Die Kälte der Wahrheit - Leena Lehtolainen - E-Book

Die Kälte der Wahrheit E-Book

Leena Lehtolainen

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Beschreibung

Ewige Weite, eisige Kälte. Ein Ort, an den nur Menschen mit viel Geld kommen – und solche mit düsteren Geheimnissen. Im klirrenden Eis eine Leiche. Und der Täter ist nah... Ein neuer Fall für die Leibwächterin.  Bedrohliche Einsamkeit erwartet Leibwächterin Hilja an ihrem neuen Einsatzort: einem exklusiven Luxusresort in Lappland, umgeben von endloser vereister Landschaft. Wer hier Urlaub macht, will nicht gefunden werden. Doch nicht nur die Gäste sind außergewöhnlich. Auch von den Angestellten ist nicht jeder, wer er zu sein vorgibt. Bald taucht der Millionär Aku Rautio mit seiner Frau auf. Hilja kennt den Mann und weiß, dass er in zwielichtige Machenschaften verwickelt ist. Als Rautio unter merkwürdigen Umständen verschwindet, gerät jeder im Resort unter Verdacht. Und langsam wird klar, wie dunkel die Wahrheiten sind, die unter Lapplands dicker Eisdecke verborgen liegen … Der fünfte Fall für Leibwächterin Hilja, eine packende Locked-Room-Geschichte. Am Ende der Welt, weit draußen im ewigen Eis, gibt es kein Entkommen.

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Seitenzahl: 468

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Leena Lehtolainen

Die Kälte der Wahrheit

Kriminalroman

 

 

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

 

Über dieses Buch

Ewige Weite, eisige Kälte. Ein Ort, an den nur Menschen mit viel Geld kommen – und solche mit düsteren Geheimnissen. Im klirrenden Eis eine Leiche. Und der Täter ist nah … Ein neuer Fall für die Leibwächterin.

Bedrohliche Einsamkeit erwartet Leibwächterin Hilja an ihrem neuen Einsatzort: einem exklusiven Luxusresort in Lappland, umgeben von endloser vereister Landschaft. Wer hier Urlaub macht, will nicht gefunden werden. Doch nicht nur die Gäste sind außergewöhnlich. Auch von den Angestellten ist nicht jeder, wer er zu sein vorgibt.

Bald taucht der Millionär Aku Rautio mit seiner Frau auf. Hilja kennt den Mann und weiß, dass er in zwielichtige Machenschaften verwickelt ist. Als Rautio unter merkwürdigen Umständen verschwindet, gerät jeder im Resort unter Verdacht. Dann wird eine Leiche gefunden. Und langsam wird klar, wie dunkel die Wahrheiten sind, die unter Lapplands dicker Eisdecke verborgen liegen …

Der fünfte Fall für Leibwächterin Hilja, eine packende Locked-Room-Geschichte. Am Ende der Welt, weit draußen im ewigen Eis, gibt es kein Entkommen.

 

«Hilja taugt nicht zum Vorbild. Aber gerade das macht sie zu einer außergewöhnlichen Figur, die die skandinavische Krimi-Literatur wohltuend bereichert.» NDR

Vita

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen. 1994 erschien in Deutschland der erste Roman mit der Anwältin und Kommissarin Maria Kallio, 2012 der erste Krimi um die Personenschützerin Hilja Ilveskero. In dieser Serie sind bereits erschienen: «Die Leibwächterin», «Der Löwe der Gerechtigkeit», «Das Nest des Teufels» und «Schüsse im Schnee».

 

Gabriele Schrey-Vasara, geboren 1953 in Rheydt, studierte Geschichte, Romanistik und Finnougristik in Göttingen und lebt seit 1979 in Helsinki. 2008 erhielt sie den Staatlichen Finnischen Übersetzerpreis.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Ilvesvaara» bei Tammi Publishers, Helsinki.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «Ilvesvaara» Copyright © 2021 by Leena Lehtolainen

Redaktion Tanja Küddelsmann

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung muaz jaffar/EyeEm/Adobe Stock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01430-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Raija, Hiljas Seelenverwandte

1

In der Kapelle waren nur ich und der Verstorbene. Auf meinen Wunsch hin hatte man den Sarg offen gelassen, sodass ich die Wahrheit mit eigenen Augen sehen konnte. Der Mann, den ich so sehr gehasst hatte, dass mir die Worte dafür fehlten, war tot. Er würde niemandem mehr etwas antun können.

Es war nicht mehr viel von ihm übrig. Die Krankheit hatte das bisschen Fleisch aufgezehrt, das er bei unserer letzten Begegnung noch auf den Knochen gehabt hatte. Seine Augen waren geschlossen, der letzte Blick, den ich in ihnen gesehen hatte, war leer gewesen wie ein ausgetrockneter Brunnen. Auf seinem Gesicht lag noch ein Hauch von der Wut, an die ich mich seit fast dreißig Jahren erinnerte.

Seit dem Tag, als der Verstorbene, mein Vater, meine Mutter getötet hatte.

Ich hätte mich auf die Leiche stürzen, ihr die Nase brechen, die Brust aufschneiden und das blutlose Herz herausreißen können. Es war die letzte Chance, mich zu rächen.

Einmal hatte ich die Möglichkeit gehabt, diesen Mann umzubringen. Doch ich hatte sie nicht genutzt, weil ich nicht so sein wollte wie er.

Hinter mir hörte ich schleppende Schritte. Der Küster kam, um den Sarg zu schließen. Die Pastorin und die Organistin würden bald eintreffen. Trauergäste hatte ich nicht eingeladen. Die Vettern und Kusinen meines Vaters wollten keinerlei Kontakt zu ihm, und meine Halbschwester Vanamo war dem Mann, der ihre Mutter Saara vergewaltigt hatte, nie begegnet. Es lag bei Saara, der Zehnjährigen von dem Todesfall zu erzählen.

Ich trat zurück und setzte mich in die erste Bank. Dort erwartete mich eine einzelne weiße Lilie. Das plötzliche Brausen der Orgel ließ mich auffahren, die Musikerin hatte zu spielen begonnen, obwohl die Pastorin noch nicht am Altar stand. Die Töne des Chorals erschienen mir unerträglich. Ich hatte mich immer vor Bachs Musik gefürchtet, sie drang mir ins Herz und unter die Haut, sosehr ich mich auch sträubte. Aber ich hatte der Organistin freie Hand bei der Wahl der Musik gelassen. Ein Kirchenlied würde nicht gesungen werden. Die Aussegnung sollte so knapp und schlicht sein, wie es laut Gesetz möglich war.

Ich hätte die praktischen Dinge erledigen und der Zeremonie fernbleiben können. Dieser Mann, Keijo Suurluoto, war mir nur drei Jahre lang ein Vater gewesen. Ich schuldete ihm nichts.

Die Pastorin war noch jünger als ich. Wir hatten miteinander gemailt, weil ich in einer anderen Stadt wohnte und meine Arbeit mir keine Zeit ließ, mich persönlich mit ihr zu treffen. Sie hatte die Situation verstanden und keine unnötigen Fragen gestellt. Mein Vater war nie aus der Kirche ausgetreten, hatte aber auch mit niemandem darüber gesprochen, was für eine Beerdigung er sich wünschte. Erst nach seinem Tod war mir aufgegangen, dass er einer Gemeinde in Kuopio angehörte, weil er die letzten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens im Maßregelvollzug in Niuvanniemi verbracht hatte.

Endlich verklang die Musik. Die Pastorin sagte nur ein paar Sätze über meinen Vater. Sie behauptete, Gott vergebe auch das, was ein Mensch nicht verzeihen könne. Dabei suchte sie meinen Blick, aber ich starrte auf das Kreuz über ihrem Kopf. Die Kerzenflamme flackerte, als sei irgendwo eine Tür geöffnet worden, aber niemand kam herein.

Als die Pastorin mir ein Zeichen gab, legte ich die Lilie auf den Sarg. Wortlos. Wieder ertönte die Orgel, auch diesmal war es die quälende Musik von Bach. Wieso fiel mir plötzlich der Text zu dieser Melodie ein? Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir. Der Sarg blieb zurück, er würde bald in das ewige Feuer des Krematoriums geschoben werden. Ich würde die Urne mit der Asche später bekommen können, wenn ich mir die Mühe machen würde, sie abzuholen. Darüber mochte ich in diesem Moment allerdings nicht nachdenken.

Die Pastorin erwartete mich am Ende des Ganges, sie gab mir die Hand und signalisierte mir mit ihrem Blick ein Mitgefühl, an dem ich keinen Bedarf hatte. Ich bedankte mich und ging. Draußen war es schon dunkel. Es war Spätherbst, der kalte Wind fraß sich durch meine Jacke, ich zog die Kapuze über den Kopf. Auf dem Großen Friedhof von Kuopio war es still, die Wege waren teils schneebedeckt. Schräg oben strahlten die Lichter des Puijo-Turms. Ich war einmal mit meinem Onkel Jari in dem Café ganz oben auf dem Turm gewesen und hatte Kakao und Hefegebäck bekommen.

Bevor mein Vater auch Onkel Jari getötet hatte.

Aus einer plötzlichen Eingebung heraus machte ich mich auf den Weg zur Puijo-Höhe. Einige Minuten später verdeckte eine Schneeregenwolke den Blick auf den Turm und schleuderte mir große nasse Flocken ins Gesicht. Ich wartete darauf, dass die Ampel umsprang, ohne recht zu wissen, wohin ich wollte. Der schmelzende Schnee auf meiner Haut war das Einzige, was mir noch real vorkam.

Ich spürte das Handy in meiner Schultertasche vibrieren. Eine Textnachricht von einem unbekannten Anschluss.

Hilja Ilveskero, ich habe einen Auftrag für dich. Wenn du wieder in Helsinki bist, melde ich mich bei dir. Ich weiß, dass du eine Frau bist, die die Gefahr nicht scheut.

Keine Unterschrift. Wer hatte meine geheime Telefonnummer herausbekommen und wusste, dass ich die Hauptstadt verlassen hatte? Ich starrte das Handy an, als sei es eine Giftschlange. Am liebsten hätte ich es auf die Straße zwischen die Autos geworfen. Stattdessen überquerte ich die Fahrbahn und lief weiter zur Puijo-Höhe. Die Person, die mich kontaktiert hatte, würde schon noch merken, dass ich nach niemandes Pfeife tanzte.

2

Ich war überrascht, als es an der Tür klingelte. In den zwei Monaten, die ich mittlerweile in meiner provisorischen Wohnung in der Yrjönkatu in Helsinki lebte, war das noch kein einziges Mal vorgekommen. Sollte ich öffnen? Sicher war es jemand, der mir seine Religion aufschwatzen wollte, und ich hatte wirklich keine Lust, mich mit ihm anzulegen.

Das zweite Klingeln war fordernder. Mit Zeugen Jehovas oder Mormonen würde ich schon fertigwerden, sogar mit Pfadfindern, die ihre Adventskalender verkauften. Zum Glück gab es einen Türspion. Ich bewegte mich lautlos wie ein Luchs, das dritte Klingeln übertönte das Knarren der alten Dielen.

Ich dachte an die seltsame Nachricht, die mich vor zwei Tagen in Kuopio erreicht hatte. Stand ihr Absender jetzt vor meiner Tür?

Die Gestalt wusste sich vor Blicken zu schützen. Sie war groß und breitschultrig, das Gesicht war von einem Basecap und einer Sonnenbrille verborgen, die in der Novemberdunkelheit albern wirkte. Über dem Rollkragenpullover konnte ich immerhin das Kinn erkennen.

Der Mann wich ins Treppenhaus zurück und verschwand aus meinem Blickfeld. War die Sache damit erledigt? Doch da gab mein Telefon, das hinter mir auf dem Tisch lag, einen Signalton von sich. Der Mann war zurückgekommen, er hob die Hand, ich sah einen schwarzen Lederhandschuh und ein Handy.

Ich spürte, wie sich die Härchen auf meiner Haut aufrichteten. Meine geheime Nummer sollte eigentlich nur einigen wenigen Vertrauenspersonen bekannt sein. Vorsichtig, um nicht auf das knarrende Dielenbrett zu treten, schlich ich zu meinem Handy. Eine neue SMS.

Ich weiß, dass du da bist, Ilveskero. Mach auf. Ich bin ein Freund von Teppo Laitio und möchte dir einen Job anbieten.

Kein Name, die Nummer war geheim, wie meine. Dennoch wagte ich es zu antworten.

Wer bist du? Unbekannten mache ich nicht auf.

Ich bereute die Antwort, sobald ich sie abgeschickt hatte. Der Name Teppo Laitio hatte mich unvorsichtig gemacht. Der Hauptmeister der Zentralkripo war seit eineinhalb Jahren tot, aber ich dachte immer noch mindestens einmal in der Woche an ihn, und manchmal war die Sehnsucht unerträglich.

Jemand, der meine Verbindung zu Laitio kannte, war entweder wirklich vertrauenswürdig oder extrem gefährlich.

Die Glock lag im Gefrierfach. Meine Hand schmerzte bei der Berührung mit dem eisigen Stahl, doch ich achtete nicht weiter darauf, sondern steckte mir die kalte Pistole hinten in den Hosenbund und zog den übergroßen Pullover darüber. Sie war nicht geladen, aber das konnte der Besucher nicht wissen. Ich nahm das kleinste Messer aus dem Messerblock und legte es auf die Hutablage, sodass ich es im Notfall schnell zur Hand hatte.

Dann öffnete ich die Tür.

Der Mann stand reglos im Schatten, doch ich spürte seinen Blick auf mir ruhen. Unten im Treppenhaus waren Geräusche zu hören, das Licht ging an.

«Kann ich reinkommen? Was ich zu sagen habe, ist nicht für fremde Ohren bestimmt.»

Die Stimme war ziemlich tief, aber weich, aus den Worten war kein Dialekt und kein ausländischer Akzent herauszuhören. Der Mann überragte mich um fünfzehn Zentimeter, er war also fast zwei Meter groß, schlank, aber breitschultrig. Seine Augenfarbe war durch die Sonnenbrille nicht zu erkennen. Ich schätzte sein Alter auf etwa fünfunddreißig.

Noch konnte ich einen Rückzieher machen, die Tür schließen, das Handy ausschalten und hoffen, dass der Typ aufgeben würde. Aber irgendetwas veranlasste mich zu nicken.

«Ich gebe dir fünf Minuten.»

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, trat ich ein paar Schritte zurück. Meine Wohnung hatte nur ein Zimmer, die einzigen anderen Räume waren das Bad und der begehbare Kleiderschrank. Sessel, Bett, Esstisch, Kochnische, meine Bleibe glich eher einem Hotelzimmer als einem Zuhause. Ich hatte mich so positioniert, dass der Mann nicht weitergehen konnte, sondern an der Tür, die er hinter sich zugezogen hatte, stehen bleiben musste.

«Mein Name ist Pyry Lilja. Das reimt sich auf Hilja. So heißt du doch. Hilja Kanerva Ilveskero. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich habe viel von dir gehört.» Seine Stimme hatte einen leicht belustigten Unterton angenommen. Doch er musste mir am Gesicht ablesen können, dass ich nichts für leeres Gerede übrighatte. «Ich bin hier, um dir einen Auftrag anzubieten. Meines Wissens bist du ja momentan arbeitslos.»

Woher wusste Lilja das? Ich war weder bei LinkedIn noch in anderen sozialen Netzwerken angemeldet. Ich wollte im Netz möglichst wenig Spuren hinterlassen.

«Um was für einen Job geht es?»

«Um Personenschutz. Dazu wurdest du doch an der Sicherheitsakademie in Queens ausgebildet. Ich hoffe, dass du klug genug bist, über das zu schweigen, was ich dir gleich erzähle. Von dem Hotel, in dem du arbeiten würdest, wissen Normalsterbliche nämlich gar nichts.»

Lilja sprach nicht weiter, sondern nahm die Sonnenbrille ab und starrte mich an, als wolle er meine Reaktion testen. Mir schwirrten Dutzende Fragen durch den Kopf, aber ich wollte meine Neugier nicht zeigen. Da es mir nun doch albern vorkam, im Flur herumzustehen, bat ich ihn ins Zimmer. Als ich mich auf das Bett setzte, drückte mir die kalte Waffe schmerzhaft in den Rücken. Pyry Lilja drehte einen der beiden Esstischstühle zur Seite, um mich besser zu sehen, und ich widerstand der Versuchung, die Lampe so zu drehen, dass mein Gesicht im Schatten lag.

Wer war der Mann? Wieso wusste er so viel über mich? Mir war, als hätte ich den Namen Pyry Lilja schon einmal gehört, aber ich kam nicht darauf, in welchem Zusammenhang.

«Finnland ist ein dünn besiedeltes und abgeschiedenes Land, in dem man seine Ruhe haben kann, wenn man das möchte», begann er. «Diese Eigenschaft wissen viele Prominente zu schätzen. Adlige, Popmusiker, Hollywoodstars. Das Hotel bietet eine Zuflucht vor den Gefahren der Welt. Ansa kann ihren Gästen fast jeden Wunsch erfüllen.»

«Erspar mir das Werbegespräch. Ich habe nicht die Absicht, mich in einer Luxusherberge zu verstecken.»

Lilja lächelte, doch das Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. «Nein? Viele unserer Gäste sind Frauen. Manche bringen zwar ihre eigenen Leibwächter mit, aber das erlaubt Ansa nur in Ausnahmefällen. Verschwiegenheit ist einer der Trümpfe der Hotelanlage. Und darauf verstehst du dich ausgesprochen gut, wenn ich richtig informiert bin.»

«Wer hat das gesagt?»

«Eini Rantanen, eine Kollegin von Teppo Laitio. Sie ist meine Stiefmutter. Sie war bis vor Kurzem Archivarin bei der Zentralkripo, jetzt ist sie in Rente gegangen. Laitio hat sie doch bestimmt mal erwähnt?»

Ich überlegte. Vor einiger Zeit hatte ein Mann namens Tuomo Rantanen mir einen USB-Stick übergeben, der mir auf Laitios Wunsch nach seinem Tod ausgehändigt werden sollte. Der Mann hatte gesagt, er sei Eini Rantanens Sohn und habe in den letzten zwei Jahren vor Laitios Suspendierung in dessen Abteilung gearbeitet. Demnach wäre Pyry Lilja irgendwie mit diesem Tuomo Rantanen verwandt. Auf dem USB-Stick war die Krankengeschichte meines Vaters gespeichert, die mich zu der Erkenntnis gezwungen hatte, dass er nicht bei allen seinen Taten schuldfähig gewesen war. Doch daran wollte ich jetzt nicht denken. Also wechselte ich das Thema.

«Wo liegt denn dieses Einödhotel?»

Wieder dieses irritierende, selbstsichere Lächeln. Irgendwo hatte ich es mit Sicherheit schon einmal gesehen.

«Das kann ich leider noch nicht verraten. Selbst unsere Gäste erfahren den genauen Standort nicht. Das trägt zum Reiz des Resorts bei. Wir bieten unendliche, zeitlose Ruhe. Ein Leben mit der Natur, wie vor hundert Jahren, aber mit allem modernen Komfort.»

«Hat der Ort einen Namen?»

Liljas Lächeln wurde breiter, nun reichte es schon bis zu den Augen.

«Ja. Ilvesvaara. Luchsberg. Fast wie dein Nachname. Ist das nicht ein schöner Zufall? Du wirst es auf keiner Karte finden, weder gedruckt noch digital. Dort ist nur eine Einöde ohne Straßen verzeichnet. Irgendwo ein Fluss, ein kleiner See, endloser Wald. Und Tiere. Bären – zweifellos nur, wenn sie wach sind –, Wölfe, Vielfraße … Und natürlich Luchse. Für die hattest du ja schon immer eine Vorliebe.»

Ich hatte nicht übel Lust, ihm das selbstgefällige Grinsen vom Gesicht zu wischen.

«Hat Laitio dir auch das erzählt?»

«Er hat oft von dir gesprochen. Er hatte dich ins Herz geschlossen wie eine eigene Tochter. Ich bin schon vor Jahren auf dich aufmerksam geworden. Für dich war ich sicher nur einer unter vielen Gästen im Sans Nom. Ach ja, zum Glück hast du auch Erfahrung in der Gastronomie. In Ilvesvaara sind wir so ein kleines Team, dass sich niemand streng auf sein Revier beschränken kann. Jeder springt da ein, wo es nötig ist. Aber dafür werden wir auch sehr gut bezahlt.»

«Was ist denn dein Tätigkeitsbereich, Pyry Lilja?»

Er breitete die Arme aus.

«Personal Trainer. Masseur. Wanderführer. Ich organisiere Schneeschuhwanderungen, Skiausflüge, Fahrten in Hunde- und Rentierschlitten. Alles, was man in der Natur des hohen Nordens erleben kann. Zusammen mit unserem Koch gehen wir auch angeln und auf die Jagd – für diejenigen, die Spaß daran haben. Du hast in New York gelebt, du kannst dir also bestimmt vorstellen, wie toll es für Stadtbewohner ist, selbst eine Bachforelle zu fangen und dann das Essen zu genießen, das ein Michelin-Koch daraus gezaubert hat.»

«Du bist ja ein echter Tausendsassa.» Ich imitierte Pyry Liljas Lächeln. «Und meine Aufgabe wäre es also, die Unantastbarkeit der Gäste zu gewährleisten. Zwei Fragen: Sind alle Mittel erlaubt? Wie hoch ist mein Gehalt?»

Als ich mich bewegte, drückte die Pistole mir so hart in den Rücken, dass ich beinahe vor Schmerz aufgeschrien hätte. Da fiel mir plötzlich ein, wo ich Liljas konzentrierten Gesichtsausdruck schon mal gesehen hatte.

Es war vor rund fünfzehn Jahren im Väinölänniemi-Stadion in Kuopio, mit dem Stab in der Hand, bereit zum Sprung über die Latte. Über fünf Meter wären ein fantastisches Ergebnis für den zwanzigjährigen Zehnkämpfer gewesen. Einige Sekunden später wich der konzentrierte Ausdruck einer qualvollen Grimasse, als der Stab mitten im Sprung brach und der junge Sportler in den Einstichkasten fiel. Er verlor kurz das Bewusstsein.

Ich behielt meine Erinnerung für mich. Lilja sollte ruhig glauben, dass ich nichts über ihn wusste. Sein Blick wanderte zum Fenster, und als er antwortete, war seine Stimme wieder ernst.

«Über die Regeln musst du mit Ansa verhandeln, aber wie ich sie kenne, lässt sie dir ziemlich freie Hand. Das Gehalt ist zehntausend pro Monat bei freier Kost und Logis. Ansa kann es sich leisten, Leute, die keine Risiken scheuen, gut zu bezahlen. Du darfst nur niemandem verraten, wo du arbeitest, und mit der Außenwelt kannst du ausschließlich per Telefon und SMS kommunizieren. Soziale Medien und E-Mail sind in Ilvesvaara nicht erlaubt.» Er sah mich an. «Was meinst du, Hilja Ilveskero? Wäre es für dich interessant, unauffindbar zu verschwinden?»

3

Der Zug nach Kemijärvi war fast leer. In den Nachbarkabinen im Schlafwagen war niemand. Als ich in den Speisewagen ging, um mir Kaffee und ein Roggenbrötchen zu holen, sah ich, dass auch in den Abteilen nur wenige Reisende vor sich hin dösten. Ich hätte auch nach Kittilä oder Ivalo fliegen können, hatte mich aber für den Zug entschieden. Die Reise dauerte eine ganze Nacht und erschien mir als passender Übergangsritus in einen neuen Lebensabschnitt, von dem ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie lange er dauern würde.

Ich war es gewohnt, schnelle Entscheidungen zu treffen, kopfüber in ein Eisloch zu springen, ohne zu wissen, wann ich wieder unter dem Eis hervortauchen würde. Obwohl ich einige Male dem Tod ins Auge gesehen hatte, scheute ich keine Gefahr. Ein Luchs hatte wohl auch sieben Leben, wie eine Katze. Ich mochte nicht nachzählen, wie viele davon ich womöglich schon aufgebraucht hatte.

Über der Kleinstadt lag noch Dunkelheit. Ich stieg als Letzte aus. Soweit ich wusste, lag mein Ziel noch einmal über hundert Kilometer von hier entfernt. Die genaue Lage hatte Ansa Huuhka mir in ihren Nachrichten nicht genannt, und Google Maps hatte mir ebenso wenig weitergeholfen wie die Ortungs-App der US Army, die ich schon in meiner Zeit an der Sicherheitsakademie in Queens gehackt hatte.

Pyry Lilja wartete vor dem Bahnhof. Die Temperatur lag einundzwanzig Grad unter null, bei starkem Nordostwind. Als der dampfende Atem sein Gesicht kurz verdeckte, sah Lilja aus wie eine bereifte Skulptur.

«Willkommen im Norden, Hilja Ilveskero.» Er behielt den Handschuh aus Rentierleder an, als er mir die Hand gab.

Er wollte mir den Koffer abnehmen, aber ich trug Koffer und Rucksack lieber selbst. Meine Glock saß im Achselholster, Pass und iPad steckten im Brustbeutel unter meiner Jacke.

Der Kleinbus war silbergrau, das Nummernschild hinten schien absichtlich von einer Mischung aus Schnee und Tannennadeln verdeckt. Vorn war nur der erste Buchstabe zu sehen, ein L. Die Scheiben im hinteren Teil des Wagens waren abgedunkelt. Ich war darauf eingestellt, auf der Beifahrerseite einzusteigen, aber als Pyry auf den Schlüssel drückte, glitt die rechte hintere Tür auf. Er machte eine ironische Verbeugung und bedeutete mir einzusteigen.

Hinten gab es nur zwei breite Sitzbänke, doch die Schienen davor und dahinter verrieten, dass man bei Bedarf weitere Sitze hinzufügen und verschieben konnte. Eine Glasscheibe trennte die Fahrerkabine vom Passagierbereich. Ich stellte mein Gepäck auf den Boden und vergab gleich den ersten Minuspunkt an die Person, die für die Sicherheit im Wagen zuständig war: Bei einem plötzlichen Bremsmanöver oder einem Zusammenstoß konnten die Gepäckstücke durch die Luft geschleudert werden und die Reisenden treffen. Ich befestigte meinen Rucksack mit dem Sicherheitsgurt auf dem anderen Sitz und schob den Koffer unter den Platz neben mir, als säße ich im Flugzeug.

An der Tür war ein klappbares Tablett mit verschiedenen Vertiefungen und Halterungen befestigt. Wenn man wollte, konnte man ein Bier oder ein Glas Champagner trinken. Wo war der Kühlschrank? Ich drehte mich um und spähte nach hinten, doch da war nur Dunkelheit.

Als Lilja den Motor anließ, verschwand er aus meinem Blickfeld, und die getönten Scheiben hinderten mich daran, hinaus in die Landschaft zu sehen. Nur ab und zu blitzte durch die Windschutzscheibe eine Straßenlaterne auf, die Wegweiser konnte ich nicht lesen. Pyry Liljas breite Schultern verdeckten den Tacho, aber mein Instinkt sagte mir, dass das Tempo deutlich über den erlaubten hundert Stundenkilometern lag. Ganz schön riskant, denn in diesem Teil Finnlands konnte man jederzeit auf eine Rentierherde stoßen.

Obwohl ich meine Umgebung nicht sehen konnte, bemühte ich mich, die Richtung herauszubekommen, in die wir uns bewegten. Aus Ansa Huuhkas Informationen hatte ich herausgelesen, dass die Fahrt nach Nordosten, ins Grenzgebiet zu Russland ging. Ich hatte die Landkarten studiert und festgestellt, dass das Straßennetz hier deutlich spärlicher war als im Süden. Deshalb wunderte es mich, dass Pyry immer wieder abbog. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Er wollte meinen Orientierungssinn verwirren. Tat er das bei allen Gästen – oder wollte er mich testen?

Wir fuhren schweigend dahin. Ich hatte Dutzende Fragen, aber es war besser, sie derjenigen zu stellen, die Ilvesvaara leitete: Ansa Huuhka. Im Internet hatte ich nur wenige Informationen über sie entdeckt; sie hatte keine Facebook-Seite und keinen Twitter-Account. Erwähnt wurde ein Bauprojekt in Sotschi zwei Jahre vor der dortigen Winterolympiade, außerdem stand ihr Name auf einer Liste von Leuten, die über zwanzig Jahre zuvor ihre Ausbildung an einer Londoner Hotelfachschule abgeschlossen hatten. Dazu kamen noch die aktuellen Angaben im Handelsregister. Ansa Huuhka wusste sich zu verbergen. Dafür verdiente sie Respekt.

Nach einer knapp einstündigen Fahrt ertönte ein seltsamer Signalton. Ging Lilja etwa das Benzin aus? Nein, er setzte ein Headset auf und begann zu sprechen. Seine Stimme drang zwar nur gedämpft durch die Scheibe, doch einige Wörter fing ich auf.

«Nein.»

Langes Schweigen, dann schüttelte er den Kopf, als ginge ihm das, was er hörte, gegen den Strich.

«Das dürfte jetzt zu spät sein!» Er klang aufgebracht, doch sein Gesprächspartner gab nicht nach. Lilja zuckte die Achseln, schnaubte laut, nahm das Headset ab und warf es auf den Boden. Dann drehte er sich kurz zu mir um. Obwohl seine Miene unergründlich war, spürte ich Gefahr. Ich drückte den linken Oberarm fester gegen meine Waffe. Pyry Lilja konnte wohl nicht so dumm sein, sich einzubilden, ich hätte die Glock im Koffer gelassen?

Der Wagen bog nach links ab und drosselte das Tempo. Pyry setzte den Blinker, nach rechts, zum Straßenrand. Ich atmete tief und gleichmäßig. Warum sollte er mich auf einmal bedrohen?

Über ihn hatte ich immerhin einige Fakten gefunden, unter anderem in der Leichtathletik-Datenbank und in einer mehr als zehn Jahre alten Ausgabe des Leichtathletik-Jahrbuchs. Diverse Verletzungen hatten seiner Karriere als Zehnkämpfer ein Ende gesetzt. Außer im Zehnkampf war er bei Länderkämpfen auch im Stabhochsprung und im 110-Meter-Hürdenlauf für Finnland angetreten. Meines Wissens eine ungewöhnliche Kombination.

Es würde Pyry Lilja nicht gelingen, mich vollkommen spurlos verschwinden zu lassen. Ich hatte meiner Freundin Monika von Hertzen erzählt, für wen ich demnächst arbeiten würde. Auf der Zugfahrkarte stand mein Name, man würde leicht nachweisen können, dass ich nach Kemijärvi gereist war. Wenn Lilja und Huuhka mir Schaden zufügten, würden sie nicht ungeschoren davonkommen.

Trotzdem pochte mein Herz wie wild, als die Tür aufging und Pyry hereinspähte. Er hatte die Pelzmütze auf, die er schon am Bahnhof getragen hatte. Hinter ihm lag ein verschneiter Kiefernwald. Durch die Wolken fiel nur spärliches Licht, als ich den Blick wandern ließ, sah ich jedoch den Widerschein der Sonne im Seitenspiegel. Demnach stand der Wagen momentan in Richtung Nordwesten.

«Ich habe vergessen, es dir am Bahnhof zu sagen, Ansa hat gerade angerufen und mich daran erinnert. Gib mir bitte dein Handy und alle anderen digitalen Endgeräte, die du bei dir hast. Du bekommst sie in Ilvesvaara zurück, wenn Ansa sie überprüft hat. Wir möchten nicht, dass deine Ortungsdaten frei zugänglich sind.»

«Kommt nicht infrage. Wie soll ich denn ein Hotel schützen, von dem ich nicht weiß, wo es sich befindet? Das ist doch absurd.»

«Ich halte mich nur an Ansas Anordnung. Du kannst dann mit ihr verhandeln. Oder hier aussteigen. Da du dein Telefon ja noch hast, kannst du dir ein Taxi rufen. Übernachtungsmöglichkeiten findest du in Kemijärvi.»

Lilja konnte nicht wissen, dass ich nur ein altmodisches Handy besaß, das nicht so leicht zu orten war wie die neuen Smartphones, die permanent irgendwelche Signale aussandten. Dann fiel mir ein, dass er meine Telefonnummer herausgefunden hatte, obwohl ich die SIM-Karten immer wieder wechselte.

«Gibst du mir die Sachen nun freiwillig, oder muss ich dein Gepäck durchsuchen?», fragte Pyry.

Begriff er wirklich nicht, dass ich eine Pistole hatte? Oder war er ebenfalls bewaffnet? Ich seufzte und tat so, als sei seine Forderung die größte Tragödie der Welt. Dabei hasste ich elektronische Geräte und kam bevorzugt ohne sie aus. Natürlich verwendete ich bei Bedarf bestimmtes Sicherheitsequipment wie Tracker oder Überwachungskameras, aber ich wollte nicht, dass jemand dieselben Mittel gegen mich benutzte.

Ich nahm das Handy aus der Tasche und das iPad aus dem Brustbeutel und reichte ihm beides.

«Mehr habe ich nicht dabei. Du kannst gerne nachsehen. Ich verstehe bloß nicht, was das soll.»

«Anordnung von Ansa. Lass es dir von ihr erklären. Falls du weiter mitfahren willst.»

«Da du mein Handy hast, kann ich jetzt ja kein Taxi mehr bestellen. Und ich hab keine Lust, stundenlang in dieser Kälte zu warten. Sieht nicht so aus, als ob man hier gut trampen kann.»

Ich bemühte mich, sorglos zu klingen. Pyry Lilja sollte sich nicht einbilden, er habe die Oberhand gewonnen. Die Luft, die durch den Türspalt drang, war so kalt, dass sich mein Gesicht verzog und mir die Augen tränten.

«Entschuldige, du frierst bestimmt. Ist es dahinten ansonsten bequem?» Die Tür schloss sich, ohne dass ich hätte antworten können, er setzte sich wieder ans Steuer und fragte, ob ich Musik hören wolle. Nein danke, ich hatte keinen Bedarf an zusätzlichen Reizen, die meine Beobachtungsgabe einschränkten. Lilja warf seine Mütze auf den Beifahrersitz und stellte klar: «Die ist aus echtem Rentierfell. Du hast doch nichts dagegen, oder?»

«Ich benutze durchaus Leder und Felle von Tieren, die ich auch esse. Rentier, Schaf, Rind, Pferd. Aber nicht aus Massentierhaltung oder von wilden Tieren.»

«Richtig, du sollst ja mal in Russland durch einen Luchspelz in Schwierigkeiten geraten sein. Oder vielmehr, du hast deine Auftraggeberin im Stich gelassen und deinen Job gekündigt.»

Im Rückspiegel konnte ich Pyry Liljas Miene nicht sehen. Was hatte Teppo Laitio ihm denn alles über mich erzählt? Und vor allem – warum? Als würde Laitio meine Geschicke auch jetzt noch lenken, obwohl von ihm nur noch ein Haufen Asche übrig war.

«Es ist gut, wenn jemand seine Prinzipien hat», sagte Pyry.

«Du hast das Doping, das dein amerikanischer Trainer dir angeboten hat, ja auch abgelehnt.»

Bei meiner Antwort zuckte er zusammen. Von dem Vorfall hatte ich im Interview eines Kugelstoßers gelesen, der im selben Sportzentrum trainiert hatte.

«Doping hätte nichts gebracht. Der Zehnkampf fordert so viele verschiedene Eigenschaften vom Körper, und Spannkraft lässt sich nicht durch Pillen verbessern. Aber das ist schon Jahre her. Wir beide waren zur gleichen Zeit in den USA, ich allerdings in Kalifornien und du in New York. Noch ein verbindender Faktor zwischen uns.»

Ich fragte mich, wieso Pyry auf einmal so gesprächig war. Hatte er geglaubt, ich würde alles, was er sagte, aufzeichnen, solange ich mein Handy bei mir hatte?

«Wie bist du eigentlich in der Sicherheitsakademie in Queens gelandet?»

«Hat Laitio dir das nicht erzählt?» Ich entspannte mich ein wenig. Liljas Informationen waren zum Glück nicht lückenlos. «Nach der Armee habe ich überlegt, was ich mit mir anfangen soll. Auf der Polizeischule hätten sie mich wohl nicht genommen, weil …»

Ich konnte den Satz nicht zu Ende führen. Obwohl mein Vater tot war, hing sein Schatten immer noch über mir. Ich war für immer die Tochter eines Mörders.

«Ich hätte mich nicht in die Polizeihierarchie einfügen können. Auch bei der Armee war es manchmal schwierig, Befehle zu befolgen, die keinen Sinn ergaben.»

«Bei Ansa musst du flexibel sein, aber sie schätzt Menschen, die ihre Sache verstehen. Ich helfe dir, so gut ich kann, schließlich habe ich dich ja empfohlen. Ich bin sozusagen verantwortlich.»

«Danke, aber ich komme allein zurecht.»

Pyry sollte sich nicht einbilden, dass ich ihm etwas schuldig war. Im selben Augenblick trat er voll auf die Bremse. Im Seitenspiegel sah ich, dass leichter Pulverschnee fiel, der die Sicht einschränkte. Musste Pyry einem Rentier ausweichen? Da sah ich ein Paar weiße Flügel auf der Motorhaube.

«Das arme Schneehuhn. Das ist buchstäblich aus dem Nichts gekommen. Ich seh mal nach, ob es noch lebensfähig ist oder ob ich es erlösen muss.»

Er stieg aus. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war verriegelt. Mit welchem Recht sperrte der Kerl mich im Auto ein? Ich sah das Schneehuhn hilflos zappeln, es konnte nicht auffliegen. Dann hörte ich ein Knacken und einen weichen Aufprall, das Tier zuckte, und eine Hand entfernte es aus meinem Blickfeld.

Pyry Lilja war offensichtlich in der Lage, ohne jedes Zaudern zu töten.

4

Ich hab den armen Vogel nicht begraben. Irgendein anderes Tier kann damit seinen Hunger stillen», sagte Pyry und wischte mit einem Taschentuch das Blut von seinem Handschuh ab, bevor er ihn auszog und auf den Beifahrersitz legte. Der Neuschnee hatte inzwischen eine dicke Schicht auf den Scheibenwischern gebildet, und wir mussten warten, bis die Sicht frei wurde, bevor wir weiterfahren konnten.

Eine Schneehuhnfeder flog von der Motorhaube auf. Pyry hatte dem Vogel blitzschnell das Genick gebrochen. Ich hätte ganz genauso gehandelt. Ein Gnadenschuss war schwer für den, der ihn abgab, aber für den Sterbenden war er eine Erleichterung. Ich musste an Frida denken, die am Straßenrand zusammengebrochen war. Von ihr hatte selbst Laitio nichts gewusst, also erzählte ich auch Pyry nichts.

Seit dem Zwischenfall war er wieder verstummt. Wir fuhren eine Viertelstunde lang in tiefem Schweigen. Plötzlich hellte sich die Umgebung auf: Pyry hatte die Scheibentönung ausgeschaltet. Das Auto bog auf eine Nebenstraße, auf der man keinen anderen Wagen hätte überholen können. Der Wald bestand nun vorwiegend aus Fichten, hier und da waren Windbrüche zu sehen. An den Bäumen hingen Bartflechten, ich konnte die Schärfe der reinen Luft schon erahnen. Die Schneewehen waren von Tierspuren gemustert: Eichhörnchen, Schneehase, stammte die Spur dort von einem Wiesel?

In meiner Kindheit in Hevonpersii war der erste Schnee ein Fest gewesen, denn im Schnee formte sich eine neue Karte der Tiere der näheren Umgebung. Dort am Flussufer war ein Fischotter den Hügel hinabgerutscht, huch, wie nah der Elch ans Haus gekommen war! Die Waldmaus hinterließ kleine Perlenschnüre auf dem Schnee. Onkel Jari hatte mich gelehrt, Fährten zu lesen, und als ich an der Sicherheitsakademie in Queens einen kanadischen Seilretter kennenlernte, der zum Volk der Ojibwe gehörte, hatten wir versucht, uns im Lesen von Tierfährten zu übertrumpfen, worüber die Kursteilnehmer aus der Stadt gelacht hatten. Doch Mike Virtue, der Gründer und Leiter der Akademie, hatte erklärt, im Leibwächterberuf könne sich alles Wissen als nützlich erweisen, und war mit dem ganzen Kurs in den Central Park gegangen, damit alle lernten, die Ausscheidungen eines Waschbären von denen eines Stadtfuchses zu unterscheiden.

Pyry trat aufs Gas wie ein Rallyefahrer, der weiß, dass ihm auf der Trainingsstrecke niemand entgegenkommt, und wirbelte dabei so viel Schnee auf, dass er mir kurzzeitig die Sicht aus dem Seitenfenster nahm. Als er das Tempo drosselte, ragte vor uns ein etwa zweieinhalb Meter hohes eisernes Tor auf, das an beiden Seiten in einen zwei Meter hohen Maschendrahtzaun überging. Die Überwachungskamera am Tor registrierte offenbar über einen unsichtbaren Mechanismus, wer wir waren, denn Pyry brauchte nicht einmal einen Code einzugeben, um das Tor zu öffnen.

Der Zaun würde jemanden wie mich nicht zurückhalten. Das war eine gute Nachricht. Trotzdem fühlte ich mich ausgeliefert, als der Wagen durch das Tor fuhr. Der Schnee lag mehr als zehn Zentimeter hoch, obwohl erst Mitte November war. Der Weg wurde wieder zweispurig, rechts davon verlief eine Loipe, die aber schon bald nach rechts in Richtung einer steilen Felswand abbog. Ich schätzte die Höhe des Berges auf fast zweihundert Meter. Der Baumbestand war spärlich, und plötzlich tauchte ein etwa 25 Meter hoher, teils gefrorener Wasserfall vor meinen Augen auf. Er speiste einen Fluss, über den eine dekorative, geschwungene Holzbrücke führte. Als ich dem Flusslauf mit den Augen nach links folgte, sah ich zwischen den Bäumen eine weiße Ebene schimmern, einen ungefähr anderthalb Kilometer langen See. Wo kam der Wasserfall her?

Pyry bog in die andere Richtung ab, zu einem offenen Platz, über dem eine unregelmäßige Formation aus großen Glaswürfeln hing, die in der Luft zu schweben schienen. Ich sah nur schimmernden Schnee und Glas, strahlendes Eis und grüne Tannenzweige. Die winterliche Farbpalette von Ilvesvaara war bei bewölktem Wetter eintönig, dennoch fühlte ich mich wie in einer Art Märchenland.

«Ist das nicht ein beeindruckender Anblick? Mir verschlägt es jedes Mal die Sprache, wenn ich ankomme, obwohl ich schon bald anderthalb Jahre hier wohne.»

«Wer hat das entworfen?»

Aus der Nähe sah man in den Glaswürfeln nun auch Drahtseile und leichtes Stützwerk aus Stahl. Dennoch hatte man das Gefühl, die Glashäuschen seien ganz von allein zwischen den Bäumen gewachsen. Es schienen einige mehr zu sein, als ich auf den ersten Blick gedacht hatte.

«Weitgehend Ansa selbst. Natürlich wurde sie von einer Spitzenarchitektin und einer Reihe anderer Profis unterstützt. Aber das hier ist ihr langjähriger Traum.»

Pyry stieg aus, jetzt ließ sich auch meine Tür von innen öffnen. Der Wind blies vom See und wehte mir die Kapuze vom Kopf. Einen Augenblick lang wurde ich vom aufstiebenden Neuschnee geblendet. Über dem See schwebte ein weißer Wirbel, am Ufer stand ein Gebäude, das nach einer Sauna aussah, von dort führte ein Pfad zu einem Eisloch. Ich registrierte die Umgebung und dachte gleichzeitig über mögliche Gefahrenquellen nach. Wasser war immer bedrohlich, ebenso der steile, rutschige Fels. Die Glaswürfel in den Bäumen sahen schön aus, die dazwischen gespannten Hängebrücken einfallsreich. Wie blieben sie nur im Winter eisfrei?

Nun sah ich das vordere Nummernschild des individuell angepassten Kleinbusses. LNX-5. Die Buchstaben ließen mich an das Wort lynx denken, Luchs. Ansa Huuhka kümmerte sich offenbar in allen Einzelheiten um das Branding ihres Urlaubsresorts. Wie viele Fahrzeuge mit dem Kennzeichen LNX mochte sie besitzen?

«Als Erstes musst du dich bei Ansa melden. Danach kannst du dein Quartier beziehen.» Ohne mich zu fragen, nahm Pyry mein Gepäck aus dem Wagen. Es enthielt nur Kleidung und Kosmetika, er würde nichts über mich erfahren, selbst wenn er meine Slips untersuchte oder meine Hautcrememarke herausfand.

Der Fußweg zum ersten Haus war mit Tannenzweigen bedeckt, die bei einem Wetterumschwung gefrieren konnten, wenn man sie nicht oft genug austauschte. Mir war nicht klar, wie wir das Gebäude, das in etlichen Metern Höhe baumelte, erreichen sollten, denn es schien keine Treppe zu geben. Dann bemerkte ich zwischen den Baumstämmen einen Glaskasten. Ein Lift.

Es gefiel mir nicht, dass es keine Treppe gab. Ein Aufzug konnte aus den verschiedensten Gründen stecken bleiben. Wieso hatte das Bauamt diese Lösung zugelassen? Ohne Endkontrolle durfte man in Finnland kein Gebäude in Betrieb nehmen. Die finnischen Beamten galten als unbestechlich, woran ich allerdings nicht restlos glaubte. Jeder Mensch hat einen Preis. Und Ansa Huuhka schien so reich zu sein, dass ein kleines Schmiergeld ihre Kasse nicht groß belasten würde.

Der Aufzug war für vier Personen ausgelegt, doch Pyry Lilja platzierte das Gepäck so, dass er dicht neben mir stand. Es ärgerte mich, dass ich zu ihm aufsehen musste. Mir als 1,80 Meter großer Frau passierte das nicht oft. Liljas glatt rasiertes, eckiges Kinn befand sich auf der Höhe meiner Augen. Ich roch kein Rasierwasser.

Die Aufzugtüren öffneten sich. Ich betrat einen drei Meter breiten Flur mit einem Boden aus Glas. So entstand die Illusion, durch die Luft zu spazieren. Für Menschen mit Höhenangst war Ilvesvaara nicht geeignet. Die Wände des Gebäudes waren zu einem großen Teil aus halb transparentem Glas. Man sah nach draußen, aber kaum nach innen. Auf dem Flur standen einige Grünpflanzen, stellenweise streiften Tannenzweige die Fenster. Als ich zur Anhöhe blickte, sah ich Fuchsspuren. Was hatte Pyry Lilja gesagt? Rentiere, Wölfe, Bären. Die Anwesenheit eines Luchses spürte ich immer schon im Voraus. Jetzt nahm ich sie nicht wahr.

Pyry öffnete mir eine große Tür aus Eichenholz, ging aber nicht mit hinein. Als die Tür sich hinter mir schloss, sah ich erst einmal gar nichts. In diesem Raum hingen Jalousien an den Fenstern, und es brannte kein Licht. Ich hörte ein leises Brummen, das mich an einen Zahnarztstuhl erinnerte.

Ich roch die Frau, bevor sie das Licht anknipste. Ein blumiger Duft, unter dem Vanille und Ambra lagen. Er war weder weich noch mädchenhaft. Meine Nasenlöcher blähten sich, im hellen Licht musste ich blinzeln.

«Ihr wart aber schnell. Pyry ist sicher gerast wie immer. Ich habe ihm schon gesagt, dass die Firma nicht für seine Geldbußen aufkommt.»

Die Frau saß in einem braunen Ledersessel mit hoher Rückenlehne hinter einem massiven Schreibtisch und machte keine Anstalten, zur Begrüßung aufzustehen. Im Zimmer befanden sich außerdem einige Schränke, zwei Sessel und ein kleiner Tisch mit einem Arrangement aus Zweigen im Ikebana-Stil.

Wir sahen uns an. Es war schwierig, Ansa Huuhkas Alter einzuschätzen. Auf den ersten Blick wirkte sie wie vierzig, denn ihre Haut war noch glatt und ihr Körper geschmeidig, aber als ich ihr Mienenspiel und ihre Gesten genauer betrachtete, konnte ich mir auch vorstellen, dass sie mindestens zehn Jahre älter war. Vielleicht hatte Ansa gute Gene und einen geschickten Schönheitschirurgen, dessen Arbeit man nur wahrnahm, wenn man Ansa seit ihrer Kindheit kannte.

«Setz dich doch», forderte sie mich schließlich auf, ohne den geringsten Versuch, freundlich zu klingen. Offenbar reservierte sie den warmen Tonfall für zahlende Gäste.

«Als Personenschützerin hast du zuletzt auf dem Gutshof Loberga in Raasepori gearbeitet. Danach bist du in die Gastronomie zurückgegangen, bis die Restaurants wegen der Coronapandemie geschlossen wurden.»

Ich sparte mir eine Antwort. Als Pizzabotin hatte ich nicht viel verdient, aber auch dieser Job war besser gewesen, als zu Hause zu sitzen und Däumchen zu drehen. Mich um meine frühere Stelle bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen zu bewerben, hätte keinen Sinn gehabt, denn es gab praktisch keine Flüge.

«Du warst bei der Armee, dein Dienstgrad ist Fähnrich. Du bist also Reserveoffizierin.»

Ansa stellte diesen Tatbestand fest, als handle es sich um eine seltene Krankheit, die ich nur durch glücklichen Zufall überwunden hatte. Ich nickte.

«Warum hast du keine militärische Laufbahn eingeschlagen? Fähige Frauen sind bei der Armee gefragt.»

«Selbstständiges Arbeiten liegt mir besser.»

Nun war Ansa an der Reihe, verständnisvoll zu nicken. Dann erkundigte sie sich, wie ich in der Wildmark zurechtkam. Obwohl Pyry in Ilvesvaara der hauptamtliche Natur-Guide war, musste auch die Personenschützerin dies und jenes beherrschen. Manche Gäste waren noch nie in einem naturbelassenen Wald gewesen, geschweige denn in einem verschneiten und stockdunklen Ödwald.

«Ich bin auf dem Land aufgewachsen, habe Wasser für die Sauna aus dem See geholt und die Späne zum Feuermachen selbst geschnitten. Zum Schulbus musste ich mehrere Kilometer zu Fuß gehen, auch bei vierzig Grad unter null. Nicht das Wetter ist das Problem, sondern die falsche Ausrüstung. Das gilt in jeder Situation.»

«Richtig. Für uns in Ilvesvaara sind die Privatsphäre und die Sicherheit unserer Gäste das Wichtigste. Ersteres bedeutet, dass du auf keinen Fall Dritten erzählen wirst, wem du bei deiner Arbeit hier begegnest. Du musst eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterschreiben, mit ähnlichen Bedingungen, wie sie für ärztliches Personal, für die Polizei und für Geistliche gelten. Einige Gäste bringen ihre eigenen Bodyguards mit, aber da es immer noch wenig weibliche Vollprofis gibt, brauchen wir dich. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn Madonna sich hier aufhält, hat sie ihren eigenen Trupp dabei. Wenn zum Beispiel ein NBA-Star unser Gast ist, hat seine Begleiterin nicht unbedingt eine eigene Personenschützerin. Wir erwarten von dir Flexibilität und Anpassung an wechselnde Situationen. Bist du dazu in der Lage?»

«Natürlich. Was für Sicherheits- und Kontrollsysteme gibt es hier? Ich brauche Informationen zu Überwachungskameras, Verriegelungssystemen, Alarmanlagen – also über alles, was in mein Fachgebiet fällt.»

«Alles zu seiner Zeit», versprach Huuhka. Zuerst müsse sie meine mobilen Kommunikationsgeräte überprüfen. Ich würde mein Handy und mein iPad im Lauf des Abends zurückbekommen.

«Ich habe volles Vertrauen zu unserem Koch Johan Stensson, aber manche Gäste werden dich vielleicht bitten, ihnen als Vorkosterin zur Verfügung zu stehen. Du hast doch keine Nahrungsmittelallergien?»

«Nein, und auch keine anderen.»

Allergisch war ich nur gegen Aufgeblasenheit, leeres Geschwätz und Leute, die sich etwas auf ihren Rang einbildeten, doch das behielt ich besser für mich. Für Sicherheitspersonal gehörte es zum Job, gedemütigt zu werden, und ich hatte gelernt, zu spüren, wie viel ich ertragen konnte.

«Wir erfüllen unseren Gästen jeden Wunsch, mit einer Ausnahme: Sexuelle Dienstleistungen organisieren wir nicht. Uns ist es egal, in wessen Begleitung sich die Gäste hier aufhalten. Wir moralisieren nicht und lassen niemanden auffliegen. Aber unser Personal ist unantastbar und vermittelt keine bezahlte Begleitung, zu keinem Preis.»

Ansas Blick war streng, ich erwiderte ihn ebenso ernst. Also keine Romanzen am Arbeitsplatz, das war mir recht. Ich hatte gelernt, im Zölibat zu leben, wurde allerdings unruhig, wenn es allzu lange andauerte. Vielleicht fand sich ja im Umkreis von hundert Kilometern ein unfreiwilliger Junggeselle, dem ich seine wildesten Träume erfüllen konnte, wenn ich es wollte.

«Du bekommst gleich deinen Arbeitsvertrag zum Gegenlesen, und Pyry bringt dich auf dein Zimmer. Beim Mittagessen triffst du das restliche Personal, und danach zeige ich dir die Räumlichkeiten. Die nächsten Gäste kommen morgen an, ich berichte nachher allen gemeinsam, um wen es sich handelt. Und eine letzte Sache noch …»

Sie schwieg mindestens eine Minute lang und schien um Worte zu ringen. Als sie wieder sprechen konnte, zitterte ihre bisher so kühle und beherrschte Stimme.

«Ich habe nicht einmal Topi davon erzählt, den anderen schon gar nicht. Pyry habe ich eine abgewandelte Version der Wahrheit geliefert. Natürlich habe ich dich eingestellt, damit du für die Sicherheit der Gäste sorgst. Aber das ist zweitrangig. Ich vertraue niemandem, der seit dem letzten Monat hier gewesen ist. Deine Hauptaufgabe ist es, mich am Leben zu halten. Und ich fürchte, das wird nicht ganz leicht werden.»

5

Das Messer fuhr mühelos durch das Fleisch. Ein einziger gezielter Schnitt, und das Rippenstück war halbiert. Der Mann sah mich an, drehte den Wasserhahn auf und spülte sich das Blut von den Fingern. Erst nachdem er sich die Hände abgetrocknet hatte, hielt er mir die Rechte hin.

«Johan Stensson, aber nenn mich ruhig Stena, wie alle anderen hier.»

Der Mann sprach mit einem leichten finnlandschwedischen Akzent, vielleicht kam er aus Raasepori oder Hanko. Er war nur wenig größer als ich und stämmig, sein Gesicht war gerötet, der Kopf unter der Kochmütze schien kahl zu sein.

«Hast du schon mal als Beiköchin gearbeitet oder gekellnert?»

Ich erzählte, dass ich als Ordnungskraft und als Mädchen für alles in der Gastronomie gearbeitet hatte, zuletzt in Monika von Hertzens Restaurant Sans Nom. Als Stena den Namen hörte, leuchteten seine Augen auf.

«Dann warst du also in einem guten Lokal. Sehr schön. Im Prinzip komme ich in der Küche allein klar, und Ansa hilft manchmal, vor allem beim Backen und beim Dessert. Aber ab und zu brauche ich zusätzliche Unterstützung, wenn ein Gast etwas Außergewöhnliches bestellt. An sich besteht unser Menü aus finnischen Spezialitäten, aber heutzutage gibt es ja alle möglichen Ernährungsformen und Sonderwünsche. Du hast keine Allergien, habe ich gehört?»

Während Stena in singendem Ton plauderte und mich anlächelte, als seien wir beste Freunde, fuhr er fort, das halbe Rentierkalb weiter zu zerlegen. Die stählerne Küche glänzte steril wie ein OP-Saal, die Arbeitsflächen waren leer, nur auf dem Backofen stand ein Gefäß, das an einen Backtrog erinnerte. Offenbar buk Stena auch das Brot, das im Ilvesvaara auf den Tisch kam.

Hinter mir hörte ich ein Räuspern. Ansa. Unser Rundgang hatte gerade erst begonnen. Ich war Pyry in mein Zimmer gefolgt oder, besser gesagt, in meinen eigenen Glaswürfel, der sich ungefähr in der Mitte der anderen Gebäude befand. Dort hatte ich Aussicht in fünf Richtungen: auf den Wasserfall, den See, den Felsen, den Waldweg, auf dem man nach Ilvesvaara kam, und den freien Blick in den Himmel. Der Fußboden war immerhin aus Holz und mit weichen Webteppichen bedeckt. Mir war keine Zeit geblieben, meinen Koffer auszupacken oder unter die Dusche zu gehen, denn Ansa hatte mich über das Haustelefon zum Essen ins Restaurantgebäude gerufen. Das war gut, denn nach dem knappen Frühstück im Zug hatte ich Hunger.

Beim Alltagslunch des Teams, wie Ansa die Mahlzeit nannte, gab es als Vorspeise Brennnesselsuppe und Roggenbrot, als Hauptgericht Saibling mit Waldpilz-Gerstenrisotto. In den letzten Wochen hatte ich hauptsächlich von Nudelauflauf gelebt, den ich immer für mehrere Tage im Voraus zubereitete. Die Abwechslung war willkommen, und Monika hätte Stenas Kochkunst und seinen respektvollen Umgang mit den Zutaten sicher zu schätzen gewusst.

Der Speisesaal von Ilvesvaara war ebenso schlicht eingerichtet wie die anderen allgemein zugänglichen Räume, aber ich vermutete, dass man ihm immer wieder eine neue Prägung geben konnte, indem man die Beleuchtung regulierte und die Textilien auswechselte. Gewohnheitsmäßig suchte ich nach Überwachungskameras: Sie waren in die Jalousiebretter und in die Decke nahe der Küchentür eingelassen. Wer hatte das Kontrollsystem entwickelt? Ansa selbst? Ich wartete schon darauf, an den Grundriss des Hotelkomplexes und andere interne Informationen zu kommen.

«Topi ist unterwegs, um die Katze zu holen, ihn lernst du erst heute Abend kennen», sagte Ansa plötzlich. Aus ihren früheren Äußerungen schloss ich, dass Topi ihr Lebensgefährte war. Sie trug an mehreren Fingern Ringe, ich wusste nicht, ob einer davon ein Ehering war.

«Die Katze?» Zu meinem Verdruss war mir die Verwunderung anzuhören.

«Die morgigen Gäste sind daran gewöhnt, in ihrer Unterkunft immer eine Katze zu haben. Wir haben eine Britisch Kurzhaar bestellt, grau, glaube ich. Die Mieze kann sich ein bisschen einleben, bevor ihre Kurzzeitherrchen ankommen.»

Ich verkniff mir die Bemerkung, man könne sich also auch in diesem Haus doch irgendeine Art von Muschi bestellen, denn Ansa Huuhka schien nicht der Typ zu sein, der über Zweideutigkeiten lachte. Draußen dämmerte es bereits, aber die Umgebung wirkte trotzdem heller als in Helsinki, wo das Novembergrau schlimmstenfalls fünf Monate lang anhalten konnte, ohne Aussicht auf Schnee. Ich war froh, aus der Hauptstadt herausgekommen zu sein. Natürlich war Helsinki die beste Metropole, die Finnland zu bieten hatte, aber ich fühlte mich entweder in weitaus größeren Weltstädten wie New York wohl, oder aber in ländlicher Abgeschiedenheit wie hier in Ilvesvaara.

«Alle Angestellten haben ihren persönlichen Laptop, der mit dem internen Netz verbunden ist», erklärte Ansa. «Darauf werden die Informationen über die nächsten Gäste ungefähr vierundzwanzig Stunden vor ihrer Ankunft angezeigt. Ihr könnt euch also selbst briefen. Pyry hat dir vermutlich schon gesagt, dass Internetzugang hier ausschließlich über den Computer im Büro besteht? Das Passwort gebe ich nur im Notfall heraus. Du kannst natürlich mit deinem Handy telefonieren und Textnachrichten empfangen. Die Mobilgeräte unserer Gäste sammeln wir bei ihrer Ankunft ein. Sie wissen es zu schätzen, dass sie nicht ständig erreichbar sind. Wir sind eine Oase der Ruhe in einer immer hektischeren Welt.»

Es klang wie ein Werbespruch. Vor dem Mittagessen hatte Ansa erzählt, wie Interessenten den Weg nach Ilvesvaara fanden. Das Hotel richtete seine Werbung nur an eine sehr exklusive Gruppe von Menschen, die bestimmte Goldbonuskarten oder dergleichen besaßen. Ich fragte nicht nach der Einkommensgrenze, vermutete aber, dass es sich in Euro um eine siebenstellige Summe handelte. Natürlich gab es auch Mundpropaganda: Zufriedene Gäste empfahlen Ilvesvaara weiter. Die maximale Kapazität des Hotels lag bei zweiundzwanzig Personen, aber in der Regel hielten sich nur etwa zehn Gäste gleichzeitig hier auf, oft noch weniger.

«Wir haben bereits Reservierungen für die nächsten drei Wintersaisons, am ruhigsten ist es im Mai. Corona hat sich positiv auf unser Geschäft ausgewirkt, denn unsere Gäste können sicher sein, dass sie hier vor dem Virus geschützt sind, anders als in den Massenhotels mit ihren übervollen Frühstücksbuffets. Einige unserer Gäste besitzen oder mieten einen Privatjet. Sie brauchen nicht mit Gesichtsmaske im Touristenflieger zu hocken.»

Unten im Schnee sah ich eine Bewegung. Ein Wolfsrudel kam aus dem Wald auf den See zugestürmt, ich zählte sechs graue Tiere. Meine Nackenhaare stellten sich auf, beinahe hätte ich geknurrt. Dann sah ich den Schlitten hinter den Wölfen und erkannte Pyry Liljas Körpersprache.

«Die Huskys gehören zu den Highlights des Hauses. Ich habe sie selbst ausgebildet, und Pyry kommt schon so gut mit ihnen klar, dass er Ausfahrten mit Gästen übernehmen kann. Natürlich fahre ich ab und zu auch selbst, das ist ein guter Sport. Hast du es schon mal ausprobiert?»

Pyry balancierte auf dem Schlitten, Ansa folgte ihm mit einem Blick, den ich nicht ganz zu deuten wusste. Sie hatte mir ja gerade erst Romanzen am Arbeitsplatz verboten. Galten die Regeln für die Chefin vielleicht nicht? Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, denn ich spürte die Ankunft einer weiteren Person. Moschus und Jasmin, Tigi-Haarspray. Eine Frau, das war mir klar, noch bevor sie in mein Blickfeld kam. Wäre ich ein Luchs gewesen, hätte ich instinktiv gefaucht. Ich spürte Feindseligkeit, obwohl ich mir nicht erklären konnte, warum ich so empfand. Vielleicht lag es an der Art, wie sie mich ansah. Ihr Blick hieß mich nicht willkommen.

Die Frau war mittelgroß, schlank und eindeutig Kundin eines Schönheitschirurgen. Busen, Wimpern, Lippen. Die langen blonden Haare mochten echt sein. Sie war der Typ Frau, den Onkel Jari hübsch genannt und nach dem er sich umgedreht hätte. Man brauchte nicht viel detektivischen Spürsinn, um zu dem Schluss zu kommen, dass es sich um die Friseurin und Kosmetikerin von Ilvesvaara handelte.

«Ich habe den Salon gerade für morgen desinfiziert. Ich schließe ihn dann ab, es sei denn, unsere neue Kollegin möchte» – sie schien zu überlegen, was ich brauchte – «eine Gesichtspflege. Ich bin Veera, Veera Hynynen.»

Die Frau reichte mir nicht die Hand, und das war mir recht. Ansa nannte ihr meinen Namen, obwohl Veera ihn offensichtlich schon wusste. Stena spähte aus der Küche.

«Vorspeise oder Hauptgericht?», fragte er grinsend. Veera bestellte das Gerstenrisotto und setzte sich an den Nebentisch. Sie trug einen strahlend weißen Leinenanzug mit einem gestickten goldenen Monogramm am Revers. Trotz der ebenfalls goldglänzenden Gesundheitssandalen sah sie elegant aus.

Ich stand möglichst männlich-zackig auf, beinahe wie mein früheres Alter Ego Reiska Räsänen, das ich inzwischen hinter mir gelassen hatte, weil ihm zu viele verdächtige Personen begegnet waren. Es hatte seine Vorteile gehabt, mich als Mann zu verkleiden, aber in Ilvesvaara würde ich wohl keine zweite Identität brauchen. Stattdessen musste ich meine eigene Person möglichst weit zurücknehmen, mit den nicht vorhandenen Tapeten verschmelzen. Wer selbst unsichtbar war, konnte am besten beobachten.

Die Nachmittagsdämmerung, die sich auf die Hotelgebäude senkte, war wie eine sichere graue Decke, allmählich gingen unten im Gelände und auf der Anhöhe Lichter an. Ich nahm die Schönheit und die Atmosphäre in mich auf und war einen Augenblick lang wirklich glücklich darüber, dass ich Ansa Huuhkas Stellenangebot angenommen hatte. In Ilvesvaara würde ich die Gespenster der Vergangenheit vergessen und ganz von vorn anfangen können.

Es gab nur zwei Menschen, die ich vermisste, meine zehnjährige Halbschwester Vanamo, die ich erst seit ungefähr zwei Jahren kannte, und meine Freundin Monika von Hertzen, mit der ich gar nicht ständig in Verbindung stehen musste, um das starke Band zwischen uns zu bewahren. Alle anderen mir wichtigen Menschen waren entweder tot oder ins Ausland gezogen. Ich würde nicht mehr an sie denken.

Dann kam mir Pyry Liljas Kontakt zu Teppo Laitio in den Sinn. Er gab Pyry einen Hebel, der mir nicht gefiel. Ich hatte mich darauf verlassen, dass Laitio keinem Außenstehenden von unserer Verbindung und unseren Aktivitäten erzählen würde. Für einen Toten spielte es keine Rolle, wenn sein Ruf litt, aber ich würde meine Lizenz für den Sicherheitsdienst und meinen Waffenschein verlieren, wenn die Behörden die Wahrheit erfuhren.

Am besten hielt ich mich von Pyry und auch vom restlichen Personal möglichst fern. Ich war zum Arbeiten hier, nicht, um Freundschaftsbeziehungen zu knüpfen.

«Ich zeige dir jetzt die Innenräume, Pyry kann dich später draußen herumführen. Komm mit!», sagte Ansa.

Beim Bau der Hotelanlage hatte man mehr Wert auf Schönheit und angenehme Atmosphäre gelegt als auf Sicherheit. Die einzelnen Wohngebäude hingen nahezu in der Luft, auch wenn in der Praxis Stahlträger als Stützwerk dienten. Die leichten Hängebrücken zwischen den Glaswürfeln erschienen mir bedenklich, obwohl ihr Geländer so hoch war, dass man einen Menschen durchschnittlicher Körpergröße nicht so einfach hinunterwerfen konnte. Als ich fragte, wie in aller Welt die Brückenanlagen schneefrei blieben, beschrieb Ansa stolz das Heizsystem, das den Schnee selbst dann sofort zum Schmelzen brachte, wenn die Temperatur dreißig und mehr Grad unter null lag. Die Flüssigkeit verdunstete einfach, erklärte sie.

Es gab sechs Gästesuiten. Zwei davon waren für eine Person vorgesehen, die anderen vier konnte man so umgestalten, dass bis zu fünf Gäste Platz hatten. Zu jeder Suite gehörte ein Freiluftbereich mit Whirlpool und Badezuber. Zwei hatten eine eigene elektrisch beheizte Sauna, im Saunagebäude am See gab es sowohl eine Rauchsauna als auch eine normale holzbeheizte Sauna.

Ansa ließ sich ausführlich über die maßgefertigten Möbel und die eigens für das Hotel hergestellten Seiden- und Leinentextilien aus. Ich interessierte mich allerdings viel mehr für das Zugangssystem und die Standorte der zugehörigen Überwachungskameras, für das Verriegelungssystem und seine Bedienung und für die Alarmanlagen.

«Alles ist erstklassig geregelt. Das wirst du sehen, wenn wir in die Kommandozentrale kommen, also in den Technikraum an meinem Büro. Die Überwachungskameras steuere ich zentral von meinem Computer aus, du bekommst natürlich eine Client-Lizenz. Ilvesvaara ist ein Resort, in dem wir keine unnötigen Risiken eingehen.»

Trotzdem brauchst du eine Personenschützerin, dachte ich. Ansa hatte sich bereits selbst widersprochen: Sie hatte behauptet, darauf zu vertrauen, dass der Koch Johan Stensson nicht versuchen würde, Gäste zu vergiften, fürchtete aber, dass jemand aus der Ilvesvaara-Belegschaft ihr Leben bedrohte. Sie wirkte nicht paranoid; es musste einen realen Grund für ihre Angst geben.

Nach den Angaben im Handelsregister besaß Ansa Huuhka 60 Prozent der Aktien der Ilvesvaara AG, die Snieg Investment AG 30 Prozent und ein Mann namens Topi Lilja die restlichen zehn. War Topi Pyrys Bruder, oder wieso hatten sie denselben Familiennamen? Jedenfalls musste er wohlhabend sein, wenn er einen Anteil an dem Unternehmen erworben hatte. Oder roch das Ganze nach einem Steuertrick?

Die Besitzer der Snieg Investment AG waren drei verschiedene Unternehmen mit russisch klingenden Namen. Offenbar professionelle Kapitalinvestoren. Die Angaben im Handelsregister waren spärlich. Als Geschäftsbereich der Ilvesvaara AG wurde – nicht überraschend – Hotel- und Restaurantbetrieb genannt.

Ich hatte den Namen des Resorts in keinem Internetforum gefunden, und auch auf TripAdvisor und anderen Touristikwebsites wurde Ilvesvaara nicht erwähnt. Ansa Huuhka wollte unsichtbar bleiben. Das verstand ich sehr gut, in diesem Punkt waren wir uns ähnlich. Ich wusste nicht einmal, ob die Frau als Ansa Huuhka geboren war oder ob sie den Namen später angenommen hatte.

Pyry wirkte nicht wie eine Plaudertasche. Und Johan Stensson wusste nicht unbedingt mehr als ich. Also setzte ich auf Topi Lilja. Hoffentlich kam er bald mit der Katze zurück.

Die Personalunterkünfte lagen abseits von den Gästesuiten. Das Apartment des Leitungsduos war am weitesten entfernt, die anderen bewohnten ähnliche Würfel wie ich, die jeweils mit den Räumen verbunden waren, die zu ihrem Tätigkeitsbereich gehörten: bei Pyry mit dem Fitness- und dem Massageraum, bei Veera mit dem Schönheitssalon. Ihre Unterkünfte waren der Erde am nächsten, der Fußboden befand sich in nur zwei Metern Höhe. Stena wohnte hinter der Küche und konnte somit im Notfall sogar mitten in der Nacht etwas zubereiten, falls ein Gast spontan Hunger bekam.