Die Hunnen - Mischa Meier - E-Book

Die Hunnen E-Book

Mischa Meier

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Beschreibung

Die Hunnen galten bereits in der Antike als Inbegriff kriegerischer Barbaren. Auf ihren Pferden fegten sie wie Stürme über Dörfer und Städte hinweg und verbreiteten Angst und Schrecken. Unter Attila, dem bekanntesten Hunnenherrscher, wurden sie zu einem der gefährlichsten Widersacher des Römischen Reiches. Doch wer waren diese mysteriösen Steppenreiter? Woher kamen sie? Und wie gelang es ihnen, ein Reich aufzubauen, vor dem selbst Rom erzitterte? In seiner lebhaften Gesamtdarstellung wirft der Althistoriker Mischa Meier einen Blick hinter die Legenden und schildert, was wir über die faszinierende Kultur und Gesellschaft der Hunnen, über ihren Ursprung und ihre Herrschaft wissen. Als die Hunnen 375 n.Chr. zum ersten Mal in den Machtbereich der römischen Welt eindrangen, löste dieser «Hunnensturm» Schockwellen aus. Sechzig Jahre danach hatte Attila es geschafft, in Mitteleuropa ein mächtiges Hunnenreich zu etablieren, mit dem selbst die römischen Kaiser auf Augenhöhe verhandeln mussten. Mischa Meier beleuchtet nicht nur den beeindruckenden Aufstieg unter Attila, sondern auch den dramatischen Niedergang des Reiches nach seinem Tod – ein Ereignis, das das Machtgefüge Europas grundlegend veränderte und möglicherweise auch den Untergang des Weströmischen Reiches beschleunigte. Eindrücklich führt er vor Augen, wie die Hunnen zu solch prägenden Faktoren der Völkerwanderungszeit werden konnten. Das vorliegende Buch bietet eine fundierte Einführung in die Welt der Hunnen jenseits der Klischees und Zuschreibungen, die sich auch heute noch um diese legendären Krieger ranken.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Mischa Meier

Die Hunnen

Geschichte der geheimnisvollen Reiterkrieger

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Vorwort

1: Apokalyptische Reiter und zivilisationsferne Barbaren – Zeitgenössische Wahrnehmungen der Hunnen

2: Krieger aus den Weiten der Steppe – Die Frage nach der Herkunft der Hunnen

3: «Die Saat des ganzen Verderbens und der Ursprung verschiedener Katastrophen» – Die Hunnen erscheinen am römischen Horizont

4: Die große Zäsur – Der Hunnenüberfall des Jahres 395

5: Uldins Abenteuer – Die erste Machtbildung der Hunnen an der Donau

6: Beutegemeinschaft, Kriegerkonföderation, Steppenreich – Entstehung und Struktur hunnischer Machtgebilde

7: Zwischen Uldin und Attila – Die zweite Machtbildung der Hunnen an der Donau

8: Attila und der römische Osten – Die Entfaltung der hunnischen Machtbildung

9: Einblick in das Hunnenreich – Priskos und die oströmische Gesandtschaft des Jahres 449

10: Attila und der römische Westen – Die Überdehnung der hunnischen Machtbildung

11: Tod in der Hochzeitsnacht – Der Zusammenbruch des Attila-Reiches und die Folgen

12: Kidariten, Alchon und Hephthaliten – Hunnen in Zentralasien und Indien

13: Konfrontation und Kooperation – Römer, Perser und Hunnen im 6. Jahrhundert

14: Hunnen allerorten – Ausblick in die Rezeptionsgeschichte

15: Epilog

Anhang

Anmerkungen

1 Apokalyptische Reiter und zivilisationsferne Barbaren – Zeitgenössische Wahrnehmungen der Hunnen

2 Krieger aus den Weiten der Steppe – Die Frage nach der Herkunft der Hunnen

3 «Die Saat des ganzen Verderbens und der Ursprung verschiedener Katastrophen» – Die Hunnen erscheinen am römischen Horizont

4 Die große Zäsur – Der Hunnenüberfall des Jahres 395

5 Uldins Abenteuer – Die erste Machtbildung der Hunnen an der Donau

6 Beutegemeinschaft, Kriegerkonföderation, Steppenreich – Entstehung und Struktur hunnischer Machtgebilde

7 Zwischen Uldin und Attila – Die zweite Machtbildung der Hunnen an der Donau

8 Attila und der römische Osten – Die Entfaltung der hunnischen Machtbildung

9 Einblick in das Hunnenreich – Priskos und die oströmische Gesandtschaft des Jahres 449

10 Attila und der römische Westen – Die Überdehnung der hunnischen Machtbildung

11 Tod in der Hochzeitsnacht – Der Zusammenbruch des Attila-Reiches und die Folgen

12 Kidariten, Alchon und Hephthaliten – Hunnen in Zentralasien und Indien

13 Konfrontation und Kooperation – Römer, Perser und Hunnen im 6. Jahrhundert

14 Hunnen allerorten – Ausblick in die Rezeptionsgeschichte

15 Epilog

Abkürzungen

1. Quellen

2. Literatur

Quellen

Literaturverzeichnis

Bild- und Kartennachweis

Register der Personen, Gruppen, Verbände

Geographisches Register

Sachregister

Zum Buch

Vita

Impressum

Vorwort

Wer sich mit den Hunnen befasst, muss notgedrungen auch vom Krieg handeln. Brauchen wir also eine weitere Monographie über die Hunnen? Als ich anfing, über dieses Problem und über die Konzeption eines Hunnen-Buches nachzudenken, hat mich lange die Frage umgetrieben, wie man eine moderne Geschichte der Reiterkrieger überhaupt anlegen kann – vor allem aber: wie man Gewalt, Konflikt und Krieg einzubetten, ja narrativ einzuhegen habe. Mit dem 24. Februar 2022 und dem 7. Oktober 2023 jedoch haben sich die Rahmenbedingungen verschoben. Der Krieg ist in unser aller Bewusstsein zurückgekehrt, und schon jetzt zeichnen sich in der Geschichtswissenschaft Tendenzen ab, schroffe Themen wie Gewalt und Konflikt wieder stärker ins Blickfeld zu rücken. Auch dieses Buch ist in der Form, die es schließlich gefunden hat, ein Kind seiner Zeit.

Die Idee, den Hunnen eine eigene Monographie zu widmen, geht auf Dr. Stefan von der Lahr zurück, der mich rasch für das Thema gewinnen und begeistern konnte. Über die Jahre hin habe ich viele anregende Diskussionen mit Freunden und Kollegen geführt, einige haben auch Teile des Buches oder sogar das Gesamtmanuskript gelesen und kommentiert. Genannt seien Ursula Brosseder, Katharina Hennen, Wolfried Meier, Steffen Patzold, Sebastian Schmidt-Hofner, Anna Sitz und Peter Zeller. Inspirierend waren die Gespräche und Debatten mit den Fellows der Tübinger DFG-Kolleg-Forschungsgruppe ‹Migration und Mobilität in Spätantike und Frühmittelalter›. Ihnen allen sei aufrichtig gedankt. Dasselbe gilt für die Mitarbeiter des Verlages C.H.Beck, die mich wieder einmal vorzüglich betreut haben. Nachdem Stefan von der Lahr in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war, hat Martin Hallmannsecker das Projekt mit demselben Engagement weitergeführt, und einmal mehr hat Frau Andrea Morgan unschätzbare Unterstützung geleistet.

Gewidmet ist auch dieses Buch meiner Familie.

Tübingen, im Oktober 2024Mischa Meier

1

Apokalyptische Reiter und zivilisationsferne Barbaren – Zeitgenössische Wahrnehmungen der Hunnen

Die Zeiten waren finster. Immerwährender Krieg, Hunger und Seuchen hatten sich über das Land gelegt, über eine Bevölkerung zudem, die sich in religiösem Dissens verzehrte und angstzerquält auf die Zukunft blickte. Fast drei Jahrzehnte lang (602–628) hatte das Imperium Romanum mit seinem Erzrivalen im Osten, dem persischen Sāsānidenreich, gerungen, zwischenzeitlich nahezu sämtliche östlichen Provinzen, ja sogar die Heilige Stadt Jerusalem verloren (614), um sich schließlich dennoch zu behaupten.[1] Doch die Jahre des Friedens und der Restauration währten nur kurz. Nach dem Tod des Propheten Mohammed (†632) erhob sich von der arabischen Halbinsel her ein neuer Gegner und fegte über den oströmisch-byzantinischen Osten hinweg; erneut wurden dem Reich innerhalb einer einzigen Dekade wichtige Gebiete entrissen – dieses Mal indes für immer.[2]

In jenen Jahren begann man sich eine schauderhafte Geschichte zu erzählen. Sie handelte von den Hunnen, mobilen Reiterkriegerverbänden, deren Überfälle man im 7. Jahrhundert nur noch aus alten Erzählungen kannte. Aber die Hunnen – oder die Vorstellungen, die sich mit ihnen verbanden – hatten offenbar tiefen Eindruck hinterlassen. Schon ihr erstes Auftreten am Rand der römischen Welt in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts war von Zeitgenossen in Metaphern des Sturms und Wirbelwinds gefasst worden. Da lag es nahe, sich ihrer zu erinnern, als gut drei Jahrhunderte später erneut weitgehend unbekannte Berittene wie ein Tornado über die zutiefst verstörten Menschen hinwegjagten; überdies wurden die Römer seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts zunehmend von Awaren bedroht, mobilen Reitern aus der Steppe, die von Zeitgenossen vielfach ähnlich wie die Hunnen wahrgenommen und als solche auch bezeichnet wurden.[3] Die Hunnen blieben also im Bewusstsein der Menschen präsent. Unsere Schauergeschichte findet sich erstmals in einer Predigt, die in einem syrischsprachigen christlichen Milieu verfasst wurde, das mittlerweile unter arabischer Besatzung stand. Sie ist unter dem Namen Ephraems überliefert, wurde also dem bekanntesten syrischsprachigen Theologen und Dichter des 4. Jahrhunderts zugeordnet. Verschiedene Indizien, darunter die Erwähnung der den Arabern zu entrichtenden Kopfsteuer (ǧizya), weisen den Text jedoch eindeutig als Produkt der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts aus.[4] Er thematisiert das Nahen des Jüngsten Tages und schreibt den Hunnen eine besondere Rolle im endzeitlichen Drama zu. Denn ihre bald zu erwartende Ankunft bilde, so der unbekannte Verfasser, ein kurzes Intermezzo zwischen den ins Apokalyptische übersteigerten Überfällen der Araber und dem Auftreten des Antichrist. Zahllose Kriegerscharen und Heere, darunter die biblischen Endzeitvölker Gog und Magog sowie die Hunnen (die der Autor später direkt mit Gog und Magog gleichsetzt)[5] würden die einst von Alexander dem Großen (†323 v. Chr.) errichteten Eisernen Pforten im Kaukasus durchbrechen und sich dann über die Menschen ergießen – so lautete seine Prophezeiung. Die Hunnen würden schwangere Frauen ergreifen, ihre Körper kochen, dann aufschlitzen und die Embryonen entfernen, um sie in einem heißen Sud aufzulösen; darin würden sie, finstere Zauberer, ihre Waffen härten, um sodann Entsetzen unter den Menschen zu verbreiten, indem sie die gesamte Welt mit Mordbrennerei und Zerstörung verwüsteten. Sie verzehrten das Fleisch von Kindern, tränken das Blut von Frauen und ritten auf Winden und Stürmen.[6] Grausame Gewaltimaginationen, in denen möglicherweise traumatisierende Kriegserfahrungen generationenübergreifend verarbeitet und nochmals übersteigert wurden – vielleicht die Erinnerung an den großen Hunneneinfall im römischen Osten 395.[7] Wer an die russischen Greueltaten in der Ukraine oder die Terrorakte der Hamas am 7. Oktober 2023 zurückdenkt, mag eine Vorstellung davon gewinnen, wie tief sich mörderische Gewaltakte in das kollektive Gedächtnis einzugraben vermögen; er mag zudem erahnen, dass hier möglicherweise nicht nur schaurig-abstoßende Fantasiegespinste konserviert[8] und mit aktuellen Endzeiterwartungen vermengt wurden.[9] Der Hunnenname evozierte unmittelbare Assoziationen düsterer, jegliche Ordnung zertrümmernder Bedrohlichkeit.

Die Geschichte von Alexanders Torbau im Kaukasus zum Schutz der Menschen vor den barbarischen Scharen jenseits der griechisch-römischen Welt besaß eine lange Tradition,[10] und auch die Deutung der Hunnen als Verkörperung der biblischen Endzeitvölker Gog und Magog (die sich lautmalerisch mit den archaisierenden Bezeichnungen für Hunnen als Geten und Massageten zusammenbringen ließ) sowie Diskussionen über ihre Rolle im endzeitlichen Prozess waren nicht neu – wir werden ihnen immer wieder begegnen. Die Verbindung all dieser Elemente zu einem Gesamtnarrativ, das heißt die Identifikation Gogs und Magogs mit jenen Hunnen, die einst von Alexander hinter die Eisernen Pforten verbannt worden seien und mit ihren Raubzügen das Ende der Welt einläuten sollten, erfolgte in schriftlicher Form jedoch erst im 7. Jahrhundert.[11] In der sogenannten Syrischen Alexander-Legende, die um 629/30 verfasst wurde – jenem Zeitpunkt also, als Kaiser Herakleios das 614 von den Persern geraubte Heilige Kreuz in Jerusalem restituierte, sich dabei als messianischer Herrscher inszenierte und seinerseits den Beginn eines Endzeitalters propagierte[12] –, finden diese Erzählmotive ebenso zusammen[13] wie in dem darauf aufbauenden, nur wenig später entstandenen Syrischen Alexanderlied.[14] Beide Texte wiederum liegen unserer syrischen Predigt über die mordenden hunnischen Zauberer zugrunde, und auch die berühmte Apokalypse des Ps.-Methodios (um 692), ja selbst der Koran,[15] greifen auf denselben Motivschatz zurück.[16] Erst im 7. Jahrhundert also – die Hunnen waren als gefährliche Invasoren längst Geschichte – zeigten sich die Menschen, nunmehr mit neuen, weitaus schwereren Bedrohungen konfrontiert, gewiss, dass es sich bei ihnen um apokalyptische Reiter eindeutiger Zuordnung handelte; und erst jetzt war man imstande, die neuen hunnischen Invasionen, die man unmittelbar bevorstehend wähnte, im Zusammenhang jenes eschatologischen Dramas einzuordnen, das sich in der eigenen Gegenwart vollzog. Bis dahin konkurrierten unterschiedliche Deutungen und Erklärungen. Denn wer die Hunnen waren, woher sie kamen und welche Gründe sie in den Horizont der antiken Welt geführt hatten, blieb bis zuletzt umstritten – und wird auch heute noch kontrovers diskutiert.

Fest steht indes: Seitdem sie erstmals in den Gesichtskreis der christlich-römischen Welt getreten waren, galten die Hunnen als Inbegriff des Barbarischen, als Brennspiegel sämtlicher negativer Fremdvölkerstereotype. Daher konnte der Kirchenvater Hieronymus (347–420) jenem gewaltigen Schrecken, den plündernde Hunnenverbände nicht lange davor im Römischen Reich verbreitet hatten, im Jahr 400 mit drastischen Worten emotional Ausdruck verleihen:

«Möge Jesus solche Bestien hinkünftig der Römischen Welt ersparen!» (auertat Iesus ab orbe Romano tales ultra bestias).[17] Das war rhetorisch durchaus geschickt formuliert. Denn bereits der Terminus bestiae evozierte bei den Mitlebenden nicht nur ungebändigte Wildheit und entsetzliche Grausamkeit; er knüpfte zugleich an eine ethnographische Tradition an, die bereits seit Jahrhunderten die Wahrnehmung und Beschreibung von Fremden geprägt hatte und auch die Kontakte zwischen Römern und Hunnen – soweit sie in der Überlieferung überhaupt dokumentiert sind – weitgehend überformte.[18]

In diesem Umstand manifestiert sich eines der Grundprobleme jeglicher Beschäftigung mit den Hunnen: Wir können sie lediglich in römischen Schriftzeugnissen fassen, die zumeist einseitig verzerrend, klischeebeladen oder situativen Kontexten geschuldet sind; genuin hunnische Aussagen besitzen wir nicht, und auch das archäologische Material wirft mehr Fragen auf, als es zu beantworten vermag. Insbesondere in den ersten Dekaden der römisch-hunnischen Kontakte (ca. 375–400) scheint das Wissen über die Reiterkrieger aus der Steppe noch sehr begrenzt gewesen zu sein; umso mehr sahen sich Berichterstatter jener Jahre gezwungen, auf etablierte Barbarentopoi zu rekurrieren, die Typisierungen vornahmen, auf deren Grundlage Zeitgenossen die Neuankömmlinge einordnen und bewerten konnten. Bestiae kann in diesem Zusammenhang als Signalwort gelten: Es deutete an, dass man in den Hunnen auf Wesen traf, deren Ursprung derart weit vom zivilisierten Zentrum der Welt entfernt lag, dass ihnen sogar das Menschsein abgesprochen werden konnte. Die Hunnen, so suggeriert Hieronymus, waren wilde Tiere – und eben darum außergewöhnlich gefährlich.

Und noch ein weiterer Aspekt erscheint dem Kirchenvater bedeutsam: In seinem Ausruf stellt er den Hunnen die christlich-römische Welt gegenüber; ihr gehörten die Reiterkrieger also nicht an, ja mehr noch: Jesus möge sie von ihr fernhalten! Die Hunnen, so lässt sich konstatieren, galten Hieronymus als das schlechthin Andere – nichtrömisch und nichtchristlich. Wie gesehen, gelang ihre vollständige Integration in den antiken Kosmos tatsächlich erst sehr spät durch ihre Deutung als Vorboten der Apokalypse.

Traditionelle Barbarenstereotype und die Entfernung zur christlichen Oikoumene erscheinen bei Hieronymus somit als Bezugsgrößen, um die fremden Invasoren zu vermessen. Ersteres kristallisiert sich auch darin aus, dass der gelehrte Mönch direkt auf Herodot bezugnimmt,[19] dessen Geschichtswerk aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zu den Grundlagentexten der antiken Ethnographie zählte, nahezu jedem Schriftkundigen vertraut.[20] Die Entfernung zur christlichen Welt wiederum thematisiert Hieronymus, indem er auf die alte Legende über die machtvolle Befestigung der Kaukasusübergänge gegen Invasoren aus der Eurasischen Steppe durch Alexander zurückgreift (Alexandri claustra) – jene Legende also, an die später auch Pseudo-Ephraems Predigt über die hunnischen Bluttaten anknüpfen sollte. Für Hieronymus jedoch war der hunnische Durchbruch bereits erfolgt[21] – was Leser der Zeit um 400 beunruhigen musste, denn schon damals galt die Überwindung der von Alexander errichteten Mauer als Fanal der Endzeit. Der Kirchenvater sprach letztlich also ebenfalls vom unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt.

Die eschatologische Dimension in der Wahrnehmung der Hunnen war somit von Beginn an präsent – wenngleich vorerst noch eher diffus und vielfach untergründig – und blieb während der gesamten Spätantike gegenwärtig; sie kennzeichnet im Übrigen auch den Umgang mit nachfolgenden Reiterkriegergruppen wie den Awaren oder Ungarn. Im Fall der Hunnen ist sie häufig und in unterschiedlichen Facetten greifbar, nicht zuletzt in der Bezeichnung Attilas (†453) als «Geißel Gottes» (flagellum Dei), die bereits von Zeitgenossen des 5. Jahrhunderts verwendet wurde[22] und die populäre Ansicht artikulierte, Gott selbst habe die Hunnen zur Bestrafung der Römer in Bewegung gesetzt – ein weiterer Versuch, dem plötzlichen Erscheinen der Reiterkrieger und ihrer gewaltsamen Überfälle innerhalb überkommener Deutungshorizonte Sinn zu verleihen. Noch im 7. Jahrhundert konnte Isidor von Sevilla von der «Zuchtrute des Zorns Gottes» (virga furoris Dei) sprechen.[23]

Die straftheologische Deutung hunnischer Angriffe provozierte mitunter allerdings auch eine geradewegs umgekehrte Sichtweise, in welcher die moralisch verkommenen Römer den naiv-unverdorbenen Barbaren gegenübergestellt wurden; hier deuten sich Wahrnehmungen nach dem Muster des ‹edlen Wilden› an, die allerdings, verglichen mit konkurrierenden Angeboten, eher selten blieben.[24]

Zunächst jedoch stand man vor einem Rätsel. Eunapios, im ausgehenden 4. Jahrhundert Verfasser eines Geschichtswerks, konstatiert offen, dass niemand eine klare Aussage über die Herkunft der Hunnen treffen könne,[25] und Zosimos, als Historiograph um 500 wirkend, blickt auf das Staunen derer zurück, die als erste mit den Reiterkriegern konfrontiert waren:[26]

Ein Barbarenstamm warf sich auf die skythischen Völker jenseits der Donau, früher nicht bekannt, damals ganz plötzlich auftauchend; Hunnen nannte man sie, sei es, man darf sie als Königsskythen[27] bezeichnen, sei es, als jene plattnasigen und schwächlichen Menschen, die Herodot zufolge entlang der Donau wohnen, sei es, sie sind von Asien nach Europa herübergekommen. […] Wie auch immer – sie rückten mit ihren Pferden, Frauen, Kindern und ihrer Habe heran und überfielen die jenseits der Donau siedelnden Skythen.

Nicht nur die Opfer hunnischer Gruppen,[28] sondern auch diese selbst wurden vielfach als ‹Skythen› bezeichnet.[29] Der Begriff war in der antiken ethnographischen Tradition nicht scharf definiert und konnte bis weit in die byzantinische Zeit auf all jene Verbände angewendet werden, die in den östlichen Gefilden des nördlichen Barbaricum, zumal in den Steppen, anzutreffen waren. «All diese Verbände [nämlich nördlich und östlich des Asowschen Meeres]», so hält im 6. Jahrhundert der Gelehrte Agathias fest, «wurden pauschal Skythen oder Hunnen genannt».[30] Und der Historiker Walter POHL präzisiert: «Für alle europäischen Steppenvölker des ersten nachchristlichen Jahrtausends ist der pauschale Gebrauch des Namens ‹Skythen› bezeugt, der zu einer ethnographischen Kategorie geworden war».[31] Die griechische Ethnographie gliederte den Norden schlicht in ein westliches Keltengebiet (Keltiké) und ein östliches Skythenland (Skythiké), ohne klare Grenzlinien zu ziehen; die Kenntnisse der Regionen jenseits des Schwarzen Meeres blieben ohnehin eher bescheiden, wie noch im 6. Jahrhundert Prokop anmerkt.[32] Unter ‹Skythen› verstand man also mitnichten einen spezifischen, fest eingrenzbaren Verband, sondern insbesondere jene mobilen Gruppen, die als berittene Kriegerkonföderationen in Erscheinung traten. Seit der ausgehenden Spätantike konnten dann wiederum auch andere bogenbewehrte Reiterkrieger wie die Bulgaren, Kutriguren oder Awaren pauschal als ‹Skythen› oder ‹Hunnen› bezeichnet werden.[33] Für noch mehr Verwirrung sorgte der Umstand, dass gelehrte Köpfe der Antike gerne auf archaisierende Namengebungen zurückgriffen und, um ihre umfassende Belesenheit zu demonstrieren, ‹skythische› Verbände etwa als Geten, Massageten, Sauromaten, Kimmerier usw. beschrieben. All dies verweist darauf, dass es Historiographen und Ethnographen in der Regel nicht darum ging, exakte, nachvollziehbare Zuordnungen vorzunehmen und klare Kriterien für Zugehörigkeit, Beschreibung und Einordnung zu definieren, sondern ihre Virtuosität im Umgang mit den Versatzstücken einer jahrhundertealten Tradition und damit die eigene Gelehrsamkeit und Diskursfähigkeit zu erweisen. Eunapios etwa knüpft in dem kurzen Fragment zu den Hunnen implizit, aber für den gebildeten Leser leicht dechiffrierbar, gleich an zwei traditionsbildende Größen der antiken Historiographie an: Herodot und Thukydides.[34] Synesios von Kyrene wiederum behauptet umgekehrt, Barbaren würden ständig ihre Namen und ihr Aussehen ändern, um die Römer zu verwirren.[35]

Hunnen galten also – ebenso wie später Bulgaren, Awaren, Ungarn usw. – als Skythen, und auch dies beeinflusste ihre Wahrnehmung; so ließ sich etwa die bereits seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. bezeugte Verbindung der Skythen mit Gog und Magog[36] leicht auf die Hunnen hin zuspitzen.[37] Aber die Hunnen waren eben nicht die einzigen ‹Skythen›. In der Spätantike wurden ihnen nicht zuletzt auch die Goten (die damals keineswegs als Germanen galten) zugerechnet, ebenso verschiedene andere mobile Reiterkriegerverbände aus der Steppe.[38] Das wiederum konnte zu Verwechslungen, Übertragungen und Überlappungen führen, was sich nicht zuletzt in der Gleichsetzung von Gog und Goten manifestiert, die sich aufgrund der Namensassonanzen geradezu aufdrängte. Für Bischof Ambrosius von Mailand stand daher nach der römischen Katastrophe von Adrianopel 378 (s.u. S. 58 f.) fest, dass sich in den Goten Gog offenbart habe: «Dieser Gog, das ist der Gote!»[39]

Spätestens seit dem 6. Jahrhundert galten Goten, Gepiden und Vandalen zudem als zusammengehörig, als die «gotischen Völker» (Γοτθικὰ ἔθνη),[40] doch wurden sie aufgrund ihrer ‹skythischen› Herkunft weiterhin als den Hunnen eng verwandt betrachtet. Diese Wahrnehmung mag hinter der Bezeichnung Attilas, des prominentesten Hunnen, als Abkömmling der Gepiden bzw. der «gepidischen Hunnen» stehen, die man in der Weltchronik des Johannes Malalas aus dem 6. Jahrhundert sowie in späteren, von ihr abhängigen Texten antrifft.[41] Attila galt also mitunter als Angehöriger der «gotischen Völker», und die vermeintliche Verwandtschaft von Goten und Hunnen wurde bis in die ferne Frühzeit zurückprojiziert: Einst, so berichtet um die Mitte des 6. Jahrhunderts der Historiograph Jordanes, seien die Goten, als sie sich im Skythenland aufgehalten hätten, in ihrem Verband auf die Haliurunnen gestoßen, zauberkundige Frauen (quasdam magas mulieres), die den Goten indes suspekt erschienen und daher in die Einsamkeit der Wüste vertrieben wurden. Dort aber seien die Frauen auf «unreine Geister» (spiritus inmundi) getroffen, mit denen sie sich gepaart hätten; Ergebnis sei das «wildeste Geschlecht» (genus […] ferocissimum) gewesen,

welches zuerst in Sümpfen lebte, ein Geschlecht klein, schmutzig und schmächtig, den Menschen nur ähnlich, an keiner anderen Sprache erkennbar außer einer, die den Klang der menschlichen Sprache zu imitieren scheint. Aus einem solchen Stamm geschaffen, kam das Volk der Hunnen in das Gebiet der Goten.[42]

Diese Episode ist aus mehreren Gründen von zentralem Interesse für die Frage nach der Wahrnehmung der Hunnen in der Spätantike. Zum einen zeigt die Tatsache, dass Jordanes diese sperrige, für die Goten keineswegs schmeichelhafte Erzählung in seine Gotengeschichte (Getica) aufgenommen hat, welch hohe Relevanz er ihr zumaß; offensichtlich konnte man sie nicht in vornehmem Schweigen übergehen, denn die darin reflektierte vermeintliche Verwandtschaft mit den Hunnen gehörte zum Kern der gotischen Traditionsbildung und muss für diese eine wichtige Funktion besessen haben.[43] Zum anderen konzipierte Jordanes, der sich selbst als Gote sah,[44] seine Getica zwar mit dem Ziel, den Goten – und zumal der ostgotischen Herrscherfamilie der Amaler – eine weit in die Vergangenheit zurückreichende Geschichte zu verleihen und sie damit in den römisch-christlichen Kontext einzuschreiben;[45] aber er tat dies in Konstantinopel, während die oströmischen Truppen Kaiser Justinians damit beschäftigt waren, nach einem ebenso langwierigen wie grausamen Krieg (535–552) die Goten aus Italien zu vertreiben.[46] Er adressierte also in einem historischen Schlüsselmoment gleichermaßen Goten wie Römer, als er auf die enge Verbindung zwischen Goten und Hunnen hinwies, und damit dürfte er kaum lediglich der Gelehrsamkeit römischer Ethnographen aufgesessen sein.[47] Denn die von ihm referierte Episode läuft nicht nur der generell gotenfreundlichen Tendenz der Getica zuwider, sondern enthält mit Haliurun(n)ae auch einen Terminus, der dem römischen Vokabular fremd war, also der gotischen Tradition entstammen muss. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Hunnen tatsächlich Abkömmlinge gotischer Hexen und wüstenbewohnender Geister waren; aber sie wurden als solche betrachtet – sicherlich im gotischen Kontext und offenkundig auch in einigen römischen Milieus.

Die geographische Nähe von gotischen und hunnischen Gruppen in der Eurasischen Steppe hatte also Spuren hinterlassen, und bereits dieser Umstand spricht gegen die bis heute regelmäßig nacherzählte Überlieferung, wonach sich die Hunnen im Jahr 375 ganz plötzlich und unerwartet auf die gotischen Greutungen und Terwingen geworfen haben sollen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass bereits zuvor lang etablierte Kontakte bestanden – wir werden darauf noch zurückkommen. Diese Verbindungen wurden bald dadurch vertieft, dass die gotischen Greutungen nach 375 von den Hunnen absorbiert wurden; erst im Zuge des Zerfalls der hunnischen Großmachtbildung nach Attilas Tod (†453) wurden diese Goten wieder ‹ausgespuckt› und zementierten in der Folgezeit ihre nunmehr ostgotische Identität.

Die Verbindung zwischen Hunnen und Goten galt jedenfalls als schicksalhaft vorherbestimmt. Einer anderen Geschichte (die im Kern auf den antiken Io-Mythos zurückgeht)[48] ist zu entnehmen, dass eine geheimnisvolle Hirschkuh den Hunnen den Weg aus den Weiten der Steppe über die Straße von Kertsch am Asowschen Meer (die antike Maeotis) gewiesen haben soll – direkt zu den Siedlungsgebieten der Goten.[49] Jordanes (bzw. seine Quelle) hat diese Informationen aus dem Geschichtswerk des Priskos schöpfen können, das in den 470er Jahren vollendet wurde.[50] Priskos wiederum hat sich intensiv mit den Hunnen auseinandergesetzt und Attilas Residenz im Rahmen einer diplomatischen Mission 449 sogar selbst besucht (s. Kapitel 9). Es ist gut möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, dass er dort in Gesprächen mit Hunnen und Goten seine Informationen über die Haliurunnen und die Hirschkuh zusammengetragen hat. In Attilas Umgebung, so kann man daraus folgern, wurde die vermeintlich gemeinsame gotisch-hunnische Geschichte also lebhaft erörtert.

Diskutiert wurde nach der Ankunft der Hunnen im Gesichtskreis der antiken Welt indes vor allem auf der literarischen Ebene – es sind jedenfalls diese gelehrten Auseinandersetzungen, die wir allein noch fassen können, während uns die alltäglichen Gespräche auf der Straße oder die sicherlich erregten Debatten, die in von Hunnen bedrohten oder überfallenen Regionen geführt wurden, verschlossen bleiben. Das prominenteste Zeugnis für die literarische Aufarbeitung der Hunnenthematik stellt der sogenannte Hunnenexkurs dar, der sich im 31. Buch eines umfangreichen lateinischen Geschichtswerks (Res gestae) findet, das der römische Offizier Ammianus Marcellinus gegen Ende des 4. Jahrhunderts verfasste.[51] Ammian knüpft in diesem Werk, von dem nur die Bücher 14–31 (über den Zeitraum 353–378) erhalten geblieben sind, zeitlich und konzeptionell an sein Vorbild Tacitus († um 120) an, dessen Historiae mit dem Jahr 96 endeten. Das 31. Buch behandelt die dramatischen Ereignisse vom Beginn des sogenannten Hunnensturms bis zur römischen Niederlage bei Adrianopel und dem Tod Kaiser Valens’ im Jahr 378 – in einer Dichte, die zu Spekulationen Anlass gegeben hat, dass es sich dabei ursprünglich um ein eigenständiges, erst später seinen Res gestae angegliedertes Werk gehandelt haben könnte.[52] Für eine angemessene Interpretation des ‹Hunnenexkurses› ist es jedenfalls wichtig, diesen als Teil eines hochgradig stilisierten literarischen Kunstwerks zu betrachten, dessen Verfasser sich sehr bewusst in die Tradition einer ambitionierten Historiographie stellt, zu deren Grundbestandteilen stets auch ethnographische Digressionen gehörten, die Publikumserwartungen dadurch bedienten, dass durch den Rückgriff auf etablierte und altbekannte Barbarenstereotype spezifische Assoziationen aufgerufen wurden – anders gesagt: Eine authentische Schilderung der Hunnen wird man von einem literarisch-historiographischen Text der Spätantike ohnehin kaum erwarten dürfen. Was also hat Ammian zu bieten?[53]

Das Volk der Hunnen ist den alten Schriften nur wenig bekannt. Es wohnt jenseits des Maeotischen Sees (Asowsches Meer), nahe dem Eismeer, und lebt im Zustand unbeschreiblicher Wildheit. Da gleich nach der Geburt in die Wangen der Kinder mit dem Messer tiefe Furchen gezogen werden, damit der zu bestimmter Zeit auftretende Bartwuchs durch die runzeligen Narben gehemmt wird, werden sie unbärtig alt und ähneln, jeglicher Schönheit bar, den Eunuchen. Alle besitzen sie gedrungene und starke Glieder und einen muskulösen Nacken und sind so entsetzlich entstellt und gekrümmt, dass man sie für zweibeinige Bestien oder für Figuren aus Blöcken halten könnte, wie sie für die Seitenbegrenzung von Brücken roh behauen werden. Bei ihrer reizlosen Menschengestalt sind sie durch ihre Lebensweise so abgehärtet, dass sie keines Feuers und keiner gewürzten Speise bedürfen, sondern von den Wurzeln wilder Kräuter und dem halbrohen Fleisch von jedwedem Getier leben, das sie zwischen ihre Schenkel und den Pferderücken legen und etwas erwärmen. Sie kennen niemals den Schutz von Gebäuden, meiden solche vielmehr wie Gräber, die vom allgemeinen Verkehr völlig abgeschieden sind. Auch kann man bei ihnen nicht einmal eine mit Rohr gedeckte Hütte finden. Sondern ruhelos schweifen sie durch Berge und Wälder und sind von klein auf gewöhnt, Kälte, Hunger und Durst zu ertragen. Nur wenn äußerste Notwendigkeit sie zwingt, gehen sie in der Fremde unter ein Dach, denn sie glauben, unter Dächern nicht sicher zu sein. Sie kleiden sich in linnene Gewänder oder solche, die aus Fellen von Waldmäusen zusammengenäht sind, und haben keine besondere Kleidung für den Hausgebrauch und außerhalb des Hauses, sondern wenn sie einmal den Kopf in ein solches Hemd von schmutziger Farbe gesteckt haben, legen sie es erst ab oder wechseln es, wenn es durch langen Verschleiß in Fetzen aufgelöst und zerfallen ist. Den Kopf bedecken sie mit einer runden Kappe und schützen die behaarten Beine mit Ziegenfellen. Ihre Schuhe werden nicht auf Leisten gepasst und hindern sie daran, frei auszuschreiten. Deswegen sind sie zu Fußkämpfen ungeeignet, aber auf ihren abgehärteten, doch unschönen Pferden sitzen sie wie angegossen und reiten auf ihnen bisweilen im Frauensitz, wenn sie ihre natürlichen Bedürfnisse erledigen. Von seinem Pferd aus kauft und verkauft jedermann in diesem Volk bei Tag und Nacht, nimmt sein Essen und Getränk zu sich und gibt sich, auf den schmalen Hals des Tieres gebeugt, tiefem Schlaf hin und erlebt dabei die verschiedensten Träume. Wenn eine Beratung über wichtige Dinge angesetzt ist, beraten sie alle gemeinsam in dieser Haltung. Sie lassen sich aber durch keine königliche Strenge führen, sondern begnügen sich mit improvisierter Führung von Häuptlingen, und so überwinden sie jedes Hindernis.

Bei Kämpfen fordern sie den Gegner zuweilen heraus und beginnen das Gefecht mit geschlossenen Abteilungen, wobei ihre Stimmen furchtbar ertönen. Da sie für schnelle Bewegungen leicht bewaffnet sind und unerwartet auftauchen, können sie sich absichtlich plötzlich auseinanderziehen und ihre Reihen lockern wie in einer ungeordneten Aufstellung. Ein furchtbares Blutbad anrichtend, galoppieren sie hin und her, und wegen ihrer gewaltigen Schnelligkeit sieht man sie kaum, wenn sie in eine Befestigung eindringen oder ein feindliches Lager plündern. Man möchte sie aus dem Grund die furchtbarsten von allen Kriegern nennen, weil sie im Fernkampf mit Pfeilen kämpfen, die mit spitzen Knochen anstelle von Pfeilspitzen mit wunderbarer Kunstfertigkeit zusammengefügt sind […], im Nahkampf aber mit der Waffe ohne Rücksicht auf sich selbst fechten. Während sie den gefährlichen Schwerthieben ausweichen, fangen sie ihre Feinde mit geflochtenen Lassos, umschnüren die Glieder der Widerstrebenden und machen es ihnen damit unmöglich, zu reiten oder zu gehen. Niemand pflügt bei ihnen oder berührt jemals den Pflug. Denn sie alle kennen keine festen Wohnsitze, sondern schweifen umher, ohne Haus, ohne Gesetz und feste Lebensweise, immer auf der Flucht mit ihren Wagen, auf denen sie wohnen. Hier nähen ihre Frauen für sie die schmutzigen Kleidungsstücke, hier paaren sie sich mit ihren Männern, gebären ihre Kinder und ziehen sie bis zur Mannbarkeit auf. Niemand bei ihnen kann auf die Frage, woher er stamme, eine Antwort geben, denn irgendwo wurde er gezeugt, weit fort davon geboren und in noch größerer Entfernung erzogen. Im Falle eines Waffenstillstandes treulos, sind sie bei jedem Hauch einer neu sich zeigenden Hoffnung ständig leicht erregbar und geben sich ganz ihrer triebhaften Raserei hin. Wie Tiere, die keinen Verstand haben, kennen sie keinen Begriff von Ehre und Ehrlosigkeit, führen zweideutige und dunkle Reden und unterliegen keinem Einfluss von Ehrerbietung vor einer Religion oder auch nur einem Aberglauben. Doch brennen sie von unmäßiger Begierde nach Gold. So wankelmütig sind sie, und ihr Zorn ist so leicht erregbar, dass sie sich oft an ein und demselben Tag ohne jegliche Ursache von ihren Bundesgenossen trennen und sich ebenso schnell wieder versöhnen, ohne dass jemand sie besänftigt.

Es lohnt, den Exkurs in seiner ganzen Ausführlichkeit zu betrachten. Denn die epische Länge sollte zunächst einmal antike Leser ob der Gelehrsamkeit des Autors beeindrucken und zugleich die Suggestion erzielen, es handele sich um authentische, sorgsam geprüfte Informationen über bis dahin unbekannte Menschen (monumentis veteribus leviter nota), die jedes von Barbaren gewohnte Maß an Wildheit übertrafen (Hunorum gens […] omnem modum feritatis excedit). Davon jedoch darf man sich nicht täuschen lassen: Tatsächlich nämlich ist in der Forschung nahezu jede Einzelheit des Textes umstritten, und der Völkerwanderungshistoriker Walter POHL hat den ‹Hunnenexkurs› nicht ohne Grund als «eine kunstvolle Montage von Motiven aus dem Fundus der antiken Ethnographie» bezeichnet.[54] Ammian arbeitet bekannte Topoi der antiken Ethnographie geradezu katalogartig ab,[55] beginnend mit dem hässlichen, tierhaften Äußeren der Hunnen (das später zur Grundlage für ihre rassistische Darstellung in Fritz Langs Nibelungen-Film aus dem Jahr 1924 wurde und bis in die jüngere Forschungsliteratur nachklingt),[56] über die Lebensweise und die politische Ordnung bis hin zur Kriegführung; danach werden jene Aspekte, die dem Autor offenbar besonders wichtig erschienen, noch einmal resümierend zusammengetragen. Vor allem in diesem Schlussteil begegnen ‹Klassiker› der antiken Ethnographie: das aus ihrer nomadisierenden Lebensweise resultierende Fehlen einer Landwirtschaft bei den Hunnen, das aus römischer Perspektive als in höchstem Maße unzivilisiert galt und den geringen Grad an politischer Organisation begründete (sine […] lege); eine gleichsam kommunitäre, also ohne jegliche politische Ordnung sich vollziehende Lebensform; Treulosigkeit, leichte Reizbarkeit, triebhafte Raserei, mangelnde Ehrbegriffe, fehlende Religion, maßlose Goldgier, Wankelmütigkeit. All dies sind Eigenschaften, die griechische und römische Autoren unzählige Male auf unterschiedliche Barbarenverbände projiziert haben. Und so gleichen etwa Ammians Ausführungen zur fehlenden Landwirtschaft bei den Hunnen entsprechenden Bemerkungen des in augusteischer Zeit wirkenden (und nur im Auszug des Justinus greifbaren) Pompeius Trogus zu den Skythen; was wir über das permanente Leben im Sattel lesen, hatte ebenfalls bereits Trogus – in diesem Fall über die Parther – geäußert, und den Verzehr halbrohen Fleisches hatte im 1. Jahrhundert n. Chr. Pomponius Mela mit den Germanen in Verbindung gebracht.[57]

In Ammians ‹Hunnenexkurs› werden all diese barbarischen Eigenschaften freilich bis ins Extreme übersteigert, denn die Hunnen gelten ihm als Barbaren schlechthin. Ihre ungewisse geographische Herkunft entfernte sie derart weit von der griechisch-römischen Welt (der Oikoumene), dass man sie in jenem Grenzbereich verortete, in dem den geläufigen Theorien zufolge Menschen und Fabelwesen allmählich ineinander übergingen. Hier fand man Werwölfe, Menschenfresser und Gestalten mit den sonderbarsten physischen und charakterlichen Eigenschaften. Die Tierhaftigkeit, die den Hunnen angeblich eigen war, begegnet denn auch in zahlreichen weiteren Texten über sie, und sicherlich nicht zufällig verwendet auch Ammian jenes Signalwort, das uns bereits bei Hieronymus begegnet ist: bestiae.[58]

Die Forschung erliegt auch weiterhin immer wieder der Versuchung, einzelne Aspekte aus dem ‹Hunnenexkurs› herauszugreifen und in Kombination mit verstreuten anderen antiken Nachrichten oder archäologischen Befunden für authentisch zu erklären: die artifizielle Verunstaltung der Gesichter zur Verhinderung des Bartwuchses; die harte Lebensweise zu Pferd, bei der Geschäfte vom Sattel aus erledigt wurden, rohes Fleisch allmählich weich geritten, ja sogar die Notdurft vom Pferderücken verrichtet wurde; das Meiden fester Gebäude wie Gräber; die einfache Fellkleidung; die fehlende monarchische Führung.

Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass sich in diesen Versatzstücken tatsächlich Realitätsbezüge spiegeln. Und dennoch können sie – eben weil es sich zunächst einmal um topische Elemente der ethnographischen Tradition handelt – nicht als reale Beschreibungsfragmente interpretiert werden.

Wahrscheinlicher ist eher, dass Ammian gerade deshalb diese Stereotype ausgewählt und besonders hervorgehoben hat, weil sie halbwegs zu jenen Informationsbruchstücken über die Hunnen passten, die ihn gerüchteweise erreicht hatten: Man wusste um ihre mobile, berittene Lebensweise – und verpackte sie daher in entsprechende Barbarenstereotypen; man wusste um ihre Plünderungen und die Erpressungen, mit denen sie sesshafte Gesellschaften bedrängten – und verpackte diesen Eindruck im Topos der unermesslichen Goldgier; man hatte wahrgenommen, dass hunnische Verbände dezentral unter jeweils eigenen Anführern organisiert waren – und verpackte dies im Topos der mangelnden politischen Organisation; man besaß kaum Informationen über Religion und Kulte – und verpackte dies im Topos ihres völligen Fehlens; und man wusste um das ungewöhnliche, fremde Äußere der Neuankömmlinge – und verpackte dies in gängige Vorstellungen von Hässlichkeit und Entstellung, wie sie insbesondere jenen Barbaren zugeschrieben wurden, deren Herkunftsgebiete von der Oikoumene besonders weit entfernt lagen.

Ammians ‹Hunnenexkurs› basiert also möglicherweise tatsächlich auf zeitgenössischen Wahrnehmungen – aber er kleidet diese derart konsequent in die ihm zur Verfügung stehenden Stereotypen ein, dass jene echten Eindrücke dahinter verblassen und für moderne Historiker nicht mehr fassbar sind. Ammian selbst jedenfalls, soweit besteht inzwischen Einigkeit, hat vermutlich nie einen Hunnen zu Gesicht bekommen.[59]

Ein einziger Komplex innerhalb des ‹Hunnenexkurses› stellt indes eine Ausnahme dar: Die Angaben, die Ammian zur Kriegführung macht, decken sich in derart signifikantem Maße mit Informationen aus anderen Quellen – insbesondere dem für den praktischen Gebrauch (und daher realitätsbezogen) verfassten, dem oströmischen Kaiser Maurikios (582–602) zugeschriebenen Militärhandbuch (Strategikon) –, dass man davon ausgehen darf, dass hier tatsächlich authentisches Material zugrunde liegt:[60] Ammian erwähnt besonders eindringliches Kampfgeschrei, die leichte Bewaffnung und Wendigkeit sowie die Schnelligkeit hunnischer Reiterattacken, die regelmäßig zu Massakern (caedes) unter ihren Gegnern führten und insbesondere die römischen Panzerreiter zunächst vor gewaltige Herausforderungen stellten; er kennt ihre gefürchtete Hauptwaffe, den Reflexbogen, und weiß vom Einsatz des Lassos. Einzig die für hunnische Kriegstaktik ebenfalls charakteristische Scheinflucht bleibt unerwähnt. Mit den Angaben, die der ehemalige römische Offizier Ammian zur hunnischen Kriegführung macht, stehen wir tatsächlich auf etwas soliderem Grund. Doch insgesamt bleibt der Informationsgehalt, den der ausführliche ‹Hunnenexkurs› aufweist, gering.

Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn man die Passage mit weiteren ethnographischen Digressionen in Ammians Res gestae vergleicht. Bereits die Alanen, als westliche Nachbarn der Hunnen angeblich deren erste Opfer, lebten in der Nähe geheimnisvoller Völker am Rande der Welt, so etwa in Nachbarschaft der Anthropophagen (‹Menschenfresser›) und Amazonen; auch sie waren nomadisch organisiert (per pagos ut Nomades vagantur immensos), besaßen keine Häuser und pflegten keinen Ackerbau; auch bei ihnen sollen sich Männer und Frauen unterwegs auf den Wagen gepaart haben. Aber im Gegensatz zu den Hunnen ist ihr Äußeres nicht mehr gleichermaßen erschreckend, sie besaßen einen Kult und überhaupt gelte für sie: «Sie sind in allem den Hunnen recht ähnlich, aber gemäßigter in ihrer Lebensart und Kleidung». Für Ammian stellten die Alanen also, wenngleich ebenfalls höchst unzivilisiert, grausam und fremd, eine Lightversion der Hunnen dar.[61] Ganz ähnlich der ‹Sarazenenexkurs›, das heißt Ammians Blick auf die Araber: Auch sie erscheinen als ungebändigte mobile Reiterkrieger ohne feste Behausungen, ohne Landwirtschaft und mit seltsamen, in römischen Augen zutiefst unzivilisierten Bräuchen.[62]

Betrachtet man die drei Exkurse zu Hunnen, Alanen und Sarazenen im Vergleich, so wird umso deutlicher, in welchem Ausmaß sich der Historiograph regelmäßig wiederkehrender ethnographischer Topoi bedient hat; insbesondere zeigt sich dabei, dass eine mobile Lebensweise bei den Römern stets dieselben Assoziationen hervorrief. Empirisches Wissen dürfte dabei nur eine geringe Rolle als Korrektiv gespielt haben. Es war für die ethnographischen Ausflüge antiker Geschichtsschreiber schlicht nicht relevant. Das bedeutet indes nicht, dass die Römer tatsächlich nur geringe Informationen über Hunnen, Alanen, Araber und andere Verbände an ihren Grenzen besessen hätten, ja dass sie völlig naiv mit ihnen umgegangen wären – im Gegenteil: Die umsichtige Politik verschiedener römischer Regierungen und Amtsträger zeigt immer wieder und zumal seit dem 5. Jahrhundert, dass man sehr wohl wusste, mit wem man es zu tun hatte und wie mit mobilen Reiterkriegerverbänden aus der Steppe umzugehen war. Für uns besteht das Problem lediglich darin, dass sich dieses Wissen in den literarischen Texten, auf die wir heute noch zugreifen können, nicht oder nur in sehr bescheidenem Ausmaß niedergeschlagen hat. Dies gilt im Übrigen auch für jene Beschreibungen, die wir anderen Autoren verdanken – selbst solchen, die in Zeiten lebten, in denen die Präsenz von Hunnen bereits eine alltägliche Selbstverständlichkeit darstellte.[63]

Nur kurze Zeit nach der Entstehung des ‹Hunnenexkurses›, um die Mitte der 390er Jahre, verfasste der Dichter Claudian eine Invektive gegen den praefectus praetorio per Orientem (Vorsteher der Zivilverwaltung des Ostens) Rufinos, der bis zu seiner Ermordung 395 die mächtigste Gestalt am Hof zu Konstantinopel war. Die kurze Beschreibung der Hunnen, die sich dort findet,[64] weist bemerkenswerte Parallelen zu Ammians Darstellung auf und wurde daher als deren «früheste und zugleich wichtigste Reproduktion» bezeichnet;[65] doch ist nicht auszuschließen, dass die Übereinstimmungen schlicht daraus resultieren, dass beide Autoren sich aus demselben Traditionsschatz bedient haben. Eine ähnliche Deckungsgleichheit mit den Aussagen Ammians weisen jedenfalls auch die Ausführungen des griechischen Historiographen Zosimos auf, der in den Jahren um 500 sicherlich genügend authentisches Material und eigene Erfahrungen mit den Hunnen hätte einbringen können – und sich dennoch ebenfalls auf eine Liste ethnographischer Topoi beschränkt.[66] Diese sind selbst in Prokops Exkurs zu den Hephthaliten aus der Mitte des 6. Jahrhunderts als Negativfolie noch präsent[67] und erscheinen – was besonders erstaunt – auch in den etwa zeitgleich entstandenen Getica des Jordanes. Der Verfasser, wie angedeutet in Konstantinopel wirkend, kannte offenbar die Augenzeugenberichte des Priskos – und dennoch greift er in seiner Charakterisierung der Hunnen einmal mehr auf die altbekannten Stereotype zurück, die bereits Ammian verwendet hatte.[68] Nicht zuletzt dies bezeugt die Zählebigkeit der ethnographischen Traditionen und ihrer Versatzstücke, die auch in der Hunnenbeschreibung des gallorömischen Dichters Sidonius Apollinaris aus dem Jahr 468 anklingen, der den Reiterkriegern eine geradezu singuläre Grausamkeit zuschreibt: «an Wildheit überquellend, grauenhaft, alles fortreißend, ungestüm, barbarisch auch für die dortigen barbarischen Gruppen», und weiter: «Es erhebt sich in die Enge als rundliche Masse das Haupt; in zwei Höhlen unter der Stirn gibt es einen Blick, aber keine Augen».[69] Im Verlauf des Mittelalters konnten Vorstellungen wie diese dann mühelos auch auf andere Verbände, die aus den Steppen nach Westen vordrangen, übertragen werden. Noch im 12. Jahrhundert hielt Otto von Freising mit Blick auf die Pannonische Tiefebene und die Ungarn fest:[70]

Da das Land häufig Einfälle von Barbaren erlitten hat, ist es nicht verwunderlich, dass es in Sitten und Sprache bäurisch und ungeschliffen geblieben ist. Denn zuerst […] lag es der Ausplünderung durch die Hunnen offen, die nach Jordanes von bösen Geistern und Huren stammen, dann der Verwüstung durch die Awaren, die rohes, unreines Fleisch essen, und schließlich der Besitzergreifung durch die aus Skythien ausgewanderten Ungarn, die es noch heute bewohnen. Diese Ungarn haben ein hässliches Gesicht mit tiefliegenden Augen, von Wuchs sind sie klein, in Sitten und Sprache wilde Barbaren, und man muss mit Recht das Schicksal tadeln oder sich vielmehr über die göttliche Duldsamkeit wundern, die dieses schöne Land menschlichen Scheusalen – denn Menschen kann man sie kaum nennen – ausgeliefert hat.

Berittene Kriegergruppen, die über Wehrlose herfielen und mitunter Grausamkeiten in einem Ausmaß verübten, dass man sich ihrer noch Jahrhunderte später mit Abscheu erinnerte, von Zeitgenossen als tierhafte Schauergestalten imaginiert. Lohnt sich heute noch die Auseinandersetzung mit den Hunnen? Wer sich länger mit ihnen beschäftigt, wird diese Frage vermutlich rasch bejahen. Innerhalb des ‹Völkerwanderungs›-Geschehens kommt den Hunnen, wie wir noch sehen werden, eine wichtige Bedeutung zu. Auch wenn die von ihnen errichteten Machtgebilde nur von kurzfristiger Dauer waren und sich strukturell erheblich von jenen regna unterschieden, die seit dem 5. Jahrhundert auf ehemals römischem Boden entstanden, so wird man die Hunnen doch als maßgeblichen Impulsgeber zentraler politischer Entwicklungen zwischen dem ausgehenden 4. und dem 6. Jahrhundert betrachten müssen. Sie bildeten ebenso einen Teil der spätrömischen Geschichte wie jener des sāsānidisch-iranischen Großreiches, ja sogar des indischen Gupta-Reiches. Aus der Beschäftigung mit den Hunnen lassen sich somit auch Kenntnisse über die Vernetzung der spätantiken eurasischen Imperien in den gewaltigen Landmassen zwischen der Chinesischen Mauer und Mitteleuropa gewinnen. Es ist dies die Perspektive, aus der auf den folgenden Seiten die Geschichte der Hunnen von ihrem ersten Aufblitzen in der antiken Überlieferung über ihre europäischen und asiatischen Macht- und Reichsbildungen hin bis zum Verschwinden der letzten als ‹hunnisch› beschriebenen Verbände im 6. Jahrhundert erzählt werden soll.

2

Krieger aus den Weiten der Steppe – Die Frage nach der Herkunft der Hunnen

«Niemand weiß irgendetwas klares darüber zu sagen, woher die Hunnen stammen».[1] Mit diesen markanten Worten leitete Eunapios gegen Ende des 4. Jahrhunderts eine Herkunftsdiskussion ein, die bis heute fortgeführt wird. Immerhin wusste man, dass es sich bei den Hunnen um einen Reiterkriegerverband aus der Eurasischen Steppe handelte. Seinen Ursprung hatte, wie wir gesehen haben, erstmals Ammian nordöstlich des Asowschen Meeres, am «eisigen Ozean», verortet (ultra paludes Maeoticas glacialem oceanum accolens); der Geograph Markianos von Herakleia (wohl 5. Jh.) berichtet von Hunnen am Borysthenes (heute Dnipro), jenseits der Alanen,[2] und der Kirchenhistoriker Philostorgios (1. Hälfte 5. Jh.) bringt sie mit den Neurern in Verbindung, einem skythischen Volk geheimnisvoller Werwölfe, von dem bereits Herodot Kunde erhalten hatte.[3] Man erzählte sich überdies, das Meer habe die Küsten überflutet, im aufsteigenden Dunst sei ein Schwarm Greife erschienen und habe begonnen, die Anwohner zu verspeisen; diese seien daraufhin ausgewichen, hätten die Awaren verdrängt, die wiederum die Sabiren verjagt hätten, welche ihrerseits nun Druck auf hunnische Gruppen wie Saraguren, Urogen und Onoguren ausgeübt hätten; die Saraguren hätten schließlich die ebenfalls hunnischen Akatziren vertrieben – eine Geschichte so nebulös wie der Dunst aus dem Ozean, in dem sie angesiedelt ist.[4] Mehr aber war nicht in Erfahrung zu bringen.

Wer sich mit dem Problem der Herkunft der sogenannten europäischen Hunnen – denn nur um diese Gruppen soll es zunächst einmal gehen – beschäftigt, wird sich unweigerlich mit ihrem angestammten geographischen Kontext, der Eurasischen Graslandzone, auseinandersetzen müssen.[5] Denn ohne diesen Hintergrund lässt sich weder die Frage nach dem Ursprung der Hunnen noch diejenige nach der Struktur und Organisation ihres Verbandes angemessen diskutieren.

Eurasische Steppenzone

Die Große Eurasische Graslandzone[6] stellt mit ca. 5 Millionen Quadratkilometern das ausgedehnteste Steppengebiet der Erde dar. Es erstreckt sich in einem langgezogenen, etwa 7000 Kilometer langen Streifen vom nordwestlichen China bis an den Nordrand des Schwarzen Meeres; danach wird die Vegetation in Richtung Westen allmählich dichter und waldreicher, doch findet die Steppe noch eine – insbesondere für die hunnische Geschichte wichtige – Fortsetzung innerhalb des Karpatenbogens, in der Ungarischen (Pannonischen) Tiefebene (Puszta), die von Donau und Theiß durchzogen wird und im äußersten Westen bis in das heutige Österreich (Burgenland) ausgreift. Während die westlichen Steppengebiete mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von etwa 500 Kilometern recht schmal bleiben, öffnet sich der Graslandstreifen nach Osten hin auf bis zu 3000 Kilometer. Seine nördliche Begrenzung bilden die Laub- und vor allem Nadelwälder der sibirischen Taiga, wohingegen sich im Süden die ariden (trockenen) Zonen Zentralasiens anschließen, darunter ausgedehnte Wüsten wie die Gobi sowie die lebensfeindliche, mythenumrankte Taklamakan-Wüste im Tarimbecken, ferner die zentralasiatischen Gebirgsketten, vor allem der Tian Shan und der Altai.[7] Das kontinentale Klima in der Steppe ist weithin von Extremen gekennzeichnet: Lange, kalte, niederschlagsarme Winter beherrschen insbesondere den Osten der Graslandzone, die Sommer sind, abgesehen von den Übergangsregionen zu den Gebirgen und den westlichen Gebieten, gleichfalls trocken, jedoch sehr heiß; ein häufig scharfer Wind trägt zur Erosion der ohnehin wasserarmen Böden bei. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich die spezifische Vegetation, die der Graslandzone ihren Namen gab: Sie ist geprägt von Gräsern und einfachen, harten Sträuchern; Bäume finden sich in größerer Anzahl nur in den nördlichen Waldsteppen, die allmählich in die sibirischen Waldgebiete übergehen, und auch die westlichen Regionen, in denen ein etwas feuchteres Klima vorherrscht, weisen dichtere Vegetation auf. Landwirtschaft in größerem Ausmaß ist in der Graslandzone nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich; eine sesshafte, agrarische Lebensweise wurde dadurch nicht prinzipiell ausgeschlossen, beschränkte sich jedoch zumeist auf wenige Regionen, die entsprechende Voraussetzungen boten (vor allem die feuchteren Schwarzerdegebiete im Westen), oder erforderte hohen Aufwand (Bewässerungen) und genügsame, widerstandsfähige Agrarprodukte (etwa Hirse). Optimale Voraussetzungen bietet die Steppe hingegen für nomadische Viehweidewirtschaft, und diese hat ihre weiten Fluren über Jahrtausende hin geprägt. Insbesondere die Pferdezucht ist kennzeichnend für das Leben in der Steppe. Sie erhöhte die Mobilität und, noch wichtiger, deren Geschwindigkeit; vor allem aber brachte sie eine spezifische Form der sozialen Organisation hervor: den Reiterkriegerverband. Berittene Krieger aus der Steppe sind bereits für die archaische Zeit, das heißt seit dem 8. Jahrhundert v. Chr., bezeugt (Kimmerier, Skythen). Ihre Angriffe verbreiteten über die Jahrhunderte hin Grauen und Entsetzen, ihre Machtbildungen wie jene der Xiongnu und Xianbei, der Hunnen, Awaren, der Kök-Türken, Khasaren, Ungarn oder auch der Mongolen konnten in kurzer Zeit gewaltige Ausdehnungen erreichen.[8]

Die ‹Seidenstraße›

Die Eurasische Graslandzone stellte stets auch einen Kommunikationsraum dar, der von hoher Mobilität gekennzeichnet war; aus europäischer Perspektive zumeist einseitig als Motor einer Ost-West-Bewegung wahrgenommen, wurde er in der Forschungsliteratur auch mit der Metapher eines Highway umschrieben.[9] Tatsächlich waren die Steppe und insbesondere auch die südlich anschließenden Regionen Zentralasiens aber nicht nur durch kriegerische Mobilität gekennzeichnet, sondern auch durch den friedlichen Austausch von Gütern und Ideen – und dies in beide Richtungen. In der Han-Zeit (206 v. Chr.–220 n. Chr.) bildete sich jenes Geflecht an Verkehrsverbindungen heraus, das gemeinhin unter den Sammelbegriff der ‹Seidenstraße› subsumiert wird.[10] Über diese Routen fanden wertvolle Güter wie chinesische Seide, exotische Tiere, später auch das Papier den Weg nach Westen, während in umgekehrter Richtung zahllose Karawanen römische Luxusobjekte, Sklaven und Münzen in Richtung China transportierten; Religionen wie der Buddhismus, der persische Zoroastrismus, der Manichäismus und das nestorianische Christentum breiteten sich ebenso über dieses Wegenetz aus wie Ideen von politischer Organisation oder spezifische Formen der Repräsentation von Herrschaft. Genutzt wurde die zentralasiatische ‹Seidenstraße› im 5.–7. Jahrhundert vornehmlich von Händlern aus Sogdien, einer Region um die Zentren Samarkand, Buchara und Pandschakent, die im Norden und Süden von den Flüssen Syrdarya und Amudarya begrenzt wird; auch die Tatsache, dass die sogdischen Kaufleute im 5./6. Jahrhundert unter kidaritische und hephthalitische, im 6./7. Jahrhundert dann unter türkische Herrschaft gerieten, führte nicht zum Abbruch ihrer Aktivitäten, sondern trug phasenweise sogar zu deren Ausweitung bei. Dadurch wurden während der Spätantike und des Frühmittelalters, insbesondere dann in der Tang-Zeit (618–907), wichtige Transferwege zwischen dem Mittelmeerraum und China offengehalten, die wiederum das Interesse unterschiedlicher Reiterkriegerverbände aus den nördlich angrenzenden Steppen weckten.[11]

Es war jenes unermesslich weite Graslandgebiet zwischen den Imperien des Ostens und des Westens, verbunden mit Großreichen wie dem der persischen Sāsāniden, der Gupta oder später der Umayyaden, aus dem die Hunnen hervorgegangen sind; insofern mag es nicht verwundern, dass die Diskussionen über ihre Herkunft nicht nur die Peripherie des Imperium Romanum in den Blick nehmen, sondern bis nach China ausgreifen. In der Neuzeit schlug erstmals der französische Orientalist Joseph DE GUIGNES (1721–1800) diesen weiten Bogen und hielt im Vorwort des ersten Teils seiner 1756 erschienenen Histoire générale des Huns, des Turcs, des Mongols et des autres Tartares occidentaux programmatisch fest:[12]

Ich habe mir vorgenommen, in diesem Buch die Geschichte einer nahezu unbekannten Nation darzulegen, die zu verschiedenen Zeiten machtvolle Monarchien in Asien, Europa und Afrika errichtet hat: Die Hunnen, die in der Folgezeit den Namen der Türken trugen und aus einem Land nördlich von China zwischen den Flüssen Irtysch und Amur stammten, brachten nach und nach die gesamte Große Tartarei (= Zentral- und Nordasien) in ihre Gewalt.

Daran konnte wenig später Edward GIBBON (1737–1794) in seiner epochalen History of the Decline and Fall of the Roman Empire anknüpfen, als er ausführte:[13]

Die Hunnen, die unter der Herrschaft des Valens (364–378) das Römische Reich bedrohten, hatten schon in einem viel früheren Stadium dem Chinesischen Reich Respekt eingeflößt. Ihr alter, vielleicht sogar ursprünglicher Sitz war ein ausgedehnter, wenngleich trockener und karger Landstrich, unmittelbar an der Nordseite der Großen Mauer.

Ganz ähnlich äußerten sich auch deutschsprachige Gelehrte des frühen 19. Jahrhunderts, wie etwa der Völkerkundler und Bibliothekar Gustav Friedrich KLEMM (1802–1867), der in seinem Attila-Buch aus dem Jahr 1827 konstatierte:[14]

Die Hunnen waren ein asiatisches Volk vom mongolischen Stamme, das ehedem (200 J.v.Ch.) ein großes Reich im Norden von China, unter Tanju’s, Söhnen des Himmels, besessen, das aber, durch rohe Schwelgerei entnervt, den Chinesen sich (93 J.n.Ch.) unterwerfen mußte, während nur noch einige kräftigere Stämme nach Westen zogen, sich Weide und vielleicht neue Sitze zu suchen. Auf der langen zweihundertjährigen Wanderung kamen sie endlich in die Gegenden des kaspischen Meeres, wo sie den Römern bekannter geworden zu seyn scheinen.

Hinter all diesen Überlegungen steht eine Verknüpfung der Hunnen mit den Xiongnu, einem Reiterkriegerverband, der zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 1./2. Jahrhundert n. Chr. ein gewaltiges Steppenimperium im östlichen Zentralasien mit Zentrum in der heutigen Mongolei (Mongolisches Plateau) etablierte. Insbesondere der Norden Chinas zur Zeit der Qin (221–206 v. Chr.) und der Han-Dynastie litt erheblich unter den regelmäßigen Einfällen der Xiongnu; die Situation spitzte sich allzumal zu, als ihre Konföderation unter dem shanyu Mao-dun (†174 v. Chr.) eine zunehmend straffe Organisation erhielt und Kaiser Gaozu (†195 v. Chr.) besiegte. Schon die Qin hatten begonnen, ältere Befestigungen zu einem größeren Bollwerk zu verbinden, das vor Angriffen aus der Steppe schützen sollte und als Vorläufer der Großen Chinesischen Mauer angesehen werden kann. Unter den Han wurde China den Xiongnu zunächst sogar tributpflichtig, bis es in der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu einer Spaltung der Konföderation kam. Die Südlichen Xiongnu gliederten sich daraufhin in den chinesischen Reichsverbund ein, während die nördlichen Gruppen nach mehreren Niederlagen gegen chinesische Truppen und die Xianbei seit Ende des 1. Jahrhunderts in Richtung Westen abgedrängt wurden und aus der chinesischen Überlieferung verschwinden. Freilich blieben die Xiongnu ein politischer Faktor im Reich der Mitte, Reiterverbände und ihre Anführer beriefen sich auf sie und insbesondere ihr Name sollte weiterhin Schrecken verbreiten (s.u.).[15] Einer populären, im 19. Jahrhundert auf Basis sprachwissenschaftlicher Studien[16] verfestigten Vorstellung zufolge gelangten die Nachfahren der Xiongnu nach jahrhundertelanger Wanderung um 375 als Hunnen in den Schwarzmeerraum und verdrängten dort zunächst die Alanen und bald auch die gotischen Greutungen und Terwingen – Ereignisse, die weithin als Auslöser der ‹Völkerwanderung› gelten.[17]

Obwohl die lineare Ableitung der Hunnen aus den Xiongnu, wie sie auch in der jüngeren Forschung noch vertreten wurde,[18] alles andere als unproblematisch ist,[19] stellt sie weiterhin die populärste Hypothese zu ihrer Herkunft dar.[20] Wir müssen sie daher ein wenig genauer betrachten.

Die Xiongnu-Hypothese stützt sich im Wesentlichen auf zwei Argumente – ein sprachwissenschaftliches und ein archäologisches. Blicken wir zunächst auf die Sprachwissenschaft: Nachgewiesen ist inzwischen, dass die griechischen und lateinischen Termini Οὖννοι (Ounnoi) bzw. Chunni/Hunni mit dem chinesischen Wort Xiongnu verwandt sind.[21] «Hunnen» finden sich zudem in indischen Sanskrittexten unter der Bezeichnung Hūṇa. Zhu Fahu, ein in der Oasenstadt Dunhuang (Nordwestchina) lebender buddhistischer Mönch, dessen Familie ursprünglich aus Baktrien (südlich von Sogdien, im heutigen Nordafghanistan gelegen) stammte und der um die Wende zum 4. Jahrhundert Texte des Buddhismus ins Chinesische übertrug, hat an zwei Stellen Hūṇa mit Xiongnu wiedergegeben und verband mit diesen Gruppen offenbar sehr konkrete Vorstellungen.[22] Nahezu zeitgleich, im Jahr 313, verfasste der sogdische Kaufmann Nanai-vandak im chinesischen Wuwei einen Lagebericht für einen Kollegen in Samarkand, der zu einem Briefdossier auf Papier gehört, das 1907 westlich von Dunhuang an der ‹Seidenstraße› entdeckt wurde – ein Sensationsfund! Nanai-vandak berichtet darin von zerstörerischen Einfällen der Xwn in nordchinesische Gebiete und von der Plünderung der Hauptstadt Luoyang (311):[23]

Und, meine Herren, der letzte Kaiser ist, so sagt man, wegen der Hungersnot aus Luoyang geflohen, und sein Palast und die Stadt wurden in Brand gesteckt, und der Palast wurde niedergebrannt und die Stadt zerstört. Luoyang existiert nicht mehr, Ye existiert nicht mehr! Überdies, die … Xwn, und sie … Chang’an, so dass sie es in ihrer Gewalt haben … bis nach Ye, dieselben Xwn, die gestern noch des Kaisers Untertanen waren! Und, meine Herren, wir wissen nicht, ob die verbliebenen Chinesen in der Lage waren, die Xwn aus Chang’an, aus China, zu vertreiben, oder ob sie das Land jenseits davon auch eingenommen haben.

Offenkundig hatten die Krieger der Xwn Chaos und Zerstörung über China gebracht – selbst die Kaiserresidenz war gefallen und in Schutt und Asche niedergesunken! Wir wissen, dass Kaiser Jin Huaidi damals verschleppt und zwei Jahre später ermordet wurde. Aber wer waren diese Xwn, die zu alldem fähig waren? Wie inzwischen gezeigt werden konnte, handelte es sich um jene Kriegergruppen, die in chinesischen Texten als Xiongnu bezeichnet werden.[24] Daraus wurde eine zunächst einmal plausibel anmutende Schlussfolgerung gezogen:[25]

Alle zeitgenössischen Quellen stimmen darin überein, dass die europäischen Hunnen des 4. und 5. Jahrhunderts von allen, die ihnen begegneten, Hunnen genannt wurden und dass sie diesen Namen auch für sich selbst verwendeten. Zudem hat sich der Name Hunne bei allen Völkern, die von ihrem extrem schnellen Vormarsch betroffen waren, nie geändert, sei es in Europa oder südlich des Kaukasus. Dies beweist, dass es die Hunnen selbst waren, die diesen Namen verbreitet haben. Wenn die zeitgenössischen Quellen zutreffen, kamen die europäischen Hunnen mit demjenigen Namen an, den die Chinesen als «Xiongnu» transkribierten, das heißt: «Hunnen».

Die Tatsache, dass die Xiongnu im sogdischen Xwn und indischen Hūṇa präsent sind, bestätigt – entgegen älteren und jüngeren Einwänden, die auf phonetische Ungereimtheiten verweisen –auch der Sprachwissenschaftler Christopher ATWOOD, doch führen ihn seine linguistischen Analysen zu einem etwas differenzierteren Bild.[26] Demnach sprach man im Sanskrit nämlich schon von Hūṇa, bevor die Xiongnu aus dem mongolischen Raum in Richtung Westen aufgebrochen seien; Kenntnisse über sie seien über Sichuan und Yunnan, also eine Route südlich der zentralasiatischen ‹Seidenstraße›, nach Indien vermittelt worden. Baktrische Griechen hätten Hūṇa dann als Ounna transkribiert; auch das sogdische Xwn/Γwn sei vom indischen Hūṇa abgeleitet worden. Um 350 habe sich schließlich in der kasachischen Steppe ein neuer Verband ausgebildet, der Kontakte zu sogdischen und baktrischen Händlern unterhalten und bald Angriffe auf die pontischen Steppen (Alanen) und gegen die Sāsāniden eingeleitet habe. Auf Griechisch habe man diese Invasoren in Anlehnung an den sogdischen Sprachgebrauch Ounna bzw. (nativiert) Ounnoi genannt, während die Sāsāniden zunächst auf die archaisierend-generische Bezeichnung für ‹Gegner› aus dem Avesta, der heiligen Sammlung zoroastrischer Texte, zurückgegriffen hätten: Khynōn (Hyōn).[27] ATWOOD konnte damit ein Modell zur linguistischen Rekonstruktion der Verbreitung des Hunnennamens, angefangen bei den Xiongnu, vorlegen – doch bleiben seine Ausführungen zum Ursprung der (späteren) europäischen Hunnen letztlich vage.

Generell führt das sprachwissenschaftliche Argument immer dann zu Problemen, wenn man aus ihm die Bewegung von Menschen ableiten möchte – in unserem Fall die Westwanderung der ‹Hunnen›. Die bisher bekannten Belege für das Wort ‹Hunnen› fügen sich keineswegs zu einer chronologisch und geographisch schlüssigen Kette zusammen, die ein lineares Migrationsgeschehen abbilden könnte; stattdessen blitzt, wie ATWOOD darlegen konnte, der Hunnenname zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedenen Regionen Zentralasiens, Indiens und im Iran auf, ja er scheint geradezu hin- und herzuspringen. Eine Wanderung allein vermag dieses Phänomen jedenfalls nicht zu erklären.[28] Ähnlich ernüchternd sind im Übrigen sämtliche Versuche geendet, die Sprache der Hunnen einzuordnen. Die wenigen bekannten Namen und etwa 20 Wörter sowie ein kurzes, sprachlich nicht erklärbares Distichon in chinesischer Schrift, welche die Basis für jedweden Rekonstruktions- und Kategorisierungsversuch bilden müssen, haben sich als allzu inhomogen erwiesen. So wird weiterhin diskutiert, ob das Hunnische eher als Turksprache, als mongolisches, paläosibirisches, iranisches oder slawisches[29] Idiom zu klassifizieren sei. Einige bei den Hunnen belegte Namen jedenfalls sind türkischen, andere alanischen oder germanischen Ursprungs; ‹Attila› etwa ist gotisch und bedeutet ‹Väterchen›.[30] Die hunnische Sprache, ihre Herkunft und Zuordnung bleiben uns somit verschlossen. Als Indikator für Migrationen können vermeintlich hunnische Wörter somit nicht dienen, und schon gar nicht taugen sie dazu, Fragen der Ethnizität zu beantworten.[31]

Das archäologische Argument rekurriert vor allem auf eine besondere Gruppe von Objekten: Metallkessel (zumeist aus Bronze), auf die man sowohl in Fundkontexten, die den Xiongnu zugewiesen werden, als auch in solchen, die allgemein als ‹hunnisch› gelten,[32] getroffen ist. Verteilung und Datierung der einzelnen Gefäße haben Archäologen im 20. Jahrhundert intensiv beschäftigt. Sie wurden sorgfältig kartiert, um auf dieser Basis die Westwanderung der ‹Hunnen› zu rekonstruieren[33] – ein Vorgehen, das freilich schon bald Kritik auf sich gezogen hat. Denn nicht zuletzt eine Fundlücke im Gebiet der kasachischen Steppe verhindert die Nachzeichnung einer kontinuierlichen Xiongnu/Hunnen-Bewegung nach Westen.[34] Aus diesem Grund wurde die Xiongnu-Hypothese mehrfach überarbeitet und ausdifferenziert.

Der Historiker Étienne DE LA VAISSIÈRE hat weiteres Quellenmaterial gesichtet und folgert aus dem chinesischen Geschichtswerk Weishu, dass Teile der Nördlichen Xiongnu nach der Zerschlagung ihrer Konföderation weit nach Westen abgewandert sein müssen;[35] einige Gruppen hätten sich in der Altai-Region (und im südsibirischen Minussinsker Becken) angesiedelt,[36] von wo aus sie im 4. Jahrhundert infolge einer Klimaverschlechterung mit gravierenden Folgen (lang anhaltende Dürreperioden) in Richtung Westen aufgebrochen seien, um in den 370er Jahren nördlich des Schwarzen Meeres im Wahrnehmungshorizont unserer römischen Gewährsleute zu erscheinen. Diese Wanderung, bei der sich selbst die Sprache der Migranten habe verändern können, aber eine «politische und in gewissem Umfang auch kulturelle Kontinuität» aufrechterhalten worden sei,[37] lasse sich über die Verteilung der Metallkessel gut nachvollziehen. Erklärt werden müsse insofern nicht die zeitliche und räumliche Distanz zwischen den Xiongnu im Norden Chinas um die Wende zum 2. Jahrhundert und den europäischen Hunnen im 4. Jahrhundert, sondern eher die Lücke zwischen den von den Chinesen im 2. Jahrhundert vertriebenen Xiongnu und ihrem Aufbruch aus dem Altai rund 200 Jahre später.[38]

Fundstellen von Metallkesseln

Wiederum anders argumentiert der Historiker Hyun Jin KIM.[39] Er nimmt die verbreitete Skepsis gegenüber einer linearen Ableitung der Hunnen aus den Xiongnu durchaus zur Kenntnis, meint aber dennoch eine enge Verbindung herausarbeiten zu können. Diese sei jedoch kultureller und politischer Natur, denn die Namensgleichheit ‹Hunnen› = ‹Xiongnu› allein bedeute zunächst einmal nur wenig. Die hunnischen Metallkessel hingegen bezeugten eindeutig eine kulturelle Kontinuität: «Die meisten ernstzunehmenden Hunnen- und Xiongnu-Forscher», so KIM, «sind sich einig, dass die hunnischen Kessel, ein archäologisches Kennzeichen hunnischer Präsenz, von den Xiongnu-Kesseln in der Ordos-Region in der Inneren Mongolei abstammen».[40] Überdies finde sich bei Xiongnu und Hunnen jeweils ein ganz ähnlicher Schwertkult.[41] Selbstverständlich hätten die Xiongnu auf ihrer langen Westwanderung eine tiefgreifende Transformation durchlaufen, die unter anderem zu einer Turkifizierung der Eliten, nicht zuletzt durch Annahme einer Turksprache, geführt habe. Dennoch sei innerhalb ihres multiethnischen Verbandes «ein kulturell dominierender innerer Kern aus Xiongnu bzw. Hunnen» intakt geblieben,[42] so dass «[…] selbst wenn man eine ethnische bzw. genetische Verbindung zwischen Hunnen und Xiongnu ablehnen wollte, es unmöglich ist, eine kulturelle Kontinuität oder Verwandtschaft zwischen den Xiongnu und den Hunnen zu leugnen».[43] KIMS Insistieren auf einer kulturellen und politischen Verbindung zwischen Hunnen und Xiongnu kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter diesem Etikett lediglich eine alte, kontroverse Hypothese ein weiteres Mal verkauft wird.[44] Wenn er anmerkt, dass «es möglich ist, diese kulturelle Verbindung durch tatsächliche physische, ‹genetische› Verbindungen zwischen den späteren Hunnen und den früheren Xiongnu zu verstärken»,[45] so wird dieser Sachverhalt ebenso deutlich wie in seinem Fazit: «Nichtsdestotrotz ist jedenfalls klar, dass die Vorfahren der hunnischen Kernstämme (zumeist Turk- und iranische Stämme), wenn man sie denn überhaupt erwähnen muss, Teil des Xiongnu-Reiches waren und ein starkes Xiongnu-Element aufwiesen, und dass die herrschende Elite der Hunnen, wie schon ihr Name andeutet, den Anspruch erhob, zur politischen Tradition dieser Machtbildung zu gehören».[46] Für KIM handelte es sich bei den europäischen Hunnen um direkte Nachkommen der Xiongnu.[47]

Angesichts der spektakulären Resultate jüngerer Analysen antiker DNA mag man sich fragen, ob sich das Problem der Herkunft der Hunnen nicht einfach auf naturwissenschaftlichem Weg lösen lässt. Und in der Tat haben sich inzwischen mehrere Arbeitsgruppen den Hunnen zugewandt.[48] Die Ergebnisse der archäogenetischen Analysen sind jedoch alles andere als eindeutig – nicht zuletzt deshalb, weil bislang noch zu wenig hunnenzeitliche DNA-Proben aus einschlägigen Regionen existieren, um ein konsistentes Bild zu gewinnen.[49] Zwar konnte in einigen Gräbern, die von Archäologen mit Hunnen in Verbindung gebracht werden, genetisches Material nachgewiesen werden, das auf Zentralasien, ja sogar auf die Xiongnu hindeutet,[50] doch ist der Grad der Übereinstimmung nicht hinreichend hoch, um von einer direkten, linearen Nachkommenschaft zu sprechen, zumal die Xiongnu selbst keine einheitliche genetische Signatur aufweisen.[51] Vielmehr scheinen sich in den DNA-Analysen lediglich Annahmen zu bestätigen, die Historiker ohnehin längst formuliert hatten: dass mobile Reiterkriegerverbände aus der Eurasischen Steppe sehr heterogene, multiethnische Konföderationen darstellten, die sich genetisch kaum vereindeutigen lassen. So weisen Untersuchungen awarenzeitlicher Elitegräber aus dem Karpatenbecken für die Phase zwischen dem mittleren 7. und frühen 8. Jahrhundert auf ein hohes Maß an genetischer Heterogenität mit deutlichen nordostasiatischen Komponenten hin.[52] Ob sich dieses Ergebnis auch auf die Hunnen übertragen lässt, ist indes ungewiss, doch spricht der genetische und – bei aller Vorsicht – linguistische Befund[53] nach aktuellem Stand dafür, dass die Hunnen sich erst im westlichen Teil der Steppe formiert und mit den Xiongnu nur wenig zu tun haben.[54]

Der Umstand, dass die historische Interpretation der Ergebnisse entsprechender DNA