Die Katze und der General - Nino Haratischwili - E-Book

Die Katze und der General E-Book

Nino Haratischwili

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Beschreibung

Alexander Orlow, ein russischer Oligarch und von allen "Der General" genannt, hat ein neues Leben in Berlin begonnen. Doch die Erinnerungen an seinen Einsatz im Ersten Tschetschenienkrieg lassen ihn nicht los. Die dunkelste ist jene an die grausamste aller Nächte, nach der von der jungen Tschetschenin Nura nichts blieb als eine große ungesühnte Schuld. Der Zeitpunkt der Abrechnung ist gekommen. Nino Haratischwili spürt in ihrem neuen Roman den Abgründen nach, die sich zwischen den Trümmern des zerfallenden Sowjetreichs aufgetan haben. "Die Katze und der General" ist ein spannungsgeladener, psychologisch tiefenscharfer Schuld-und-Sühne-Roman über den Krieg in den Ländern und in den Köpfen, über die Sehnsucht nach Frieden und Erlösung. Wie in einem Zauberwürfel drehen sich die Schicksale der Figuren ineinander, um eine verborgene Achse aus Liebe und Schuld. Sie alle sind Teil eines tödlichen Spiels, in dem sie mit der Wucht einer klassischen Tragödie aufeinanderprallen. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2018 "Was ›Die Katze und der General‹ leistet, ist ein gnadenlos exakter Blick auf Russland in der Umbruchzeit der neunziger Jahre, als die kommunistische Entindividualisierung umschlug in eine Raubtiergesellschaft, die noch auf den alten Strukturen basierte und dadurch umso grässlichere Hierarchien schuf: Fast alle wurden dabei zu Niemanden. (...) eindrucksvoll." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung "Ich verschlinge das Buch, kann nicht aufhören, lebe mit den Figuren, bange mit ihnen, will nur lesen und nichts anderes machen. Großartig! Und darüberhinaus ist dieser Roman auch noch klug aufgebaut. Nino Haratischwili ist eine begnadete Erzählerin." Heide Soltau, NDR Info

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Alexander Orlow, ein russischer Oligarch und von allen »der General« genannt, hat ein neues Leben in Berlin begonnen. Doch die Erinnerungen an seinen Einsatz im ersten Tschetschenien-Krieg lassen ihn nicht los. Die dunkelste ist jene an die grausamste aller Nächte, nach der von der jungen Tschetschenin Nura nichts blieb als eine große ungesühnte Schuld. Der Zeitpunkt der Abrechnung ist gekommen.

Nino Haratischwili spürt in ihrem neuen Roman den Abgründen nach, die sich zwischen den Trümmern des zerfallenden Sowjetreichs aufgetan haben. Die Katze und der General ist ein spannungsgeladener, psychologisch tiefenscharfer Schuld-und-Sühne-Roman über den Krieg in den Ländern und in den Köpfen, über die Sehnsucht nach Frieden und Erlösung. Wie in einem Zauberwürfel drehen sich die Schicksale der Figuren ineinander, um eine verborgene Achse aus Liebe und Schuld. Sie alle sind Teil eines tödlichen Spiels, in dem sie mit der Wucht einer klassischen Tragödie aufeinanderprallen.

»Vergiss die Moral, Alexander, vergiss sie. Vergiss Dostojewski und vergiss jede Fabel von den am Ende immer siegreichen Guten. Das ist alles Schrott. So läuft es nicht. Zumindest hier bei uns nicht.«

 

 

Inhaltsverzeichnis

Kosakisches Wiegenlied

PROLOG: NURA

1994/Nura

EINS: SPLITTER

1995/Malisch

2016/Die Katze

2016/Die Krähe

2016/Der General

2016/Die Katze

1995/Malisch

2016/Die Krähe

2016/Die Katze

2016/Der General

2016/Die Katze

2016/Der General

ZWEI: KUBIK-RUBIK, DER ZAUBERWÜRFEL

2016/Die Krähe

1995/Malisch

DREI: PERO

2016/Der General

2016/Die Katze

2016/Die Krähe

2016/Die Katze

2016/Der General

2016/Die Krähe

2016/Die Katze

VIER: IM SCHNEE

2016/Die Krähe

2016/Der General

2016/Die Katze

 

Schlafe, schlaf mein schönes Kindchen,

Bajuschki-baju.

Schaut der Mond durch stille Wipfel

Deinem Schlummer zu.

Märchen will ich dir erzählen,

Summ ein Lied dazu;

Du, mein Lieb, magst Schäfchen strählen,

Bajuschki-baju.

Über Felsen braust der Terek,

Schwappt der Wogenkamm;

Ein Tschetschene schlüpft ans Ufer,

Wetzt den Dolch am Klamm.

Hart sind deines Vaters Narben,

Die der Kampf ihm schlug:

Schlafe, schlaf in deinem Nachen,

Bajuschki-baju.

Selber wirst du eines Tages

In das Schlachten ziehn;

Kühn besteigen deinen Rappen,

Das Gewehr am Knie.

Bald bereite ich dir einen

Seidnen Sattel zu …

Schlafe, schlaf mein liebes Kindchen,

Bajuschki-baju.

Michail Lermontow, »Kosakisches Wiegenlied«

 

PROLOG: NURA

 

1994/Nura

Sie sah in den Himmel. Durch die dichte Wolkendecke erkannte sie einen schmerzlich grellen Kreis. Sie hatte das Gefühl, dass sie durch das blendende Weiß hindurch die glühenden Knochen sehen könnte, würde sie nur lange genug hinstarren, würde sie nur aushalten, wenn ihre Netzhaut Feuer fing. Aber sie wandte den Blick ab, der Himmel hatte sich in Sekundenschnelle zugezogen, und die Wolken trieben den Nebel in die Schlucht.

Wieder gab es verächtliche Blicke, als sie den Marktplatz betrat, sie wurde vom Geflüster verfolgt. Auch die klebrigen gelben Eidechsenblicke der alten Weiber spürte sie auf ihrer Haut brennen. Bestimmt zerrissen sie sich die Mäuler, weil sie mit unbedecktem Kopf durch das Dorf lief.

Der Nebel zog sich in Windeseile über der Schlucht zusammen. Schwer und leise war er in die Dörfer gekrochen und hatte mit seinem endlosen Maul alle und alles verschluckt. Es bedurfte größter Anstrengung, um das Nächste zu erkennen.

Der Nebel und die feuchte Kälte machten die Menschen angespannter, dünnhäutiger, die ohnehin frostige Stimmung im Dorf war kaum zu ertragen. Auf leisen Sohlen schlichen die Frauen umher, gingen still ihren Alltagsbeschäftigungen nach, während sich die Männer in kleinen Gruppen nachdenklich und geheimnistuerisch in die Hinterzimmer zurückzogen.

Der Winter würde bald mit seiner für diese Gegend gewohnten Schonungslosigkeit über die Schlucht hereinbrechen. Die Bewohner wappneten sich und stellten sich auf die frostigen, sternenklaren Nächte und eisigen Morgenwinde ein. Aber es war auch noch etwas anderes, das in der Luft lag, nein, vielmehr lauerte es dort, und sie konnte es nicht in Worte fassen, sie kannte diese Stimmung nicht, sie wusste nur, dass sie nichts Gutes bedeutete. Aber anders als alle anderen wollte sie sich nicht von Sorgen und Ängsten lähmen lassen. Sie wollte sich auf den ersten Schnee freuen, wie sie es jedes Jahr tat. Sie wollte mit der kleinen Asma Schneeballschlachten veranstalten und Schlitten fahren – trotz Mutters Gejammer, dieses Verhalten schicke sich nicht mehr für eine junge Frau ihres Alters. Sie wollte das Knirschen unter ihren Füßen spüren, wollte die weiße Decke von den dünnen Ästen der moosgrünen Tannen schütteln und dabei lachen, sinnlos, einfach so, wie sie es schon immer getan hatte und auch immer noch tun wollte.

Schließlich war es nichts Neues, dass die Alten ihr hinterherzischelten, sie mit ihren Blicken verdammten, sie kannte das, sie war daran gewöhnt, und auch jetzt, trotz der eisigen Stimmung, trotz der schwer in Worte zu fassenden Bedrohung, die in der Luft lag, würde sie sich davon nicht abschrecken lassen, würde keinen Umweg nehmen, um zur Mühle zu gelangen und dort das vorbestellte Mehl abzuholen. Sie würde nicht den Kopf senken. Sie musste nur kurz die Augen schließen und sich Natalia Iwanownas dünne, hauchige Stimme vorstellen, die ihr in ihrem feinen Russisch zuflüsterte: »Was ist das für eine Haltung? Geht so eine stolze Kaukasierin? Mach den Rücken gerade! Eine Frau mit krummem Rücken, mit geduckter Haltung wird sich niemals durchsetzen können! Gut so, wie eine Bolschoi-Ballerina, jawohl! Geht doch! Gut gemacht, Madame! Und nun müssen wir an deiner Osanka arbeiten!« Nura hatte schon immer geliebt, wie sie dieses Wort sagte, jede Silbe einzeln betont, und obwohl es nichts anderes hieß als Körperhaltung, bekam es dadurch einen weiteren, einen tieferen Sinn. Es war leicht, sich Natalia Iwanownas Stimme ins Gedächtnis zu rufen, schließlich hatte sie ihr die magische Formel beigebracht, die jede Widrigkeit, jeden lästigen Umstand, jede Zumutung des Lebens erträglicher machte. Ihre Stimme war nach wie vor so lebendig, als hätten sie sich erst gestern voneinander getrennt, und irgendetwas sagte ihr, dass es ihr ganzes Leben lang so bleiben würde. Mit ihren Worten im Ohr umarmte Nura ihren Stolz umso fester und überquerte erhobenen Haupts und mit kerzengerader Osanka den Marktplatz.

»Du musst dich konzentrieren! Die Fantasie verträgt keine Beliebigkeit und schon gar keine Nachlässigkeit. Du musst sehr präzise sein in dem, was du dir vorstellst!« Der Nebel umhüllte sie jetzt dicht wie eine Pelzstola, und für einen Augenblick glaubte sie, es wäre Natalia Iwanownas Werk, ihre Zauberei, um sie vor den missgünstigen Blicken und vor dem Geflüster zu schützen, das ganz sicher für ihre Ohren verletzend war.

Die Schlucht schlummerte, ließ sich vom Nebel in den Armen wiegen, und die Berge schienen den Atem angehalten zu haben. Immer wieder malte sie sich aus, wie sie eines Tages das Dorf verlassen würde, vielleicht sogar für immer, eine Erkenntnis wie eine Unvermeidbarkeit, diese Gewissheit schien sich in ihren Körper und in ihre Gedanken eingeschrieben zu haben, es war anders nicht denkbar, aber dennoch, wenn sie sich die Szene genau vergegenwärtigte, dann zog sich etwas in ihr zusammen. Und das nicht wegen der Menschen, nein, vielmehr wegen dieser Berge, wegen der Nähe zum Himmel. Hier schien sie nur eine Hand ausstrecken zu müssen, und schon konnte sie die Wolken streifen, nur eine Armbewegung, und schon konnte sie den Himmel ertasten, und wenn nicht ertasten, so doch zumindest einatmen.

Das erste und bisher einzige Mal, dass sie in einer Stadt gewesen war – und zwar in einer richtigen Stadt und nicht in einem dieser umliegenden Provinznester –, war sie von dieser Feststellung überwältigt worden, dass dort weder die Sterne noch der Himmel sichtbar waren, oder vielmehr war ihr der Himmel wie eine Attrappe vorgekommen, er hatte so gewirkt, als hätte ihn ein schlechter Maler nachzuahmen versucht und wäre dabei kläglich gescheitert. Damals war sie zehn gewesen und an der Hand ihres Vaters durch breite Straßen gelaufen und hatte Autos an ihnen vorbeijagen gehört, und obwohl sie sich merkwürdig gefühlt hatte, fremd und ungewohnt, war es ein wunderbares, ein aufregendes Gefühl gewesen, sie hatte etwas auf ihrer Zunge schmecken können, das sie bis dahin noch nie geschmeckt hatte und das für sie mittlerweile auch einen Namen hatte: Freiheit. Aber vielleicht war dieser Geschmack auch von der Tatsache intensiviert worden, dass sie dort mit ihrem Vater gewesen war, nur sie allein, ohne die Mutter mitsamt ihren Regeln und Verboten, und dass Vater ein anderer schien, so locker und gut gelaunt, so kindlich verspielt und so leicht, als wäre eine tonnenschwere Last von seinen Schultern gefallen. Lange war es her … Und auch die Erinnerung an ihn als einen frohen und zufriedenen Mann kam ihr mittlerweile fast unwirklich vor.

Der Mühlenbesitzer Avlan wischte die Hände an seiner Schürze ab und grinste über beide Ohren. Dann fragte er nach der Gesundheit der Mutter und erkundigte sich nach den Schwestern. Eigentlich interessierte er sich nur für Malika, die Älteste von den dreien. Aber es war ein hoffnungsloser Fall. Malika war schon längst eines anderen Mannes Frau, und auch er wusste um die Hoffnungslosigkeit seines Verlangens, wollte aber nicht ganz aufgeben, konnte sich noch nicht mit seinem Schicksal abfinden. Schon immer hatte Nura ihn bemitleidet. Es war von Anfang an eine törichte Sehnsucht, niemals hätte Malika ihn zum Mann genommen, und vor allem hätte sich die Gelajew-Familie niemals mit der seinen verschwägert. Er galt als zu weich und zu weibisch für die Berge, eine Art Kollateralschaden für den Taip, unvermeidbar und von minimalem Nutzen, nicht der Hauch eines Kriegers war in seinem Blut, und somit war er auch kein richtiger Nochtscho. Malika aber, die es liebte, gesagt zu bekommen, wo es langging, empfand eine fast erotische Verzückung dabei, sich unterzuordnen. So wäre diese Bindung schon allein aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt gewesen.

– Sehr gutes, sehr fein gemahlenes Mehl wie von deiner Mutter bestellt, ganz hervorragend geeignet für Chepalgaschi. Sie ist ja eine wahre Meisterin darin. Ich habe einmal beim Geburtstag deines Großvaters die Chepalgaschi deiner Mutter gekostet und habe den Geschmack immer noch im Mund, himmlisch!

Sie fragte sich, ob er übertrieb, weil er sie für sich einnehmen wollte, oder ob er davon wirklich überzeugt war. Mutter kochte wirklich gut, aber das taten die meisten Frauen im Dorf. Sie lächelte ihm zu und warf einen Blick nach draußen. Der Nebel war noch dichter geworden, graue Mauern hatte er in den Straßen des Auls errichtet.

– Wirklich gemein, dieser Nebel, nicht?

Avlan täuschte eine Art Schüttelfrost vor und grinste dämlich. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, aber sie wusste, dass die beiden Männer, die sich vor dem Eingang unterhielten, sie ununterbrochen beäugten, und da sie kein zusätzliches Ärgernis auf sich ziehen wollte, unterließ sie es und ärgerte sich im gleichen Augenblick über ihre Selbstbeherrschung.

– Und die gute Malika, geht es ihr gut? Besucht sie euch ab und zu?

Avlan konnte sich weitaus weniger beherrschen.

– Spätestens zum Opferfest wird sie kommen, da bin ich mir sicher. Ansonsten … also, ich hoffe, dass es ihr gutgeht.

Sie hoffte es wirklich. Malika hatte vor fast einem Jahr geheiratet und war nach Urus-Martan gezogen. Ob sie glücklich war, wusste man nicht, Mutter jedenfalls hatte sie mit ihrer Heirat sehr glücklich gemacht. Es war ein starker Clan, dem Vater des Bräutigams gehörte eine Seifenfabrik in Urus-Martan, sie galten zwar als assimiliert, aber auch nicht als Speichellecker, und so war es die Erfüllung eines Traums und gleichzeitig eine Rangerhöhung, die Malika und der ganzen Familie zuteilwurde; nach der Schande, die Vater über die Familie gebracht hatte, eine regelrechte Wiedergutmachung, ein Friedensvertrag. Mutter hatte schon immer auf Malikas Karte gesetzt. Erstens war sie die Gehorsamste, zweitens war sie ein »richtiges« Mädchen mit »richtigen« Mädchenträumen, die sich alle um einen starken und mächtigen Mann drehten, und drittens war sie die Hübscheste. Asma war noch zu klein, und man wusste nicht, in welche Fußstapfen sie einmal treten würde. Und sie selbst, die Zweitgeborene, nun ja, darüber sollte man gar nicht erst reden. Also blieb die Karte Malika, und sie erwies sich als Trumpf. Der Plan ging auf und ließ Mutter einen Moment lang versöhnlich werden. Gegenüber sich, der Welt und vor allem gegenüber der Vergangenheit, aber dieser Moment sollte nicht lang währen.

Eine Kupplerin aus dem Nachbardorf hatte die Heirat eingefädelt, und Mutter wiederholte immer wieder, was für ein Glück es gewesen sei, dass Malika ein so hübsches Gesicht hatte und darüber hinaus Urus-Martan zu weit entfernt lag, um sich dort ernsthaft um das beschämende Verschwinden ihres Mannes zu kümmern. Malika willigte schon ein, bevor sie ihren Bräutigam überhaupt gesehen hatte, denn sie würde in die Stadt ziehen und einen Ehemann mit einem deutschen Auto bekommen. Es wurde geheiratet. Sie zog weg. Seitdem hatte sie ihre Schwester nur ein einziges Mal gesehen, Malika war mit ihren Schwiegereltern im Hochsommer in das Aul gekommen, weil die Nihaloyskie-Wasserfälle angeblich gut für die Fruchtbarkeit waren, und auf dem Weg dorthin hatten sie einen Abstecher ins Dorf gemacht. Sie trug nun ein Tuch auf dem Kopf, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte, und ein knöchellanges Kleid.

Jetzt aber fragte sich Nura, ob ihre Schwester glücklich war. Und wie Malikas Glück überhaupt aussehen könnte. Würde man es erkennen? Würde man es ihr ansehen? Oder war Malikas Glück farb- und geruchlos, still und unauffällig, verschwommen wie dieser Nebel? Damals war sie sehr still gewesen, stiller als sonst, und hatte etwas verschreckt gewirkt, verunsichert, als hätte sie es verlernt, hier zu sein, in der Nähe ihrer Mutter und Schwestern, im Dorf und nicht in der Stadt, als hätte sie es verlernt, sie selbst zu sein oder vielmehr, als hätte sie sich eine Fassade gebaut und fürchtete nun, dass jemand dahinterblicken könnte.

– Ihre Familie versteht sich gut mit den Russen, nicht?

Diese Frage erstaunte sie. Avlan schien nie sonderlich am Weltgeschehen interessiert zu sein. Er würde auch niemals diesen Ort, dieses Dorf verlassen, wenn man ihn nicht regelrecht verjagen würde, dessen war sie sich sicher.

– Ich weiß nicht. Wieso fragst du mich das?

– Nun ja, geht ihr nicht zu den Gasujews fernsehen?

– Manchmal.

– Es hat einen Putsch gegeben, die Russen wollten ihre Vasallen bei uns an die Spitze setzen. Wir haben deren Kampfhubschrauber abgeschossen.

– Wir?

– Ja, die Unseren.

Seine Wortwahl verwunderte sie. Sicherlich verbrachte er viel Zeit im ehemaligen Komsomolclub, dort versammelten sich in letzter Zeit immer mehr junge Männer und besprachen unentwegt irgendwelche »wichtigen Angelegenheiten«, wie Mutter es nannte, was Diskussionen über Politik bedeutete. Wahrscheinlich war auch Avlan dort zugegen und hatte die fremden Worte übernommen, um Eindruck zu schinden.

– Ja, und viele von den Speichelleckern sind festgenommen worden.

Man kam nicht umhin, einen gewissen Stolz in seiner Stimme zu bemerken, sein eifernder Patriotismus erstaunte sie, und das Glühen in seinen Augen, als er das sagte, stufte ihn auf ihrer Sympathieskala auf Anhieb herab.

– Ich muss jetzt wirklich los, Mutter und Asma warten …

Es war ihr zum ersten Mal in seiner Nähe unbehaglich geworden, und sie wollte schnell wieder los. Als wäre er aus einem Halbschlaf erwacht, schüttelte er den Kopf, lachte wieder auf seine einnehmende Art auf und überreichte ihr den Mehlsack. Sie verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und trat hinaus. Der Nebel umhüllte sie augenblicklich wie ein warmer Mantel.

Ein paar Schritte weiter wäre sie um ein Haar mit der dicken Gülnaz und ihrem unförmigen Sohn zusammengestoßen. Die Gülnaz war eine richtige Dorfmatrone, und da ihr Ehemann ein paar Rinder hatte und genauso viele Ehefrauen – was ihr wiederum etwas weniger gefiel, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ –, glaubte sie, viele Gemeinschaftsfragen entscheiden und sich überall einmischen zu dürfen. Würde man vom Tratschen zunehmen, müsste sie längst eine Tonne wiegen, hatte Nura einmal zu Asma gesagt und selbst über ihre bildhafte Vorstellung lachen müssen.

Das Kind, das kein richtiges Kind mehr war, aber noch lange nicht erwachsen, hielt Gülnaz’ Hand fest und stampfte mit schweren und trägen Schritten hinter ihr her.

– Ach, Nura, du bist es! Hast du mir einen Schrecken eingejagt!, schrie sie auf, und sogar der dichte Nebel konnte nicht verhindern, dass man das viele Gold in ihrem Mund aufblitzen sah.

– Ja, ich bin es, Tante Gülnaz, Verzeihung! Der Nebel ist heute aber auch besonders dicht …

– Mein Bruder hat gesagt, dass es die Russen sind. Ja, ja, sieh mich nicht so an, man sagt, sie würden jetzt irgendwelche Gase einsetzen, um sich an uns zu rächen und uns, ohne dass wir es bemerken, langsam vergiften …

– Das glaube ich kaum, Tante Gülnaz!

Sie versuchte, mit einem kleinen Schritt nach vorne anzudeuten, dass sie weiterwollte, aber Gülnaz boykottierte ihr Vorhaben. Sie hatte nämlich noch Dinge loszuwerden, und vor allem wollte sie sichergehen, dass sie auch ja nichts verpasst hatte.

– Was macht deine arme Mutter nun?

– Wie meinen Sie das, Tante Gülnaz?

Sie hatte keine Ahnung, worauf die falsche Schlange hinauswollte.

– Nun ja, so alleine mit zwei Mädchen zu Hause, und das in diesen wirren Zeiten …

Alles in ihr zog sich zusammen. Am liebsten hätte sie aufgeschrien, hätte ihr ins Gesicht gespuckt und wäre weitergerannt. So viel Schadenfreude, so viel Gier nach dem Leid der anderen war kaum auszuhalten. Wie konnte man mit so viel Frust überhaupt leben, fragte sie sich und zwang sich zu einem Lächeln.

– Alles in Ordnung, Tante Gülnaz. Machen Sie sich wegen uns keine Gedanken.

– Mach deiner Mutter keine Sorgen, hörst du?, sagte sie mit fast drohendem Unterton und beugte sich ganz nah zu ihr, so dass Nura ihren unangenehmen Atem riechen konnte, ein Geruch nach hartgekochten Eiern und nach etwas Fettigem. – Sie hat bereits genug durchgestanden.

Wie gerne hätte Nura ihr eine Ohrfeige verpasst. Und in dem Moment spürte sie die Abwesenheit von Natalia Iwanowna am schmerzlichsten. Normalerweise wäre sie nach solch einem Vorfall zu ihr gerannt und hätte sich wie ein Donner bei ihr entladen, hätte dort gewütet und alles zum Teufel geschickt, bis sie sich wieder beruhigt und ihre Zuversicht wiedergewonnen hätte. Aber jetzt, ja, jetzt musste sie die Bitterkeit, den Zorn herunterwürgen, sich dabei sogar zu einem Lächeln zwingen.

– Auf Wiedersehen!, murmelte sie nur und setzte ihren Weg durch den Nebel fort, als der Junge, der vorher apathisch neben seiner Mutter gestanden hatte, ihr plötzlich die Zunge rausstreckte und spuckend etwas ausstieß. Zuerst verstand sie nicht, was es war, aber nachdem sie sich etwas entfernt hatte, konnte sie die Laute besser deuten. »Hure« hatte er ihr hinterhergerufen. Gülnaz muss ihm den Mund zugehalten haben, denn er verstummte abrupt und wieder herrschte die alles umfassende Stille.

Sie durfte nicht die Kontrolle verlieren. Sie durfte diesen Hinterwäldlern nicht noch einen Grund mehr liefern, über sie und die Ihren zu tratschen. »Einfach weiteratmen, tief und gleichmäßig weiteratmen«, hörte sie wieder Natalia Iwanowna in ihr Ohr hauchen. Wie furchtbar sie sie doch vermisste! »Atmen und dann den Filter auswechseln!«

Das tat sie, wenn die Welt um sie herum zu fest wurde, zu hart, zu unbehaglich, dann schaltete sie einfach die Realität aus, wechselte sie aus wie einen Farbfilter. Das war gar nicht schwer, nur die Augen schließen und sich in eine andere Realität versetzen, mit jedem ihrer Sinne, mit der allerhöchsten Konzentration, und dann war schon alles anders, sie wurde zu einer anderen, austauschbaren Person, eben zu dem, was sie sich vorzustellen vermochte, was ihre Vorstellungskraft bereit war zuzulassen. Und mit jedem Tag, jedem Monat, jedem Jahr wurde sie darin kühner und waghalsiger. Früher, da wagte sie in ihrer Vorstellung höchstens ein Szenario, in dem sie eine Ärztin war, irgendwo in einer großen Stadt voller schöner Parks und Attraktionen. Einer Stadt, die einer Kirmes glich. Bunt und grell und voller Musik, voller Vergnügen, und sie mittendrin, von der Arbeit eilend, die sinnvoll und wichtig war, am besten in der Chirurgie, am besten da, wo es mindestens um Leben und Tod ging, und selbstverständlich würde sie dem Leben immer zum Sieg verhelfen und danach an den Buden mit Zuckerwatte und den schönen Karussells vorbeimarschieren und lachen und Eis essen, in einem wunderschönen Kleid, mit offenen Haaren. Sie entdeckte, wie sie ihre Fantasie trainieren konnte, dressieren wie ein gehorsames Pferd. Und so lernte sie, immer tollkühnere und schrillere, immer abenteuerlichere Geschichten zu erfinden. Wenn sie sich zum Beispiel nicht allzu sehr anstrengen wollte, dann war sie einfach eine Prinzessin, das kostete gar keine Mühe. Aber auch nicht irgendeine beliebige, sondern eine japanische. (Sie hatte einmal in der alten Dorfbibliothek, die voller sozialistischer Propagandabücher war, eine zerfledderte Zeitschrift entdeckt, eine alte Modezeitschrift, in der alles in lateinischer Schrift geschrieben stand, in einer fremden und schön anmutenden Sprache, und in der schöne, gut gekleidete Frauen abgebildet waren. Und dort gab es eine adrette junge Dame, die sich als eine japanische Prinzessin erwies, mit dem exotischen und Fernweh weckenden Namen Michiko – so viel hatte sie entziffern können.) Sie trug schicke Kostüme und winkte dem Volk von einem kaiserlichen Palast aus zu, der vollständig vergoldet war.

Aber in letzter Zeit war sie meist María. Die wunderschöne María aus der mexikanischen Telenovela Simplemente María, die sie zusammen mit den anderen Dorffrauen allabendlich bei den Gasujews im Fernsehen sah – man hatte den Fernseher wegen des großen Andrangs mithilfe eines mit Klebestreifen zusammengefügten Verlängerungskabels in den Hof gestellt, damit alle Platz finden konnten. Dort ging es um das einfache Bauernmädchen, die titelgebende María, die es trotz aller Widrigkeiten und Hindernisse zu einer ruhmreichen Modedesignerin schaffte, die alle sozialen Hürden überwand, obwohl sie ihre Liebe zum reichen Juan Carlos del Villar Montenegro nicht leben durfte. Es war schön, María zu sein. Und es war auch einfach, sich Marías Wirklichkeit auszuleihen, da die russisch synchronisierte, farbenfrohe mexikanische Realität so prall und detailreich war. Sie hatte genaue Vorstellungen, wie die Räume aussahen, durch die María schritt, von den Kleidern, die sie anhatte, den Gegenständen, die sie berührte, und den Rest, ja, den Rest vervollständigte sie in ihrem Kopf. Zum Beispiel den Geschmack der Lippen von Juan Carlos del Villar Montenegro. Auch wenn ihre Liebe unglücklich war, auch wenn es ihnen nicht vergönnt war, zueinanderzufinden (noch konnte sie dies aber nicht mit Gewissheit sagen, noch durfte sie hoffen, immerhin hatte sie noch einhundertzweiundzwanzig Folgen vor sich), so war sie wunderschön, geheimnisvoll, aufregend, so wie sie sich vorstellte, dass sie sein sollte, und nicht die, die ihr die Realität aufzwang. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass die Schauspielerin, die María verkörperte, Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo hieß, und hatte sich den Namen eingeprägt wie eines der vielen patriotischen Gedichte, die man ihr in der Schule eingetrichtert hatte. Wie magisch und verlockend dieser Name klang! Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo, wie Zuckerwatte schmolz dieser Name auf der Zunge und hinterließ einen Geschmack, der Sehnsucht nach mehr weckte. Die Welt von Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo war eine, wie sie sich vorstellte, dass die Welt zu sein hatte, wenn man schon das Glück hatte zu leben, dann mussten das Leben und die Umgebung doch mitspielen, das war ja wohl nicht zu viel verlangt. Oder doch? War es denn so falsch, sich mehr zu wünschen? Mehr als das, was einer Frau zustünde, wie ihre Mutter meinte? Was diese alten Frauen meinten, die auf dem Marktplatz saßen und sie mit ihren gelben Eidechsenaugen auffraßen, tadelnd, schmähend; sie fanden es schon unverschämt genug, dass sie so jung war, jung und voller geheimer Versprechen, die ihr Körper machte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Musste sie sich dafür entschuldigen, so geschmeidig und anmutig zu sein wie ein freilebendes Tier?! Musste sie sich dafür entschuldigen, sich fortzuträumen? Dass ihr das Dorf nicht genug war? Und die Dorfbewohner noch viel weniger! Hinter diesen Bergen, hinter der gewaltigen Schlucht, hinter dem zornigen Fluss lag eine Welt, die so viel beinhaltete, so vielfältig war, so bunt. Dort wollte sie hin. Sie musste dorthin. Sie musste es schaffen. Die Vorstellung, sie könnte eines Tages ihre Zauberkraft einbüßen und sich nicht mehr in eine andere Realität versetzen, weil die gegenwärtige, die reale sich durch alle Fantasieschichten hindurchfressen würde wie eine ätzende Säure, versetzte sie in Schockstarre. Das Furchtbarste, was passieren könnte, wäre der Verlust ihrer magischen Fähigkeit. Diese Fähigkeit hielt sie am Leben, sie schenkte ihr Zuversicht, ließ sie alles erdulden, was das Gegenteil von Glück und trotzdem kein Unglück war, für das sie bisher aber keinen Namen gefunden hatte.

»Ist das nicht endlos traurig, Nura, dass die meisten Menschen sich nichts sehnlicher wünschen als das Mittelmaß? Das Mittelmaß an Leben, das Mittelmaß an allem, und dass ich mich vor nichts so sehr fürchte wie genau davor?«

Plötzlich sah sie Natalia Iwanowna vor sich stehen, am Fenster, mit dem Rücken zu ihr, in der linken Hand eine Zigarette. Sie war Linkshänderin und hatte immer gesagt, es liege daran, dass die linke Hand nun mal näher am Herzen sei und sie nichts machen könne, was nicht in direkter Verbindung mit ihrem Herzen stehe. Es war Winter – fast immer, wenn sie an Natalia Iwanowna dachte, war es Winter, als wäre ihre gemeinsame Zeit ein endloser, schneebedeckter weißer Winter gewesen, als hätte es in der Zeit mit ihr keinen Sommer gegeben –, und im Blechofen brannte Holz, das Knistern hatte etwas Einschläferndes, das Geräusch lud zum Träumen ein. Draußen war es kalt, und durch das Fenster wirkte die Welt so unbarmherzig, so unfreundlich, während es in diesem kleinen Zimmer so warm und gemütlich war. Nura konnte ihr Gesicht nicht sehen, als sie diesen Satz sagte, aber sie bekam auf einmal Gänsehaut. Ob ihr der Satz so vertraut vorkam, sie eher abstieß oder ihr Angst machte, das konnte sie nicht festmachen – aber er zog sie in seinen Bann, und sie erstarrte.

»Immerzu haben wir dagegen angekämpft, mein Mann und ich, wir beide haben nichts anderes getan. Und jetzt nach so vielen Jahren frage ich mich, ob das ein Fehler war, ob wir nicht kläglich gescheitert sind. Ja, wenn du mich fragst, dann ist das Mittelmaß der Fluch des Menschen, nicht die Schlange brachte die Sünde in den Garten Eden, es war das Mittelmaß …«

Natalia Iwanowna zog an ihrer Zigarette (in der Welt, in der Nura lebte, eine für eine Frau unerhörte, verbotene Tat), und sie überlegte sich, ob sie sich von hinten an sie heranschleichen und sich an sie drücken, sie trösten, ihr sagen sollte, dass sie der außergewöhnlichste Mensch war, den sie je getroffen hatte.

»Aber manchen Menschen, nur sehr wenigen, gelingt es … Sie können diesen Fluch durchbrechen …« Wieder verstummte sie abrupt, wartete auf etwas, irgendein Urteil musste sie noch fällen, und das tat sie auch, nachdem sie die Zigarette auf einer zu einem Aschenbecher umfunktionierten Untertasse ausgedrückt hatte: »Vielleicht, ja, vielleicht … könntest du es schaffen, Nura …«

Ein größeres »Ja« hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie bekommen. Aber für dieses »Ja« galt es zu kämpfen, wie eine Löwin musste sie kämpfen, auch das hatte sie von Natalia Iwanowna gelernt. Andernfalls würde auch sie eines Tages wie diese alten Frauen auf dem Marktplatz enden, mit einem Wolltuch um den Kopf, mit auf dem Schoß zusammengefalteten Händen, mit gelben, klebrigen Augen und mit galligen Worten, die den Mund giftig machten – wenn sie nicht fortginge, wenn sie nicht diesen Bergen und diesem Fluss entkäme, dieser Natur, die so trügerisch schön war. Oder es würde noch schlimmer kommen, und sie würde werden wie Mutter, triefend vor Selbstmitleid, mit jeder Faser des Körpers um den Schutz des Auls bangend, um die penible Berechtigung jeder Handlung, jeder Entscheidung bemüht – seit Vater fort war und sie wie ein hilfloses Wesen durch die Galaxie schwebte, ängstlich und unsicher, verschüchtert bis ins Mark, und sich in sinnloser Tüchtigkeit verlor.

Nein, sie würde ihren Lebenssinn niemals an einen Mann koppeln, nicht einmal an einen wie Juan Carlos del Villar Montenegro. Sie würde die Sonne ihres eigenen Planetensystems sein. Sie würde nichts verbergen, sie würde die allerschönsten, allerbuntesten Kleider tragen und sowohl ihre Knöchel zeigen als auch die Linie, die sich erst seit zwei Jahren zwischen den so runden und festen Brüsten abzeichnete. Und wie schön würde sie die Wohnung einrichten, die sie einmal beziehen würde! Mit geblümten Tischdecken und Porzellanvasen, mit handgeknüpften Teppichen und mit weichen Sofas. Ähnlich wie die Haziendas aus der Telenovela. Vielleicht aber – und dieser Traum war der aufregendste, tollkühnste, verrückteste und daher vielleicht der innigste aller ihrer Träume – würde sie eine Schauspielerin werden, eine, zu der man aufsah, in die sich alle reihenweise verliebten, die lauter Preise abräumte und in edelsten Roben herumstolzierte und die mit feuchten Augen von der Bühne Handküsse verteilte. Eine wie Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo!

Aber diesen Traum wagte sie nicht so richtig in jeder Konsequenz zu durchdenken. Die Vorstellung, nicht nur die ganze Familie, sondern auch Asma könnte sie verachten und sich von ihr abwenden, war zu schmerzlich. Aber vielleicht würde sie es schaffen, und dieser Ort würde Asma nicht in seinen Bann ziehen und mit seinen stahlharten Regeln und Doktrinen infizieren, vielleicht würde sie es schaffen, für ihre Schwester das zu werden, was einst Natalia Iwanowna für sie gewesen war: ein Anker. Ja, vielleicht, wenn es ihr gelungen wäre, wenn sie erst nach Grosny, später nach Moskau, später nach … Ja, wohin eigentlich? Ja, vielleicht nach Mexiko gegangen wäre, ja warum nicht nach Mexiko, schließlich wurden da ja solch fabelhafte Serien gedreht wie Simplemente María, und sie würde in einer dieser Serien mitspielen, und wenn sie endlich dort angekommen wäre und eine bunte Hazienda bewohnte mit Papageien und überdimensionalen Kakteen im Garten, würde sie Asma zu sich holen und mit ihr die Freiheit üben, täglich, mit eiserner Disziplin, so wie es einst Natalia Iwanowna mit ihr getan hatte, und Asma würde begreifen, dass ihre Welt nur eine der endlos vielen Varianten der großen Welt war und keineswegs die absolute und einzig richtige, und dann würde vielleicht auch Mutters Herz erweichen, denn immerhin wären sie zu zweit, und die Mutter würde sie besuchen kommen und staunen, in welchen Technicolorfarben sich das mexikanische Leben ihrer Töchter abspielte. So stur, wie Mutter war, würde sie dennoch niemals ihr Land, ihr Aul, gänzlich verlassen wollen, aber vielleicht würde sie ein paarmal im Jahr den Ozean überqueren und mit ihren Töchtern Ausflüge zu den schönsten Orten Mexikos machen.

Natalia Iwanowna war vor etwa vier Jahren ins Dorf gekommen, eine Russin, die einen Tschetschenen geheiratet hatte und mit ihm nach Grosny gezogen war. Beide waren ehemals Lehrer, die es sich aus irgendeinem für Nura nicht nachvollziehbaren Grund zur Aufgabe gemacht hatten, durch die abgelegensten Dörfer des Nordkaukasus zu ziehen und dort Kinder zu unterrichten. Sie gingen nicht in die Dorfschulen, sie boten ihren ganz eigenen Unterricht an, in improvisierten Klassenräumen ihrer Privatunterkünfte. Sie lebten von den Gaben und Almosen, die ihnen die Eltern aus Dankbarkeit für ihre begeisterten Kinder zukommen ließen, und sahen ihren Auftrag darin, »Denkanstöße jenseits der herrschenden Normen« zu vermitteln. Sie brachten einen ganzen Kofferraum voller Bücher und etwas ebenfalls ganz Wunderbares mit: ein Fernsehgerät mit einem integrierten Videorekorder und eine Vielzahl an Videokassetten, die sie mit der Hand beschriftet hatten. Eine magische Welt wurde dort offenbar und zog die Kinder scharenweise an. Von alten Chaplinfilmen in raubkopierter, schlechter Qualität über Visconti bis zu knalligen Actionstreifen aus Hollywood – alles war dabei, sogar Bollywoodfilme. Vor jeder Vorführung wurde ein Vortrag über den jeweiligen Film gehalten und im Anschluss fand eine Diskussion darüber statt. In der Stunde vor der Filmvorführung erzählten sie den Kindern etwas über die Entstehungsgeschichte und die Schauspieler, über die jeweilige Epoche und die weltgeschichtlichen Ereignisse zu der Zeit. Nach der Vorführung mussten die Kinder ihre Eindrücke mitteilen. Und da reichte es nicht zu sagen, ob der Film ihnen gefallen hatte oder nicht, sie mussten argumentieren und miteinander debattieren. Es gab keine Kriterien, keine Doktrin eines guten Geschmacks, alles konnte gedacht und gesagt werden. Viele der Anwesenden fühlten sich von dieser Übung überfordert. Niemals zuvor war es ihnen erlaubt worden, ihre eigene Meinung zu äußern. Stets waren es die Adat-Gesetze, die ihr Leben regelten, stets waren es die Eltern und Großeltern, die Dorfältesten, die Partei und die Imame, die ihnen sagten, was sie zu tun und zu lassen hatten. Und nun waren da auf einmal zwei Zauberer, die sie in eine magische Wirklichkeit entführten, in der so viel erlaubt schien. Nicht alle kamen mit dem Freiraum klar, viele blieben nach ein paar Sitzungen weg oder die Eltern witterten Unheil und verboten es ihren Kindern, zu dem schrägen Paar zu gehen. Aber andere waren froh über die Begeisterung in den Gesichtern ihrer Sprösslinge und kümmerten sich nicht weiter um die Inhalte, die das Paar ihnen vermittelte. So oder so, die beiden würden wieder fortziehen, und ihre Kinder würden wortlos zu ihrem kargen und streng reglementierten Alltag zurückkehren, denn das war das Gesetz der Berge, das Gesetz der Ahnen, hier herrschte das jahrhundertealte Gesetz der Wainachen.

Aber in ihrem Fall war alles anders. Die Saat traf auf einen mehr als fruchtbaren Boden. Ein Unglück sollte sich für sie als pures Glück herausstellen. Natalia Iwanownas Mann starb plötzlich an einem Herzinfarkt, als sie gerade einmal ein paar Wochen in der Argun-Schlucht waren. Sie hatten eine kleine leerstehende Holzscheune am Rand des Hauptweges gemietet, und eines Abends fiel der bärtige, gutmütige Mann um, bevor Nura sich seinen Namen überhaupt hatte merken können. Natalia Iwanowna trauerte lange. Sie trauerte anders als die Frauen im Aul. Sie trauerte stumm und ohne feste Riten. Sie trauerte für sich allein. Die Dorfbewohner redeten darüber, aber keiner mischte sich ein, sie war keine Nochtscho, sie war eine Fremde, eine gottlose Sozialistin aus dem Norden, woher sollte sie schon wissen, wie man richtig trauerte, wie man einen Mann gebührend beweinte? Ja, ja, die Städter waren verkommen, sie waren vom Weg abgekommen, die Kommunisten hatten sie korrumpiert, aber es bestand Hoffnung – so flüsterten es die Alten –, seit kurzem gab es sie wieder, diese quälende Hoffnung, seit der Riese wie ein kranker Elefant umgekippt war, seit die Wainachische Demokratische Partei gegründet, seit die Unabhängigkeit ausgerufen worden war! Es gab Hoffnung, dass Allah dem Land erneut seinen Segen schenken würde!

Erst nach und nach wagte sich die fremde Frau ohne Kopfbedeckung wieder auf die staubigen Dorfstraßen, wie ein vom Rest der Schar abgekommenes Vögelchen irrte sie ziellos umher, kaufte ein paar Lebensmittel ein. Nura beobachtete sie aus dem Fenster, wie sie an ihrem Hof vorbeiging, und hatte ein Gefühl im Herzen, als würde es von innen zerreißen. Damals wusste sie so wenig über diese fremde Frau, die aus einer anderen Welt gekommen war, und doch fühlte sie sich so vertraut an, etwas an ihrer Art zu gehen, an ihrer Art, in die ungewisse Ferne zu gucken, etwas an ihrer Verlorenheit erinnerte sie an sich selbst, als hätte sie ihr Leben lang nach Wurzeln gesucht, ganz anderen Wurzeln, nicht denen, die in die Erde gingen, fest und hart, nein, nach solchen aus Gedanken und Empfindungen.

Einmal lief sie ihr heimlich hinterher, durch den alle Geräusche verschluckenden, hohen, provozierend weißen Schnee, fasziniert von dem, was diese Frau ausstrahlte und für das sie selbst keine Worte fand, etwas, das sie später als selbstgenügsam bezeichnen sollte. Diese Frau schien nichts und niemanden zu brauchen, sie war voll von etwas, ein Etwas, das man nicht sehen, aber spüren konnte, nur traurig war sie, weil sie einen geliebten Menschen verloren hatte, und zu gern hätte Nura erfahren, wie ihre Liebe gewesen war, ob ihr Mann auch einer war, der alles hatte, was er brauchte, und in ihr keine Notwendigkeit sah, sondern eine Bereicherung? In all den Monaten an der Seite von Natalia Iwanowna sollte es ihr nicht gelingen, ihr Geheimnis zu lüften, es war ihr nicht vergönnt, zu begreifen, wie sie so leben konnte, so ohne jede Bedürftigkeit. Wie alles, was sie tat, alles, was sie war, auf Freiwilligkeit basieren konnte. Aber irgendwann spielte es keine Rolle mehr …

Natalia Iwanowna blieb lange in der Schlucht, länger, als sie je zuvor irgendwo geblieben war, und genau das erwies sich für Nura als Glücksfall, als Rettung. Der Tod ihres Mannes stürzte Natalia Iwanowna in eine Krise. Als wäre ihr alles einerlei geworden, als hätte sie nur mit ihm zusammen den Sinn in dem finden können, was sie tat. Kinder gab es keine, feste Bindungen auch nicht. Ein Nomadenleben hatten sie gelebt, sich ergänzt, niemanden außer ihren Schülern gebraucht. Sie hätte nach Grosny gehen können oder nach Machatschkala, vielleicht nach Tbilissi oder Jerewan, irgendwie schien sie an den Kaukasus gekettet zu sein wie einst Prometheus, von dem sie Nura eines Tages erzählt hatte, bei einem Tee mit Honig und einer dünn geschnittenen Zitronenscheibe. Zu Leningrad, das mittlerweile wieder St. Petersburg hieß, wo sie geboren und aufgewachsen war, hatte sie keine Beziehung mehr, nichts lockte sie zurück. Die Berge waren ihr Zuhause geworden. Mit dem hellblauen Lada Niva waren sie einer vagen Sehnsucht folgend durch den Kaukasus gefahren, hatten die Heerstraße bereist, einem Gefühl oder vielleicht einer Hoffnung auf der Spur. Und nun gab es keinen Ort für Natalia Iwanowna, keine Sehnsucht, die stark genug wäre, um sich erneut auf den Weg zu machen durch die endlosen Weiten, denn das Ziel schien trüb, unscharf.

Und noch etwas brachte sie dazu, dass sie immer mehr den Rückzug suchte und sich immer weniger in die Berge traute – der mit der Ausrufung der Tschetschenischen Republik Itschkerien einhergehende Nationalismus. Seit Inguschetien der Russischen Föderation beigetreten war, Tschetschenien diesen Schritt aber verweigerte, wurde die Luft für sie immer dünner. Überall im Kaukasus wurden Stimmen laut, die die Welt in zwei Lager spalteten, in das der Freunde und das der Feinde, und zu Feinden wurden alle, die nicht das Gleiche wollten und forderten, überall wollte man nun für sich und unter sich sein, lange genug waren die ungebetenen Gäste da gewesen, jetzt, da die Sowjetunion zu Staub zerfiel und das gigantische Russland blind und wirr durch die Dunkelheit tapste, wollte man den Zeitpunkt nutzen und die ungebetenen Gäste endlich verabschieden.

Natalia Iwanowna hatte zeit ihres Lebens nirgendwo dazugehört, und nun konnte ihr dieser Umstand zum Verhängnis werden. Im Süden war schon Blut geflossen – in Georgien hatte es begonnen, in Armenien und Aserbaidschan hatte es sich fortgesetzt, und nun konnte man diesen metallenen Geruch auch hier im Norden riechen. Sie verkroch sich in der Scheune und fing an zu zaubern. Nun zauberte sie nicht mehr für die anderen, Kinder und Jugendliche, sondern für sich. Sie fantasierte, sie reiste durch das antike Griechenland und schwebte in pompösen Kleidern und mit turmhohen Perücken durch Versailles und Fontainebleau. Sie war Herrin über ganze Welten, die sie in ihrer Vorstellung erschuf. Da sie keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, unterrichtete sie die Kinder nur noch gelegentlich in Russisch, da Russisch im letzten Jahr vom Lehrplan der Schulen gestrichen worden war, manche Eltern aber weiterhin darauf beharrten, dass ihre Kinder die Sprache beherrschen sollten. Ihre »Denkanstöße« und Vorträge ließ sie von diesem Zeitpunkt an sein. Bis sie aufeinandertrafen und Natalia Iwanowna, als wäre sie vom Leben geküsst worden, aus ihrem Winterschlaf erwachte.

Das erste Treffen war eines der knappen, leisen Worte, passend zu dem kniehohen Schnee und doch gleich einer Initiation, die Einweihung in eine Zauberei. Nura war wieder einmal zu der Scheune geschlichen und wie eine streunende Katze um das Haus herumgelaufen, in der Hoffnung, aufgespürt, entdeckt zu werden. Und sie wurde entdeckt.

– Komm doch rein, meine spärliche Behausung scheint dich ja regelrecht anzuziehen!

Das war das Einzige, was sie zu ihr sagte, als sie die Tür öffnete. Natalia Iwanowna saß bei einer dampfenden Tasse Tee an einem kleinen Beistelltisch, den sie als Esstisch nutzte, und starrte mit ihren hellblauen Augen und dem Ausdruck höchster Konzentration durch die auf ihrer Nasenspitze sitzende Brille auf einen bunten Würfel, wie ihn Nura noch nie gesehen hatte. Er wirkte wie ein Spielzeug für Erwachsene.

– Was ist das?

– Das ist ein Kubik-Rubik, ein sogenannter Zauberwürfel, kurzum: ein Drehpuzzle. Kennst du ihn nicht?

– Nein.

– Ja, vielleicht ist es besser so, ich beiße mir an diesem dummen Ding die ganze Zeit die Zähne aus.

– Wieso?

– Ich kriege es einfach nicht hin, egal was ich tue, es will mir nicht gelingen. Mein Mann hat mich deswegen schon so oft ausgelacht, er meinte, ich würde aussehen, als müsste ich das Geheimnis des Lebens lösen, aber irgendwie habe ich an diesem Ding einen Narren gefressen, aber es klappt und klappt nicht. Vielleicht gelingt es dir ja, sagte sie und reichte ihr den bunten Würfel.

Es war wie nach Hause kommen. Es war vertraut, auch wenn auf eine unbegreifliche, unlogische Weise. Der Zauber war allgegenwärtig. Und jeden Abend, wenn sie heimkam und sich die zornigen Blicke ihrer Cousins und die vorwurfsvollen Sätze ihrer Mutter wie eine Lawine über sie ergossen, fragte sie sich, wie sie ohne all dieses Wissen, ohne all dieses Können bisher hatte leben können. Es war Glück, pures Glück, das sie in dieser einfachen Scheune antraf. Und das Aufregendste war, dass sie auch das Vertraute und teils Verhasste durch Natalia Iwanownas Augen anders zu begreifen und sogar schätzen lernte. Dank ihr verliebte sie sich in die Schlucht und in den unzähmbaren Fluss. Sie wurde versöhnlich gegenüber der Vergangenheit und übte sich in Vergebung.

Ja, sie musste ihm vergeben, Vater, eine Bezeichnung, die sie seit seinem Fortgang nicht mehr in den Mund genommen hatte, als würde sich ihre Zunge an den Buchstaben verbrennen. Das Wort war gelöscht worden, aus der Wirklichkeit, aus der Gegenwart, als hätte es nie einen gegeben, auch wenn Mutter nichts anderes tat, als ihm nachzutrauern, auch wenn das ganze Dorf nichts anderes tat, als sich monatelang die Mäuler über ihn zu zerreißen.

Und manchmal, da hasste sie ihre Sehnsucht, weil sie Angst hatte, es könnte sein Erbe sein, das in ihren Adern floss. Und dann würde es sich eines Tages vielleicht gar nicht als Sehnsucht entpuppen, sondern als ein Fluch. Wäre sie demnach auch dazu verdammt, stets die Suchende zu bleiben, getrieben und nie zufrieden, unfähig zum Glück? Er hatte nicht anders gekonnt, das ahnte sie und hasste sich, dass sie jetzt noch versuchte, eine Entschuldigung für ihn zu finden. Er hatte es hingenommen, seine Familie durch sein Handeln zu Aussätzigen zu machen. Wie stark musste der Fluch sein, dass er nicht anders konnte, als zu tun, was er getan hatte? Ja, Schande hatte er über die Seinen gebracht und blieb verschwunden, hatte sich aus jeder Verantwortung gezogen.

Die Jahre davor waren eine einzige Aneinanderreihung von Peinlichkeiten gewesen. Und dieses Desaster mit den Schafen! Als Mutter feststellte, dass seine »Verrücktheiten« wiedergekommen waren, beschloss sie, ihm unendlich viele Aufgaben aufzuladen, damit ihm keine Zeit für seine »Absonderlichkeiten« blieb. Sie hatten nie Schafe besessen, Pferde ja, Hühner sowieso, aber nie Schafe. Also beschloss sie, er solle eine Schafherde beaufsichtigen und sie in die Hochebene treiben, wo es wenig Ablenkung gab, wenig, was er kaputt machen konnte. Er erwiderte zu Beginn nichts, was sie als Erfolg verbuchte, aber keine zwei Wochen später hatten sich die meisten Schafe in der Hochebene verirrt und manche waren gar in Schluchten gestürzt. Auf die allgemeine Empörung hatte er nur erwidert, dass es der freie Wille der Tiere gewesen sei. Es war der Anfang vom Ende gewesen. Bis zu seinem Verschwinden folgte für Mutter eine unerhörte Peinlichkeit nach der anderen. Und sie überlegte zwischendurch sogar, ihm eine jüngere Frau zu suchen, eine inoffizielle, aber geduldete Mitgestalterin seines Glücks, aber es sollte nicht mehr dazu kommen. Er ging fort und ließ sie mit ihren Erinnerungen und ihrer Pein allein. Und diese Erinnerungen waren nicht so leicht zu löschen, die Jahre, die sie an seiner Seite verbracht, und drei Kinder, die sie von ihm bekommen hatte, nichts davon konnte sie ungeschehen machen. Immerzu musste sie in Sorge leben, dass ihre Kinder etwas von ihm abbekommen, dass sie auch »verrückt« werden, tagelang schweigen oder wochenlang in einer Berghöhle übernachten würden. Sie selbst war schon immer eine Frau, die nach den Adat-Gesetzen lebte, die auch im Sozialismus und in der Kolchosära beten gegangen war. Ja, sie war eine, die sich am meisten vor dem fürchtete, was ihre mittlere Tochter sich am meisten ersehnte: anders zu sein, auch wenn man dadurch bei der Gemeinschaft in Ungnade fiel.

Der erste Skandal, so erzählte man sich, hatte sich gleich in den ersten Monaten ihrer Ehe, als ihre Mutter mit Malika schwanger gewesen war, ereignet – als er eines Tages splitterfasernackt im Fluss baden ging und bei der Dorfmiliz landete. Die Geschichte, wie er auf dem Geburtstag seines Schwiegervaters vom Onkel seiner Frau verprügelt worden war, erzählte man sich noch immer als lustige Anekdote. Es hatte eine hitzige Diskussion mit dem engstirnigen Onkel gegeben – und da hatte jeder eine andere Version gehabt, um welches Thema es damals gegangen war, von Völkerumsiedelung bis Breschnew bis zu einer bestimmten Schafzüchtung war alles dabei gewesen –, und da hatte er auf einmal begonnen, den Onkel mit Essen zu bewerfen, Brot und Käse, alles flog dem alten Mann an den Kopf. Was sich für Mutter als am schlimmsten erwies, war die Tatsache, dass sie all das und noch viel mehr erduldet hatte, nur um am Ende zur Aussätzigen des Auls zu werden und mit leeren Händen dazustehen, und doch nicht sagen konnte, ihre Opfergaben, ihre Engelsgeduld, ihre schier unmenschliche Ausdauer hätten sich ausgezahlt. Diese Ungerechtigkeit raubte ihr seit seinem urplötzlichen und wortlosen Fortgang den Schlaf, kanalisierte ihre über die Jahre so zerstreute und hilflose Wut.

Der Nebel sank tiefer hinab. Wie eine Schlange wand er sich durch die Felsen der Schlucht. Hoffentlich würde sie es vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause schaffen. Die Nacht versprach eisig zu werden. Der Frost würde nach dem Nebel kommen, aber er würde kommen und gnadenlos sein. Vor dem Haus der Osmajews blieb sie stehen, sie hörte hinter sich Geraschel und drehte sich erschrocken um.

– Du bist doch sonst immer so mutig, jetzt machst du dir in die Hose, was?

Es war Musa, der Störenfried. Sie atmete erleichtert auf, und zugleich spannte sich ihr ganzer Körper an. Er kam ihr nah, näher, als es der von den Ahnen festgelegte Abstand zuließ, es war der Nebel, der ihn übermütig machte. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Und irgendwie hatte er es auf sie abgesehen. Jeder Papierball, den er warf, galt ihr, jedes Ziehen musste das Ziehen an ihrem Zopf sein, jeder Witz über die Mädchen musste in ihrer Abwesenheit gesprochen, jeder Streich vor ihren Augen ausgeführt werden. Seit sie ganz klein waren und auf Familienfesten im Hof zusammen gespielt hatten, konnte er es nicht lassen. Er war flink und redegewandt, sicherlich galt er als ein vielversprechender Bräutigam, zumal sein Vater die größte Molkerei der ganzen Schlucht besaß und seit der Privatisierung viel Geld angehäuft hatte. Musa war in die Höhe geschossen, nahezu einen Kopf größer stand er vor ihr, kräftig und voller Tatendrang, mit einer zittrigen Unruhe in den Gliedern, als wäre es ihm unmöglich, still zu stehen, als wäre die ständige Bewegung sein natürlicher Zustand, er wippte mit dem Oberkörper hin und her und trat von einem Fuß auf den anderen und machte sie ganz unruhig und wirr.

– Wegen dir mache ich mir ganz bestimmt nicht in die Hose. Was treibst du dich hier rum? Hast du nichts Besseres zu tun, als Mädchen aufzulauern?

– Ich lauere niemandem auf. Du stehst vor meinem Haus, ich kann hier machen, was ich will, das ist mein Bereich.

Er zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche und nahm sich gleich zwei Zigaretten heraus. Auch das traute er sich nur, weil keine Erwachsenen in der Nähe waren und ihn der Nebel von ungebetenen Blicken abschirmte. Die eine steckte er sich hinters Ohr und die andere zwischen die Lippen. Das Aufleuchten der Feuerzeugflamme erzeugte eine kurze Illusion von Geborgenheit und Wärme, die ihr gut gefiel.

– Ich muss nach Hause, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Musa. Sie hatte noch eine weite Strecke vor sich, und der Himmel war bereits vom Nebel verschluckt worden.

– So ängstlich bist du, soll ich dich begleiten, was? Nicht dass dich einer klaut, erwiderte er und lachte laut und dreckig, wie es seit eh und je seine Art war. Ein Lachen, als hätte er etwas Verbotenes im Kopf.

– Nein, nicht nötig, danke.

– Komm schon, es sind keine guten Zeiten für ein Mädchen, um so spät am Abend umherzulaufen.

– Wieso das denn?

Einerseits fand sie den Gedanken angenehm, sich den Weg nicht alleine durch die Dunkelheit bahnen zu müssen, andererseits war ihr Musas Nähe nicht ganz geheuer. Erst beim Glühen der Zigarette erkannte sie, dass er sich einen Bart wachsen ließ, der noch nicht so dicht gelingen wollte wie erwünscht. Sie musste schmunzeln.

– Na ja, es treibt sich in letzter Zeit alles Mögliche an Gesindel in unserer Gegend herum. Ungläubige und Gotteslästerer.

Diese Worte klangen aus seinem Mund etwas befremdlich; ihr fiel ein, dass Mutter und ihre Cousins erzählt hatten, dass Musa sich im Gemeindezentrum sehr stark für den Bau der neuen Moschee einsetzte und sein Vater den Großteil des Baus finanzieren wollte. Sie konnte den leichtsinnigen, albernen, zappeligen Musa nicht mit einem gottesfürchtigen und streng gläubigen Moslem in Verbindung bringen. Sie setzte sich in Bewegung und ärgerte sich darüber, dass sie nicht auf Mutter gehört hatte und keine Taschenlampe dabeihatte. Sterne waren nicht da, um ihr den Weg auszuleuchten, überhaupt schien alles verschwunden, verschluckt von dem dichten Nebel und der so urplötzlich hereingebrochenen Dunkelheit. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Eine ungewohnte Spannung lag in der Luft, die sie sich nicht anders erklären konnte als durch das Wetter. Musa folgte ihr stumm.

– Wirklich, vielen Dank, aber ich laufe lieber alleine …

– Ich muss dich nach Hause bringen, ich bin es deiner Mutter schuldig.

– Warum das jetzt?

– Ihr ist schon genug Unglück geschehen!

Der Satz hatte einen bitteren und frostigen Beigeschmack. Sie wollte etwas erwidern, aber sie hatte keine Kraft. Sie wollte nichts mehr rechtfertigen, erklären, niemanden in Schutz nehmen. Es war ihr egal, was in der Vergangenheit gewesen war, es war ihr egal, was Vater für Probleme hatte, es war ihr egal, wohin er gegangen war, es war ihr egal, wie beschämend all das für Mutter war, sie wollte nicht mehr zurückschauen müssen, sie wollte nach vorne blicken, sie wollte ihren Blick über die Ränder dieser Welt richten. Schweigend liefen sie am Gemeindezentrum und an dem ehemaligen Gastronom vorbei, es herrschte gespenstische Stille, die Laute, die Geräusche, sogar das Atmen schien dieser verdammte Nebel zu fressen, als wäre er nicht satt, bis er die ganze Welt aufgegessen hätte.

– Du solltest dir langsam ein Tuch zulegen, sagte er, immer noch ein paar Schritte hinter ihr, und sie fühlte sich auf eine merkwürdige Art ertappt, als hätte er etwas gesehen, was nicht für seine Augen bestimmt war. Sie zupfte aus Verlegenheit an ihrem Mantel.

– Was ist mit dir los?

Sie konnte sich nicht weiter beherrschen, der Vorwurf, der lauter geriet als gewollt, huschte ihr einfach so über die Lippen.

– Was soll denn das heißen, was mit mir los ist … ich … ich …

Plötzlich fing er an zu stammeln, als hätte er sich an seinem eigenen Gedanken verschluckt. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm ins Gesicht. Sie erriet mehr, als sie sah, und dennoch konnte sie seine Angst spüren, oder war es etwas anderes, das man fast riechen konnte, war es Scham? Und er beugte seinen Kopf, brachte sein Gesicht plötzlich so nah an ihres, dass sie vor Schreck erstarrte, kein Junge, kein Mann war ihr bislang so nahe gekommen, auch dies verboten die Ahnen, und sie wusste nicht, was er vorhatte, und war hin- und hergerissen zwischen Neugier und Abscheu. Würde er sich trauen? Würde er seinen feuchten Mund, seine vollen Lippen auf die ihren legen, und würde er genauso schmecken wie Juan Carlos del Villar Montenegro? Wollte sie es überhaupt? Wollte sie ihren ersten Kuss von Musa Osmajew erhalten? Hatte sie nicht stets von etwas Aufregendem geträumt? Aber irgendwie fing ja jeder an, auch María hatte irgendwie angefangen. Sie verharrte so, in Erwartung, ihr drehte sich der Magen um, es fühlte sich so an, als führe sie Karussell. Aber im gleichen Augenblick hörte sie die schweren Flügel eines großen Vogels die Luft durchschneiden und schreckte zurück. Musa hatte den Kopf nach oben gerichtet, und sie wusste bereits, dass er seinen sehnlichsten Wunsch in die Knie gezwungen und gezähmt hatte, jetzt würden sie wieder wortlos den Weg fortsetzen.

Vielleicht war es ein Gänsegeier. Vielleicht auch ein fremder schwarzer Vogel, der Unglück witterte, wie in den Geschichten, die manchmal die Alten erzählten. Da gab es immer einen schwarzen Vogel, der herbeigeflogen kam, wenn etwas Unheilvolles im Gange war, eine Art Warnsignal, das dann aber niemand hörte und niemand sah, außer der zur Tatenlosigkeit verdammte Erzähler.

– Musa …, sie sprach seinen Namen aus, und plötzlich hatte er einen ganz anderen, einen bedrohlichen Klang. Die vier Buchstaben sprangen ihr nicht mehr so locker von der Zunge.

– Also …, setzte er an und entfernte sich schlagartig von ihr, als gelte es von nun an, immer eine vorgegebene Distanz zwischen ihren Körpern einzuhalten. Also, wenn die Moschee fertig ist, dann fang ich mit dem Hausbau an.

– Welchem Hausbau?

Sie setzte sich wieder in Bewegung, es war leichter so, er lief hinter ihr.

– Meinem.

– Ach so?

– Ja, unten am Fluss, direkt am Hang, dort ist die fruchtbarste Erde. Dort, wo früher der alte Pankow lebte.

– Wo ist der denn hin?

– Ist doch egal.

– Nein, ich würde es gerne wissen; wo du seinen Namen erwähnst, fällt er mir wieder ein, ich habe so lange nicht mehr an ihn gedacht. Wie oft wir damals in seinen Garten geklettert sind und die Birnen geklaut haben, erinnerst du dich?

– Ja, natürlich.

– Völlig idiotisch, ich meine, auch bei uns im Garten gab es Birnen, aber seine schmeckten besonders gut, zumindest bildeten wir es uns ein, stimmt’s?

– Ja. Irgendwie schon.

Plötzlich war die Leichtigkeit jener Tage wieder da, sie konnte sie in ihrem Körper spüren, wie gerne sie auch Musa davon etwas abgegeben hätte, wie gerne sie ihm die Zunge rausgestreckt, ihn geschubst, mit ihm um die Wette gerannt wäre. Aber sie hatte in den letzten Jahren gelernt, der Welt mit Misstrauen zu begegnen. Sie konnte nicht mehr unüberlegt handeln, das war wohl der Preis des Erwachsenwerdens.

– Und wie gut er mit den Tieren war. Er konnte alle Tierkrankheiten heilen.

– Na ja.

– Nein, wirklich, er war der beste Tierarzt der Region. Und erinnerst du dich, wie gerne er die Lesginka tanzen wollte und es nie richtig hingekriegt hat?

– Russen können keine Lesginka tanzen, sie haben es nicht im Blut.

– Wieso sagst du das?

– Was?

– Ich meine, er war so nett zu uns, wieso machst du ihn schlecht?

– Ist doch egal. Ich wollte was anderes …

– Nein, ist nicht egal! Du sollst ihn nicht schlechtmachen.

– Tue ich doch gar nicht. Ist ja gut.

– Nein, machst du sehr wohl. Und genau aus dem Grund ist auch Natalia Iwanowna weggegangen. Weil sie alle nur noch angestarrt haben, als hätte sie die Pest.

– Du meinst die verrückte Russin aus der Scheune?

– Sie war keine verrückte Russin, sie war meine Freundin!

– Sie war komisch.

– Du kanntest sie überhaupt nicht.

– Ist ja gut, jetzt beruhige dich.

– Nein, ich will mich nicht beruhigen, ich bin es leid … Woher weißt du das immer? Woher willst du immer wissen, was richtig und falsch ist, was gut und was schlecht ist? Zweifelst du nie, dass du vielleicht im Unrecht sein könntest?

– Wieso sollte ich?

– Weil du auch nur ein Mensch bist.

– Ist dir eigentlich klar, was die Russen mit uns gemacht haben? Ist dir klar, dass deine Großmutter und mein Großvater 1944 mit einer halben Million Nachtschi nach Kasachstan deportiert wurden und erst nach Stalins Tod zurückkehren durften? Ich meine alle, er wollte sie alle weghaben, das musst du dir mal vorstellen! Seit Jahrhunderten wollen sie uns am liebsten ausrotten, sie haben uns unserem Gott abschwören lassen, sie …

– Musa, aber das haben doch nicht Pankow oder Natalia Iwanowna gemacht?

– Das spielt keine Rolle. Sie sind zu uns gekommen, haben sich genommen, was uns gehörte, haben sich hier breitgemacht, haben uns eingeredet, wir wären Menschen zweiter Klasse, aber jetzt sind wir dran. Wir lassen uns nicht mehr unterjochen. Wir sind ein Kriegervolk, darauf müssen wir uns wieder besinnen, müssen uns erinnern, wer wir sind und woher wir kommen und dann …

– Und dann?

– Dann sind wir an der Reihe.

Wie zwei Blinde bahnten sie sich den Weg durch die Dunkelheit, sie erreichten die Metzgerei und bogen nach links ab, Richtung Bushaltestelle, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden war, passierten dann die Wehrturmruinen, von da aus würden sie auf die Hauptstraße gelangen, dort gab es ein paar Laternen, die aller Wahrscheinlichkeit nach funktionierten, und ab da, hoffte sie, würde sie alleine weitergehen können. Er hatte wieder abrupt aufgehört zu reden, als hätte er den Faden verloren, aber ihr war es nur recht, sie verstand ihn nicht, sie wollte ihn nicht verstehen, sie wollte nicht schon wieder alles der Vergangenheit unterordnen, sie wollte nichts von Taips und Adat hören.

– Ich werde dort mein Haus bauen. Und dann …

Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand, wovon er sprach, bis sie sich daran erinnerte, dass er etwas von fruchtbarem Boden erzählt hatte. Sie drückte den Stoffsack mit dem Mehl gegen die Brust und beschleunigte den Schritt.

– Wieso willst du denn ausziehen? Ich meine, euer Haus ist doch groß genug, fragte sie eher aus Höflichkeit, nicht weil es sie wirklich interessierte.

– Weil ich heiraten werde und meine Brüder im Haus bleiben sollen.

– Heiraten? Du?

Irgendwie wirkte dieser Gedanke absurd, sie sah den stets unruhigen, zappeligen kleinen Jungen, der zufällig in den Körper eines Mannes geraten war, der immer Blödsinn im Kopf hatte, alle Jungs aus dem Dorf zu verschiedenen Streichen anstiftete und alle Mädchen ärgerte, und ausgerechnet der wollte nun eine Familie gründen? Das erschien ihr vollkommen unpassend, und sie lachte auf. Er blieb stehen. Sie hatte ihn gekränkt.

– Ist ja gut, sei doch nicht gleich beleidigt. So habe ich das nicht gemeint. Und wer soll die Glückliche sein?

– Du.

Zuerst entfuhr ihr ein weiteres Lachen, aber bevor sie zu Ende lachen konnte, verstummte sie und machte ein Gesicht wie ein Fisch an Land, mit offenem Mund, nach Luft schnappend. Zum Glück war es dunkel, zum Glück war er einen Schritt vorausgegangen.

– Mein Vater wird nächste Woche mit deiner Mutter reden.

Er sprach leise, aber klar, bedacht, als hätte er all die Worte bereits oft genug geübt.

– Das ist vollkommen unnötig, unterbrach sie ihn und eilte voran, überholte ihn und beschleunigte immer mehr den Schritt, bis sie fast rannte.

– Hey, warte … Was heißt denn unnötig?

– Ich werde dich nicht heiraten. Ich werde überhaupt nicht heiraten. Ich ziehe weg.

– Wie? Wohin?

– Erst mal vielleicht nach Grosny. Ich muss nur ein paar Wochen warten, bis ich achtzehn werde, und dann …

– Aber, aber …, stammelte er. – Das geht nicht.

– Wieso geht das nicht?

– Das gehört sich nicht. Außerdem wird deine Familie …

– Das spielt keine Rolle.

Sie lief weiter, und plötzlich schien die Dunkelheit gar nicht mehr so gefährlich, im Gegenteil, sie bot ihr Schutz und nahm sie in ihre Obhut. Sie rannte und rannte in Richtung Hauptstraße und hörte Musa schnaufend hinter sich herrennen.

– Nura, warte, Nura!

Früher war er schneller gewesen, dass er sich jetzt schwer damit tat, sie einzuholen, zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen, das er nicht sehen konnte. Entweder er war langsamer geworden, oder sie hatte gelernt, mit dem Wind Schritt zu halten.

– Aber ich liebe dich!, hörte sie ihn auf einmal nahezu schreien, und die Worte hallten noch lange nach.

Sie blieb stehen. Etwas in ihr zog sich zusammen. Etwas riss ab. Er tat ihr leid, und zugleich freute sie sich über das Geschenk, das er ihr machte, auch wenn sie es nicht annehmen konnte und wollte. Sie war froh, dass er etwas sagte, das von ihm kam und nicht angelernt war, das nicht vorbestimmt und durch die Ahnen diktiert wurde. Sie empfand so etwas wie Dankbarkeit und hätte ihm um ein Haar einen Kuss auf die Wange gedrückt, aber nein, das könnte falsch gedeutet werden. Das Schwierigste im Leben, so verriet es ihr einmal Natalia Iwanowna, sei die große Mühe, die man aufwenden müsse, um im Alltag nicht man selbst zu sein.

– Danke.

Sie wusste nicht, wieso sie sich bedankte, auch begriff sie, dass das Wort zu dieser Situation überhaupt nicht passte und Musa sich darüber ärgern würde, aber ihr war nichts Besseres eingefallen.

– Hast du mir zugehört?

Jetzt mischte sich Wut in seine Stimme.

– Ja, habe ich, und das ist schön, aber ich werde dich trotzdem nicht heiraten. Ich muss jetzt wirklich heim, meine Mutter wird sich Sorgen machen, und ich will nicht, dass sie einen meiner idiotischen Cousins losschickt, um mich zu suchen.

– Du solltest nicht so reden …

– Wie so?

– So arrogant.

– Das ist nicht arrogant. Das ist ehrlich.