15,99 €
3. aktualisierte Auflage Die Identitären, deren Anfänge um das Jahr 2002 auszumachen sind, verstehen sich als Jugendbewegung der ›Neuen Rechten‹ in Europa. Seit der Initialzündung in Frankreich haben sich u.a. in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Großbritannien, Spanien sowie Dänemark, Schweden und Norwegen Ablegergruppen gegründet, die untereinander vernetzt sind und sich im Aufbau von grenzüberschreitenden Strukturen befinden. Basierend auf Text-, Bild- und Videomaterial, den Gruppen-Standpunkten, Gesellschaftsanalysen und Schlussfolgerungen werden in diesem Handbuch Aktionismus und Aktivist_innen benannt und analysiert. Die politische Logik ihrer Thesen wird ebenso eingeordnet, wie die Mittel (rhetorisch, visuell, aktionistisch, medial), derer sie sich bedienen und es wird der Frage nachgegangen, auf welche Theorien und vorhandene Literatur sich die Identitären stützen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 517
Veröffentlichungsjahr: 2017
Julian Bruns, Kathrin Glösel& Natascha Strobl
Die Identitären
Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa
UNRAST
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Julian Bruns, Kathrin Glösel & Natascha Strobl
Die Identitären
3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Juli 2017
ebook UNRAST Verlag, Januar 2018
ISBN 978-3-95405-026-0
© UNRAST-Verlag, Münster
Postfach 8020, 48043 Münster - Tel. (0251) 66 62 93
www.unrast-verlag.de - [email protected]
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
nach einer Vorlage von Julia Spacil
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Julian Bruns (*1982) studiert in Wien Skandinavistik und schreibt an seiner Dissertation zu ›faschistischer Literatur in Nordeuropa‹. Er war bei der Österreichischen Hochschüler_innenschaft der Universität Wien im Referat für antirassistische Arbeit tätig.
Kathrin Glösel (*1989) hat Politikwissenschaft sowie Europäische Frauen- und Geschlechtergeschichte in Wien studiert und macht historisch-politische Bildungsarbeit im ›Mauthausen Komitee Österreich‹ sowie im Verein ›Gedenkdienst‹.
Natascha Strobl (*1985) hat in Wien Politikwissenschaft und Skandinavistik studiert und mit einer Arbeit zur Neuen Rechten abgeschlossen. Sie hat sich als Sachbearbeiterin an der ÖH Uni Wien intensiv um die antifaschistische Schulungsarbeit im Verband gekümmert und betreibt den Blog Schmetterlingssammlung.
Widmung und Danksagung
Vorwort zur dritten Auflage
Einleitung
Über dieses Buch
Material, Literatur und Vorgehensweise
Teil 1Politische Verortung der Identitärenund ihre historischen Vorbilder
Begriffsdefinitionen in diesem Buch
Begriffsklärung ›Rechtsextremismus‹
Begriffsklärung ›Neue Rechte‹
Entwicklung der Neuen Rechten
Die ›Konservative Revolution‹ als Vorbild
Begriffsklärung und -definition
Akteure der ›Konservativen Revolution‹
Soziokulturelle Gemeinsamkeiten und Erster Weltkrieg
Gemeinsame Analyse
Ideologie
Die ›Konservative Revolution‹ und Nationalsozialismus
Die ›Konservative Revolution‹ in Europa
Was ist Faschismus?
Teil 2Die Identitäre Bewegung in Europaund ihr Umfeld
Charakteristika und Länderüberblick
Bewegung ohne Vision? – Allgemeines zu den identitären Gruppen
Frankreich
Deutschland
Der Funke
Österreich
Schweiz
Italien
Schweden
Norwegen
Dänemark
Tschechien
Slowenien
Ein Blick in die Ferne - die USA
Politisches und publizistisches Umfeld
Verlage, Blogs und Zeitschriften
Politische Netzwerke
Think Tanks
Neurechte Zentren
Teil 3Ideologie und Strategien der Neuen Rechtenund der Identitären
Ideologisches Fundament der Neuen Rechten und der Identitären
Nation, Staat, Gesellschaft
Geschlechter- und Rollenbilder
Menschenbild
Ethnopluralismus und Kulturbegriff
Antimuslimischer Rassismus
(Sekundärer) Antisemitismus
Europa-Ansichten
Vom Neurechten ›Antikapitalismus‹ bis zum radikalen Wirtschafsliberalismus
Anti-Liberalismus, Anti-Marxismus und Anti-Antifaschismus
Strategien
Das Ziel: Die Kulturrevolution von rechts
Rhetorische Mittel
Visuelle Kommunikation
Aktionsmuster der Identitären
Fazit
Die Identitären als Jugendbewegung der Neuen Rechten
Handlungsräume und Gegenstrategien
Häufig gestellte Fragen
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Bibliographie
Anmerkungen
Wir möchten uns bei allen Menschen bedanken, die uns während des Schreibens mit Rat und Tat zur Seite standen. Dazu gehören unsere Eltern und Großeltern, die uns immer unterstützt haben, sowie unseren Freund_innen.
Außerdem geht ein großes Dankeschön an den Unrast Verlag und all die netten Mitarbeiter_innen, speziell das Lektorat für die Möglichkeiten und die wunderbare Betreuung.
Dieses Buch ist allen Antifaschist_innen gewidmet, die sich jeden Tag auf vielen Ebenen gegen Faschismus und alle Formen von Ausgrenzung engagieren! Es ist notwendig, aber keinesfalls selbstverständlich, darum: Danke!
In Erinnerung an Wolfgang Purtscheller
Die ›Neue Rechte‹ – konkret ihr studentischer Auswuchs in Wien – hat uns schon länger beschäftigt, genau genommen seit dem Sommersemester 2011. Begonnen hat es mit Plakaten und Stickern, die Aktivist_innen zunächst ohne Logo am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien verteilt haben. Ebenso haben sie ihre Publikationen an den Türen von Lehrenden, Studienassistent_innen und der Studienvertretung hinterlassen, deren linker Aktivismus bekannt war. Statt platte Parolen oder deutschtümelnde Burschenschafter-Sprüche von sich zu geben, inszenierten sie sich intellektuell, umhüllten sich mit Zitaten von Oswald Spengler und Carl Schmitt, zierten ihre Flyer mit Bildern aus bekannten dystopischen Filmen oder stilisierten sich selbst als Wanderer über ein städtisch-modernes Nebelmeer. Die dazugehörigen Personen haben wir zum ersten Mal am 15. April 2011 ›kennengelernt‹, als sie eine Filmvorführung von Fahrenheit 451 störten, die vom VSStÖ Wien (Verband Sozialistischer Student_innen in Österreich) organisiert worden war. Dieser Auftritt der Gruppe Der Funke, einer Vorgängerorganisation der Identitären, hat uns nicht nur dazu bewogen, uns als politische Aktivist_innen mit der Organisation und ihrem politischen Umfeld zu befassen, sondern auch dazu, die ›Neue Rechte‹ wissenschaftlich zu beleuchten. Entstanden ist daraus Natascha Strobls Diplomarbeit im Fach Politikwissenschaft, die sie Anfang 2012 fertiggestellt hat und auf deren theoretische Vorarbeit wir hier gerne und mit Dank als Autor_innenkollektiv zurückgegriffen haben. Im Herbst 2012 formierte sich eine weitere identitäre Wiener Gruppe, die im deutschsprachigen Raum zu den ersten gehörte, die diese Bezeichnung für sich beanspruchte. Erneut war das Institut für Politikwissenschaft eine Schnittstelle: Im Zuge der zweiten Antifaschistischen Aktionswoche der Studienvertretung Politikwissenschaft, in der Natascha Strobl und Kathrin Glösel aktiv waren, ließen es sich die bekannten Gesichter der Wiener Identitären nicht nehmen, bei einem Vortrag von Julian Bruns und Natascha Strobl im Mai 2013 vorbeizuschauen. Diesmal hatten sie sich Verstärkung geholt: Martin Lichtmesz (eigentlich Semlitsch)[1], der es jedoch vorzog, stumm in der ersten Reihe zu verharren und während der Abschlussrunde aus dem Raum zu schleichen.
Nach diesem Abend war uns klar, dass die Identitären nicht ignoriert werden durften, zu oft hatten sie bereits linke Räume gestört. Vieles bis dato zu den Identitären Veröffentlichte hatte nach unserer Einschätzung einiges ausgeklammert und war auf tagespolitische Zusammenhänge konzentriert. Wir haben aber gerne auf viele sehr gute Artikel zurückgegriffen und hoffen, mit diesem Buch eine ausführliche Darstellung liefern zu können.
Wir verfolgen einen ideologiekritischen Ansatz und untersuchen – basierend auf Text-, Bild- und Videomaterial der Gruppen – Standpunkte, Gesellschaftsanalysen, Schlussfolgerungen, Aktionismus und Umfeld. Wir zeichnen nach, in welche politische Logik sich ihre Thesen einordnen lassen, welcher Mittel (rhetorisch, visuell, aktionistisch, medial) sie sich bedienen und auf welche Theorien und vorhandene Literatur sich die Identitären stützen.
Knapp ein Jahr nach der zweiten Auflage dürfen wir zur dritten Auflage aktualisieren. Wir sind überwältigt von dem ungebrochenen Interesse an unserer Arbeit. Seit vielen Jahren beobachten wir kontinuierlich die Szene und freuen uns, mittlerweile viele Kolleg_innen gefunden zu haben. Als wir anfangs allein auf weiter Flur dastanden, wurden wir vielerorts für den Themenschwerpunkt belächelt. Dass wir mit unserer Arbeit einen Beitrag zur Einordnung des Phänomens leisten konnten, macht uns stolz. Auch, dass wir unsere Einschätzung in vielen verschiedenen Kontexten vorstellen durften, zeigt, dass das Interesse wächst.
In dieser Auflage haben wir die Länderkapitel aktualisiert und weitere Verlage und neurechte Medienprojekte hinzugefügt. Nach den Erfahrungen unserer Vorträge haben wir uns außerdem dazu entschlossen, die häufigsten Fragen zu Identitären in einem FAQ-Kapitel zu beantworten.
Die politische Lage hat sich im letzten Jahr weiter zugespitzt und wir sehen immer stärkere Verbindungen zwischen Parteien, außerparlamentarischen Projekten und Medien, die diese begleiten. Als Bindeglied dienen oft Jugend- und Vorfeldorganisationen von Parteien. Das zeigt, dass Parteien längst ihren reinen Fokus auf Wahlkampf und Parlamente aufgegeben haben, so sie diese Strategie je hatten, und vielmehr einen Gesellschaftsumbau als solchen betreiben wollen. Sich diesem entgegenzustellen, bleibt die vorderdringlichste Aufgabe aller Antifaschist_innen.
Dieses Buch ist allerdings mehr als eine weitere deutschsprachige Publikation zur ›Neuen Rechten‹ – es soll zu politischer Intervention anregen. Wir wollen nicht nur dabei zusehen, wie Akteur_innen der ›Neuen Rechten‹, darunter Identitäre, Universitätsinstitute für sich entdecken und ihr Material an Unis, Schulen und in Betrieben verteilen und wie sie gewalttätig gegen Antifaschist_innen vorgehen. Wir wollen Identitäre nicht als Kommiliton_innen, deren Wortmeldungen in Lehrveranstaltungen unwidersprochen bleiben. Wir wollen ihnen keine selbstverständliche Bewegungsfreiheit zugestehen – weder an Unis noch anderswo. Sondern wir wollen es ihnen so unbequem wie möglich machen!
Das erreichen wir am ehesten, indem wir ihre Ideologie offenlegen, ihre Strategien entzaubern, ihre Referenzen preisgeben, ihre Nahverhältnisse, ihre persönlichen Verstrickungen und grenzüberschreitenden Netzwerke nachzeichnen. Ihre Logik zu verstehen und ihre Symbole und Sprache zu identifizieren, sind die wichtigsten Voraussetzungen für Gegenmaßnahmen und Entkräftungsstrategien. Daher hoffen wir, mit diesem Buch ein nützliches tool für Schüler_innen, Studierende, Lehrende, Interessierte und vor allem antifaschistisch gesinnte Leser_innen zur Verfügung stellen zu können.
Julian Bruns, Kathrin Glösel, Natascha Strobl
Die Identitären sind den deutschsprachigen Medien seit etwa Ende 2012 als solche bekannt: Sind sie junge, gut gebildete Rechtsextremist_innen, konservative Aktivist_innen, sind sie ungefährlich oder eine ernst zu nehmende Erscheinung? Kategorisierungsversuche zeichnen oft kein einheitliches Bild von jenen jungen Erwachsenen, die es zunächst durch die Besteigung eines Moscheedachs in Poitiers, eine kurzfristige Kirchenbesetzung in Wien oder mit Tanzflashmobs in Deutschland in Zeitungen und Nachrichten geschafft haben. Mediale Berichterstattung und politische Kommentare, die dahin tendieren, Links und Rechts als gleich störend, als gleich gefährlich zu bezeichnen, erleichtern es den Identitären, zu agieren. Dieser Nährboden, der antifaschistische und rechtsextreme Positionen nivelliert, macht es den Akteur_innen der ›Neuen Rechten‹ und den Identitären leicht, sich mit ihrer Ideologie in beispielsweise universitären Räumen zu bewegen, an Schulen Sympathisant_innen zu gewinnen und aus bürgerlichen Familien heraus Mitglieder zu werben.
Als digital natives, also einer Generation, die internetaffin ist und sich sicher in sozialen Netzwerken, Foren von Online-Zeitungen und Video-Channels bewegt, können sie sich Öffentlichkeit schaffen, ohne auf formale Pressearbeit oder eine hohe Beteiligung an Aktionen angewiesen zu sein.
Die erklärten Ziele: eine Diskursverschiebung, in der (besonders muslimische) Immigrant_innen und Geflüchtete als Gefahr und Liberale wie Linke als Feind_innen klassifiziert werden, sowie die gleichzeitige Forcierung eines positiv besetzten Nationalismus-Begriffs (im Sinne einer ›völkisch-kulturalistischen‹ Identität). Dabei betreiben sie auf metapolitischer Ebene eine Agitation, die auch abseits tagespolitischer Ereignisse stattfindet und nicht auf formalen Zuspruch und Institutionalisierung angewiesen ist.
Offiziell distanzieren sich die Identitären von Rechtsextremismus oder rechtsextremen Parteien wie etwa im deutschsprachigen Raum von der NPD,[1] vom Nationalsozialismus, von Antisemitismus und Rassismus, um im selben Atemzug zu betonen, dass man alles andere als marxistisch und links sei. »Nicht links, nicht rechts – identitär« [2], mit Extremismus habe man nichts am Hut. Identitäre bedienen sich eines Extremismus-Begriffs, der politisch linke und rechte Handlungen, die sich jenseits einer »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« (FDGO) [3] bewegen, gleichsetzt.
»›Extrem‹ ist also, wer sich politisch fern von einer gedachten Mitte aufhält. Diese wird in der Extremismustheorie von der Mehrheitsgesellschaft repräsentiert, während extremistische Spektren nur Ideologien von Minderheiten repräsentieren.« [4]
Identitäre verhöhnen Political Correctness, deren Vertreter_innen sie als »Tugendwächter« [5] bezeichnen, die keine Meinungs- und Entscheidungsfreiheit zuließen. Dadurch wird das Spiel mit der Angst vor Freiheitseinschränkungen und die Positionierung als Minderheit, die unter einer »antidemokratische[n] linke[n] Meinungsdiktatur« [6] leidet, zum Ausgangsmoment der Mobilisierung und zum Leitmotiv ihres politischen Handelns.
Identitäre beanspruchen das Recht auf einen positiv besetzten Patriotismus. Damit soll ein Gefühl des Erstarkens einhergehen, um dem vermeintlich erlebten Zustand, »fremd im eigenen Land« zu sein, etwas entgegenzustellen. Eine solche Selbstbestärkung geschieht ungeachtet der Tatsache, dass die geltenden Herrschaftsverhältnisse jenen deutliche Privilegien zusprechen, die wie die Protagonist_innen der identitären Gruppen, weiße, männliche Staatsbürger aus meist gutbürgerlichem Hause sind. Schlüssel dieser Politik des positiven Nationalismus, des positiven Patriotismus und der gleichzeitigen Abwehr all dessen, was nicht zum ›Eigenen‹ gehört, ist die Vorstellung, dass es so etwas wie eine »ethnische Kontinuität« [7] gäbe, wie es Götz Kubitschek[8] bezeichnet. In einem Interview am zwischentag 2012 in Berlin beschreibt Kubitschek diese »Kontinuität« als »etwas, was nicht ohne Not aufgegeben werden sollte« [9]. Es ist die Parole des »ethnokulturellen Selbsterhalts« [10], der eine Politik gegen Migrant_innen, gegen Personen vermeintlich anderer Ethnien, gegen Personen, die aufgrund ihrer Religion und/oder Hautfarbe als ›anders‹ gewertet werden, aber auch gegen nicht-heterosexuelle Menschen und Personen mit abweichender politischer Haltung rechtfertigen soll.
Sozioökonomische Fragen[11] werden mit nationalen Lösungsvorschlägen beantwortet. In Zuwanderung werden Gründe für den Abbau von Demokratie und die Verschärfung sozioökonomischer Verhältnisse gesucht. Lohn- und Beschäftigungspolitiken transnationaler Konzerne, Finanztransaktionspolitiken, policy-Gestaltung von und für eine (weiße, westliche, männliche) Elite – kurzum: Kapitalismusfolgen, die der eigenen Zielgruppe genehm sind – bleiben in der vermeintlichen Antiglobalisierungspolitik der Identitären unangetastet. Herkunfts- und Migrations- sowie Asylfragen in Form von kulturrassistischen Positionen bilden damit den Schwerpunkt ihrer Agitation.
Die propagierte Umkehr von Machtverhältnissen kommt unter anderem in Slogans wie Deutsche Opfer, fremde Täter oder Begrifflichkeiten (zum Beispiel »Ethnomasochismus« [12]) zum Ausdruck, die negative Assoziationen hervorrufen sollen (zum Beispiel »Islamisierung«, »Überfremdung«, »Ausländerkriminalität«). Rassismus und die Ablehnung universaler Menschenrechte[13] werden in moderner, jugendlicher Verpackung präsentiert.
Zu erkennen geben sich Identitäre gerne, nur müssen die gar nicht subtilen Hinweise dekodiert werden: Sticker mit dem Lambda-Symbol auf Handyhüllen, Wallpapers am Laptop oder auch T-Shirts mit dem Porträt von Ernst Jünger, dem mittels Photoshop-Filter ein hippes Outfit verpasst wurde. Der Kleidungsversand Phalanx Europa[14] offeriert die nötigen Accessoires für die Modebewussten unter den rechtsextremen Aktivist_innen.
Eine erste Etappe für die noch junge ›Bewegung‹ war die Gründung des bloc identitaire (BI) im April 2003. Im selben Jahr ging zudem aus einer Hausbesetzung durch rechtsextreme Gruppen in Rom die spätere Organisation CasaPound (CP) hervor, deren Strukturen und Arbeitsweise identitären Gruppen als Vorbilder dienen. Der BI in Frankreich leistete die theoretische und aktionistische Vorarbeit für spätere Gruppen wie Une Autre Jeunesse (AJ) 2009 und der 2012 nachfolgenden Génération Identitaire (GI) sowie den deutschen, schweizerischen und österreichischen Gruppen, die sich zunächst regional organisierten. Gegen Ende 2012 und zu Jahresbeginn 2013 schlossen sie sich auf Landesebene unter Annahme einer gemeinsamen Corporate Identity zusammen, dem gelben Lambda-Symbol auf schwarzem Hintergrund.
Die bekanntesten Aktionen, die es zu diesem Zeitpunkt in Medien wie Tageszeitungen, Polit-Blogs und TV-Kurzbeiträge geschafft haben, waren Hardbass-Flashmobs und Besetzungen von Gebäuden. Die früheste dokumentierte Wiener Aktion war ein Flashmob vor dem Caritas-Gebäude im Bezirk Floridsdorf am 1. Oktober 2012, um einen afro-haitianischen Tanz für Toleranz-Workshop der Caritas mittels ihrer identitären Version, »Zertanz die Toleranz«, zu konterkarieren. [15]
Anfang Oktober 2012 veröffentlichten die französischen Identitären, bereits unter dem Gruppennamen GI, ein pathetisches YouTube-Video, ihre sogenannte »Kriegserklärung« (»Déclaration de guerre« [16]), in dem sie in ästhetisierten Aufnahmen ihre Ablehnung von Immigration und »Multikulturalität« zum Ausdruck brachten. Sie präsentierten sich als Generation, die sich in sozialer Unsicherheit wiederfinde und die zu den Verlierer_innen eines globalisierten Kapitalismus und der Auflösung sozialstaatlicher Leistungen zähle. Die Untertitel zum Video wurden in mehrere Sprachen übersetzt, neben Logoverwendung und visueller Farbgebung, war es das erste Anzeichen für die überregionale Zusammenarbeit unter einer gemeinsamen politischen Erklärung. Angeführt von Philippe Vardon folgte die Besetzung des Daches einer Moschee in Poitiers in Frankreich am 20. Oktober 2012. Die Identitären inszenierten sich – unter Bezugnahme auf Karl Martells Schlacht in Poitiers im Jahr 732 – als historisch legitimierte Abwehrkämpfer_innen gegen Muslim_innen und setzten heutige muslimische Immigrant_innen mit maurischen Soldaten gleich, vor denen man sich schützen müsse. [17] Nur wenige Tage später erregten deutsche Identitäre mit einem Hardbass-Flashmob gegen die Interkulturellen Wochen in Frankfurt am Main Aufmerksamkeit. [18]
Im Februar 2013 besetzten Wiener Identitäre für einige Stunden die Votivkirche, in der sich zu diesem Zeitpunkt Flüchtlinge anlässlich eines wochenlangen Protestes gegen die rigide österreichische Asyl- und Abschiebepolitik aufhielten. Der Subtext: wer wirklich geschützt werden müsse, seien die Österreicher_innen in Österreich, repräsentiert durch ›Sepp Unterrainer‹ (Richard Breitensteiner), einem Steirer, der als Asylwerber inszeniert wurde. [19]
Eine weitere Besetzung, diesmal jedoch nicht eines religiösen Bauwerks, sondern des Parteigebäudes der Sozialistischen Partei Frankreichs in Paris am 26. Mai 2013, fand großes mediales Echo. Das französische Parlament hatte kurz zuvor die Einführung der eingetragenen Partner_innenschaft für homosexuelle Paare beschlossen – für Identitäre eine inakzeptable politische Entscheidung.
Am 10. November 2013 führten Identitäre eine Kleinstkundgebung vor der Europäischen Agentur für Grundrechte durch:
»In bewährter Untertanen-Manier hetzten sie gegen Refugees und sorgten sich um den Untergang des Abendlandes. Dabei verzichteten sie weder auf holprige popkulturelle Anspielungen, die nicht im Sinne des Erfinders sind, noch auf Sprüche, die von den Faschisten von CasaPound (›Europa, Jugend, Reconquista‹) übernommen wurden.« [20]
Wenn Medien das Thema ›Neue Rechte‹ und Identitäre aufgreifen, erfolgt das nur in Schüben und aktionsorientiert, passend zur Kampagnenstrategie identitärer Aktivist_innen. Diesen Gefallen wollen wir den Identitären nicht tun und präsentieren daher eine möglichst umfassende Darstellung ihres Aktionsradius, ihrer Netzwerke, ihres theoretischen Grundgerüsts und ihrer Argumentationsmuster.
Wir haben dieses Buch in drei große Teile gegliedert:
Teil eins deckt die politische Verortung und die historischen Vorläufer ab. Hier werden zunächst wichtige Begriffe erklärt, dann folgt ein Überblick über das politische Spektrum, in dem die Identitären verortet sind: die ›Neue Rechte‹. In einer kurzen Historiographie werden die Entstehungs-, Verbreitungs- und Wirkungsgeschichte der ›Neuen Rechten‹ zusammengefasst. Danach beschreiben wir das historisch-theoretische Vorbild der ›Neuen Rechten‹: die ›Konservative Revolution‹. Mit Ernst Jünger und Carl Schmitt stellen wir die zwei wichtigsten Referenzfiguren und ihre Relevanz für die ›Neue Rechte‹ genauer dar. Wir werfen einen kurzen Blick auf den historischen Faschismus und stellen unsere Definition des Begriffs vor, um anschließend der Frage nachzugehen, ob es sich bei den Identitären um ein neofaschistisches Phänomen handelt.
Der zweite Teil des Buches widmet sich den unterschiedlichen Ländergruppen der Identitären Bewegung. Vorgestellt werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede identitärer Gruppen in Frankreich, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Schweden, Norwegen, Tschechien, Slowenien und – mittels kurzem Exkurs – in den USA. Die Kapitel stellen aktive Personen, Parteien, Vernetzungen, Bewegungen und genutzte Infrastruktur vor. Passend dazu wollen wir anhand des deutschsprachigen Raumes aufzeigen, in welchem Umfeld sich die Identitären bewegen und welche Ressourcen und Medien sie als Steigbügel benutzen. Das Aufzeichnen dieses Netzwerkes erlaubt es nachzuvollziehen, dass die Identitären nicht aus dem Nichts gekommen und mit ihren Ideen keineswegs isoliert sind. So kommen die Protagonist_innen teilweise aus einem neonazistischen beziehungsweise offen rechtsextremen Spektrum. Sie nützen Synergien und personelle Überschneidungen zu ihrem Vorteil und sichern sich und ihren Vorstellungen eine breite Rezeption.
Im dritten Teil des Buches werden wir die Ideologie, aus der sich die Antriebskraft sowohl der Akteur_innen der ›Neuen Rechten‹ und damit der Identitären speist, aufschlüsseln und zeigen, wie sich Gesellschaftsbild und -diagnose der ›Neuen Rechten‹ und der Identitären zusammensetzen. Wir analysieren die Entwicklungen der letzten Jahre, als sich die ›Neue Rechte‹ erstmals in größerer Zahl auf der Straße einfand sowie die personellen und ideologischen Verflechtungen der ›Neuen Rechten‹ mit Parteien wie der AfD und FPÖ. Danach stellen wir die tatsächliche Neuerung der ›Neuen Rechten‹ vor – ihre (rhetorischen) Strategien und hier insbesondere ihre mediale Kommunikation. Außerdem werden die gewählten Ästhetiken und Motive der visuellen Kommunikation sowie die Aktionsmuster der Identitären beleuchtet. Am Ende geben wir Antworten auf häufig gestellte Fragen zu den Identitären, ziehen ein Fazit und schlagen Strategien vor, wie man es Identitären unbequemer machen kann, ihre Agitation auszuleben und ihre Ziele zu erreichen.
Leser_innen können chronologisch vorgehen, jeder Teil ist aber auch für sich verständlich. Wer dieses Buch zur Hand genommen hat, um beispielsweise etwas über Identitäre in den verschiedenen Ländern zu erfahren, kann problemlos mit Teil zwei beginnen.
Um einen Teil des Fazits vorweg zu nehmen: Für uns steht nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema fest, dass eine bloße Brandmarkung der Identitären als ›Neonazi‹-Gruppe oder Neofaschist_innen nicht adäquat ist und damit weder die Breitenwirksamkeit noch das Attraktivitätspotenzial erkannt werden.
Die Texte, die wir als Grundlage für die Charakterisierung der im Buch enthaltenen identitären Gruppen genutzt haben, sind sowohl Primärtexte (Homepage-Artikel und Kampagnen, Facebook-Meldungen sowie Video-Blogs und Blogartikel) als auch quellenkritische Sekundärtexte. Zusätzlich zu diesem Textmaterial haben wir ihre Demonstrationen verfolgt und Videos analysiert.
Gerade wenn es um die Identifizierung von Akteur_innen, um das Herausfiltern der personellen Verflechtungen ging, haben wir (unter genauen Quellenangaben) auf diverses Wissen, das in linken und antifaschistischen Blogs und Zeitschriften zusammengetragen worden ist, zurückgegriffen und dieses in den theoretischen Unterbau und die länder- und regionalspezifischen Beschreibungen eingeflochten. Unser Ziel war, eine möglichst übersichtliche und nachvollziehbare Gesamtdarstellung der identitären Gruppen und ihrer politischen Verortung und Ideologie zu geben. Das wäre ohne die aktivistische und manchmal detektivische Arbeit vieler anderer nicht möglich gewesen.
Des Weiteren haben wir wissenschaftliche Literatur zum Rechtsextremismusbegriff, zur Geschichte, zur Ideologie, zu Feind_innenbildern und zu Strategien der ›Neuen Rechten‹, zu Analysen neurechter Medien sowie Literatur zu den Vertretern[21] der ›Konservativen Revolution‹ herangezogen, um die Identitären korrekt einordnen zu können. Außerdem waren Fachzeitschriften wie das Antifaschistische Infoblatt oder Lotta von immenser Wichtigkeit, da sie ebenso aktuelle wie präzise Darstellungen und Analysen der Identitären sowie ihres ›neurechten‹ Umfelds publizieren.
Trotz des Buchtitels, der einen Überblick über die Identitären in ganz Europa andeutet, haben wir uns in der Analyse auf einen ausgewählten Raum konzentriert. Es waren zum einen die Sprachkenntnisse und Übersetzungskünste der Autor_innen, die eine Beschränkung auf bestimmte Länder notwendig machte. Zum anderen ist es eine Frage des Zugriffs auf verlässliche Quellen und Expert_innen, die für uns im deutschsprachigen Raum einfacher ist.
Der Buchtext ist bei Personennennungen durchgehend mit Unterstrich (_) verfasst. Wir verwenden ihn zur Verdeutlichung der Pluralität von Personen(gruppen) in Bezug auf geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung, auch wenn wir von ›neurechten‹ und identitären Aktivist_innen sprechen. In einigen Kapiteln und Nennungen von Personen und Gruppen wurde bewusst nur die männliche Schreibweise verwendet, beispielsweise wenn es um die Akteure der ›Konservativen Revolution‹ geht, da es hier in erster Linie Männer sind, die rezipiert wurden und werden. Hier würde der Gender-Gap Geschlechter- und infolgedessen Machtverhältnisse nicht korrekt abbilden. Des Weiteren sind Kategorien wie beispielsweise die ›Neue Rechte‹ für ein politisches Spektrum oder die ›Konservative Revolution‹, solange sie nicht definiert wurden, eigens im Schriftbild hervorgehoben. Nach den Definitionen sind sie im Schriftbild nicht mehr hervorgehoben.
Wir verwenden in diesem Buch wiederholt den Begriff ›Diskurs‹, der vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften gebraucht wird, wenn es beispielsweise um Textanalysen geht. Wir folgen dabei der Definition, wie sie von Michel Foucault)[22] vorgeschlagen wurde: Frei zusammengefasst ist ein Diskurs das, was – zu einem bestimmten Thema – zu einer bestimmten Zeit sag-, schreib- und darstellbar ist, was als akzeptabel und/oder als Wahrheit und Wirklichkeit aufgefasst wird. Das bedeutet, ein Diskurs ist eine themen- und oft auch orts-, zeit- und personenspezifische Wiedergabe des Denkens. Diskurse spiegeln wider, was als Norm und damit als akzeptabel gewertet wird. Daraus lässt sich ableiten, warum beispielsweise welche Gesetze entstehen, warum soziale Bewegungen zu einem Thema Forderungen entwickeln und warum diese in der Folge von der Gesellschaft angenommen oder abgelehnt werden. In wissenschaftlichen Analysen ist meist interessant, wer einen Diskurs prägt, was dazu publiziert wurde, welche Institutionen ihn stützen oder bekämpfen. Für das Lesen dieses Buches reicht es aber, diese Kurzbeschreibung nur grob im Hinterkopf zu haben, damit verständlich ist, was wir mit diesem Begriff meinen.
So unterschiedlich die Ländergruppen der Identitären aufgestellt sind, so verzweigt auch das Umfeld der Neuen Rechten ist, so ist ihnen allen dennoch gemein, dass sie ihre Politik auf denselben ideologischen Säulen aufbauen. Sie sind durch gemeinsame Feind_innenbilder, Begriffe, Menschenbilder, Staatsvorstellungen und Strategien vereint, mit denen sie sich breitestmöglichen Zuspruch erhoffen. Die ideologischen Säulen und Strategien – in sprachlicher und visueller Form – sind Gegenstand dieses Kapitels.
Teil 1Politische Verortung der Identitärenund ihre historischen Vorbilder
Bevor die ›Neue Rechte‹ behandelt wird, soll hier noch der Begriff des ›Rechtsextremismus‹ geklärt werden.[1] Vor allem in Deutschland wurde in den letzten Jahren die Gleichsetzung von ›Links- und Rechtsextremismus‹ staatlicherseits öffentlich diskutiert, wie die Debatte um die mittlerweile zurückgenommene ›Extremismusklausel‹ der damaligen Bundesministerin Kristina Schröder zeigt.[2] Auch im akademischen Diskurs fand und findet die Theorie Anklang, die von einer ›nicht-extremistischen Mitte‹ ausgeht (mit der implizit normativen Wertung ›gut‹) und zwei (oder drei, wie die Debatte um einen ausschließlich islamistisch geprägten religiösen Extremismus zeigt) gleich ›extremistischen‹ Rändern links und rechts davon (die normativ gleich ›schlecht‹ bewertet werden). So fordern etwa die Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse als Anhänger der ›Extremismustheorie‹, dass der Staat eine »Äquidistanz« zu Links- und Rechtsextremismus halten soll.[3] Sowohl der deutsche als auch der österreichische Verfassungsschutz vertreten diese These. Per Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1952 gilt als ›extremistisch‹, wer gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstößt. Auf dieser Grundlage wurden im selben Jahr die Sozialistische Reichspartei als rechtsextrem sowie 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) als ›linksextrem‹ kategorisiert und aufgelöst. Seitdem wurden keine Parteien mehr als verfassungsfeindlich verboten.[4]
Wolfgang Gessenharter konstatiert, dass der juristische Extremismusbegriff unflexibel ist und sich nicht an politische Diskurse anpassen kann.[5] Der Begriff geht von starren, klar bestimmbaren Grenzen aus, die Gruppierungen als verfassungsfeindlich kennzeichnen oder eben nicht. Dabei geht die Extremismustheorie von einem ideologiefreien Staat aus, der sich von den ideologischen Extremen fernhalten soll. ›Links‹ und ›Rechts‹ werden in einem »ununterscheidbaren Brei« zusammen verhandelt und formale Unterscheidungen zur Mitte aufgestellt, die, wie Mark Terkessidis richtig bemerkt, völlig leere Kategorien bilden.[6] Ideologische Unterschiede und Grundannahmen sowie deren Auswirkungen und die Bedrohung für das Leben von Menschen werden dabei nicht in Betracht gezogen. Seit den 1990er Jahren vertritt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer die These, dass sich rechtsextreme Einstellungen auch in der Mitte der Gesellschaft finden lassen. Diese untersuchte Heitmeyer in der zehnjährigen Studie Deutsche Zustände.[7] Andere Langzeitstudien wie die von Decker, Kiess und Brähler an der Universität Leipzig[8] oder die Untersuchung Fragile Mitte – Feindselige Zustände von Zick und Klein[9] bestätigen Heitmeyers These mit Zahlen, was wiederum die Extremismustheorie in Frage stellt.
Der Hauptunterschied zwischen Links und Rechts besteht im Menschenbild. Während rechte Ideologie von einer angeborenen Ungleichheit ausgeht (im biologischen und kulturalistischen Sinne, was identisch verhandelt wird), besteht die Linke auf einer grundsätzlichen Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig ihrer Geburtsumstände.[10] Die Extremismustheorie unterscheidet nicht, ob sich Gruppierungen gegen die aktuelle, bürgerliche Demokratie wenden, weil sie Demokratie per se ablehnen (wie die ›Rechtsextremen‹) oder weil sie ihnen nicht demokratisch genug ist und mehr Demokratie verlangt wird (wie dies vermeintlich ›Linksextreme‹ tun). Die Extremismustheorie dient also lediglich der eigenen Selbstversicherung sowie der Nivellierung und Banalisierung rechtsextremer Ideologie seit 1945. Analog dazu wurde auch mittels der ›Totalitarismustheorie‹ im ›Historikerstreit‹ der 1980er versucht, den Nationalsozialismus zu historisieren beziehungsweise zu nivellieren.
Wir haben uns trotz der Kritik am Begriff ›Rechtsextremismus‹ für dessen Verwendung und Nutzung für die Beschreibung der ›Neuen Rechten‹ und der Identitären entschieden. Dafür spricht zum einen die Verankerung in der Alltagssprache. Wir sind überzeugt, dass die Schaffung eines neuen Klassifikationsbegriffs für dieses Buch und seine erklärenden Absichten in Bezug auf das Phänomen Identitäre Bewegung nicht sinnvoll ist. Begriffs- und Theoriearbeit gehen Hand in Hand und es gibt eigene Literatur zur Debatte. Zum anderen verwenden wir den Begriff ›rechtsextrem‹ nicht im Sinne einer extremismustheoretischen Definition, die mit Vorstellungen konstanter und klar ausmachbarer Grenzen im gedachten politischen (Parteien-)Spektrum einhergeht. Wir verwenden ›Rechtsextremismus‹ als Begriff für eine Ideologie, in deren Zentrum die homogene ›Volksgemeinschaft‹ als Konzept steht.[11] Neben dem ›Volk‹ als Bezugsgröße zeichnet sich ›Rechtsextremismus‹ unter anderem durch die Ausgrenzung von als ›fremd‹ kategorisierten Personen, Antimarxismus, Antiliberalismus, Antipluralismus sowie die Ablehnung der Demokratie als Organisationsform menschlichen Zusammenlebens mit formal egalitären Partizipationsmöglichkeiten aus.[12] Für eine eingehendere Definition nach inhaltlichen Unterscheidungspunkten ist die Darstellung von Willibald Holzer hilfreich.[13] Nationalsozialismus und Faschismus beziehungsweise Neonazismus und Neofaschismus sind Teile dieser Weltauffassung, es gibt aber auch ›rechtsextreme‹ Ideologien fernab dieser beiden, die untereinander Anknüpfungspunkte und Überschneidungen haben. Ideologien sind nicht etwas Festes, klar Abgrenzbares, das zu aller Zeit und unter allen Gegebenheiten exakt gleich bleibt. Im Laufe eines Lebens kann sich die Ideologie von Personen dramatisch oder auch nur in Details ändern, genauso wie eine Person unter verschiedenen Bedingungen nur Teile einer Ideologie preisgibt und andere verschweigt. Auch erneuert sich Ideologie aufgrund von äußeren Bedingungen und Ereignissen, zu denen Stellung bezogen werden muss. Rechtsextremismus ist also nicht so starr, wie der Verfassungsschutz vorgibt. Dementsprechend sind auch politische Spektren keine hermetisch abgeriegelten Festungen, sondern liquide Netzwerke von Personen, Organisationen, Medien und aktivistischen Gruppen ohne institutionelle Verortung. Die ›Neue Rechte‹ kann nur unter dieser Prämisse verstanden werden.
Die Frage, wer mit dem Begriff ›Neue Rechte‹ gemeint ist, wird unterschiedlich beantwortet. Iris Weber teilt Ende der 1990er Jahre die ›Neue Rechte‹ in drei Gruppen ein: die französische Nouvelle Droite, die nationalrevolutionäre Strömung und die jungkonservative Strömung. Alle drei beziehen sich auf verschiedene Aspekte und Strömungen der ›Konservativen Revolution‹, die sich durchaus überschneiden können.[14] Alice Brauner-Orthen hingegen schlägt vor, für die ›Neue Rechte‹ nach 1989 den Begriff ›Neue Neue Rechte‹ zu verwenden, da diese kaum noch etwas mit den Gruppierungen in den 1960er Jahren zu tun hätten.[15] Uwe Worm macht keine zeitliche Abgrenzung, sondern eine ideologische und bezeichnet die ›Neue Rechte‹ als »Denkgemeinschaft«[16] und »Ideologiefraktion im Rechtsextremismus«.[17] Er sieht sie als geistigen Pool, aus dem auch Konservative schöpfen.[18] Christoph Butterwegge sieht kaum eine Rechtfertigung für die Bezeichnung ›Neue Rechte‹, schlägt aber vor, diese anhand ihrer Wirtschaftsideologie von der ›Alten Rechten‹ zu differenzieren. Er bescheinigt der ›Neuen Rechten‹ eine radikal neoliberale und standortnationalistische Einstellung.[19] Dieter Plehwe und Bernhard Walpen zählen dementsprechend auch die Mont Pélerin Society[20] zum Umfeld der ›Neuen Rechten‹.[21] Markus Perner et al. bescheinigen wiederum den Burschenschaften, eine wichtige Rolle in der Intellektualisierung des Rechtsextremismus zu spielen und damit der ›Neuen Rechten‹ sehr nahe zu stehen.[22] Butterwegge betont, dass sich die ›Neue Rechte‹ nicht als Organisationsgeflecht definieren lässt, sondern als einheitliche Ideologie.[23] Damit wäre eine beliebige Aufzählung von Akteur_innen sinnlos.
Diese verschiedenen Zuschreibungen lassen den Begriff schwammig und konfus werden. Daher wird die ›Neue Rechte‹ von uns im Folgenden vor allem politisch definiert. Sie ist, wie von Michael Minkenberg vorgeschlagen, »eine Gruppe von Meinungsführern beziehungsweise Bewegungsunternehmern [, die] in einem rechten Gegendiskurs von den ›Ideen von 1968‹ [stehen].«[24] Das ist aber nicht ihr einziger Bezugspunkt. Armin Pfahl-Traughber empfiehlt eine enge Definition der ›Neuen Rechten‹ als eine rechtsextremistische Ideologievariante der heutigen Anhänger_innen der ›Konservativen Revolution‹. Publikationen und Gruppen, die nur teilweise darunter fallen, werden nicht im engeren Sinn zu den ›Neuen Rechten‹ gezählt.[25] Die Eigenbezeichnung ›konservativ‹ grenzt sich in Anlehnung an eben diese ›Konservative Revolution‹ von einem reaktionären, bewahrenden und rückwärtsgewandten Konservatismus ab.[26] Für Alice Brauner-Orthen ist die Definition über die ›Konservative Revolution‹ zu wenig, da es ihrer Meinung nach zahlreiche ›Neue Rechte‹ gibt, die sich eben nicht aktiv auf die ›Konservative Revolution‹ beziehen.[27] Wir verstehen die ›Neue Rechte‹ als Zusammenfassung all jener Gruppen und Personen, die einen rechten Gegendiskurs zu 1968 bilden und sich positiv auf die Ideen und/oder Personen der ›Konservativen Revolution‹ beziehen.
Rainer Benthin definiert drei Dimensionen und Analyseebenen der ›Neuen Rechten‹: die ›historische‹ als Abgrenzung zur ›Alten Rechten‹, die ›ideengeschichtliche‹ in Rückbezug auf die ›Konservative Revolution‹ und die ›organisatorische‹ als Bündelung gemeinsamer strategischer Handlungen und Zielvorstellungen.[28] Die ›Neue Rechte‹ bezieht sich also historisch nicht mehr auf den Nationalsozialismus, sondern auf die Ideen der ›Konservativen Revolution‹ und findet andere Organisationsformen als Parteien. Auch Minkenberg sieht sowohl im ideologischen als auch im organisatorischen Bereich Neuerungen, die es rechtfertigen, von einer ›Neuen‹ Rechten zu sprechen.[29] Im Gegensatz zur Herausbildung eines komplett neuen Spektrums definiert Margret Feit die ›Neue Rechte‹ als Erneuerungsbewegung des alten Rechtsextremismus mit Rückgriff auf die ›Konservative Revolution‹, die nicht so belastet zu sein scheint wie der Nationalsozialismus. Getragen wird diese Erneuerungsbewegung von Gruppen, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er von der ›Alten Rechten‹ abgebrochen sind.[30] Die ›Neue Rechte‹ distanziert sich zwar großmütig von Hitler, aber nicht von rechtsextremen und faschistischen Ideologien als solchen. Damit zeigt sich, dass sie diesem Spektrum angehört und eine Erneuerung statt einer Abgrenzung darstellt.[31] Im Gegensatz dazu beurteilt Johannes Jäger das Neue an der ›Neuen Rechten‹ eher als Tarnung denn als Modernisierungsprozess.[32] Jesse bezweifelt die Existenz einer ›Neuen Rechten‹ überhaupt. Er sieht den Diskurs als Zeichen einer vermeintlichen Linksverschiebung und die größere Gefahr bei »Linksextremisten«.[33]
Die ›Neue Rechte‹ als einseitigen Modernisierungsprozess des rechtsextremen Lagers zu verstehen, der bloß ins Konservative wirken will, würde das konservative Spektrum zu passiven Objekten rechtsextremer Avancen machen. Es ist aber wichtig, den Charakter der Grauzone ›Neue Rechte‹ zu erfassen. Daher schlägt Benthin vor, die ›Neue Rechte‹ nicht als starren Zustand, sondern als Prozess der Radikalisierung des konservativen Spektrums einerseits und der Modernisierung des rechtsextremen Spektrums andererseits zu begreifen.[34] Der Anteil, den die Konservativen an der ›Neuen Rechten‹ haben, wird in der Literatur allenfalls am Rand behandelt. Die meisten Wissenschaftler_innen konzentrieren sich auf den rechtsextremen Charakter der ›Neuen Rechten‹. Damit leisten sie aber der Positionierung des Verfassungsschutzes Vorschub. Denn dieser muss die Extremismustheorie anwenden und konzentriert sich in seiner Beobachtung nur auf Akteur_innen, die dem gedachten rechtsextremen Rand angehören. Konservative Protagonist_innen, die dieselben Ideologeme mittragen, bleiben dagegen unbeobachtet. Die ›Neue Rechte‹ besteht also sowohl aus radikalisiertem, wertkonservativem Bürgertum als auch aus modernem Rechtsextremismus.
Die wissenschaftlichen Definitionen insgesamt sind ebenso vielfältig wie unklar. In den 1970ern wurde der Begriff für aktuelle Entwicklungen in der Rechten gebraucht, in den 1980ern wurde ›Neue Rechte‹ in Abgrenzung zu Nationalsozialismus und ›Konservativer Revolution‹ benutzt. Gleichzeitig wurden auch Die Republikaner als ›Neue Rechte‹ bezeichnet. Aktuellere Definitionen versuchen, die ›Neue Rechte‹ vor allem politisch zu verorten. Suzanne Mantino spricht von einer »Grauzone« zwischen Konservativismus und Rechtsextremismus, Helmut Fröchling bezeichnet sie als »Brückenspektrum«, während Wolfgang Gessenharter sie weder zur Gänze im Konservativismus noch im Rechtsextremismus verankert sieht und deswegen von einem »Scharnier« zwischen Rechtsextremismus und Konservativismus spricht. Die ›Neue Rechte‹ sei daher ein eigenes Spektrum mit guten Verbindungen in beide Richtungen.[35] Der Verfassungsschützer Armin Pfahl-Traughber lehnt diese Definitionen ab und sieht die ›Neue Rechte‹ vollständig im Rechtsextremismus verankert.[36] Das ist auch die Sichtweise des Verfassungsschutzes. Würde er sie, wenn auch nur zum Teil, außerhalb des Rechtsextremismus verorten, könnte er sie nicht beobachten. Auch Thomas Pfeiffer vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen definiert die ›Neue Rechte‹ als eine intellektuelle Strömung innerhalb des Rechtsextremismus, die sich auf die ›Konservative Revolution‹ bezieht und Kontakte in bürgerliche Kreise sucht.[37] Der Verfassungsschutz brüstet sich damit, sehr genau zwischen Gruppen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung anerkennen und jenen, die sie ablehnen, zu unterscheiden. Eine Grauzone kann es in dieser Logik nicht geben.
Hier zeigt sich erneut die Problematik starrer Konstrukte, die davon ausgehen, dass ideologische Spektren klar von einander abzugrenzen wären. Helmut Fröchling kritisiert, dass der Verfassungsschutz quasi wie auf einer Nominalskala den Grad der Verfassungsfeindlichkeit von Akteur_innen misst. Das ist vor allem bei der Bewertung der ›Neuen Rechten‹ unzulässig und unflexibel, da es die Zwischenspektren und Grauzonen völlig außer Acht ließe.[38] Benthin legt diesen Disput zwischen der ›großen‹ und der ›kleinen‹ Definition der ›Neuen Rechten‹ anschaulich dar.[39] Bei dieser Frage gehe es nicht bloß um ein kleines Detail, sondern darum, inwieweit das bürgerliche Spektrum oder Teile davon offen mit Rechtsextremen zusammenarbeiteten. Ines Aftenberger argumentiert, dass Konservatismus und Faschismus generell in Krisenzeiten ununterscheidbare Positionen und Interessen entwickelten.[40] Dementsprechend handele es sich bei der ›Neuen Rechten‹ nicht nur um die bloße, taktische Zusammenarbeit einiger Bürgerlicher mit einigen Rechtsextremen, sondern um ein eigenes Spektrum, das sich zwischen radikalisiertem Konservatismus und intellektualisiertem Rechtsextremismus verdichtet. Gabriele Kämper benennt sie dementsprechend als ›Neue intellektuelle Rechte‹, weil diese Bezeichnung die Intention besser verdeutliche.[41]
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die ›Neue Rechte‹ nicht einfach ein Anhängsel des rechtsextremen oder stark wertkonservativen Spektrums ist, sondern ein eigenes Selbstverständnis mit eigenen Merkmalen hat, das sie von den anderen beiden unterscheidet.
Wenn wir von den ›Neuen Rechten‹ sprechen, meinen wir eine nicht klar zu umreißende Anzahl an Personen, Medien und Gruppen, die sich im Gegendiskurs zu 1968 verstehen und ihr ideologisches Vorbild in der ›Konservativen Revolution‹ finden. Sie wenden sich gegen Marxismus und politischen Liberalismus und vertreten eine klare Ideologie der Ungleichheit. Ihr Ziel ist, die politische Hegemonie durch Beeinflussung kultureller Eliten zu erreichen, zu denen sie sich selbst zählen. Sie konzentrieren sich dementsprechend auf Metapolitik und nicht auf Tagespolitik oder Parteienlogik. Die ›Neue Rechte‹ ist ein Mischspektrum, das Rechtsextremismus und stark wertkonservatives Gedankengut vereint. Dieses Spektrum kann mit der Methodik des Verfassungsschutzes und der Extremismustheorie nicht erfasst werden. Die Bürgerlichen werden nicht bloß passiv agitiert, sondern teilen den radikal antiegalitären Demokratie-Begriff des Rechtsextremismus. Das bedeutet, nur wer zur ›Volksgemeinschaft‹ zählt, darf politisch mitbestimmen. Die ›Neuen Rechten‹ verstehen sich analog zur ›Konservativen Revolution‹ als nicht-reaktionäre, system-überwindende Konservative. Damit grenzen sie sich von der ›Alten Rechten‹ sowie reaktionärem und liberalem Bürgertum ab.
Die Neue Rechte oder ›Nouvelle Droite‹ hat ihre Wurzeln in Frankreich. 1968 wurde GRECE (Groupment de recherche et d’études pour la civilisation européenne) gegründet. Gründungsmitglied und »Chefideologe«[2] ist Alain de Benoist. In Frankreich wird die Nouvelle Droite fast ausschließlich auf GRECE und Alain de Benoist bezogen.[3] Neben GRECE entwickelte sich der Club de l’Horloge (dt.: der Uhrenclub) zur Ideenfabrik der Neuen Rechten in Frankreich,[4] mit einer radikal neoliberalen Wirtschaftsideologie.[5] Minkenberg merkt im Zusammenhang mit der Nouvelle Droite an, dass der Club oft zugunsten von GRECE unterbewertet würde und zu wenig Beachtung als Akteur der Neuen Rechten in Frankreich fände[6], was durch die Konzentration des Diskurses auf GRECE erklärt werden könne. GRECE wurde als intellektuelle Avantgarde der Rechten konzipiert und richtete sich an Akademiker_innen und die Intelligenzia.[7]GRECE und besonders Benoist machten viele Anleihen bei den Theorien des italienischen Marxisten Antonio Gramsci und entwickelten, unter Auslassung vieler Aspekte seiner Theorie, die Strategie der ›Kulturrevolution von rechts‹. Es geht ihnen nicht darum, rechtes Gedankengut direkt in den politischen Prozess einzubringen, sondern darum, im vorpolitischen Raum zu agieren, indem sie Diskurse bestimmen und nach eigenen Vorstellungen verändern, Begriffe prägen und umdeuten, kurz: Einfluss nehmen.[8] Von diesem metapolitischen Konzept hat sich die Nouvelle Droite mittlerweile entfernt. Viele Akteur_innen sind bei Le Pen und dem Front National (FN) gelandet.[9] Dieses Wechselverhältnis zeigt sich auch am Aufstieg des FN ab 1984. Er übernahm Themen der Nouvelle Droite und gab sie in populistischerer Variante wieder.[10]
Nach 1945 war die ›Konservative Revolution‹ weitgehend diskreditiert. Durch eine Auffrischung des Vokabulars schaffte es die Nouvelle Droite in Frankreich, sie ab 1968 wieder salonfähig zu machen. Auf diese Weise gelangte sie auch als Re-Import in die deutsche Neue Rechte.[11] Die Gruppierung Thule-Seminar hat versucht, das Konzept von GRECE nach Deutschland zu transferieren, erreichte allerdings nie dieselbe Bedeutung und den Einfluss von GRECE.[12] ›Neue Rechte‹ als Selbstbezeichnung, wie jene der Gruppen in den 1960er Jahren,[13] wurde im Gegensatz zur Nouvelle Droite in Frankreich schrittweise aufgegeben. Mitte der 1980er wurde die Bezeichnung noch gerne, vor allem in Abgrenzung zur Alten Rechten, der man Theorielosigkeit vorwarf, verwendet. Seitdem wurde der Begriff immer mehr zur Fremdbezeichnung.[14]
Aus der Krise der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) in den 1970er Jahren entwickelte sich die Abspaltung Aktion Neue Rechte (ANR), die den etatistischen Nationalismus ablehnte und einen vermeintlich dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus suchte.[15] Die Nationalrevolutionäre Aufbauorganisation (NRAO) bildete die zweite große Organisation der Neuen Rechten in der Anfangsphase. Sie stellte den ›linken‹, nationalrevolutionären Flügel des Spektrums dar, gab sich ausdrücklich antimarxistisch, spaltete sich aber bald wieder.[16] Außerdem kam es in den Siebzigern zu einer Re-Nationalisierung der konservativen Weltsicht und damit zu einer ersten Annäherung zwischen den beiden Spektren.[17] Das nationalrevolutionäre verlor zunehmend zugunsten des bürgerlichen, etatistischen Spektrums an Einfluss und Bedeutung für die Neue Rechte. Die erste übergreifende Zusammenarbeit dieses etatistischen Spektrums bildete die Hamburger Donnerstagsrunde. Regelmäßig hatten sich unter diesem Namen seit 1956 Teilnehmer_innen mit einem »uneingeschränkten Bekenntnis zur deutschen Nation«[18] getroffen, um politische Fragen zu diskutieren.
Ein wichtiger Bezugs- und Kristallisationspunkt der Neuen Rechten ist der ›Historikerstreit‹ (siehe Kapitel zum (Sekundären) Antisemitismus in Teil 3 dieses Buches) der 1980er Jahre zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas.[19] Bis zu diesem Zeitpunkt traten Neue Rechte als politische Akteur_innen kaum in Erscheinung. Sie konzentrierten sich voll und ganz auf die metapolitische Strategie und daher ausschließlich auf die intellektuelle Arbeit. Seit 1989 traten sie zunehmend auch politisch auf.[20] Benthin stellt die These auf, dass sich dieser Prozess ab Mitte der 1990er verstärkt. Er sieht bei den Neuen Rechten seit Mitte/Ende der neunziger Jahre den Übergang zum Mittel der politischen Intervention, also von einer metapolitischen auf eine aktionistische Ebene.[21]
Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Neue Rechte sich bemüht, in verschiedene Parteien einzudringen – Republikaner, Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU), Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU), Alternative für Deutschland (AfD) und Freie Demokratische Partei (FDP).[22] In der CDU formierte sich etwa ab 2010 der Berliner Kreis, der sich ein »Europa der Vaterländer« wünscht und dabei zumindest die Rhetorik der Neuen Rechten übernimmt.[23] Details zu Verlagen, Publikationsorganen und herausgebildeten Netzwerken finden sich im Kapitel zum politischen und publizistischen Umfeld im zweiten Teil dieses Buches.
Einen weiteren Bezugs- und Wendepunkt für die Neue Rechte stellen die Terroranschläge des 11. September 2001 dar. Um das Jahr 2000 herum hat eine Phase der Neuorientierung und Neugründungen der Neuen Rechten in Deutschland begonnen und eine neue, jüngere Generation übernahm ab diesem Zeitpunkt die Initiative in der Szene. Ältere Protagonisten traten langsam in den Hintergrund. Im Jahr 2000 gründete der ehemalige Criticon-Herausgeber Casper Freiherr von Schrenck-Notzing die Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung (FKBF). Die Junge Freiheit-Redakteure Karlheinz Weißmann und Götz Kubitschek riefen im selben Jahr den neurechten Think Tank Institut für Staatspolitik (IfS), drei Jahre darauf die dazugehörige Monatszeitschrift Sezession ins Leben. Den Verlag Antaios gründete der Leutnant der Reserve Götz Kubitschek ebenfalls im Jahr 2000. 2004 erschien die erste Ausgabe der Blauen Narzisse, nach eigenen Angaben eine Zeitung für Schüler und Studenten (sic!), die vom Dresdner Felix Menzel gegründet wurde. Seit 1998 existiert mit eigentümlich frei eine von André Lichtschlag gegründete libertäre Zeitschrift samt zugehörigem Blog und Konferenzen. Hierbei handelt es sich nur um eine Auswahl der bekanntesten und wichtigsten neurechten Neugründungen. Sie bestehen alle nach wie vor und zählen immer noch zu den bedeutendsten neurechten Institutionen im deutschsprachigen Raum.
Zumindest für jene in der Folge dieser Drangphase entstandenen Medien und Organisationen bieten die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 eine Erklärung. Bereits kurz nach den Anschlägen stellten Siegfried Jäger und Jobst Paul eine These auf: »Insofern sind die Reaktionen auf den Terror in den USA auch dazu geeignet, rechtsextremen Bestrebungen den Boden zu bereiten und insgesamt völkisch-nationalistisches Denken noch weiter salonfähig werden zu lassen.«[24] Für die Neue Rechte waren der 11. September und die damit einhergehenden Forderungen nach Vergeltung, sowie die Verteidigung des Westens und seines Lebensstils ideale Rahmenbedingungen, um eine neue Diskursoffensive zu starten. Es war also eine Gelegenheit, auf die man gewartet, die man aber auch durch diskursive Vorarbeit teilweise vorbereitet hatte.
Bereits vorhandene antimuslimische Ressentiments in der Gesellschaft konnten nun nicht mehr nur mit Verweis auf Huntingtons postulierten Clash of Civilizations, sondern mit Hilfe des 11. Septembers gerechtfertigt werden. Im Sinne Carl Schmitts[25] wurde nun der Kampf gegen den Feind im Inneren und Äußeren aufgenommen. Die Kinder der sogenannten Gastarbeiter wurden unter Generalverdacht gestellt. Hinzu kam, dass Protagonisten wie Götz Kubitschek schon vor den Anschlägen bewusst war, wie unzureichend die vorhandenen Strukturen und strategischen Mittel der Neuen Rechten waren. Daher wollten er und andere neben einer personellen Erneuerung und einer Verjüngung der Neuen Rechten auch eine strategische und strukturelle Modernisierung. Zu diesem Zwecke ging, wie Kubitschek selbst beschreibt, der Blick nach links. Man holte sich Anregungen bei Aktionsformen der Linken, um sie in der Folge für die eigenen Ziele anzuwenden. Dafür gründete Kubitschek die Aktionsgruppe Konservativ Subversive Aktion (KSA), die in den Jahren 2008 und 2009 fünf Aktionen durchführte, die die Gruppe dann auf einer eigens dazu eingerichteten Website dokumentierte.[26] Mit den Aktionen verfolgten Kubitschek und die anderen Mitglieder der KSA die Absicht, ihre politischen Gegner_innen in Unruhe zu versetzen, neue Aktivist_innen zu rekrutieren, der Neuen Rechten ein Moment der Selbstermächtigung zu eröffnen und Manifestationen des »politischen Existenzialismus«[27], das heißt Zeugnisse rechten Widerstands, zu hinterlassen. Trotz der geringen Resonanz in der Öffentlichkeit und der neurechten Szene auf die Aktionen kann die KSA als eines der Vorbilder beispielsweise der neurechten Identitären Bewegung gelten. Die Neue Rechte hatte sich mit der KSA erstmals auf die Straße gewagt.
Das bürgerliche Spektrum der Neuen Rechten wurde bis dato kaum beleuchtet. Dabei besteht dieses nicht bloß aus willenlosen, passiven Akteur_innen, die in eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen hineingetrickst wurden (auch wenn Unkenntnis bei der Einen oder dem Anderen eine Rolle gespielt haben mag). Es gibt Menschen aus dem bürgerlichen Lager, die nicht erst überredet werden müssen, sondern selbst aktiv die Zusammenarbeit suchen, was besonders in Österreich der Fall ist. So war Otto Habsburg von wertkonservativer Seite her immer bemüht, den Kontakt zu revanchistischen bis neonazistischen Gruppierungen zu halten. Dementsprechend war er gern gesehener Gast auf deren Veranstaltungen.[28] Günther Nenning ist ein weiteres Beispiel: Als vermeintlicher Grüner oder Linker publiziert er rege in vielen neurechten Magazinen und gibt ihnen somit einen Anstrich von Seriosität und Pluralität.[29] Das Studienzentrum Weikersheim in Deutschland gehört zum rechten Flügel der CDU/CSU. Es hat keine Berührungsängste zu Protagonist_innen der Neuen Rechten und steht diesen immer wieder für Veranstaltungen zur Verfügung.[30]
In Österreich ist die Freiheitliche Partei (FPÖ) für die rechtsextreme Szene, ob Alte oder Neue Rechte, der Kristallisationspunkt. Die FPÖ wird von Perner et al. als neurechte Partei gesehen.[31] Dies ist in einer engen Definition der Neuen Rechten ein Widerspruch, da diese sich ja im vorpolitischen Raum verortet und die Arbeit in Parteien ausschließt. Gärtner definiert die FPÖ als Alte und als Neue Rechte. Ein altes Versatzstück ist der traditionelle Deutschnationalismus. Neu ist allerdings, dass sie taktisch immer mehr auf einen Österreichnationalismus pocht und sich gemäßigter gibt.[32] Perner et al. bescheinigen den Burschenschaften in Österreich, eine wichtige Rolle in der Intellektualisierung des Rechtsextremismus zu spielen und damit der Neuen Rechten sehr nahe zu stehen.[33] Gerade die Wiener Burschenschaften, vor allem jene, die im Wiener Korporationsring (WKR) organisiert sind, pflegen schon seit den 1990ern enge Kontakte zu Protagonist_innen der neurechten Szene. Das schlägt sich unter anderem in ihrer Einladungspolitik nieder. So war beispielsweise Pierre Krebs, Chefideologe des Thule-Seminars, einer ihrer vortragenden Gäste.[34] Diese Burschenschaften sind männerbündisch, deutschnational und pflegen ein völkisches Weltbild. In der Deutschen Burschenschaft beruht das Nationsdenken auf völkischer Abstammung.[35] Gleichzeitig vertreten die Burschenschaften aber auch neurechte Konzepte wie den Ethnopluralismus.[36] 1988 wurde die Mädelschaft Freya, als Pendant zu den völkischen und deutschnationalen Burschenschaften, gegründet. Sie sieht sich ganz in coleurstudentischer Tradition unter den Bedingungen einer Damenverbindung. Ihre Aktivitäten erschöpfen sich allerdings in Traditionspflege oder vermeintlich weiblichen Tätigkeiten, wie zum Beispiel der Pflege von älteren (sudetendeutschen) Menschen.[37] Am 8. November 2013 gründete sich die Wiener akademische Mädelschaft Nike. Auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichte die Mädelschaft anlässlich ihrer Teilnahme am alljährlichen rechtsextremen Akademikerball (ehemals WKR-Ball) ein Posting mit dem Text: »tonight we dance the revolution. Justnationalistgirls«.[38] Frauen sind bei den Neuen Rechten dennoch mehr Beiwerk als zentrale Akteurinnen. Sowohl für weibliche als auch männliche Verbindungen gibt es – unter anderem über die Identitären – eine Nähe zur Neuen Rechten besonders deutlich anhand der österreichischen Identitären.
Analog zu Frankreich und Deutschland zeigt sich, dass Parteien zu zentralen Akteurinnen der neurechten Szene werden können, obwohl sie genau entgegengesetzt zur angestrebten metapolitischen Strategie stehen. Die FPÖ wird als Sonderfall der Neuen Rechten bezeichnet, da sie als Erste durch ihren Erfolg bei Wahlen mit mehr als 20% der Stimmen an Regierungen beteiligt war.[39] Mittlerweile betreiben die europäischen Rechtsparteien einen erfolgreichen Normalisierungsdiskurs, der Gewalt erzeugt. Diskriminierende Sprachbilder führen zu einer Normalisierung von gedachten Ungleichheiten wie Rassismus, Sexismus und Homophobie.[40] Dabei knüpfen sie an die ›Konservative Revolution‹ an.[41] In Deutschland pflegten Pro-Bewegung und Die Republikaner eine enge Zusammenarbeit, um sich als demokratische Rechte von der NPD zu distanzieren. Damit versuchten sie nichts anderes, als eine parteiförmige Neue Rechte in Deutschland zu etablieren.[42] Am deutlichsten zeigen sich diese Tendenzen allerdings in der AfD, welche zentrale Köpfe der Neuen Rechten aktiv in die Bildungsarbeit der Partei einbezieht wie beispielsweise Felix Menzel von der BN.[43] In Österreich versucht sich die FPÖ von allzu offenen nationalsozialistischen Bekenntnissen zu distanzieren. So wurde Werner Königshofer aus dem freiheitlichen Parlamentsklub ausgeschlossen, nachdem er versucht hatte, das rechtsextreme Attentat auf ein sozialistisches Ferienlager auf der Insel Utøya in Norwegen mit dem Verweis auf die Fristenregelung als »Mord« zu banalisieren und zu relativieren.[44] Diese Distanzierungen gelingen aber weder den Parteien noch der außerparlamentarischen, metapolitischen Neuen Rechten glaubwürdig. Bei Kongressen, Initiativen, Konferenzen et cetera wird das offen rechtsextreme Lager weiter miteinbezogen. Dazu gehört etwa das oben erwähnte Treffen der (mittlerweile der Vergangenheit angehörenden) EU-Parlamentsfraktion Identität, Tradition, Souveränität (ITS) mit der Deutschen Volksunion (DVU) und NPD. Ebenso dazu zählt die Konferenz zur »Zukunft der weißen Welt«, die 2006 in Moskau stattfand. Dort waren sowohl Neonazis wie David Duke als auch Vertreter der Neuen Rechten wie Pierre Krebs anwesend.[45]
Zusammenfassend gilt: Die Neue Rechte ist aus verschiedenen Schichten aufgebaut. Der feste, innere Kern wird von Intellektuellen aus dem rechtsextremen Spektrum gebildet, die sich um eine Erneuerung und Intellektualisierung der Szene bemühen und dafür auch bereit sind, manche Dogmen fallen zu lassen. Die mittlere, weichere und stärker fluktuierende Schicht bilden wertkonservative Intellektuelle, die keine Berührungsängste mit besagtem modernisierten Rechtsextremismus haben. Sie übernehmen dessen Konzepte und stehen in einem Diskurs mit ihm. Verbindend ist vor allem die Ablehnung der Egalität und jener Ideologien, die diese verbreiten, wie Marxismus und politischer Liberalismus. Die dritte, flüssige Schicht besteht aus prominenten Akteur_innen oder medienwirksamen Aktionen, die auch Personen einschließt, die mit den anderen beiden Schichten nichts zu tun haben. Sie vertreten aber (bewusst oder unbewusst) dieselben Anliegen wie der Kern der Neuen Rechten. Dazu gehören beispielsweise Thilo Sarrazin, Akif Pirinçci, Eva Hermann oder Andreas Gabalier. Sarrazin ist beispielsweise organisatorisch weder im wertkonservativen noch im rechtsextremen Lager sozialisiert worden, sondern in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). In seinem Buch Deutschland schafft sich ab (2010) benutzt er ähnliche Argumentationslinien wie Edgar Julius Jung[46] und kokettiert mit einer Untergangsanalyse ähnlich der von Oswald Spengler.[47] Durch seine zahllosen Auftritte und Publikationen der letzten Jahre ist Sarrazin organisatorisch mittlerweile fest in die Strukturen der Neuen Rechten eingebunden. Auch der Philosoph Peter Sloterdijk oder der Schriftsteller Martin Walser stehen in ihren Analysen der ›Konservativen Revolution‹ nahe, ohne sich bewusst der organisierten Neuen Rechten anzuschließen. Sie sind eher Vorboten eines diffusen Bürger_innentums, das sein Selbstverständnis nicht mehr im aufgeklärten Liberalismus sucht und findet,[48] sondern einen Verteilungskampf von oben bestreitet. Diese letzte Gruppe ist jene, die die meiste Medienaufmerksamkeit bekommt und deren Thesen öffentlich diskutiert werden. Dass damit die Ideologie der Neuen Rechten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und sie als legitim dargestellt wird, kann als Erfolg der Bemühungen um eine ›Kulturrevolution von rechts‹ gewertet werden.
In diesem Kapitel sollen sowohl der Begriff an sich definiert als auch Akteure und Ideologie der ›Konservativen Revolution‹ beschrieben werden. Das ist insofern bedeutsam, als Protagonist_innen der Neuen Rechten, der Identitären und anderer neurechter Jugendgruppen immer wieder auf Publizisten, Theoretiker, Begriffe und Ideen zurückgreifen. Um zu verstehen, wie die Neue Rechte und die Identitären agieren und argumentieren, ist es notwendig, Referenzpunkte zu ermitteln und kritisch zu beleuchten. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob es so etwas wie eine ›Konservative Revolution‹ überhaupt gegeben hat und was sie ausmachte. Außerdem soll das Verhältnis der Vertreter (sic!) der ›Konservativen Revolution‹ zur NSDAP und zum Nationalsozialismus geklärt werden. Abschließend werden noch Protagonisten einer vermeintlich europäischen ›Konservativen Revolution‹ aus Frankreich und Italien vorgestellt.
Die beiden Begriffe ›konservativ‹ und ›Revolution‹ scheinen einander auszuschließen. Der Begriff ›Konservative Revolution‹ wird durch die Zeit und von verschiedenen Protagonisten unterschiedlich verwendet. Der Schriftsteller Thomas Mann verwendet ihn in einem nietzscheanischen Kontext, während er für den Dramatiker Hugo von Hofmannsthal etwa die Antithese zu Reformation und Renaissance ist.[1] Die heutige Konzeption der ›Konservativen Revolution‹ als eigenständige rechte Strömung in der Weimarer Republik wurde wesentlich vom Publizisten Armin Mohler geschaffen. 1949 veröffentlichte er seine Dissertation zur ›Konservativen Revolution‹, die bis heute immer wieder, zuletzt unter Mithilfe des neurechten Historikers Karlheinz Weißmann (IfS, Sezession), überarbeitet wurde.[2] Mohler selbst war ebenfalls einer der Hauptprotagonisten der neurechten Szene.
»[Armin] Mohler […] kam zu dem Ergebnis, daß man KR [Anm. d. Verfasser_innen: Konservative Revolution] als Oberbegriff für eine große Menge von Weltanschauungen benutzen sollte, die seit den 1890er Jahren entstanden und auf den Zerfall des klassischen Links-Mitte-Rechts-Schemas reagierten, indem sie neue ideologische Konzepte schufen, die gekennzeichnet waren durch die Aufnahme von Vorstellungen, die traditionell nur den Linken oder den Rechten zugewiesen wurden, durch die Lösung von Rückwärtsgewandtheit des alten Konservativismus und der Bejahung der Moderne (wenn auch nicht in allen ihren Ausprägungen), zu dem Zweck, Verhältnisse zu schaffen, deren Erhaltung sich lohnt.«[3]
Mohler gelang es, die ›Konservative Revolution‹ als eigene Strömung zu etikettieren, die weder dem traditionellen Konservatismus noch dem Nationalsozialismus zuzurechnen sei. Der Soziologe Stefan Breuer übt an dieser Einteilung Kritik und bezeichnet sie als »eine der erfolgreichsten Schöpfungen der neueren Ideengeschichtsschreibung.«[4] Er selbst schlägt vor, statt ›Konservative Revolution‹ den Terminus ›Neuer Nationalismus‹ zu verwenden, da er die Ideologie der ›Konservativen Revolution‹ als dessen charismatische Variante sieht. Das heißt auch, dass nicht alle, die zum Beispiel laut Mohler zur ›Konservativen Revolution‹ zählen, dies auch weiterhin sollten.[5] Der Literaturwissenschaftler Richard Herzinger wendet sich wiederum gegen den Begriff ›Neuer Nationalismus‹ als Alternativvorschlag von Stefan Breuer. Er sei schon als Selbstbezeichnung von der Gruppe um Ernst Jünger besetzt und würde zu weiteren Begriffsverwirrungen führen.[6]
Nachdem es keine weiteren brauchbaren Alternativen gibt und der Begriff ›Konservative Revolution‹ sowohl in der Forschung als auch im politischen Bereich angewandt wird, verwenden wir ihn trotz seiner nach wie vor unbestimmten Einordnung auch als Arbeitsbegriff in diesem Buch. Dabei ist allerdings immer zu bedenken, dass er kein rein wissenschaftlicher Begriff ist, sondern auch eine Funktion in der politischen Auseinandersetzung mit dem rechten Gedankengut der Weimarer Republik besitzt. In weiterer Folge dieses Kapitels wird die Problematik des Begriffs auch im Verhältnis seiner Protagonisten zum Nationalsozialismus dargestellt.
Neben der unklaren Begrifflichkeit gibt es ebenfalls keine Einigkeit darüber, wodurch die ›Konservative Revolution‹ genau definiert sei. Eine erschöpfende Auflistung der Akteure in der Literatur beispielsweise ist nicht zu finden. Armin Mohler zählt eine Unmenge an Journalisten, Literaten, Wissenschaftlern und Personen aus dem Zeitungsumfeld auf. Die ›Konservative Revolution‹ ist laut Mohler dementsprechend nicht als monolithischer Block zu verstehen. Er teilt sie in fünf Gruppen ein: 1. die Völkischen, die rassistisch-biologistisch argumentieren, 2. die Jungkonservativen, die sich am Reichsgedanken orientieren, 3. die Nationalrevolutionäre, die linke und rechte revolutionäre Ideologien zu vereinen suchen, 4. die Bündischen, die aus der Wandervogelbewegung entstanden und 5. die Landvolkbewegung, die sich auf einen Bauernaufstand in Schleswig-Holstein bezog.[7] Die Bündischen und die Landvolkbewegung zählt Mohler später nicht mehr zum Kern der ›Konservativen Revolution‹.[8]
Die erste Gruppe sind die Völkischen, ihr größter Verband war der Alldeutsche Verband. Sie verstanden sich als explizit antisemitisch, antikommunistisch, antikatholisch und antifreimaurerisch. Sie wollten ein germanisches Christentum (später ein germanisches Neuheidentum) populär machen und hingen der ›Dolchstoßlegende‹[9] des Ersten Weltkriegs an.[10] Als zweite Gruppe sieht Armin Mohler die Jungkonservativen, die die einflussreichste Gruppe waren. Sie versammelten sich in Zirkeln und Clubs und hatten gute Verbindungen in die verschiedensten Bereiche der Gesellschaft. Diese Autoren schlossen an die Kulturkritik des 19. Jahrhunderts an und bezogen sich auf die Gemeinschaft, den Staat und einen sogenannten ›preußischen Sozialismus‹. Zu ihnen zählen Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck oder Edgar Julius Jung.[11] Die dritte Gruppe der ›Konservativen Revolution‹ sind die Nationalrevolutionäre. Zu ihnen zählen etwa Ernst Niekisch und Ernst Jünger. Diese waren explizit militaristisch eingestellt und wollten die Nation zu einem zweiten (Rache-)Waffengang bewegen.[12] Diese drei Gruppen repräsentieren laut Mohler den Kern der ›Konservativen Revolution‹. In der späteren Literatur wird diese Einteilung so nicht beibehalten. Der Verfassungsschützer Pfahl-Traughber sieht die Jungkonservativen als die eigentlichen Vertreter der ›Konservativen Revolution‹, die dem traditionellen Konservativismus ideologisch am nächsten stünden.[13] Stefan Breuer hingegen bemängelt den Begriff Jungkonservative genauso wie jenen der ›Konservativen Revolution‹. Er zeigt anhand des Modernebegriffs bei den Jungkonservativen, dass diese die Moderne nicht per se ablehnten. Sie wünschten sich ›nur‹ eine unkomplizierte Moderne ohne gesellschaftliche Umwälzungen. Treffend formuliert er, dass die Jungkonservativen eigentlich genau das Gegenteil ihrer Bezeichnung vertraten, nämlich die Positionen des Altliberalismus.[14] Auf die ideologischen Eckpunkte der ›Konservativen Revolution‹ wird im weiteren Verlauf dieses Kapitel noch genauer eingegangen werden.
Die Sozialwissenschaftlerin Iris Weber zählt die ihrer Ansicht nach wichtigsten Vertreter namentlich auf und nennt Arthur Moeller van den Bruck, Carl Schmitt, Oswald Spengler, Edgar Julius Jung, Hans Freyer, Othmar Spann, Otto Strasser, Ernst Niekisch und Ernst Jünger.[15] Hier zeigt sich, dass nicht nur Jungkonservative, sondern auch Nationalrevolutionäre wie Ernst Niekisch oder Ernst Jünger als besonders bedeutend angesehen werden. Es ist nicht möglich, der ›Konservativen Revolution‹ eine kohärente Ideologie zuzuschreiben. Dazu kommt, dass auch mitunter populäre Literaten wie Stefan George,[16] Rudolf Borchardt,[17] Paul Ernst,[18] Hans Blüher[19] sowie der Berliner Herrenclub rund um Heinrich von Gleichen[20] der ›Konservativen Revolution‹ zugeordnet werden. Die Definition beschränkt sich also nicht allein auf politische Theoretiker_innen und/oder Kommentator_innen, sondern umschließt auch den literarischen und künstlerischen Bereich. Dieser wurde oft noch umfassender in der Gesellschaft aufgenommen. Das führt dazu, dass Breuer zu dem Schluss kommt, die einzige Gemeinsamkeit, die sich unter den Vertretern der ›Konservativen Revolution‹ ausmachen lasse, sei der Hass auf den politischen Liberalismus. Dies sei aber kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal. Der Begriff sollte dementsprechend also eigentlich gestrichen werden.[21] Der Philologe Roger Woods sieht hingegen genau darin das Wesen der ›Konservativen Revolution‹. Er gibt zu bedenken, dass dieses Wesen der ›Konservativen Revolution‹ besser erfasst würde, wenn man sie als ein Ineinander verschiedener Ziele, Ideologien, Motivationen und dergleichen begreife.[22] Woods weist auch darauf hin, dass die ›Konservative Revolution‹ nur als Prozess verstanden und nachvollzogen werden könne. Das erkläre zudem, warum sich Autoren der ›Konservativen Revolution‹ widersprachen, korrigierten, ihre Meinung änderten und so weiter. Mit dieser Betrachtungsweise könne auch das sozioökonomische Umfeld berücksichtigt werden.[23] Dementsprechend müsse die ›Konservative Revolution‹ keine einheitliche Ideologie haben.
Wenn die ›Konservative Revolution‹ aber nicht über eine einheitliche Ideologie definiert werden kann, dann bedarf es weiterer Merkmale, die es ermöglichen, sie von anderen Bewegungen, Parteien und Strömungen abzugrenzen. Breuer schlägt vor, dieses Merkmal in der einheitlichen Herkunft und Mentalität der (ausschließlich männlichen) Protagonisten zu suchen. Dazu gehöre die Herkunft aus einer bürgerlichen Familie, auch wenn ›bürgerlich‹ in der Zwischenkriegszeit ein in sich uneinheitliches und weites Feld beschreibe.[24] Ebenfalls zähle zu ›bürgerlich‹ die Herkunft aus Klein- und Provinzstädten, obwohl Akteure der ›Konservativen Revolution‹ in der Folgezeit in Großstädten gewirkt hätten. Viele blieben einem gewissen Anti-Urbanismus verhaftet.[25] Zahlreiche Autoren der ›Konservativen Revolution‹ entstammten einem christlich-religiösen Umfeld. Carl Schmitt kehre seinen katholischen Glauben besonders stark heraus.[26] Alle gehörten außerdem zur Bildungselite. Einen Gymnasialabschluss hätten alle, sehr viele hätten außerdem eine Universität besucht.[27] Diese erfolgreich abzuschließen, stand dabei allerdings nicht im Vordergrund. Einige Akteure hatten auch nie einen formalen Abschluss erreicht, stattdessen war Bildung an sich der zentrale Bezugspunkt.[28] Manche engagierten sich in Jugendbewegungen wie den Wandervögeln. ›Jugend‹ wurde von den Autoren der ›Konservativen Revolution‹ ebenfalls als Wert an sich verstanden.[29]
Der Erste Weltkrieg war natürlich auch für diese Autoren eine Zäsur. Stefan Breuer nennt jene Protagonisten der ›Konservativen Revolution‹, die in den 1880er und 1890er Jahren geboren wurden, ›Frontgenerationen‹. Sie, aber auch die zuvor Geborenen, hätten den Weltkrieg an der Front oder in verschiedenen unterstützenden Positionen bewusst miterlebt, viele sich freiwillig gemeldet.[30] Der Krieg blieb in den Köpfen der Autoren der ›Konservativen Revolution‹ auch nach Kriegsende verhaftet. Er konnte nie verwunden werden, auch weil es anschließend keine Ordnung gegeben hat, in die sich die Frontkämpfer hätten integrieren können. So wurde der Krieg zu einem fixen Bestandteil des Alltags, der bei nächster Gelegenheit weiter ausgefochten werden könnte.[31] Dadurch dass die Welt um sie herum und besonders das deutsche Bürger_innentum zusammenbrach beziehungsweise alte soziokulturelle Ordnungen und Strukturen zerstört wurden, hätten sie mehr Freiheiten als andere Generationen vor ihnen gehabt. Das Besondere, das Risiko, der Ausnahmezustand, die sie im Krieg erfahren hätten, geriet auch in ihren Schriften in den Mittelpunkt.[32] Heroismus und Opferbereitschaft spiele ebenfalls im Denken vieler Autoren und hier besonders im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg eine große Rolle.[33] Die Entwicklung eines Mythos, wie von Nietzsche in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) beschrieben, war ebenfalls zentral. Besonders der Mythos des ›Reichs‹ zieht sich durch das Schaffen der Autoren der ›Konservativen Revolution‹.[34] Das christlich-religiöse Element findet sich auch im Denken jener Autoren wieder, die nicht explizit christlich geprägt waren. Die Apokalypse und ihre Bilderwelt gehörten zum festen Bestandteil. Sei es in einer resignierenden Deutung wie bei Oswald Spengler oder als einzige Möglichkeit eines glorreichen Neubeginns, wie etwa bei Arthur Moeller van den Bruck.[35] Gewalt wird als legitimes Mittel zur Interessendurchsetzung angesehen, ebenso die Bereitschaft, aktiv von ihr Gebrauch zu machen.[36] Damit einher geht die Forderung nach Männerbünden und die Ablehnung von allem, was mit Weiblichkeit verbunden wird, also Frieden, Pazifismus, Demokratie und ähnlichem.[37]
Ein weiteres wichtiges Moment ist jenes der Angst. Dies ist nicht weiter besonders für diese Zeit. Besonders ist hingegen die affirmative Haltung zur Angst als etwas Schöpferischem und Treibendem.[38]