestbeschmutzer, sondern außerdem ein Krimineller – ein Terrorist, ein Spion, ein Feind des Volkes.

Als ich die Brücke über die Flüsse Tundscha und Mariza überquert hatte, lenkte ich den Wagen an den Straßenrand. Ich stieg aus, öffnete den Kofferraum, holte den Whiskey heraus und nahm ein paar kräftige Schlucke. Die Hitze in meinem Inneren kam nun der Hitze um mich herum gleich.

Ich war bereit für den entscheidenden Abschnitt.

Pazarkule ist ein kleiner Posten zwischen der Türkei und Griechenland, wo nur sehr wenige Lastwagen die Grenze überqueren, wenn überhaupt. Es ist dort für gewöhnlich ruhig. Meine Vorfahren stammen aus dem Westen Thrakiens, aus der Region Rodopi, wo die türkische Minderheit seit Jahrhunderten ansässig ist, und ich überquerte stets in Pazarkule die Grenze, wenn ich die alten osmanischen Bektaschi-Dörfer in den Bergen, historische Stätten in Didymoticho oder meine Verwandten in Komotini und Xanthi besuchen wollte.

Alle meine Papiere waren in Ordnung.

Trotzdem war ich nicht sicher, ob mein Pass nicht bereits für ungültig erklärt worden war – jetzt, 36 Stunden nach dem Putsch.

An der winzigen Grenzstation gab es keine Autoschlange; nur ein paar Soldaten auf ihren üblichen Wachposten.

Aus dem Zollbüro vernahm ich abermals die zornige Stimme Erdoğans. Ich händigte den Beamten meine Papiere aus.

Dem schloss sich eine Routineprozedur an. Kein Wort wurde gewechselt. Nichts. Das Geräusch der Stempel und ein knappes Dankeschön. Es dauerte nicht länger als zwei Minuten.

Im nächsten Moment befand ich mich in einem Café in dem griechischen Grenzörtchen am Fluss Arda, gleich bei der Brücke, in deren unmittelbarer Nähe er in die Mariza fließt, die eine natürliche Grenze zwischen der Türkei und Griechenland bildet, bis sie schließlich in die Ägäis mündet.

Das Café war halb voll, verschlafen; im Hintergrund summte ortstypische Musik.

Ich bestellte einen Kaffee.

Atmete tief durch.

Ich war in Freiheit.

In jenem Augenblick begriff ich, wie wichtig mir dieses Freiheitsgefühl mein ganzes Leben lang gewesen war; dass es mir mehr bedeutete als alles andere.

Es war und blieb von diesem Zeitpunkt an eine wegweisende Erkenntnis.

Mit dem Kaffee in der Hand ging ich in Richtung des Flusses.

Das Wasser floss träge dahin.

Da hatte ich einen Flashback.

Ein anderer Grenzposten, Kapikule/Svilengrad, wo die Bahnlinie nach Bulgarien führte, lag nur eine halbe Stunde entfernt.

Aber er war auch vierzig Jahre weit weg.

Ich erinnerte mich plötzlich an ein anderes Buch; eines in einem engen Zugabteil, mitten in der Nacht.

[home]

Aus der Finsternis

Mit einem rostigen Grollen fuhr der Zug durch die pechschwarze Nacht.

Es war unmöglich, die Landschaft Thrakiens draußen zu sehen. Gelegentlich zogen die fahlen, flackernden Lichter ferner Dörfer vorüber. Die Dunkelheit war Zeichen der Energieknappheit, die das ganze Land fest im Griff hatte.

Der neunzehnjährige Junge hatte in dem Sechserabteil einen Fensterplatz. Er hatte seinen geliebten Rucksack in die Gepäckablage gelegt, seinen dicken Mantel aber anbehalten, denn im Abteil war es kalt. So kalt wie draußen, dachte er.

Er wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Zwischen Angst und Hoffnung schwankend, versuchte er, niemandem in die Augen zu sehen. Er hatte sich fest vorgenommen, mit niemandem zu sprechen, bis der Zug die Grenze überquert hätte. Er tat sein Bestes, ein Pokerface aufzusetzen. Er wusste, dass die Welt um ihn herum von Misstrauen, Abgrenzung, Zorn und Hass überschattet war.

Einmal mehr prüfte er, ob sein Pass noch dort war, wo er ihn aufbewahrte, und schlug sein Buch auf – das einzige, das er auf die lange Reise ins Unbekannte mitgenommen hatte.

Es war Das Lied der Tausend Stiere von Yaşar Kemal, eines der Meisterwerke des Autors. Kemal war sein Held. Seit sein Vater eines Tages Anfang der Sechzigerjahre – er selbst war damals sechs oder sieben Jahre alt, er wusste es nicht mehr so genau – Kemals ersten meisterhaften Roman Memed mein Falke nach Hause gebracht hatte, las er alles, was der Autor schrieb.

Als ihn sein Vater mit Kemal »bekannt machte«, lebte die Familie in Eskişehir, einer Stadt zwischen Ankara und Istanbul, die einst hauptsächlich von osmanischen Armeniern bewohnt gewesen und später, während und nach Gründung der Türkischen Republik, zu einem Zentrum aller Arten muslimischer Auswanderer (Tataren, balkanische Moslems, Tscherkessen und andere) geworden war. Eskişehir war unerschütterlich kemalistisch, und die Anhänger Atatürks und ihre Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi – CHP) saßen dort traditionell fest im Sattel. Ihr säkulares Rückgrat machte die Stadt zudem offen und tolerant gegenüber der Linken, der auch Yaşar Kemal angehörte.

Es war jedoch etwas Verstohlenes dabei gewesen, wie der Vater an jenem Abend das Buch aus seiner Tasche gezogen hatte. Als ob es darum ginge, ein Familiengeheimnis zu wahren.

Damals wusste der Junge bereits, dass manche Bücher verboten waren, etwa die Gedichte von Nâzım Hikmet, der seit Jahrzehnten als Verräter angeprangert wurde. Wenig später brachte der Vater dann ein Buch von Hikmet mit und las es vor: Menschenlandschaften, ein episches Gedicht über Anatolien im Ersten Weltkrieg und in der Zeit danach. Es war einer der ersten Nachdrucke, ermöglicht durch eine neue, 1960 in Kraft getretene Verfassung.

Kemal entstammte derselben marxistischen Tradition wie Hikmet. Von seinen ersten Artikeln als Journalist bis in sein späteres Leben als Literat hinein stand er unter dauerhafter Überwachung durch die Behörden.

An jenem Abend versammelte der Vater die Familie um sich – seine Frau, die Schwiegermutter, den Sohn und dessen jüngere Schwester – und begann aus dem Roman vorzulesen.

Nie vergaß der Junge, wie sich ihm Seite um Seite, Detail für Detail die geheimnisvolle innere Welt Anatoliens öffnete, begleitet von der Baritonstimme seines Vaters. Allabendlich ging das Vorlesen weiter, bis zum Höhepunkt und gleichzeitigen Ende des Buches. Jahre später kam es ihm vor wie eine Art Treffen von Dissidenten in einem geheimen Versteck.

Seine anhaltende Verehrung Kemals hatte noch einen weiteren Grund. In einer Istanbuler Vorstadt, auf einem offenen, von und für Journalisten erbauten Anwesen, einer Ansammlung von Häusern nicht weit vom Flughafen, war Kemal Nachbar und enger Freund des ältesten Onkels des Jungen. Auch dieser war Journalist.

Der Junge verehrte seinen Onkel – einen freundlichen Mann mit sanfter Stimme – und seine kluge Art ebenso sehr, wie er dessen Töchter, seine beiden Cousinen, beneidete, die einen Großteil ihrer Zeit fast wie ein Teil von Kemals Familie verbrachten. Er selbst hatte nie Gelegenheit, Kemal kennenzulernen. Istanbul lag weit entfernt, und der Einzige, der ab und zu dorthin reiste, war sein Vater. Beim ersten Besuch, nachdem der Onkel als Kemals Nachbar eingezogen war, hatte der Vater des Jungen noch keine Ahnung, dass Kemal dort lebte. Als er zurück in Eskişehir war, erzählte er dem Sohn eine lustige Geschichte.

»Weißt du, was passiert ist?«, begann er. »Ich ging zum Wohnblock deines Onkels, und im Vorhof goss ein großer Mann in schäbigen Kleidern die Blumen. Als ich oben bei deinem Onkel eintraf, sagte ich zu ihm, wie wundervoll es sei, dass sie einen Gärtner hätten. Dein Onkel unterbrach mich rasch und sagte: ›He, das ist Yaşar Kemal. Er liebt die Blumen und die Pflanzen!‹«

So bekam Kemal einen besonderen Platz im Herzen des Jungen. Mit acht oder neun Jahren war dieser bereits ein eifriger Leser aller Arten türkischer Literatur, die mit dem Aufkommen neo-realistischer, linker Autoren einen Boom erlebte, doch er wusste, dass Kemal der mächtigste Geschichtenerzähler seiner Sprache war und sie wie kein anderer Schriftsteller beherrschte.

Obendrein war er auch der kühnste, was die Themenwahl betraf, wodurch er sich ständig auf dem Minenfeld politischer Unterdrückung bewegte. Kemal war Kurde (wenngleich er damals nicht öffentlich darüber sprach) und Gründungsmitglied der Türkischen Arbeiterpartei (TİP), die Mitte der Sechzigerjahre so populär geworden war, dass sie Einzug ins Parlament gehalten hatte – zum Schrecken der Rechten, die in jedem einzelnen Parteimitglied den Geist des Kommunismus vermutete.

Als führender Kopf der damals aufkeimenden progressiven Bewegungen war Kemal unter jenen Intellektuellen, die 1971, als das Militär die Regierung zur Machtaufgabe zwang, eines Tages zusammengetrieben und inhaftiert wurden.

Das unverzüglich verhängte Kriegsrecht brachte es mit sich, dass seine Bücher – wie viele andere – als eine Art Samisdat-Material angesehen und hier konfisziert, dort offiziell verboten wurden. Kemal ließ all das unberührt; als monumentale Gestalt der türkischen Literatur schrieb er einfach immer weiter.

Freilich war sich der Junge in dem Zug bewusst, dass das Mitführen eines solchen Buches, wie »legal« es auch sein mochte, per se eine Aussage über die von ihm angestrebte politische Identität darstellte. Er sah sich gern als der Linken zugehörig, obgleich er nicht genau wusste, warum. Aber er wusste, dass er ein Rebell war. Die Welt um ihn herum gefiel ihm ganz und gar nicht.

Er fürchtete, das Buch an sich könne die Aufmerksamkeit der Schaffner und Passbeamten erregen und ihn in Schwierigkeiten bringen, doch der Rebell in ihm sagte: »Lies weiter.« Also las er.

Da er mit den Routineabläufen nicht vertraut war, hatte er geglaubt, der Zug würde in Kapikule halten, dem türkisch-bulgarischen Grenzübergang, und dass es dort strenge Kontrollen geben würde.

Wie er später feststellte, hatte er sich geirrt. Während der Fahrt klopfte ein Polizeibeamter an die Tür und bat die Reisenden um ihre Dokumente. Aus einem Impuls heraus verbarg der Junge das Buch an seiner Seite und tat sein Bestes, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Er reichte dem Polizisten seinen Pass – ein vollkommen legales Dokument, doch man weiß ja nie, oder? Er glaubte immer noch, es handelte sich um eine Extrakontrolle vor der »richtigen« beim Grenzübertritt nach Bulgarien.

Der Beamte summte eine Melodie, ein Volkslied, dessen Namen der Junge vergessen hatte. Er unterhielt sich kurz mit einem Paar, das ihm erklärte, dass sie beide in Deutschland arbeiteten, wie sehr sie ihr Dorf vermissten und so weiter, und so fort. Dann ging er.

Der Zug fuhr immer weiter. Lange Zeit verging, vielleicht eine Stunde, und der Junge hatte keine Ahnung, wo sie gerade waren. Als das Grollen der Räder zu einem Quietschen wurde, hielt der Zug an einem von hellen Lampen erleuchteten Ort. Nichts geschah. Der Junge hörte Passagiere in ihren Abteilen murmeln, Geflüster. Wartezeit. Ein leichter Stoß ließ die Waggons erzittern, und es ging weiter.

Er schaute durchs Fenster.

Dann sah er einige Schilder.

Waren die nicht in einem anderen Alphabet beschrieben?

Ja!

Er war in Bulgarien. Wenig später stempelten die bulgarischen Beamten seinen Pass und bestätigten damit seine Einreise.

Freiheit!

Es war der 24. Januar 1976.

Nun könnte ihn der Zug überallhin bringen, dachte der Junge. Nach allem, was er in den vergangenen Wochen durchgemacht hatte, war er so erschöpft, dass er einschlief. Als er die Augen aufschlug, fuhr er durch Slowenien. Er bewunderte die Bergdörfer, die Landschaft, die so anders war als die Landschaften in Kemals Büchern.

Der Zug brachte ihn nach München, und am nächsten Tag reiste der Junge weiter nach Stockholm. Er hatte keine Ahnung, was als Nächstes kommen würde. Im Augenblick war die Freiheit genug, und er ließ sich von ihr leiten.

* * *

Ich merkte, dass ich auf den trägen Fluss starrte, und hob den Kopf aus den Tiefen der Erinnerung.

Hier war ich, am Anfang eines zweiten Fluchtzyklus, desillusioniert und angewidert vom Gebaren der türkischen Machthaber, jener mediokren, unqualifizierten Kader geistloser Politik, die beschlossen hatten, die Leben und die Hoffnungen ihres Volkes und dessen denkender Elite auf den Kopf zu stellen.

Ich sprang ins Auto, immer noch unter dem Eindruck meiner Erinnerungen, aus deren dunklen Winkeln die Gestalt des Jungen mit seiner Überlebensgeschichte aufgetaucht war.

An jenem kalten, pechschwarzen Februarabend vor vierzig Jahren hatte ich, der ich mein Buch in der Hand hielt und mit großen Augen furchtsam die finstere Landschaft beobachtete, natürlich noch keine Ahnung, welche Macht die Entscheidungen, das Glück und die verwirrenden Tricks des Schicksals besaßen.

Wie war ich in jenen Zug gelangt?

Man könnte sagen, es war die Schärfe der Politik, ihre Brutalität und Ungerechtigkeit, die mich in jenes Abteil gebracht hatten. Mehr als alles andere jedoch war es die Neugier auf ein Land, dessen Geschichten immer rätselhaft geblieben sind; dessen Geschichte interessant und dessen soziopolitischer Kurs stets zu flüchtig war, um sich in eine Schublade pressen zu lassen.

* * *

Meine Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen und zum Erwachsenen war eine Mischung aus Leben und Rebellion. Wie viele meiner Altersgenossen auf der ganzen Welt war ich in den Sechzigerjahren gelangweilt und fühlte mich am Ort meiner Geburt eingeengt.

Eskişehir war eine Provinzstadt mittlerer Größe und trotz ihres weltoffenen säkularen Charakters auf eine ihr eigene Weise konservativ. Der Alltag hatte klar definierte Schranken: Jungen konnten sich nicht ohne Konsequenzen mit Mädchen verabreden, es herrschte ein allgemeines Gefühl der Scham, allerorten wurde beobachtet und getratscht; was sich in der übrigen Welt ereignete, schien weit entfernt.

Doch wir genossen eine gute Allgemeinbildung. Unsere Lehrer waren allesamt unerschütterliche Anhänger von Mustafa Kemal Atatürk, glaubten fest an seinen Modernismus und waren den Grundsätzen der Aufklärung verpflichtet.

Wissen wurde wertgeschätzt, ebenso der Klassenwettbewerb, und alle Fächer wurden gefördert. Nur der Geschichtsunterricht stand, wie mir erst Jahre später klar wurde, im Widerspruch zu diesen universellen Lehren.

Wenngleich wir alle verpflichtet waren, jeden Morgen unser Schülergelöbnis zu singen, machten wir uns keine großen Gedanken darüber; es war eine sinnentleerte Routine:

Ich bin ein Türke, ehrlich und fleißig.

Mein Leitsatz ist es, die Jüngeren zu schützen,

die Älteren zu respektieren,

meine Heimat und mein Volk mehr zu lieben als mich selbst.

Mein Ideal ist es, zu wachsen, voranzuschreiten.

Möge meine Existenz der türkischen Existenz gewidmet sein.

Obendrein war es eine interessante Zeit in türkischen Mittelschulen und Gymnasien. Der Geist des ersten Militärputsches der modernen Republik am 27. Mai 1960 spiegelte sich auf besondere Weise in den Lehrplänen wider.

Der Staatsstreich hatte eine neue Verfassung hervorgebracht, die eine kontinuierliche Bevormundung der Zivilpolitik durch das Militär zementierte, indem sie einige Schlüsselinstitutionen wie den Senat und die Rechtsprechung heimlich mit einer »innerstaatlichen« Struktur verband (die später umgangssprachlich als der Tiefe Staat bezeichnet wurde), doch war es ihr ein Anliegen, den unverrückbar säkularen Charakter von Atatürks Gründungsprinzipien zu unterstreichen.

Als Folge davon war der Religionsunterricht an den Mittelschulen nicht verpflichtend. Andererseits war es nicht möglich, die »militärische Unterweisung« am Gymnasium zu umgehen, die von ausgewählten Offizieren der Provinzgarnison abgehalten wurde.

Meine Entscheidung war klar: Ich wollte den Religionsunterricht nicht besuchen. Als ich meinen Eltern diesen Entschluss mitteilte, gab es keinerlei Reaktion. Mein Vater, ein weltlich geprägter Mann, der lediglich im Monat Ramadan fastete und nur zu Begräbnisgebeten eine Moschee betrat, zuckte mit den Schultern.

»Das bleibt dir überlassen, aber nutze die Freizeit für etwas Nützliches«, sagte er. »Mach keinen Unsinn!«

Meine Mutter murmelte zwar etwas wie: »Wäre es nicht besser für deine Noten?«, aber das war es dann.

Später stellte ich fest, dass die meisten Schüler den Religionsunterricht besuchten. In meiner Klasse gab es nur zwei, die das nicht taten. Ich glaube, der andere hieß Haluk – ein stiller, nachdenklicher Junge. Ich weiß nicht, wie viele andere an unserer Schule sich für ein Fernbleiben entschieden hatten; jede Klasse hatte einen anderen Stundenplan, also mögen es ein paar gewesen sein.

Diese Wahlfreiheit wurde in säkularen Familien, wie es sie damals in ganz Anatolien gab, als normal betrachtet. Sie lebten ungestört, ohne Angst vor »nachbarschaftlichem Druck« oder übler Nachrede.

Es versuchte auch niemand, uns Kinder zum Besuch des Religionsunterrichts zu überreden.

Nur einmal, ganz am Anfang, traf uns der Religionslehrer, ein netter Mann mittleren Alters, kichernd auf dem Gang an. Bevor er das Klassenzimmer betrat, fragte er sehr freundlich: »Seid ihr Jungs euch sicher? Wenn ihr es euch anders überlegt, könnt ihr jederzeit zu uns stoßen …«

Kommt gar nicht infrage, dachten wir, und blickten in die andere Richtung.

Wir waren uns in unserem Entschluss sicher.

Und hatten jedes Mal, wenn der Religionsunterricht auf dem Stundenplan stand, einen Riesenspaß.

Wir spielten draußen auf dem Hof Fußball.

Niemand sprach über unsere selbst gewählte Abwesenheit.

Weder die anderen Lehrer noch unsere Klassenkameraden.

Wie ich mich heute erinnere, spielte es für die Mädchen und Jungen in unseren gemischten Klassen absolut keine Rolle, wer wer war. Wir hatten keine Ahnung von den Differenzen zwischen Sunniten und Aleviten. Wer säkular und wer fromm war, scherte uns nicht im Geringsten.

Es war schlicht nicht Teil unserer Welt.

Dasselbe galt für unsere Eltern. Ich erinnere mich an diese Tage als eine Zeit, in der sich jeder um seinen eigenen Kram kümmerte. Niemand scherte sich groß darum, wer in die Moschee ging, wer während des Ramadan fastete. Es war eigentlich auch egal, ob Frauen ein Kopftuch trugen oder nicht.

Meine Großmutter mütterlicherseits war vielleicht die Frömmste in der Familie, eine stille, freundliche Person, die uns ab und zu besuchte. Sie kleidete sich sehr konservativ und ging niemals ohne Kopftuch auf die Straße.

Sie war eine ausgezeichnete Köchin und verwendete Stunden darauf, Speisen für uns zuzubereiten. Wann immer Zeit fürs Gebet war, zog sie sich in eine Ecke der Wohnung zurück und ließ sich auch dann nicht stören, wenn wir um sie herumtobten.

Sie erzählte mir und meiner Schwester vom Leben des Propheten, und da sie Analphabetin war, bat sie mich, ihr Bücher über die Zeit Mohammeds vorzulesen. Die interessantesten Geschichten, die sie uns erzählte, waren die über das Jüngste Gericht. Sie waren richtig schaurig. Ich frage mich, woher sie die Details hatte, diese Bilder schieren Grauens in allen Einzelheiten. (Später entdeckte ich zu meiner Überraschung viele jener Einzelheiten in Elias Canettis Buch Masse und Macht).

Meine Mutter trug in der Öffentlichkeit unregelmäßig ein Kopftuch mit sehr losem Knoten. Ich konnte nie genau sagen, wann sie es trug und wann nicht. Ihr Haar war ein wenig zu sehen – nicht ganz strenggläubig, könnte man also sagen.

Meine Großmutter väterlicherseits verfuhr in dieser Hinsicht ebenfalls nach Lust und Laune. Ich erinnere mich, dass ich oft mit ihr zum Einkaufen in das konservative Viertel Fatih ging, wo ich zur Welt gekommen war – sie trug dabei nie ein Kopftuch.

Wenn Besuch zu uns nach Hause kam, gab es ein interessantes Muster: Waren die Männer Verwandte, egal ob nahe oder entfernte, bedeckten sich die Frauen nicht. Bei anderen schon.

Die Männer in unserer ziemlich großen Familie tranken fast alle gern Raki, und selbst meine fromme Großmutter fand es völlig normal, dass auf dem Esstisch Rakigläser standen. Es war nie ein Thema. (Im Ramadan wäre das anders gewesen, doch dann rührte ohnehin die vollen dreißig Tage lang niemand einen Tropfen an.)

Meine Familie stammte vom Balkan, sodass man darin leicht den Grund dafür sehen könnte, dass alles so unkompliziert war. Doch zumindest in Eskişehir war diese Lockerheit auch unter Familien mit anderen geografischen Wurzeln weit verbreitet.

Sie stand zum großen Teil in Einklang mit der damaligen Erziehung und mit der Organisation des öffentlichen Lebens. Innerhalb des Beamtenapparats, in den Bildungseinrichtungen, dem Rechtswesen und den örtlichen Verwaltungen wurde man zu einem strikt westlichen Dresscode ermuntert.

Mein Klassenkamerad Haluk und ich genossen die Früchte dieses Systems, das uns Freiheit bescherte. Bis zum Militärputsch des Jahres 1980 hatte dieses moderne System durch sämtliche politischen und gesellschaftlichen Wirren hindurch in der Türkei Bestand.

Es waren am Ende die Generäle, die in ihrem Bestreben, den gesamten linken Block zu zerschlagen, beschlossen, den »Feind ihres Feindes« – nämlich die fromme, schweigende, kulturell konservative Mehrheit – zu befrieden, indem sie zum erwartungsgemäßen Entzücken dieser Massen den Religionsunterricht (der sich großteils sunnitischen Praktiken widmete) als Pflichtfach einführten.

* * *

Trotz der jahrzehntelangen hartnäckigen Förderung eines weltlichen Lebensstils war der Einfluss des Islam unter der Oberfläche mächtig geblieben.

Wir lebten in einem konservativen Land: Seitdem die Türkei ab 1946 vom Einparteiensystem zur Demokratie übergegangen war, hatte die konservative Rechte – unterstützt von der in ganz Anatolien anzutreffenden, frommen »schweigenden Mehrheit« – die Macht übernommen.

Für die Rechte war die Demokratische Partei (Demokrat Parti – DP), die die gesamten Fünfzigerjahre an der Regierung war, lediglich ein Werkzeug, um das Gleichgewicht zu ihren Gunsten zu verschieben. Unter den eingefleischten Ideologen und lokalen Führungsfiguren Anatoliens schien kein Zweifel daran zu bestehen, dass die von Atatürk angeführten Gründungsväter und die von ihm gegründete und bis 1946 allein regierende Partei in den gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen der Türkei eine künstliche Asymmetrie geschaffen hatten.

Was Atatürk in Bewegung gesetzt hatte, war eine Reihe revolutionärer Schritte – die Abschaffung des Kalifats, die Ersetzung des arabischen Alphabets und des muslimischen Kalenders durch ihre westlichen Äquivalente, das Verbot des Fes, die Förderung der Geschlechtergleichheit und so weiter –, durch die ein tiefer Graben zwischen der osmanischen Vergangenheit und der republikanischen Gegenwart entstanden war.