Im Nachhall des Todes - Leena Lehtolainen - E-Book
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Im Nachhall des Todes E-Book

Leena Lehtolainen

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Maria Kallio und ihr Team von der Ki-Ju-Abteilung: Die fünfzehnjährige Isabella Räty wurde vergewaltigt. Dass es sich bei dem mutmaßlichen Täter um den irakischen Asylbewerber Rahim Nabeel handelt, löst einen fremdenfeindlichen Shitstorm aus und ruft die Straßenpatrouille um Isabellas Vater auf den Plan. Noch während der Ermittlungen findet man auf einem Minigolfplatz die Leiche eines siebzehnjährigen Transmädchens: Samira Zabir, die aus dem Irak geflohen war und bei ihrem Bruder in Finnland lebte. Ein rassistischer Anschlag oder ein religiös motivierter Ehrenmord? Dann verschwindet Isabella, und in ihrem Zimmer findet man die Tatwaffe, mit der Samira ermordet wurde …

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Leena Lehtolainen

Im Nachhall des Todes

Maria Kallio ermittelt

 

 

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

 

Über dieses Buch

Ein neuer Fall für Maria Kallio und ihr Team von der Ki-Ju-Abteilung

 

Die fünfzehnjährige Isabella Räty wurde vergewaltigt. Dass es sich bei dem mutmaßlichen Täter um den irakischen Asylbewerber Rahim Nabeel handelt, löst einen fremdenfeindlichen Shitstorm aus. Zwar wird Rahim aufgrund mangelnder Beweise erst einmal auf freien Fuß gesetzt, doch schon bald kommen Maria Kallio Gerüchte über eine Straßenpatrouille einiger Väter zu Ohren, die ihre Töchter vor vermeintlichen Vergewaltigern schützen wollen. Noch während ihr Team ermittelt, findet man bei einem Minigolfplatz im Wald die Leiche der siebzehnjährigen Sami Zabir, ebenfalls aus dem Irak geflüchtet. Ein rassistischer Anschlag? Maria Kallio geht der Sache nach – und stößt auf eine erschütternde Verbindung …

Vita

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen, ihre Ermittlerin Maria Kallio gilt nicht nur als eine Art Kultfigur der finnischen Krimiszene, sondern erfreut sich auch bei deutschen Leserinnen und Lesern seit dem Erscheinen des ersten Bandes der Reihe 1994 ungebrochener Beliebtheit.

 

Gabriele Schrey-Vasara, geboren 1953 in Rheydt, studierte Geschichte, Romanistik und Finnougristik in Göttingen und lebt seit 1979 in Helsinki. 2008 erhielt sie den Staatlichen Finnischen Übersetzerpreis.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «Jälkikaiku» bei Tammi Publishers, Helsinki.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Jälkikaiku» Copyright © 2020 by Leena Lehtolainen

Redaktion Tanja Küddelsmann

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00974-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Pirjo

 

Für eine Schwester ist es nie zu spät

1

Jahnukainen machte mir das seltsamste Geburtstagsgeschenk meines Lebens. Ich war vor den anderen wach und ging leise in die Küche, denn ich wollte keinen Kaffee ans Bett. Es war ein normaler Arbeitstag, ich hatte nicht vor, meinen Geburtstag zu feiern. Ein Jahr mehr hatte nichts zu bedeuten.

An diesem Morgen Anfang März schneite es, aber unsere mittlere Katze wollte trotzdem nach draußen. Fünf Minuten später sprang sie auf das Fensterbrett neben der Tür und miaute. Sie hielt etwas zwischen den Vorderpfoten. Ich öffnete vorsichtig die Tür, denn unser Kätzchen Carolina durfte noch nicht nach draußen. Carolina und der alte Herr Venjamin lagen Schwanz an Schwanz auf dem Sofa, wurden aber munter, als Jahnukainen seine Beute zufrieden mitten in der Küche ablegte. War das eine Maus, eine Wühlmaus vielleicht? Carolina flitzte herbei, um das seltsame Ding in Augenschein zu nehmen. Es war unbehaart und in der Mitte flach. Darauf achtete man nicht, wenn es sich an der Stelle befand, wo es hingehörte.

Auf dem Küchenfußboden lag ein menschliches Ohr.

Carolina stürzte sich darauf und warf es mit der rechten Tatze in die Luft. Jahnukainen murrte, spielte dann aber mit. Das Geschenk war gar nicht für mich bestimmt – Jahnukainen wollte dem Kätzchen das Jagen beibringen. Verdammt. Vergeblich versuchte ich, mir das Ohr zu schnappen. Die Katzen fanden, das gehörte zum Spiel.

«Mama, ist das etwa echt?», rief Taneli und kam die Treppe heruntergerannt. Als Carolina das Ohr noch einmal hochwarf, fing Taneli es auf. Das Kätzchen versuchte, an seiner Trainingshose hochzuklettern, um wieder an die Beute zu kommen.

«Igitt, das ist wirklich echt!», ächzte Taneli und hielt mir das Ohr hin. Ich suchte in der Küchenschublade nach einem Plastikbeutel. Vorsichtig griff ich nach dem Ohr, ich wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen. Es musste ohne weitere Schäden in die Pathologie gebracht werden. Das Ohrläppchen war nicht durchstochen, und aus dem Gehörgang wuchsen keine Härchen. Die Haut war ziemlich hell. Für die Suche nach dem Eigentümer war das Gewaltdezernat zuständig. Von dort würde jemand bei den Krankenhäusern anrufen und sich nach einem Patienten erkundigen, dem das linke Ohr fehlte.

Weil Jahnukainen kastriert war, beschränkte sich sein Revier auf wenige Quadratkilometer. Anders als Hunde finden Katzen nicht zu einer Fundstelle zurück.

«Herzlichen Glückwunsch, Mama.» Taneli umarmte mich. Nun kam auch Antti nach unten und überreichte mir ein Päckchen. Erst danach bemerkte er das Ohr.

«Ist die Chorprobe etwa aus dem Ruder gelaufen?», spekulierte er. Ich verstand nicht, was er meinte.

«In den beiden Passionen von Bach nimmt Petrus sein Schwert und säbelt einem Diener des Oberpriesters ein Ohr ab, als sie nach Golgatha kommen, um Jesus gefangen zu nehmen.»

Achselzuckend legte ich den Beutel mit dem Ohr in den Kühlschrank und setzte mich aufs Sofa, um Kaffee zu trinken und das Geschenk auszupacken. Venjamin drehte sich auf die andere Seite und schlief schnaufend weiter.

«Vielleicht will jemand ein berühmter Künstler werden, wie van Gogh», mutmaßte Taneli. «Gibt es heute Abend Kuchen? Iida hat doch versprochen zu backen, oder? Mein Training geht bis halb acht.»

Ich sagte, er solle seine Schwester fragen. In Anttis Päckchen waren wunderschöne Ohrringe mit grünen Steinen.

«Die passen zu deiner Augenfarbe», sagte er und beugte sich vor, um mich zu küssen. Carolina versuchte, sich zwischen uns zu drängen.

Nachdem ich mich angezogen hatte, machte ich mich auf die Suche nach der Stelle, wo Jahnukainen das Ohr gefunden hatte. Der Frühling war noch nicht in Sicht, in der Nacht hatte die Temperatur mehr als zehn Grad unter null gelegen, und die Meisen hatten keine Lust zu singen. Der Schnee war so hart gefroren, dass die Katzenpfoten nur hier und da Abdrücke hinterlassen hatten. Mühsam folgte ich Jahnukainens Spuren bis zu dem Wäldchen auf der anderen Straßenseite. Der Kater hatte in einem nur halb vom Schnee bedeckten Sandhaufen gebuddelt, um dort sein Geschäft zu verrichten, und dabei hatte er offenbar das Ohr gefunden.

Ich rief einen Streifenwagen. Die Kollegen sollten das Gebiet absperren, damit nicht noch mehr Spuren getilgt werden konnten. Im Dienst waren die sogenannten Teufel, die Streife Nummer 666. Montonens Poppertolle bauschte sich in fast zwei Metern Höhe, das Grinsen auf seinem Gesicht wurde noch breiter, als er hörte, was uns die Katze da ins Haus gebracht hatte.

«Abgeschnittene Finger habe ich auch schon gefunden, und einer von den Himanen-Zwillingen ist mal mit einem verdammt haarigen großen Zeh in die Pathologie gekommen. Angeblich soll irgendeine Motorradgang Denunzianten mal die Zunge abgeschnitten haben, aber von einem Ohr hab ich noch nie gehört. Bist du sicher, dass es von einem Menschen stammt?»

«Es war fast noch Schmalz drin», konterte ich ebenso kaltschnäuzig. Ich hatte oft genug mit Montonen in brenzligen Situationen gesteckt und wusste, dass der Beruf auch bei ihm Narben hinterlassen hatte. Blöde Witze waren manchmal das einzige Mittel, den Arbeitstag zu überstehen.

«Wir haben heute früh in Matinkylä einen aufgesammelt, der an seinem Erbrochenen erstickt war. Das heißt, abtransportiert hat ihn natürlich der Leichenwagen. Wenn man so was gesehen hat, tut es gut, an der frischen Luft zu sein», fuhr Montonen fort. «Ich hab die KTU schon herbestellt, sie kommt so bald wie möglich. Hier gibt es nichts zu sehen», wandte er sich an einen Mann mit Hund, den ich vom Sehen kannte und der gerade sein Handy aus der Tasche zog. Das vertraute Wäldchen wurde interessant, sobald die Polizei es absperrte.

Ich ließ die Kollegen allein und sagte der Ki-Ju-Abteilung Bescheid, dass ich es nicht pünktlich aufs Präsidium schaffen würde. Ich wollte das Fundstück selbst zur Pathologie bringen.

Im Zug googelte ich nach abgeschnittenen Ohren und entdeckte einige Fälle aus den letzten Jahren, bei denen es um Rache oder um Unfug im Suff ging. In Pasila stieg ich in die Straßenbahn um. Jenna Ström vom Gewaltdezernat teilte mir mit, dass in den Ärztezentren und Krankenhäusern im Hauptstadtgebiet niemand entdeckt worden war, dem ein Ohr fehlte.

Man konnte also nur abwarten, bis irgendwo weitere Körperteile oder eine ganze Leiche auftauchten.

«Ich habe etwas gefunden», erklärte ich dem Pförtner im Rechtsmedizinischen Institut und legte ihm das Ohr hin. Der schmächtige junge Mann rang um Fassung.

«Woher …» Sein Gesicht wurde immer grünlicher, und seine Hände zitterten wie bei einem Alkoholiker, der morgens die erste Flasche entkorkt.

«Bringen Sie es bitte zur Untersuchung. Ich hätte gern das Alter des Besitzers und auch die DNA. Wir müssen herausfinden, wem es gehört.»

Der junge Mann konnte sich nicht dazu überwinden, den Plastikbeutel anzufassen. Ich setzte mich in den Warteraum und wählte die Nummer der Pathologin Kirsti Grotenfelt.

«Bist du bei der Arbeit?»

«Gerade auf dem Weg zur Obduktion. Ist die Mumie aus Matinkylä dein Fall?»

«Mordfälle habe ich ja kaum noch. Ich hab ein Ohr mitgebracht, das bei uns hinter dem Haus lag.»

«Wie bitte?»

«Ein menschliches Ohr. Sieh es dir an, wenn du Zeit hast.»

Ich ließ den armen Pförtner mit dem Ohr allein und ging zur Straßenbahnhaltestelle. Hoffentlich war Taneli schlau genug, den Mund zu halten. Das Ohr hatte womöglich mehrere Tage bei Frost draußen gelegen. Hatte jemand es absichtlich gerade in meiner Nachbarschaft deponiert? Ich verscheuchte den Gedanken. Wenn es im Briefkasten oder auf der Treppe gelegen hätte, wäre es vielleicht eine Botschaft an mich gewesen. Aber so war es purer Zufall. Wem das Ohr gehörte oder gehört hatte, mussten andere herausfinden.

 

«Wo ist die Torte?», rief Puupponen, als ich den Ermittlungsraum unserer Abteilung betrat. «Also alles Gute zum Geburtstag oder so», fügte er hinzu und umarmte mich.

«Was soll hier schon gefeiert werden», brummte ich. Puupponen roch nach einem neuen Rasierwasser, an seinem Hemd waren noch die Knicke der Verpackung zu sehen. Die anderen Mitglieder unseres Teams waren unterwegs: Kristo Pohjola hielt einen Vortrag an einer Schule, Johanna Al-Sharif hatte eine Besprechung mit einer Jugendsozialarbeiterin, und Pekka Koivu, der als Letzter zu uns gestoßen war, vernahm eine zwölfjährige Ladendiebin. Ich setzte mich an den Personalbericht, den ich schon am Vortag hätte abgeben sollen. Den Papierkram hasste ich fast so leidenschaftlich wie Sitzungen. Von daher war ich ganz und gar nicht die Richtige für den Posten als Chefin der Abteilung für von Kindern und Jugendlichen begangene und gegen sie gerichtete Verbrechen, die der Polizeibehörde von West-Uusimaa unterstand. Wir hatten das Namensmonster in Ki-Ju umgetauft und waren unter diesem Kürzel im ganzen Land bekannt. Das Versuchsprojekt des Innenministeriums war auf fünf Jahre befristet, und außer uns nahm auch die Polizeibehörde von Oulu daran teil. Es ging einerseits um die Prävention, aber auch um die Aufklärung von Verbrechen.

Als ich gerade überlegte, zum Mittagessen zu gehen, rief Kirsti Grotenfelt an.

«Besten Dank für einen der seltsamsten Fälle meiner Laufbahn. Zum Glück habe ich nicht lange dafür gebraucht.»

«Du hast das Ohr also bekommen. Lässt es sich zuordnen?» Im selben Moment wurde mir klar, dass es mich gar nichts anging, wem das Ohr gehörte. «Du musst Jenna Ström vom Gewaltdezernat Bericht erstatten, nicht mir.»

«Du willst es ja doch wissen. Es handelt sich um das Ohr eines jüngeren Mannes. Ich würde sein Alter auf fünfzehn bis fünfundzwanzig schätzen. Das Ohr wurde ihm in den letzten achtundvierzig Stunden abgeschnitten. Die DNA-Probe liegt vor, die Blutgruppe ist A+, wenn dir das weiterhilft. Aber bei uns sind keine Leichen ohne Ohren aufgetaucht. Wie bist du an das Ding gekommen?»

«Meine Katze hat es ins Haus gebracht.»

Kirsti lachte auf. Ihr knochentrockener Pathologenhumor hatte mich über viele grauenvolle Obduktionen hinweggerettet.

«Kommt es bei so einer Verstümmelung nicht zu einer ziemlich starken Blutung? Hast du irgendeine Vermutung zum Tatwerkzeug?»

«Ein scharfes Messer, zum Beispiel ein Klappmesser oder ein Fleischmesser. Der Blutverlust hängt davon ab, wie schnell das Opfer Hilfe bekommt. Die Wunde an sich war nicht tödlich. Jetzt rufe ich Ström an.»

 

Ich saß an einem Ecktisch in der Kantine des Polizeigebäudes und aß Pasta mit veganer Bolognese, als mir jemand auf die Schulter tippte. Die Mischung aus Zigarettenrauch und Opium-Parfüm verriet, wer hinter mir stand, noch bevor ich den Kopf umwandte.

«Was zum Teufel ist das für eine Sache mit dem Ohr? Irgendein makabrer Gag, oder was?», schnaubte Jenna Ström.

«Ich weiß auch nicht mehr als du.»

«Keiner hat ein Ohr als vermisst gemeldet.» Ohne zu fragen, setzte Ström sich mit ihrer Kaffeetasse und ihrem Pfannkuchen an meinen Tisch. «Reine Zeitverschwendung, das Ganze.»

«Ich bin nicht deine Chefin.»

«Ist es bei diesen Mohammeds nicht Sitte, Dieben die Hand abzuhacken? Zuerst dachte ich, es wäre ein Polizeispitzel, aber dann hätten wir es wohl mit einer Zunge zu tun. War es vielleicht ein heimlicher Lauscher?», fuhr Ström fort. «Jemand aus der Drogenszene. Das würde erklären, warum er keine Anzeige erstattet hat. Später kann er ja behaupten, ein Hund hätte ihm das Ohr abgebissen. Ich hab die Streifen angewiesen, ein Auge auf unsere Stammkunden zu haben. Oder die Ohren offen zu halten. Passt besser.» Jenna lachte auf, wurde dann aber wieder ernst und sagte, sie werde noch die Frauenhäuser und Kinderschutzeinrichtungen in unserem Bereich überprüfen. Es ging ja um einen jungen Menschen. Trotzdem war unsere Abteilung vorläufig nicht dafür zuständig.

Kurz vor Feierabend schickte ich eine Textnachricht an Montonen und fragte, ob sie weitere Körperteile gefunden hätten. Die Antwort war lakonisch: «Nicht mal einen kleinen Zeh.»

Ich beschloss, das Ohr zu vergessen.

2

«Sie hat behauptet, sie wäre achtzehn, zuerst im Internet und auch später noch, als wir uns getroffen haben. Sonst wäre sie in die Bar doch gar nicht reingelassen worden. Hätte ich sie etwa nach ihren Papieren fragen sollen?»

Der dunkeläugige junge Mann starrte auf seine Schuhspitzen. Er wusste, dass er in der Klemme steckte, versuchte sich aber herauszuwinden. Die fünfzehnjährige Isabella Räty hatte es gegen alle Vorschriften irgendwie in eine Bar in Kivenlahti geschafft. Mit ihren fünfundvierzig Kilo hatte sie schon nach ein paar Glas Cider ihr Urteilsvermögen verloren. Ihr Internet-Bekannter Rahim Nabeel, der in der Nähe wohnte, bot ihr an, bei ihm zu Hause einen Kaffee zu trinken, sodass sie halbwegs nüchtern nach Hause gehen konnte. Isabella hatte ihm seine ehrbaren Absichten geglaubt. Sie hatte sich aber küssen lassen und sich erst zur Wehr gesetzt, als Rahim ihr die Hose ausziehen wollte.

«Selbst wenn sie volljährig wäre, es handelt sich um eine Vergewaltigung, und die ist nach finnischem Gesetz eine Straftat.» Rahim behauptete, Isabella habe den Sex gewollt. Isabella hielt dagegen und erklärte, sie habe immer wieder nein gesagt. Das Gericht würde entscheiden, wem es glaubte. Ich war nur für die Ermittlung zuständig.

Auch das Nein eines betrunkenen Teenagers war ein Nein. Man durfte in eine fremde Wohnung gehen, neue Bekanntschaften schließen. Ich erinnerte mich nur zu gut an meine eigenen angetrunkenen Abenteuer als Teenager. An die Sehnsucht nach Anerkennung und nach Komplimenten, an das prickelnde Gefühl, berührt zu werden, an die Neugier. Rahim Nabeel war ein schöner junger Mann, sieben Jahre älter als Isabella, und er hatte auf seiner Flucht aus dem Irak alles Mögliche erlebt. Er hatte Isabella Räty Anfang Mai im Internet kennengelernt und schon ein paar Wochen lang versucht, sie zu einem Treffen zu überreden. Nach einem halben Glas Cider hatte Isabella den Mut gefasst, ihn in der Bar zu treffen. Rahim war hingegangen, weil das Mädchen ihn kennenlernen wollte. Er durfte doch wohl davon ausgehen, dass sie wusste, was sie tat?

Trotzdem hätte er Isabella in Ruhe lassen müssen, als sie es verlangte. Rahim sprach noch nicht gut Finnisch, die Vernehmung wurde daher auf Englisch geführt. Auch das sprach er nicht fließend, hatte aber gesagt, er komme ohne Dolmetscher zurecht. Das war ein Risiko, denn die Verteidigung konnte sich auf Rahims unzureichende Sprachkenntnisse berufen und behaupten, er habe nicht verstanden, was Isabella gesagt hatte. Aber Körpersprache ist international: Wenn Isabella den Mann weggestoßen hatte, als er ihr die Hose auszog, hätte er die Botschaft verstehen müssen.

Im Hintergrund saß mit drohender Miene Kristo Pohjola. Mit seiner Glatze, den Tattoos bis zum Hals und dem muskulösen Oberkörper wirkte er selbst eher wie ein Verbrecher denn wie ein Gesetzeshüter. Ich wollte ihn bei Rahim Nabeels Vernehmung dabeihaben, um seine einschüchternde Wirkung zu nutzen.

Als die Befragung beendet war, seufzte ich tief. Sobald das Protokoll unterschrieben war, würde der Fall an die Staatsanwaltschaft gehen, die über die Anklageerhebung entschied. Isabellas Vater hatte mit Selbstjustiz gedroht, wenn der Mann, der seine Tochter vergewaltigt hatte, nicht schleunigst verurteilt wurde. Ich wollte ihm nicht sagen, dass es Jahre dauern konnte, bis der Fall vor Gericht kam.

Jarno Räty war von Geräuschen in der Küche aufgewacht. Seine Tochter hatte Galle auf den Boden erbrochen, weil sie es nicht mehr zur Toilette geschafft hatte. Ihre blutigen Oberschenkel und ihre zerknautschte Kleidung deuteten auf eine Gewalttat hin, doch Isabella war erst am nächsten Tag bereit gewesen, zum Arzt zu gehen und Anzeige zu erstatten. Räty hatte seine verwirrte Tochter in der Nacht nicht weiter quälen wollen.

«Verdammte Scheiße», seufzte Kristo, als der Diensthabende Rahim nach draußen brachte. Der Antrag auf Inhaftierung war abgelehnt worden, Rahim blieb vorläufig auf freiem Fuß. «Glaubst du, er wird es wieder tun?»

«Ich bin keine Wahrsagerin. Hoffentlich nimmt Klempner Räty seine Schraubenschlüssel nur zum Arbeiten in die Hand. Einen Rachefeldzug brauchen wir nun wirklich nicht.»

«Hoffen wir’s.» Kristo nahm etwas Kautabak aus der Brusttasche und schob ihn sich unter die Lippe. Auch er hatte sich anstrengen müssen, während der Vernehmung ruhig zu bleiben. «Aber gegen Belästigung im Internet können wir nichts unternehmen, weil uns die Ressourcen fehlen. Und es dauert eine Ewigkeit, bis so ein Fall vor Gericht kommt. Damit will ich nicht sagen, dass Selbstjustiz okay ist. Wenn ich so denken würde, wäre ich nicht hier. Aber bei mir im Bad spinnt manchmal der Wasserhahn, ich könnte einen Klempner gebrauchen. Vielleicht sollte ich den Auftrag Räty geben und mal von Mann zu Mann mit ihm reden.»

Kristo grinste. Mit seinem Lächeln hatte er in der Reality-Show Kammer des Schreckens die Herzen der Fans erobert. Obwohl sein Sieg in der Sendung Jahre zurücklag, erkannte man ihn auf der Straße immer noch. Selbst heute sahen sich Teenager seine größten Erfolge auf YouTube an. Unsere Abteilung schlachtete Kristos Street Credibility schamlos aus.

Puupponen kam in den Ermittlungsraum getrottet. Wir nutzten das Zimmer auch für Vernehmungen, sofern an den Wänden keine Tatortfotos oder andere Sachen hingen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Er linste hoffnungsvoll zur Kaffeemaschine, in der die Kanne vor Sauberkeit glänzte.

«Ich brauch einen Kaffee, sonst schaff ich es nicht, die ganzen Postings durchzusehen. Wollt ihr auch?»

Kristo hatte schon gelernt, Puupponens Kaffee besser abzulehnen. Ich nickte, denn ich brauchte etwas zum Aufputschen. Am Abend musste ich noch zu Hause putzen, denn morgen war Iidas Abiturfeier. Ich hasste jegliches Putzen und Wienern, aber immerhin wurde ich damit besser fertig als mit Kochen und Backen, das ich lieber den anderen in der Familie überließ. Zum Glück würden meine Eltern und die Familien meiner Schwestern nicht bei uns, sondern in einem Hotel in der Nähe übernachten.

Ich war stolz auf Iida, die ihre Abiprüfung glänzend über die Bühne gebracht hatte. Natürlich würde ich es schaffen, einen Tag lang in die traditionelle Mutterrolle zu schlüpfen. Kein Fall konnte wichtiger sein als die Abiturfeier meiner Tochter.

Nachdem er die erste Tasse Kaffee getrunken hatte, begann Puupponen zu berichten. Das Cyber-Grooming war inzwischen explodiert, es ließ die Schokoladenonkel und Exhibitionisten geradezu altmodisch erscheinen. Die hatten immerhin ihre Identität nicht verbergen können. Diejenigen, die im Internet auf Beute lauerten, versteckten sich dagegen oft hinter falschen Profilen. Da konnte eine Dreizehnjährige von einem zwei Jahre älteren Mädchen kontaktiert werden, das in Wahrheit ein fünfzigjähriger Kerl war. Je unsicherer und einsamer die Jugendlichen waren, desto leichter ließen sie sich ködern.

Antti und ich hatten es geschafft, Iida zu einer mündigen jungen Frau zu erziehen, die sich zu verteidigen wusste. Trotz meines Berufs war ich keine überfürsorgliche Glucke, mitunter war ich sogar zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt. Da ich als Mutter selbst oft genug Fehler gemacht hatte, war mir durchaus klar, dass nicht alle Eltern absichtlich nachlässig waren. Trotzdem hätte ich Leute wie Isabella Rätys Eltern manchmal anbrüllen können. Was hatte eine Fünfzehnjährige in einer Kneipe zu suchen? Und warum hatte man ihr dort Alkohol gegeben?

Dann fiel mir ein, dass ich selbst mir mit sechzehn gefälschte Papiere besorgt hatte. Natürlich war meine jüngere Schwester Helena vor ein paar Jahren vor meinen Kindern damit herausgeplatzt. Iidas und Tanelis Frotzeleien hatte ich mir damit wahrlich verdient.

Es war, als hätte der herbe Kaffeegeruch Pekka Koivu und Johanna Al-Sharif in den Ermittlungsraum gelockt. Johanna fuhr sich durch die Haare, die vom Kopftuch platt gedrückt waren. Sie hatte nachgeforscht, wo die Achtklässlerin Nadia war, die seit den Osterferien nicht mehr zur Schule kam. Koivu befasste sich weiterhin mit einer Serie von Ladendiebstählen im Einkaufszentrum Sello.

Unsere Abteilung bestand aus fünf Personen, aber wir hätten eigentlich doppelt so viele sein müssen. Bei Minderjährigen galten oft andere Regeln als bei Erwachsenen, aber einen Zuhörer brauchten sowohl Opfer als auch Täter, unabhängig vom Alter.

«Die Mutter ist endlich mit der Sprache rausgerückt. Nadia ist bei Verwandten ihres Vaters in Deutschland, in der Nähe von Hamburg. Ich habe die Polizei dort angerufen, der Kollege Vetter hat uns Amtshilfe versprochen.» Johanna nahm eine Flasche Apfeltee aus dem Kühlschrank, tauchte einen Finger in die Flüssigkeit und wischte sich damit über die Stirn, bevor sie den Tee in ein Glas goss.

«Hat man sie womöglich zur Beschneidung dorthin geschickt?» Koivus Stimme klang kühl. In den letzten Monaten war er ein wenig stämmiger geworden, wog aber immer noch rund fünfzehn Kilo weniger als vor der Leukämie-Diagnose seiner Tochter Sennu. Zu Anfang des Winters war er nach langer Krankschreibung in den Dienst zurückgekehrt, mehr als ein Jahr nach Sennus Tod.

«Eingeräumt hat die Mutter es nicht. Ich habe darum gebeten, das Mädchen ärztlich untersuchen zu lassen, wenn sie es finden. Dann wird es aber wohl zu spät sein. Mit einem korrigierenden Eingriff lässt sich die normale Empfindungsfähigkeit nicht unbedingt wiederherstellen.»

Niemand von uns sagte etwas. Wieder ein verlorener Fall, eine Gewalttat, die wir nicht verhindern konnten. Koivu nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. Der Kaffeekrieg zwischen ihm und Puupponen schwelte schon bald seit Jahrzehnten, die beiden hörten sich manchmal an wie ein altes Ehepaar. Mit beiden arbeitete ich seit rund zwanzig Jahren zusammen. Manchmal überlegte ich, ob es gut war, mit einem Kollegen befreundet zu sein. Koivu war der Patenonkel meiner Tochter Iida. Puupponen hatte im Lauf der Jahre immer weniger über sein Privatleben gesprochen.

Dafür brachte ich jetzt mein eigenes ins Spiel.

«Ich muss los, morgen ist ja die Abiturfeier. Hoffen wir, dass alle Schulfeste friedlich ablaufen. Wenn nichts Besonderes passiert, sehen wir uns am Montag», sagte ich, wohl wissend, dass Koivu und seine Familie auf der Gästeliste standen. Puupponen war ebenfalls eingeladen, aber er hatte etwas anderes vor. Ich hatte mir gerade noch die Frage verkneifen können, was das wohl war.

«Hältst du es für denkbar, dass Jarno Räty sich an Rahim rächt?», fragte ich Kristo, der mit Isabellas Eltern gesprochen hatte.

«Frau Räty hat am Telefon erwähnt, dass einige Väter aus der Nachbarschaft eine Art Straßenwache gebildet haben. Räty hat in der Bar Krach geschlagen und den Leuten vorgeworfen, dass sie Alkohol an eine Minderjährige ausgeschenkt haben. Er hat auch bei der Regionalverwaltung Beschwerde eingereicht. Die Bar ist am Ende, wenn sie das Schankrecht verliert. Den Mann fuchst es halt, dass er nicht besser auf seine Tochter aufgepasst hat, und jetzt lässt er seinen Frust an anderen aus.»

«Kristo, eine Fünfzehnjährige kann man nicht ständig beaufsichtigen», wandte Johanna ein. Da verzog ich mich. Manchmal war es sogar angenehmer staubzusaugen, als sich die Sticheleien der Kollegen anzuhören.

 

Die Kuchenplatten waren fast leer, ich goss zum dritten Mal Kaffee und Tee nach. Iida würde bald aufbrechen, um mit ihren Freunden zu feiern, und ich hoffte, dass die meisten Gäste dann ebenfalls gingen. Da der Ballenzeh an meinem linken Fuß schmerzte, verzog ich mich in die Küche und feuerte die Pumps in die Ecke. Im Wohnzimmer erzählte mein Vater lustige Geschichten von seiner eigenen Abiturfeier, während Helena mit einem der Zwillingssöhne von Anttis Schwester flirtete, ohne sich an den zwanzig Jahren Altersunterschied zu stören. Nur zu, Schwesterherz. Ich goss mir Sekt nach und überlegte, wann ich den Laphroaig aufmachen könnte. Da lugte Koivu durch den Türspalt.

«Hättest du fünf Minuten Zeit? Oder wenigstens zwei? Ich kann die Gläser abtrocknen, während wir reden», sagte er.

Ich hatte die Miene meines Kollegen also richtig gedeutet. Er hatte mir die ganze Zeit etwas sagen wollen, hatte es aber nicht über sich gebracht, mich auf dem Fest seiner Patentochter zu behelligen.

«Es geht um das Ohr.»

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon Koivu sprach.

«Jaakko hat mich heute früh gefragt, ob jemand, dem man ein Ohr abgeschnitten hat, ein Berufsverbrecher ist. Als ich wissen wollte, warum ihn das interessiert, hat er gesagt, sein Freund hätte ihn gebeten, mich zu fragen, weil ich doch Polizist bin.»

«Wem fehlt denn ein Ohr?»

«Das hat Jaakkos Freund nicht gesagt. Und den Namen des Freundes will Jaakko mir erst nennen, nachdem er mit ihm geredet hat. Ich wollte ihm nicht zusetzen, weil ich keine Ahnung habe, worum es geht. Aber ich musste gleich an das Ohr denken, das Jahnukainen eurer kleinen Carolina hier mitgebracht hat.» Koivu legte das Geschirrtuch beiseite und streichelte das Kätzchen, das sich vor den Gästen in den Pfannenschrank geflüchtet hatte, eines seiner Lieblingsverstecke.

«Mir spukt die Sache auch noch im Kopf herum. Frag mal vorsichtig nach. Bisher gibt es keinen DNA-Treffer, soweit ich weiß.»

Taneli spähte herein. Koivu und ich zuckten zusammen wie Teenager, die beim Rauchen erwischt werden. Unsere Kinder nörgelten schon seit einigen Jahren, dass Antti und ich zu viel arbeiteten. Die Polizistin und der Mathematiker wurden ihre Rolle auch in der Freizeit nicht los.

«Tante Helena möchte noch Sekt.»

«Ich mache das.» Koivu öffnete den Kühlschrank, als wäre er hier zu Hause. Taneli streckte die Hand aus, aber Koivu schüttelte den Kopf.

«Du bist minderjährig. Das fehlte noch, dass zwei Polizisten gegen das Gesetz verstoßen.»

Koivu grinste Taneli an, der nicht gleich begriff, dass der Patenonkel seiner Schwester ihn veralberte. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Die Trauer würde Koivus Familie nie ganz loslassen, aber die Momente, in denen sie in den Hintergrund trat, waren umso wertvoller. Ich warf Koivu den Spüllappen an den Kopf und ließ Taneli die Flasche ins Wohnzimmer bringen. Ab und zu konnten wir es uns wohl leisten, die Polizistenrolle zu vergessen.

 

Am Sonntagmorgen erlaubte ich mir auszuschlafen. Anttis Mutter erwartete uns erst um ein Uhr in einem Restaurant zum Mittagessen. Es war halb zehn, als ich mich aus Anttis Armen wand und das Telefon einschaltete.

Es zeigte fünf Anrufe von ein und derselben Person an: Jenna Ström vom Gewaltdezernat. Nach dem ersten Anruf hatte sie zudem eine SMS geschickt, die ich in aller Eile las.

Im Wald beim Minigolfplatz in Tapiola wurde eine Leiche gefunden, für die ihr zuständig seid. Ein minderjähriger Junge.

Ich schluckte. Eine schlimme Nachricht. Ein toter Minderjähriger fiel definitiv in den Bereich der Ki-Ju-Abteilung. Eigentlich hätte ich einen ganzen Eimer voll Kaffee gebraucht, bevor ich Jenna Ströms Gerede und den Anblick des Toten ertragen konnte. Trotzdem rief ich zurück.

«Du bist also auch endlich wach? Andere ackern hier schon seit Stunden», krächzte Ström. Ich hörte ein Feuerzeug klicken, mein Anruf bot Jenna einen Vorwand für die langersehnte Zigarettenpause.

«Auch dir einen schönen guten Morgen.»

Ich hatte keine Lust, die Abifeier zu erwähnen, sondern fragte gleich nach genaueren Informationen über den Toten.

«Er ist ungefähr fünfzehn. Bei diesen Kanaken kann man das doch nie so genau sagen. Hat jedenfalls noch keinen Bart.»

«Und definitiv tot?»

«Sonst würde ich doch nicht von einer Leiche sprechen. Hat wahrscheinlich die ganze Nacht hier gelegen, ist so steif wie … das Ding von einem Pornostar. Nummi hat gesagt, ich soll dich anrufen, also beeil dich, wenn du den werten Verstorbenen noch am Fundort sehen willst. Die Kirchenglocken läuten schon, bald laufen hier so viele Gaffer rum, dass wir sie mit Polizeihunden verscheuchen müssen. Soll ich Puupponen auch anrufen? Der wohnt ja hier in der Gegend. Die KTU und der Arzt sind schon unterwegs.»

Antti breitete resigniert die Arme aus, als ich aufstand und erklärte, ich müsse weg und wisse nicht, ob ich es zum Mittagessen schaffen würde. Nicht einmal zehn Minuten später saß ich im Auto. Der Pulverkaffee hatte furchtbar geschmeckt, und auf eine aufmunternde Dusche hatte ich heute verzichten müssen, aber Jammern half nicht.

Für diesen Job wurde ich bezahlt.

3

Nördlich des Westrings herrschte Verkehrschaos, ich würde mehr als eine halbe Stunde nach Tapiola brauchen. Mit dem Fahrrad wäre ich längst am Ziel gewesen. Ich suchte im Radio nach den Verkehrsnachrichten. Auf der Autobahn Helsinki – Turku war ein Lastwagen mit Anhänger umgekippt und versperrte beide Fahrspuren in Richtung Helsinki; der Verkehr wurde umgeleitet. Heute, am Sonntag direkt nach Ferienbe-ginn, würde viel los sein, die Nacht war schon im ganzen Hauptstadtgebiet unruhig gewesen.

Als ich endlich ans Ziel kam, war von der KTU nichts zu sehen. Vor Ort waren nur Jenna Ström und ihr Kollege Manu Wirkkala sowie die Streifenpolizisten Kinnunen und Takala, die damit beschäftigt waren, Neugierige fernzuhalten. Das Wäldchen neben dem Minigolfplatz und dem Uferweg wurde von Hundebesitzern rege genutzt. Takala diskutierte mit einer Rentnerin, die einen lahmenden schokobraunen Labrador ausführte, über die Frage, ob sie das Recht hatte, sich zu ihrer Rente einen kleinen Nebenverdienst zu verdienen, indem sie ein Leserfoto vom Tatort machte. Ich mischte mich ein, denn Takala war ein allzu höflicher junger Mann.

«Wenn Sie nicht aufhören, die Ermittlungen zu behindern, habe ich das Recht, Ihr Handy zu konfiszieren», giftete ich die Frau an. Die Streifenbeamten hatten vorschriftsgemäß Namensschilder an ihren Overalls, aber ich war in Zivil, und die Frau wollte prompt meinen Polizeiausweis sehen. Der Labrador knurrte, aus seinem Maul tropfte Geifer auf meinen linken Schuh. Aber schließlich fügte sich seine Besitzerin und machte sich auf den Weg zum Einkaufszentrum, wobei sie leise vor sich hin redete. Ich schnappte die Worte «fünf Tüten Hundefutter» auf und verspürte kurz Mitleid. Die Frau bewegte sich so unsicher wie ihr Hund.

Natürlich hatte ich keinen Schutzanzug dabei. Ich fragte Kinnunen, ob es im Streifenwagen ein überzähliges Exemplar gab, und überlegte dabei, wo Puupponen blieb. Seine Wohnung lag doch nur fünf Minuten vom Fundort entfernt.

Ich musste die Ärmel des Schutzanzugs hochkrempeln und aufpassen, dass ich mit den viel zu großen Schuhüberzügen nicht stolperte. Mit einem Scherensprung setzte ich über das Absperrband und wäre beinahe in einen Haufen Hasenkötel getreten.

Die Leiche lag auf der linken Seite, das Gesicht war zu Boden gewandt. Das schwarze Basecap lag auf der rechten Hand, als hätte der Sterbende bei ihm Schutz gesucht. Der Hinterkopf war eine einzige blutige Masse, die bereits einen Fliegenschwarm angelockt hatte. Ich versuchte vergeblich, sie zu verscheuchen. Die dunklen Haare waren raspelkurz, an dem kleinen Stück des Gesichts, das ich sehen konnte, war kein Bartwuchs zu erkennen. Die schwarze Kapuzenjacke, die graue Trainingshose und die ebenfalls grauen Turnschuhe trugen allesamt das Puma-Logo, dessen Vordertatzen ich auch auf dem Basecap entdeckte. Ein markenbewusster junger Mann. Da die Leiche zusammengekrümmt dalag, konnte ich die Körpergröße nicht genau abschätzen. Unter eins siebzig, nahm ich an. An der Schuhsohle sah ich die Größe 39. Die Schultern waren im Vergleich zum restlichen Körper breit, an dem zerbrechlich wirkenden linken Fuß ragte schutzlos der Knöchel hervor.

Die blanke Haut war zu viel für mich, ich wandte mich ab. Nachdem ich ein paarmal tief durchgeatmet hatte, vergewisserte ich mich bei Ström, dass die Polizei die Leiche nicht bewegt hatte.

«Wer hat sie gemeldet?», fragte ich dann.

«Bei der Notrufzentrale ging um 6:38 Uhr ein anonymer Anruf ein. Er klang so glaubhaft, dass wir hergefahren sind», berichtete Kinnunen.

«Mann oder Frau?», fragte ich, bevor mir klarwurde, dass der Anruf automatisch aufgezeichnet worden war. Ich sah Puup-ponen von der Metrostation her kommen, er war also schon früh am Morgen aus dem Haus gegangen. Der Wagen der Kriminaltechnik zockelte langsam hinter ihm her, hupte dann, und Puupponen sprang zur Seite. Ich kehrte noch einmal zur Leiche zurück und machte ein paar Fotos mit meinem Handy. Die Aufnahmen der Techniker würden von besserer Qualität sein und sich problemlos vergrößern lassen. Aber ich wollte so bald wie möglich anfangen.

Dieser Junge würde nie das Abitur machen oder um die Welt reisen. Mit wem hatte er sein letztes Telefongespräch geführt? Ich fragte, ob in der Nähe der Leiche ein Handy gefunden worden war. Takala erklärte, sie hätten vorerst nur den Fundort abgesperrt. Das Handy konnte auch unter der Leiche liegen, in der Vordertasche der Trainingshose oder in der Kapuzenjacke stecken. Junge Leute trugen nicht unbedingt den Führerschein oder Personalausweis mit sich herum, alles lief über das Handy. Aber irgendjemand musste doch einen Jungen vermissen, der noch keinen Bart hatte. Als ich ihn mir genauer ansah, verstand ich, warum Jenna Ström ihn als Migranten eingeordnet hatte. Allerdings konnte er ebenso gut ein gebürtiger Finne mit Wurzeln im Ausland sein. Es war besser, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Jetzt klingelte Jennas Telefon. Sie hörte eine Weile zu, dann sagte sie: «Kallio ist hier. Sprich selbst mit ihr.» Sie hielt mir das Telefon hin und erklärte: «Nummi. Ranto ist zum Golfen auf den Azoren.»

Timo Ranto war Jenna Ströms Chef, der Leiter des Gewaltdezernats. Vesa Nummi wiederum war Rantos Vorgesetzter, der Vizepolizeichef, dem gegenüber auch ich unmittelbar über die Tätigkeit unserer Abteilung Bericht erstattete.

«Guten Morgen.» Nummis Stimme klang, als hätte er an diesem Morgen schon einen Vierteltriathlon absolviert. «Du bist also schon vor Ort. Da hat Ström ihre Befugnisse wohl überschritten …»

Die Worte «wieder einmal» sprach er nicht aus, aber sie schwangen mit.

«Timo hat sich endlich ein paar Tage Urlaub nehmen können. Sormunen vertritt ihn, aber da die Leiche ganz offenbar minderjährig ist, kann von mir aus die Ki-Ju den Fall übernehmen. Ich kläre das dann mit Timo, wenn er zurückkommt. Wir sehen uns morgen früh. Ich möchte ein paar Worte mit dir wechseln.»

Jawohl, Boss, sagte ich in Gedanken. Dann wies ich meine Mitarbeiter per Textnachricht an, so bald wie möglich aufs Präsidium zu kommen. Die Arbeitsverteilung für die kommende Woche schlug jetzt einen doppelten Purzelbaum.

Die Techniker begannen, über der Leiche ein Zelt aufzuschlagen, Ivic wies seine Helfer an, den Wald zu durchsuchen. Puupponen redete mit Wirkkala, wobei er meinem Blick merkwürdig auswich. Ich machte noch ein paar Fotos von der Umgebung und kämpfte gegen die Versuchung an, selbst den Wald zu durchkämmen. Zu gern hätte ich persönlich nach möglichen Habseligkeiten des Opfers und anderen Hinweisen gesucht. Aber darauf verstanden sich die Techniker besser als ich.

Ivic war mit seinem Team im Zelt beschäftigt. Ich wusste, dass ich besser nach Kilo zurückfahren sollte. Aber ich wollte dabei sein, wenn das Gesicht des Toten offengelegt wurde und Ivic die Erlaubnis gab, seine Taschen zu durchsuchen. War das Opfer erst einmal identifiziert, ließ sich leichter herausfinden, wo es sich in den letzten Stunden seines Lebens aufgehalten hatte. Wenn der Junge die ganze Nacht im Wald gelegen hatte, wurde er wahrscheinlich schon vermisst. Seine Mutter versuchte, ihn anzurufen, und befürchtete das Schlimmste, seine kleine Schwester suchte vergeblich rund ums Haus nach ihm. Am Esstisch blieb ein Platz leer. Als wollten sie auf meine Gedanken antworten, begannen die Glocken der nahegelegenen Kirche von Tapiola zu einer Trauerfeier zu läuten. Vor einigen Jahren hatte ich einen Mord aufgeklärt, der in dieser Kirche geschehen war. Danach hatte ich oft in der Kirche gesessen. Die Stille und die kargen Betonwände wirkten auf mich beruhigend.

Der grellgrüne Toyota Primus mit Elektromotor war so leise den Fußgängerweg entlanggerollt, dass ich ihn nicht gehört hatte. Die Spezial-Felgen und die verdunkelten Scheiben weckten die Aufmerksamkeit der Streifenbeamten. Kinnunen trat an den Wagen und erkundigte sich, mit welchem Recht der Fahrer den Fußgängerweg benutzte. Ich hatte bereits erraten, wer der Ankömmling war. Renato Davidoff, der die äußerliche Untersuchung der Leiche vornehmen sollte, kaufte sich mindestens einmal im Jahr ein neues Auto. Zuletzt hatte er das neueste Porsche-Cabrio gefahren, jetzt war er offenbar plötzlich umweltbewusst geworden.

Renato Davidoff sah frisch gewaschen aus, wie immer. Er nahm eine kleine Gummimatte aus dem Wagen, stellte sich darauf und zog sich die Schutzkleidung an. Ich gab ihm gar nicht erst die Hand, denn ich wusste, wie sehr er jede Kontamination fürchtete. Er war etwa so groß wie ich und sehr zierlich, und wenn ich nicht gewusst hätte, dass er über fünfzig war, hätte ich ihn nach seinem Ausweis gefragt, wenn er sein Lieblingsgetränk, Calvados Coquerel Pomme d’Eve, kaufen wollte.

Davidoff verschwand im Zelt. Ich hörte, wie er das Diktiergerät einschaltete und seine Beobachtungen auf Band sprach, mit einer tiefen Stimme, die so gar nicht zum Rest seiner Erscheinung passte. Die Minuten schienen sich zu dehnen wie warmes Fichtenharz, aber schließlich spähte Ivic durch die Zeltöffnung.

«Du kannst jetzt kommen, Kallio.» Ich folgte der Einladung. Eine junge Technikerin hielt auf Video fest, wie Davidoff die Leiche vorsichtig umdrehte.

Der Junge hatte ein schmales Gesicht mit hohen Backenknochen, die langen Wimpern warfen Schatten auf die Wangen, die sich nie mehr röten würden. Links an der Stirn war eine Quetschung. Davidoff tastete den starren Körper ab, konnte in den Taschen aber nichts finden. War es vielleicht ein Raub-überfall?

«Der Junge bekam offenbar zuerst einen Schlag gegen die Stirn, und als er daraufhin zu Boden ging, einen zweiten auf den Hinterkopf», mutmaßte Davidoff. «Die Tatwaffe wurde offenbar nicht gefunden? Frag mich noch nicht, wie sie aussah», fügte er rasch hinzu. «Nach der Wunde zu schließen, war es jedenfalls kein eindeutig stumpfer Gegenstand.»

In der Pathologie würde man nach möglichen inneren Verletzungen suchen, die nächste Station des Jungen war der Kühlraum im Rechtsmedizinischen Institut. Renato Davidoff verschwand so lautlos, wie er gekommen war, Ivic blieb mit mir bei dem Jungen stehen.

«Nummi hat den Fall an uns delegiert. Kristo Pohjola wird diesmal unsere Kontaktperson zur KTU sein. Ich habe nämlich heute ausnahmsweise mal ein bisschen Privatleben.»

«Was ist das? So was kennt man bei uns nicht», antwortete Ivic, und ich war mir nicht sicher, ob das kroatischer Humor war oder ob er es ernst meinte. Ich verließ das Zelt und rief Puupponen zu, dass wir jetzt ins Büro fahren würden. Unser Arbeitsplan musste total umgestellt werden. Aber daran waren wir gewöhnt.

«Warst du auf dem Weg in die Stadt, als der Alarm kam?», fragte ich, während ich den Wagen in den Tunnel unter dem Einkaufszentrum Ainoa lenkte. Puupponen antwortete nicht, sondern quittierte etwas auf seinem Handy. Ich sah ein Emoji aufleuchten und ließ die Sache auf sich beruhen.

Die Birken standen schon in vollem Laub, in den Gärten an der Vanha Mankkaantie blühten die Traubenkirschen. Auf einem Grundstück wurde gerade eine Laube abgerissen. Zwei junge Männer mit weißen Studentenmützen und bunten Luftschlangen um den Hals saßen an einer Bushaltestelle und grölten so laut «Gaudeamus igitur», dass es bis ins Auto zu hören war.

Was würde wohl bei der Beerdigung des unbekannten Jungen gesungen werden? Selbst wenn er einer Religionsgemeinschaft angehörte, in der man die Toten möglichst rasch bestattete, würden seine Angehörigen sich gedulden müssen. Das finnische Gesetz hatte in diesem Fall Vorrang vor religiösen Gebräuchen.

«Sah er sehr schlimm aus?», fragte Puupponen plötzlich. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er sich die Leiche nicht angesehen hatte.

«Nur am Kopf. Die offiziellen Fotos bekommen wir heute noch, aber ich habe ein paar auf dem Handy, falls du darauf brennst, sie zu sehen.»

«Das kann gerne warten.» Puupponen wirkte kraftlos, ich fragte mich, ob er einen Kater hatte. Aber weder zitterten seine Hände, noch roch sein Atem nach Alkohol. Wahrscheinlich fuchste es auch ihn, am Wochenende arbeiten zu müssen.

Koivu war bereits im Präsidium. Er sollte als Erstes die Vermisstenmeldungen überprüfen. Allerdings behaupteten am letzten Schultag vor den Sommerferien viele Jugendliche, sie würden bei Freunden übernachten, also wurde der tote Junge vielleicht noch gar nicht vermisst.

«Wo sind Pohjola und Al-Sharif?»

«Johanna ist in Tyrnävä bei der Abiturfeier ihres Neffen, sie kommt erst heute Abend zurück. Kristo muss sich um seine Tochter kümmern», berichtete Koivu. «Ville und ich lassen die Ermittlungen anlaufen, du hast ja heute das Essen. Wir sollten wohl die Leute aus der Umgebung befragen. Wahrscheinlich haben gestern Abend viele draußen das Ende des Schuljahrs gefeiert.»

«Jenna Ström hat schon eine Streife beauftragt, von Haus zu Haus zu gehen. Es wäre auch gut, die Person zu erreichen, die den Leichenfund gemeldet hat. Bitte die Notrufzentrale um die Aufzeichnung des Gesprächs. Ich komme nach dem Essen zurück.»

Ich wusste, dass meine Verwandten Krach schlagen würden, wenn ich nicht zum Essen erschien. Sie wohnten Hunderte Kilometer entfernt, wir sahen uns nicht oft. Meine Schwestern hielten mich sowieso schon für einen Workaholic und wunderten sich, wie Antti es mit einer Polizistin aushielt, die in Gewaltverbrechen ermittelte.

Im Restaurant zwang ich mich, mein stummgeschaltetes Handy in der Handtasche zu lassen, und sagte nichts darüber, warum ich so früh aus dem Haus gegangen war. Iida erzählte von der Party am vorigen Abend, die angeblich ruhig und gesittet verlaufen war. Meine Schwestern, beide Sprachlehrerinnen, klagten über die ständigen Lehrplanreformen, die ihrer Meinung nach weder Sinn noch Verstand hatten. Welche Schule hatte der unbekannte Junge wohl besucht? Nach dem Hauptgericht ging ich auf die Toilette und holte mein Handy heraus, fand aber keine Nachricht von Koivu oder Puupponen. Die Leiche war vermutlich schon in die Rechtsmedizin gebracht worden, wo man die Sachen, die der Junge bei sich hatte, in Verwahrung nehmen würde. Ich setzte meine Hoffnung auf Portemonnaie und Handy, aber wer wusste schon, ob der Junge überhaupt ein Portemonnaie hatte.

«Maria hat Feuer unter dem Hintern», frotzelte Helena, als ich zum Nachtisch nur einen Cappuccino bestellte. «Ein Glück, dass du nicht gestern zur Arbeit musstest, sonst hättest du bestimmt noch die Abifeier sausen lassen.»

«Hätte ich nicht», behauptete ich, obwohl Helena mit ihrer spöttischen Bemerkung nicht ganz unrecht hatte. Auf dem Rückweg zum Präsidium fiel es mir schwer, mich an das Tempolimit zu halten. Ich traf Koivu im Ermittlungsraum an.

«Ich habe mir den Anruf bei der Notrufzentrale angehört. Es war ein Mann, der eindeutig versucht hat, seine Stimme zu verstellen. Er sprach sehr langsam, aber im Falsett. Klang wirklich seltsam.»

«Wie hat er sich ausgedrückt?»

«Sehr gepflegt, reine Schriftsprache. Wie sie ein gebürtiger Finne verwenden würde, wenn er zum Beispiel ein offizielles Formular ausfüllt. Er hat gesagt, er habe eine Leiche gefunden, und hat die genauen Koordinaten genannt. Dann hat er gegen die Anweisungen aufgelegt. Der Sendemast wurde in Tapiola geortet, aber das war ja zu erwarten.»

«Und es war natürlich ein Prepaid-Anschluss.»

Koivu nickte.

Derjenige, der den Leichenfund gemeldet hatte, war natürlich nicht automatisch der Täter. Die erste Untersuchung hatte ergeben, dass der Junge schon einige Stunden vor dem Anruf gestorben war. Wir mussten versuchen, Passanten zu finden, vielleicht hatte jemand einen Mann gesehen, der mit dem Handy telefonierte. Leute aus der Nachbarschaft, die zur Metro gegangen waren, Personal, das den Minigolfplatz gewartet hatte …

«Die Leiche ist noch nicht identifiziert?», fragte ich Koivu. Er schüttelte den Kopf.

«Es kann natürlich ein illegaler Einwanderer sein, der offiziell gar nicht existiert. Ich überprüfe die Familien, die untergetaucht sind, nachdem ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Die findet man natürlich nicht so leicht, aber vielleicht haben wir Glück.»

Kristo Pohjola hatte meine Stimme gehört und kam herein.

«Juuli sitzt in Johannas Büro und sieht sich einen Film an. Ich kann nicht lange bleiben. Aber hier ist der vorläufige Bericht der KTU.» Er öffnete eine Datei auf seinem Handy. «Ivic und seine Leute haben eine Fläche von fünfzig Quadratmetern um die Fundstelle herum abgesucht. Unter anderem haben sie eine halb leere Mineralwasserflasche gefunden, die allerdings kein Wasser enthält, sondern irgendeine Saftmischung, außerdem ein fast nagelneues Schweizer Armeemesser und einen Haufen normalen Abfall, der noch untersucht wird. Schuhabdrücke gab es mehr als genug. Von Handy oder Portemonnaie keine Spur. Vielleicht doch ein Raubüberfall? Wäre nicht das erste Mal, dass Junkies für ein Handy töten, das ein paar hundert Euro wert ist. Gibt es Hypothesen zur Tatwaffe?»

Ich zeigte ihm die Fotos, die ich vom Kopf des Jungen gemacht hatte. Kristo musterte sie ungerührt. «Ziemlich stark eingedrückt. Die Waffe muss schwerer gewesen sein als ein Baseballschläger.»

Auf Spekulationen ließ ich mich nicht ein. Ich überprüfte alle Straf- und Jugendschutzanzeigen, die eventuell in den Bereich der Ki-Ju fallen würden, und erstellte einen Arbeitsplan. Dann fuhr ich nach Hause und zwang mich, früh schlafen zu gehen, denn ich wusste, dass die nächsten Tage lang sein würden.

 

Ich hatte Kirsti Grotenfelt gebeten, die Obduktion möglichst schnell vorzunehmen, selbst wenn im Leichenschauhaus Andrang herrschte. Am Morgen fand ich auf meinem Diensthandy eine Nachricht von Jenna Ström. Eine Frau, die an dem abgesperrten Areal vorbeikam, war stehen geblieben, um mit den Streifenbeamten zu reden, und hatte behauptet, in der vorigen Nacht in dem Wäldchen eine Frau schreien gehört zu haben. Ich würde Koivu zur Befragung hinschicken.

Kirsti rief an, als ich gerade zu Nummi gehen wollte, um die Situation zu besprechen.

«Ich habe deine Leiche vorgezogen, weil es um einen ungeklärten Fall geht. Erzähl meinem Chef nicht, dass ich eigenmächtig gehandelt habe. Es ist tatsächlich eine interessante Geschichte. Hast du Zeit herzukommen?»

«Zur Obduktion? Jetzt gleich? Was hast du gefunden? Tattoos? Muttermale?»

«Sieh es dir selber an. Weder die Leiche noch ich haben es eilig.»

Mich packte die Neugier. Kirsti würde mich nicht ohne Grund zur Obduktion dazubitten. Ich rief Koivu zu, ich müsse nach Meilahti. Wie würde ich am schnellsten hinkommen? Ich beschloss, ein Taxi zu nehmen und mir über die Spesenabrechnung später den Kopf zu zerbrechen.

Auf dem Weg zum Obduktionssaal dachte ich an meinen vorigen Besuch in der Pathologie, als ich das Ohr abgegeben hatte. Damals musste ich mir den Schnee von den Schuhen klopfen, jetzt lärmten im Park die Amseln und Finken, und die Acker-Stiefmütterchen blühten. In den Gängen des Rechtsmedizinischen Instituts roch es wie immer nach Angst und Putzmitteln, in diesen Wänden wechselten die Jahreszeiten nicht, hier herrschte immer die Jahreszeit des Todes. Während der Taxifahrt hatte ich mich innerlich darauf vorbereitet, an der Leiche des Jungen alle möglichen Spuren von Gewalt zu sehen, Brandmale, Narben oder unbeholfen gestochene Tattoos, die der Junge nicht gewollt hatte.

Ein Assistent gab mir Schutzkleidung. Kirsti wartete an ihrem Arbeitsplatz. Wir gaben uns nicht die Hand, sondern nickten uns nur zu, und ich nahm mir vor, sie zum Dank für ihre Schnelligkeit zum Essen einzuladen.

«Das ging fix», stellte Kirsti fest. Wir näherten uns der Leiche, die fast ganz von einem Laken verhüllt war. Nur das alabasterweiße, wächserne Gesicht war zu sehen. Ich betrachtete es aufmerksam. Noch keine Pickel. Eine leicht gebogene Nase, unglaublich lange dunkle Wimpern. Nachdem die Leichenstarre gewichen war, hatte sich der Mund leicht geöffnet, das Kinn war nicht hochgebunden.

Kirsti zog das Laken weg.

«Die Leiche wurde bei der Einlieferung als männlich registriert. Beim Ausziehen im Keller gab es dann aber ziemliche Aufregung. Sie trug einen Brustwickel, und wie du siehst, hat sie Krafttraining gemacht und damit versucht, das weibliche Körperfett loszuwerden. Dieser junge Mensch war im Körper eines Mädchens geboren.»

Rund um die kleinen Brüste waren Narben, als hätte man versucht, sie abzuschneiden. Unterhalb der Rippen waren die Bauchmuskeln deutlich zu erkennen, zusätzlich zu den Schultern waren auch die Oberschenkel durchtrainiert. Die Hüfte war nur leicht gerundet, das Mädchen war von Natur aus schmal gebaut gewesen. Die Geschlechtsorgane unter der dunklen Behaarung schienen weiblich zu sein.

«Statt nach einem etwa vierzehnjährigen Jungen müsst ihr nun nach einem vielleicht siebzehnjährigen Mädchen suchen. Oder richtiger nach einem Transmann. Die Geschlechtsangleichung hat gerade erst begonnen, daher vermute ich, dass er noch minderjährig ist.» Kirsti senkte den Kopf, ich sah, wie ihre professionelle Maske für einen kurzen Moment bröckelte. Dann sah sie mich an. Wir dachten dasselbe. Es war unsere gemeinsame Aufgabe, diesem unbekannten Jungen eine Geschichte zu geben, die uns auf die Spur seines Mörders brachte.

4

«Also ein Mädchen, das ein Junge sein wollte», summierte Kristo Pohjola.

«Der korrekte Begriff ist Transmann», korrigierte Puupponen. Kristo warf ihm einen bösen Blick zu und öffnete den Mund, entschied sich dann aber doch zu schweigen.

«Ville, setzt du dich mit dem Kompetenzzentrum für sexuelle Diversität in Verbindung? Dort gilt wahrscheinlich dieselbe Schweigepflicht wie bei Ärzten, aber wir bekommen vielleicht Hintergrundmaterial darüber, warum unser Unbekannter kein Mädchen sein wollte.»

Johanna fiel mir ins Wort.

«Ist die Todesursache schon geklärt? Und gehen wir davon aus, dass es sich um eine Person nichtfinnischer Abstammung handelt?»

«Der Schlag auf den Hinterkopf hat zu einem Schädelbruch geführt. Die Fasern in der Wunde muss Grotenfelt erst noch analysieren. Hoffen wir, dass wir dadurch erfahren, womit der Junge attackiert wurde. Wahrscheinlich irgendein schwerer stumpfer Gegenstand. Über die Nationalität oder die ethnische Herkunft möchte ich vorläufig nicht spekulieren. Warten wir ab, ob die Leiche identifiziert werden kann. Wenn wir in den nächsten zwei Tagen kein Resultat haben, lassen wir eine Phantomzeichnung erstellen.»

«Wir wollen nichts beschönigen», warf Kristo ein. «Jeder weiß doch, dass alle, die an Allah glauben, es nicht gutheißen, wenn an seinem Werk herumgepfuscht wird. Wenn wir erst wissen, wer das Mäd… das Opfer war, finden wir auch den Mörder. Ich wette, der Schuldige kommt aus dem unmittelbaren Umfeld.»

«Scher nicht alle, die als Muslime geboren sind, über einen Kamm!», fuhr Johanna ihn an. Sie gehörte keiner Kirche an, und ihr Mann Bob Al-Sharif war ein äußerst weltlicher Muslim. Trotzdem weckte Johannas Nachname bei den Menschen die Vorstellung von einer Frau, die nicht selbst entscheiden durfte, was sie tat. Zum Glück hatte sie sich schon daran gewöhnt, dass Kristo des Öfteren ungereimtes Zeug von sich gab, und verzichtete auf eine eingehende theologische Debatte.

«Ein paar junge Frauen sind als vermisst gemeldet. Die werde ich mal überprüfen», sagte sie und begann, auf ihrem Tablet zu tippen. Mein Handy zeigte einen Anruf von Vizepolizeichef Nummi an. Ich fluchte lautlos. Über dem Abstecher in die Pathologie hatte ich die Besprechung mit ihm vergessen.

«Kallio.» Ich stand auf und ging in mein kleines Dienstzimmer, wo ich die Strafpredigt ungestört über mich ergehen lassen konnte.

«Du hast dich nicht blicken lassen. Hatten wir nicht vereinbart, dass du dich heute Morgen meldest?» Nummi wartete meine Erklärung nicht ab, sondern fuhr fort: «Der Polizeireporter Rantanen hat angerufen. Angeblich spricht er immer gleich mit der Chefetage. Er wollte wissen, warum wir den gestrigen Leichenfund in Tapiola geheim halten.»

«Was hast du ihm geantwortet?»

«Dass ich nicht weiß, wovon er redet.»

Ich seufzte. Die schlechteste Taktik, die man sich vorstellen konnte. In der Regel verstand Nummi sich auf das Spiel mit den Medien, aber Tero Rantanen gehörte zu den Journalisten, die nach ihren eigenen Regeln handelten und die Polizei nicht als Kooperationspartner, sondern eher als Gegner ansahen.

«Wurde der Junge schon identifiziert? Und ist die Todesursache geklärt?»

«Die Obduktion war heute. Wie schon aufgrund der äußerlichen Untersuchung vermutet, war die Todesursache ein Schädelbruch, verursacht durch einen Schlag auf den Hinterkopf. Ein zweiter Schlag hat die Schläfe getroffen; er war nicht tödlich, könnte aber zu Bewusstlosigkeit geführt haben.»

Das Opfer war ein Junge im Körper eines Mädchens, daher korrigierte ich Nummi nicht. Gleichzeitig überlegte ich, wie wir mit Tero Rantanen umgehen sollten. In Gedanken sah ich den ungepflegten Mann vor mir, der sich absichtlich älter gab, als er war, wie er mit Koivu um die Wette die Anwohner befragte. Der Reporter konnte ihnen ein Honorar versprechen, während unsere Informantengelder strikt überwacht wurden. Eigentlich hätte es sie gar nicht geben dürfen. Nach dem Skandal um den ehemaligen Chef der Helsinkier Drogenpolizei nahm man es mit der Registrierung von Informanten äußerst ernst. Ich wusste, dass nicht nur ich, sondern auch Koivu gelegentlich das sogenannte Kaffeegeld aus eigener Tasche bezahlte, wenn es nötig war.

Ich erinnerte mich an die alte Frau mit dem lahmenden Labrador. Ein gefundenes Fressen für Rantanen! Vielleicht hatte die Frau ihn sogar selbst kontaktiert.

«Also noch nicht identifiziert? Man sollte meinen, dass ein Minderjähriger irgendwann von jemandem vermisst wird. Verlegen wir unsere Besprechung auf drei Uhr, jetzt muss ich zu einer Sitzung. Wir sehen uns in meinem Büro!»

Nummi fragte nicht, ob mir der Termin passte. Irgendwie gefiel mir seine Direktheit aber auch: Lieber hatte ich einen offenen Antreiber zum Chef als einen, der hinter dem Rücken der Kollegen manipulierte.

Koivu war mit einer Sushi-Platte aus Tapiola zurückgekommen.

«Du hast die Frau also gefunden, die die Schreie gehört hat?»

Die Frau hieß Kerli Kask und war Freitagnacht gegen halb zwei in ihre Wohnung in der Sateentie 6 gekommen. Kask arbeitete in der Bar eines Hotels in Helsinki und war wie üblich mit dem Fahrrad nach Hause gefahren. Sie war hundemüde gewesen, aber als sie aus der Dusche kam, hatte sie durch das offene Fenster die Schreie einer Frau gehört.

«Sie schrie Lass mich in Ruhe! oder Hau ab! oder irgendwas in der Art.»

«Auf Finnisch?»

«Ja.» Koivu verteilte Wasabi auf seinem Gurkenmaki, steckte es in den Mund und musste gleich darauf niesen.

«Wieso ist sie nicht hingelaufen?», fragte Kristo.

«Als sie sich angezogen hatte, war nichts mehr zu hören. Sie hatte vor ihrer nächsten Schicht sechs Stunden Zeit, um zu schlafen. Außerdem ist sie eine ziemlich kleine Frau. Wahrscheinlich hatte sie Angst, auch wenn sie das nicht direkt gesagt hat. Aber das ist nicht alles.» Koivu legte eine Kunstpause ein. «Am Samstag ist sie mit der Metro zur Arbeit gefahren, und gestern, also am Sonntag, hatte sie frei. Am Abend hat sie eine Fahrradtour gemacht und sich gewundert, was in ihrer Satteltasche klapperte. Sie hat ein fremdes Handy darin gefunden. Hier ist es.»

Koivu legte einen Plastikbeutel mit einem Samsung-Handy auf den Tisch, ein älteres Modell, es war ausgeschaltet.

«Warum hat sie es nicht sofort abgegeben?»

«Sie sagt, sie habe einen Zettel ins Treppenhaus gehängt und auf Facebook nachgesehen, ob jemand ein Handy vermisst. Ich hab schon nachgeprüft. Bei uns hat niemand den Verlust eines Samsung gemeldet. Es ist schon vier Jahre alt und nicht mehr viel wert.»

«Hast du versucht, es einzuschalten?» Puupponen streckte die Hand nach dem Plastikbeutel aus.

«Handschuhe!», riefen Koivu und ich wie aus einem Mund. Puupponen verzog das Gesicht, stand aber auf und nahm sich Handschuhe aus dem Schrank. Im Präsidium erzählte man immer noch von dem übereifrigen Praktikanten, dem man den Spitznamen Topias Tollpatsch verpasst hatte. Er hatte eine komplette Vorermittlung beinahe zunichtegemacht, indem er die vermutliche Tatwaffe, ein Messer, mit bloßen Händen angefasst und die Hälfte der Fingerabdrücke verschmiert hatte. Sein Ausbilder, der längst verstorbene Pertti Ström, war ihm buchstäblich fast an die Gurgel gegangen, aber ein anderer Kollege hatte ihn zurückgehalten. Ob der Praktikant jemals Polizist geworden war, wusste ich nicht. Ich war damals in meiner ersten Elternzeit und kannte die Geschichte von Topias Tollpatsch nur vom Hörensagen. Im Lauf der Jahre war Ströms Wutpegel weiter angestiegen, und die verpatzte Vorermittlung hatte ihm immer mehr zugesetzt. Der unbekannte Topias war zu einem Teil unserer Folklore geworden.

Puupponen schaltete das Handy ein.

«Der Akku ist noch halb voll», verkündete er. Auf dem Display war Freddie Mercury abgebildet. Ich seufzte. Das Bild deutete nicht darauf hin, dass das Handy einem Teenager gehörte, eher jemandem in meinem Alter. Natürlich erforderte das Telefon eine PIN. Puupponen probierte es mit der Kombination 1–2–3–4 und kapitulierte sofort.

«Muss die KTU übernehmen», stellte er fest und steckte das Handy wieder in den Beutel.

Ich dachte über die Schreie nach, die Kerli Kask gehört hatte. Die Tests im Zusammenhang mit der Obduktion würden zeigen, ob die Hormonbehandlung zur Geschlechtsangleichung schon begonnen hatte. Damit würde die Stimme allmählich tiefer werden – oder sie wäre es geworden, wenn das Opfer am Leben geblieben wäre. Ich wusste nicht, wie der Stimmbruch bei einer Geschlechtsangleichung verlief. Noch vor ein paar Jahren hatte Taneli manchmal seltsam gekrächzt und gekiekst, seine Stimme, die schon länger männlich geklungen hatte, war kurzzeitig wieder kindlich geworden.

Kristo befestigte die von der KTU gelieferten Tatortfotos an der Wand unseres Ermittlungsraums. Johanna betrachtete die schärfste Aufnahme vom Gesicht des Opfers eingehend, tippte dann wieder auf ihrem Tablet und schüttelte den Kopf.

«Ich finde keine Übereinstimmung zu den als vermisst gemeldeten Mädchen und jungen Frauen. Auch dann nicht, wenn wir davon ausgehen, dass mit der Geschlechtsangleichung schon begonnen wurde und die Hormone die Kinnpartie verändert haben. Rufen wir die Schulen und Jugendschutzeinrichtungen an, oder wäre das nur ein Schuss ins Blaue?»

«Setz dich mit den Jugendsozialarbeitern in Verbindung. Vielleicht erkennt jemand von ihnen das Opfer. Peinlich genug, dass wir nach anderthalb Tagen immer noch eine nicht identifizierte Leiche und keinerlei Anhaltspunkte haben.»

Ich hörte den Frust in meiner Stimme. Kristo schlug vor, sich bei den Aufnahmezentren nach untergetauchten Asylbewerbern zu erkundigen. Wenigstens hatten alle genug zu tun. Puupponen nahm die Sushi-Schachtel, faltete sie geschickt wie ein Japaner zusammen und warf sie im Vorbeigehen in den Altpapierbehälter. Johanna ging in ihr eigenes Büro. Im vorigen Winter war das Gebäude renoviert worden, und ich hatte meinen Willen durchgesetzt: Obwohl unsere Dienstzimmer nur durch dünne Zwischenwände abgetrennte, enge Kämmerchen waren, hatten wir immerhin alle ein eigenes Büro. Antti musste seit zwei Jahren in einem Großraumbüro arbeiten und hasste es. Ich hatte argumentiert, dass wir bei unserer Arbeit laufend Angelegenheiten behandelten, die Minderjährige betrafen und der Schweigepflicht unterlagen. Kristo hatte mich bei meiner Initiative unterstützt.

Er befestigte weitere Fotos an der Wand und sagte eher zu sich selbst als zu mir oder Koivu, der einhändig das Protokoll der Befragung von Kerli Kask in seinen Laptop tippte:

«Was mag das für ein Gefühl sein? Wenn man gewissermaßen im falschen Körper steckt? Auf dem Gymnasium hatten wir in der Klasse einen, der gerne Frauenkleider anzog, aber er war trotzdem ein Mann, und wenn er sich noch so schminkte. Später hat er eine Frau geheiratet und zwei Kinder bekommen. Soviel ich gehört hab, betreiben er und seine Frau als gemeinsames Hobby Burlesque. Damit kann ich mich noch irgendwie identifizieren. Aber dass jemand sein Geschlecht wechseln will, muss wirklich heftig sein. Sowohl für den Menschen selbst als auch für das Umfeld. Ist das nicht ein eindeutiges Motiv für einen Mord, zumal das Opfer ganz offensichtlich aus Nahost stammt?»

Er stieß die Reißzwecke so heftig in die Spanplatte, dass ein Span abbrach und auf den Fußboden flog.

«Warum darf man das nicht einmal innerhalb unserer Abteilung laut aussprechen? Wir kommen mit unseren Ermittlungen nicht weiter, wenn wir ständig Angst haben müssen, irgendjemandem auf die ethnischen Zehen zu latschen. Es ist nun mal unsere Aufgabe, ein Gewaltverbrechen aufzuklären, und dabei geht es eben manchmal hoch her. Keine Sorge, Kallio. Ich verhalte mich so politisch korrekt, wie ich nur kann, wenn ich die Aufnahmezentren kontaktiere. Aber mir ist es ganz egal, welcher Rasse oder Religion der Mörder dieses armen Kindes angehört.» Kristo zeigte auf das Foto des Opfers. «Ich will ihn zur Verantwortung ziehen, und wenn es verdammt noch mal der Mumintroll sein sollte.»

Ich sagte nichts, stimmte Kristo aber insgeheim zu. Koivu brachte das aufgefundene Handy zur technischen Untersuchung. Die Technik-Magier würden die PIN unter Umständen schnell knacken. An den Mobilfunk-Provider konnten wir uns dagegen erst wenden, wenn wir mit Sicherheit wussten, dass das Handy mit einem schweren Verbrechen zusammenhing. Ich flüchtete mich vor der Duftmischung aus Kaffee und überscharfem Wasabi in meinen eigenen Verschlag. Dort hing nur ein Foto von unseren Katzen an der Wand. Aus Sicherheitsgründen hatte ich keine Bilder von Antti oder den Kindern auf meinem Schreibtisch. Und sollte mich jemand nach den Katzen fragen, würde ich jede Verbindung zu ihnen abstreiten.