Die Ketzer des Wüstenplaneten - Frank Herbert - E-Book

Die Ketzer des Wüstenplaneten E-Book

Frank Herbert

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Beschreibung

Unter Gottkaiser Leto II. wurde die Menschheit über die Galaxis verstreut. Nun kehrt sie aus der Diaspora zurück, und der Orden der Bene Gesserit sieht sich mit neuen Technologien und neuen Mächten konfrontiert. Da taucht aus der Wüste des Planeten Arrakis ein Mädchen auf, das mit geheimnisvollen Kräften über Shai-Hulud, den riesigen Sandwurm, gebieten kann ...

Frank Herberts »Wüstenplanet«-Romane, das erfolgreichste Science-Fiction-Epos aller Zeiten, in der neuen Übersetzung von Jakob Schmidt.

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Das Buch

Eineinhalb Jahrtausende sind vergangen, seit Leto II., der Gottkaiser des Wüstenplaneten, bei einem Attentat getötet wurde. Nach seinem Tod zerfiel sein Imperium, und Milliarden von Menschen mussten ihre Heimatwelten verlassen und in die unendlichen Weiten der Galaxis aufbrechen. Der Planet Arrakis, der jetzt Rakis genannt wird, hat sich wieder in eine Wüstenwelt verwandelt, auf der eine Priesterschaft das Andenken an Leto bewahrt. Doch auf Rakis gibt es auch wieder Sandwürmer, die das sagenumwobene Gewürz produzieren, und das weckt die Begehrlichkeiten der Bene Gesserit und der Bene Tleilax, die im Geheimen um die Vorherrschaft kämpfen. Als die mysteriösen Geehrten Matres, abtrünnige Bene Gesserit, in diesen Machkampf eingreifen, tritt auf Rakis plötzlich die junge Sheeana in Erscheinung, die offenbar in der Lage ist, die Sandwürmer zu kontrollieren – und ein erbitterter Wettlauf um die Macht über den Wüstenplaneten beginnt.

Mit Der Wüstenplanet schrieb Frank Herbert den berühmtesten und erfolgreichsten Science-Fiction-Roman aller Zeiten. Von David Lynch erstmals verfilmt, lief 2021 die spektakuläre Neuverfilmung von Denis Villeneuve in den Kinos. Herbert ließ seinem Roman mehrere Fortsetzungen folgen, in denen er seine Weltenschöpfung auf faszinierende Weise ausbaute.

Der Autor

Frank Herbert (1920–1986) wurde in Tacoma, Washington geboren. Nach einem Journalismus-Studium arbeitete er unter anderem als Kameramann, Radiomoderator, Dozent und Austerntaucher, bevor 1955 sein Debütroman The Dragon in the Sea zur Fortsetzung in einem Science-Fiction-Magazin veröffentlicht wurde. Der Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm schließlich Mitte der 1960er-Jahre mit seinem Roman Der Wüstenplanet, der sowohl mit dem Hugo Award als auch dem Nebula Award ausgezeichnet wurde. Bis heute gilt Der Wüstenplanet zusammen mit den Nachfolgeromanen als einzigartige literarische Weltenschöpfung, die jede Generation von Leserinnen und Lesern neu für sich entdeckt.

FRANK HERBERT

DIE KETZER DES

WÜSTEN

PLANETEN

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: HERETICS OF DUNE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Neuausgabe 11/2023 Redaktion: Alexander Martin Copyright © 1984 by Herbert Properties LLC Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von Yuriy Mazur/Shutterstock Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-25828-3V001

www.diezukunft.de

Die meisten Disziplinen sind verborgene Disziplinen, geschaffen, nicht um zu befreien, sondern um zu beschränken. Frag nicht »Warum?«. Sei vorsichtig mit dem »Wie?«. Das »Warum?« führt unausweichlich in ein Paradox. Das »Wie?« sperrt dich in einem Universum aus Ursache und Wirkung ein. Beide Fragen stellen das Unendliche in Abrede.

– Die Apokryphen von Arrakis

»Taraza hat Sie darauf hingewiesen, dass wir bereits elf dieser Duncan-Idaho-Gholas verbraucht haben, nicht wahr? Das hier ist der zwölfte.«

Die alte Ehrwürdige Mutter Schwangyu ließ bei diesen Worten bewusst ihre Verbitterung durchklingen, während sie von der Brüstung im dritten Stock auf das Kind hinabsah, das allein auf dem Rasen im Innenhof spielte. Die grelle Mittagssonne des Planeten Gammu wurde von den weißen Außenmauern reflektiert, sodass es wirkte, als hätte man einen Scheinwerfer auf den jungen Ghola dort unten gerichtet.

Verbraucht, dachte die Ehrwürdige Mutter Lucilla. Sie gestattete sich ein kurzes Nicken. Wie kalt und unpersönlich Schwangyus Tonfall und Wortwahl doch waren. Wir haben unsere Vorräte erschöpft – schickt uns mehr!

Dem äußeren Anschein nach war der Junge auf dem Rasen etwa zwölf Standardjahre alt, aber bei einem Ghola, der seine Erinnerungen noch nicht zurückerlangt hatte, konnte der Schein trügen. In genau diesem Moment blickte der Ghola zu den beiden Ehrwürdigen Müttern auf. Er war von kräftiger Gestalt und sah sie unter seinem schwarzen Haarschopf mit einem direkten Blick durchdringend an. Zu seinen Füßen warf das gelbe Licht der Frühlingssonne einen kleinen Schatten. Seine Haut war gebräunt, doch als sein blauer Einteiler bei einer Bewegung verrutschte, erkannte man, wie blass seine linke Schulter war.

»Diese Gholas sind nicht nur teuer, sondern auch sehr gefährlich«, sagte Schwangyu. Ihre Stimme war völlig emotionslos, was ihr umso mehr Macht verlieh. Es war die Stimme einer Leitenden Ehrwürdigen Mutter, die das Wort an eine ihr untergebene Akoluthin richtete, und diese Stimme teilte Lucilla mit, dass Schwangyu zu jenen gehörte, die offen Einspruch gegen das Ghola-Projekt erhoben.

Taraza hatte Lucilla gewarnt: »Sie wird versuchen, dich auf ihre Seite zu ziehen.«

»Elf Fehlschläge sind genug«, sagte Schwangyu.

Lucilla warf einen Blick auf Schwangyus zerfurchtes Gesicht und dachte: Eines Tages bin auch ich alt und grau. Und vielleicht werde ich dann ebenfalls eine mächtige Position bei den Bene Gesserit bekleiden.

Schwangyu war eine kleine Frau, deren Gesicht von ihrem langen Dienst an der Schwesternschaft gezeichnet war. Aus den Recherchen für ihre Mission wusste Lucilla, dass sich unter Schwangyus schwarzer Robe eine dürre Gestalt verbarg, die abgesehen von ihren Ankleiderinnen und der Männer, mit denen man sie gepaart hatte, praktisch niemand je zu Gesicht bekommen hatte. Schwangyu hatte einen breiten Mund, und ihre Unterlippe wurde von den Falten eingefasst, die fächerartig in ein vorspringendes Kinn ausliefen. Ihre schroffe, wortkarge Art wurde von Uneingeweihten nicht selten als ein Zeichen von Verärgerung interpretiert. Die Befehlshaberin der Gammu-Festung lebte zurückgezogener als die meisten anderen Ehrwürdigen Mütter.

Einmal mehr wünschte sich Lucilla, alles über das Ghola-Projekt zu wissen, was es zu wissen gab, aber was das betraf, hatte Taraza eine klare Linie gezogen: »Wir können Schwangyu nicht vertrauen, wenn es um die Sicherheit des Gholas geht.«

Jetzt sagte Schwangyu: »Wir glauben, dass die Tleilaxu selbst die meisten der bisherigen elf getötet haben. Allein das sollte uns zu denken geben.«

Lucilla übernahm Schwangyus nahezu emotionslose Wartehaltung und brachte damit zum Ausdruck: Ich bin vielleicht viel jünger als Sie, Schwangyu, aber auch ich bin eine vollwertige Ehrwürdige Mutter. Sie spürte Schwangyus auf sie gerichteten Blick.

Schwangyu hatte Holoaufnahmen von Lucilla gesehen, aber in Fleisch und Blut wirkte die Frau weitaus befremdlicher. Zweifellos war sie eine hervorragend ausgebildete Prägerin. Ihre ganz und gar blauen Augen, die nicht durch Linsen korrigiert wurden, verliehen ihrem Blick einen stechenden Ausdruck, der zu ihrem langen, ovalen Gesicht passte. Wenn, wie jetzt, die Kapuze ihrer schwarzen Aba-Robe zurückgeschlagen war, sah man ihr braunes Haar, das ihr, von einer Spange zusammengehalten, bis auf den Rücken fiel. Und nicht einmal die strengste Robe von allen hätte ihre vollen Brüste verbergen können. Lucilla stammte aus einer für ihren mütterlichen Charakter berühmten genetischen Linie und hatte der Schwesternschaft schon drei Kinder geboren, zwei vom gleichen Erzeuger. Ja – sie war eine braunhaarige Verführerin mit vollen Brüsten und mütterlicher Disposition.

»Sie reden nicht viel«, sagte Schwangyu. »Das sagt mir, dass Taraza Sie vor mir gewarnt hat.«

»Gibt es Grund zu der Annahme, dass dieser zwölfte Ghola von Meuchelmördern umgebracht werden soll?«, fragte Lucilla.

»Sie haben es bereits versucht.«

Merkwürdig, wie einem bei dem Gedanken an Schwangyu das Wort »Ketzerei« in den Sinn kommt, dachte Lucilla. Aber konnte es unter den Ehrwürdigen Müttern Ketzerei geben? Im Zusammenhang mit den Bene Gesserit wirkte die religiöse Konnotation des Wortes völlig fehl am Platz. Waren ketzerische Anwandlungen bei Menschen, die sämtlichen Fragen der Religion mit einer grundsätzlich manipulativen Haltung begegneten, nicht ausgeschlossen?

Lucilla wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Ghola unter ihnen zu, der gerade auf dem Rasen ein Rad nach dem anderen schlug, einmal im Kreis herum. Dann sah er erneut zu den beiden Ehrwürdigen Müttern hoch.

»Was für eine hübsche Vorstellung!«, zischte Schwangyu. Ihre alte Stimme hatte einen grausamen Unterton.

Lucilla warf Schwangyu einen kurzen Blick zu. Ketzerei. Abweichlertum war nicht das richtige Wort. Auch Gegnerschaft umfasste nicht alles, was sie bei der älteren Frau wahrnahm. Es war etwas, das die Bene Gesserit vernichten konnte. Aber ein Aufstand gegen Taraza, die Ehrwürdige Mutter Oberin? Undenkbar! Mütter Oberinnen waren Monarchen nachempfunden. Hatte sich Taraza beraten lassen und dann ihre Entscheidung getroffen, waren die Schwestern zum Gehorsam verpflichtet.

»Es ist nicht die Zeit, um neue Probleme zu schaffen«, sagte Schwangyu.

Es war klar, was sie damit meinte. Die Menschen aus der Zerstreuung kamen zurück, und die Absichten einiger dieser Verlorenen stellten eine Bedrohung für die Schwesternschaft dar. Die Geehrten Matres! Wie sehr diese Bezeichnung doch nach »Ehrwürdige Mütter« klang.

Lucilla wagte einen Ausfall, um mehr in Erfahrung zu bringen. »Sie meinen, wir sollten uns ganz auf das Problem dieser Geehrten Matres aus der Zerstreuung konzentrieren?«

»Konzentrieren? Ha! Sie verfügen weder über unsere Kräfte noch über gesunden Menschenverstand. Und sie haben die Melange nicht gemeistert! Das ist es, was sie von uns wollen, unser Wissen über das Gewürz.«

Lucilla nickte. »Das mag sein.« Unumwunden zustimmen wollte sie Schwangyus Aussage angesichts der dürftigen Beweislage jedoch nicht.

»Mutter Oberin Taraza ist von allen guten Geistern verlassen, wenn sie jetzt ihre Zeit mit diesem Ghola-Unsinn verschwendet.«

Lucilla schwieg. Das Ghola-Projekt hatte bei den Schwestern einen alten Nerv getroffen. Die Möglichkeit, so entfernt sie auch sein mochte, einen neuen Kwisatz Haderach zu erschaffen, rief Wut und Angst in ihren Reihen hervor. Mit den wurmgebundenen Überresten des Tyrannen herumzuspielen! Das war extrem gefährlich.

»Wir sollten diesen Ghola niemals nach Rakis bringen«, sagte Schwangyu. »Lassen wir schlafende Würmer ruhen.«

Erneut wandte Lucilla ihre Aufmerksamkeit dem Ghola-Kind zu. Der Junge hatte der Brüstung, auf der die beiden Ehrwürdigen Mütter standen, den Rücken zugekehrt, doch etwas an seiner Haltung verriet, dass er wusste, worüber sie redeten, und dass er ihre Reaktion abwartete.

»Ihnen ist bestimmt klar, dass man Sie zu früh hierher gerufen hat«, sagte Schwangyu. »Er ist noch zu jung.«

»Ja. Ich habe noch nie von einer tiefen Prägung bei jemand so jungem gehört.« Lucilla gestattete sich einen selbstironischen Unterton, von dem sie wusste, dass ihn Schwangyu falsch deuten würde. Die Verwaltung der Fortpflanzung und aller Notwendigkeiten, die damit zusammenhingen, war die ultimative Spezialität der Bene Gesserit. Setze die Liebe für deine Zwecke ein, aber meide sie für dich persönlich – das war es, was Schwangyu jetzt dachte. Aus ihren Analysen kannte die Schwesternschaft die Wurzeln der Liebe. Sie hatte sie schon früh erforscht, es aber nie gewagt, sie denen, auf die sich ihr Einfluss erstreckte, wegzuzüchten. Man musste die Liebe als Tatsache hinnehmen, sich aber vor ihr schützen, so lautete die Regel. Man musste wissen, dass sie tief im menschlichen Erbgut verankert war, ein Sicherheitsnetz für den Fortbestand der Spezies. Man setzte sie ein, wenn es nötig war, prägte ausgewählte Individuen (manchmal wechselseitig) für die Zwecke der Schwesternschaft und wusste, dass diese Individuen mächtige Bande knüpfen würden, die dem normalen Bewusstsein nicht ohne Weiteres zugänglich waren. Anderen fielen solche Bande vielleicht auf, sodass sie ihre Auswirkungen mitverfolgen konnten, aber die miteinander verbundenen Individuen selbst tanzten zu einer ihnen unbewussten Musik.

»Ich wollte damit nicht sagen, dass es ein Fehler wäre, ihn zu prägen«, sagte Schwangyu, die Lucillas Schweigen missverstand.

»Wir tun, was uns befohlen wird«, erwiderte Lucilla trocken. Sollte Schwangyu ihre Worte doch auffassen, wie sie wollte!

»Dann haben Sie also nichts dagegen, dass der Ghola nach Rakis gebracht wird. Ich frage mich, ob Sie weiter stumm gehorchen würden, wenn Ihnen die ganze Wahrheit bekannt wäre.«

Lucilla holte tief Luft. Würde sie nun von den umfassenderen Plänen für den Duncan-Idaho-Ghola erfahren?

»Auf Rakis existiert ein weibliches Kind namens Sheeana Brugh«, sagte Schwangyu. »Sie besitzt die Fähigkeit, die Riesenwürmer zu kontrollieren.«

Lucilla versuchte, ihre Erschütterung zu verbergen. Riesenwürmer. Nicht Shai-Hulud. Nicht Shaitan. Riesenwürmer! Die Sandreiterin, die der Tyrann vorhergesagt hatte, hatte endlich die Bühne betreten!

»Das ist kein bloßes Gerede«, sagte Schwangyu, als Lucilla weiter schwieg.

Nein, das ist es wahrlich nicht, dachte Lucilla. Man bezeichnet etwas mit einem beschreibenden Wort, nicht mit dem Namen, der seine mystische Bedeutung transportiert. Riesenwürmer. Und man denkt dabei tatsächlich an den Tyrannen, Leto II., dessen endlosen Traum jeder dieser Würmer in sich trägt – als Perle des Bewusstseins. Das jedenfalls sollen wir glauben.

Schwangyu deutete mit einer Kopfbewegung auf das Kind unter ihnen. »Meinen Sie, dass der Ghola in der Lage sein wird, Einfluss auf das Mädchen zu nehmen, das die Würmer kontrolliert?«

Nun wird die Zwiebel endlich geschält, dachte Lucilla. »Ich brauche keine Antwort auf eine solche Frage«, sagte sie.

»Sie sind wirklich vorsichtig.«

Lucilla straffte ihren Rücken. Vorsichtig? Ja, allerdings! Schließlich hatte Taraza sie gewarnt: »Wenn es um Schwangyu geht, musst du mit höchster Vorsicht, aber auch rasch handeln. Wir haben nur ein sehr kleines Zeitfenster, in dem uns Erfolg beschieden sein kann.« Aber Erfolg womit? Lucilla warf Schwangyu einen Blick zu. »Ich verstehe nicht, wie es den Tleilaxu gelungen sein soll, elf dieser Gholas zu töten. Wie konnten sie unsere Verteidigungsmaßnahmen überwinden?«

»Wir haben jetzt den Baschar. Vielleicht kann er ja eine weitere Katastrophe verhindern.« Schwangyus Tonfall verriet, dass sie ihren eigenen Worten nicht glaubte.

Taraza hatte gesagt: »Du bist die Prägerin, Lucilla. Wenn du nach Gammu kommst, wirst du einen Teil des Musters erkennen. Aber für deine Aufgabe musst du nicht alles überblicken.«

»Denken Sie nur einmal daran, was uns das kostet!«, sagte Schwangyu und starrte finster auf den Ghola hinab, der sich in die Hocke gesetzt hatte und an Grasbüscheln zupfte.

Lucilla wusste, dass es nicht um die Kosten ging. Von weit größerer Bedeutung war das Eingeständnis eines Fehlschlags. Die Schwesternschaft durfte ihre Fehlbarkeit nicht offen zeigen. Doch der Umstand, dass man zu früh eine Prägerin bestellt hatte, war entscheidend. Taraza hatte gewusst, dass die Prägerin dadurch einen Teil des Musters erkennen würde.

Schwangyu deutete mit ihrer knochigen Hand auf das Kind, das sich nun wieder seinem einsamen Spiel zugewandt hatte und über das Gras tollte. »Politik«, murmelte sie.

Ja, zweifellos war Politik die Ursache von Schwangyus Ketzerei, dachte Lucilla. Wie delikat die internen Streitigkeiten der Schwesternschaft waren, konnte man daraus ersehen, dass Schwangyu die Leitung der Festung auf Gammu übertragen worden war. Die, die sich gegen Taraza stellten, ließen sich nicht so einfach zur Seite schieben.

Schwangyu wandte sich um und sah Lucilla an. Sie hatten genug geredet, hatten genug gehört, hatten jedes Wort mithilfe ihrer Bene-Gesserit-Ausbildung bewertet. Die Ordensburg hatte diese Lucilla sorgfältig ausgewählt.

Lucilla spürte, wie die ältere Frau sie intensiv beobachtete. Sie ließ sich dadurch jedoch nicht von ihrer Fokussierung abbringen – jene Gabe, auf die sich jede Ehrwürdige Mutter in schwierigen Zeiten verlassen konnte. Soll sie doch alles sehen. Lucilla wandte sich ebenfalls um und setzte ein sanftes Lächeln auf, wobei sie den Blick über das gegenüberliegende Dach schweifen ließ.

Ein Uniformierter mit einer schweren Lasgun in der Hand erschien dort. Er sah kurz zu den beiden Ehrwürdigen Müttern hinüber und dann auf das Kind hinunter.

»Wer ist das?«, fragte Lucilla.

»Patrin, der treueste Gehilfe des Baschars. Er sagt, er wäre nur der Laufbursche des Baschars, aber wer das glaubt, ist ein blinder Narr.«

Lucilla begutachtete den Mann auf der anderen Seite. Das also war Patrin. Taraza zufolge war er auf Gammu geboren. Der Baschar persönlich hatte ihn für diese Aufgabe ausgewählt. Er war dünn und blond und inzwischen viel zu alt, um Soldat zu sein, aber den Baschar hatte man ja ebenfalls aus dem Ruhestand geholt, und er hatte darauf bestanden, dass ihm Patrin zur Seite stand.

Schwangyu bemerkte, wie Lucillas Aufmerksamkeit von Patrin auf den Ghola umschwenkte. Ja, wenn man den Baschar zurückgeholt hatte, um diese Festung zu bewachen, dann war der Ghola wirklich in höchster Gefahr.

Unvermittelt zuckte Lucilla zusammen. »Er macht …«

»Auf Befehl von Miles Teg«, sagte Schwangyu und sprach damit den Namen des Baschars aus. »Alle Spiele des Gholas sind Trainingsspiele. Seine Muskeln werden auf den Tag vorbereitet, an dem ihm sein altes Ich zurückgegeben wird.«

»Aber das ist nicht irgendeine Übung, die er da macht.« Lucilla spürte, wie sich ihre eigenen Muskeln an die Ausbildung erinnerten.

»Wir enthalten diesem Ghola nur die tiefsten Geheimnisse der Schwesternschaft vor. Davon abgesehen ist ihm unser gesamter Wissensschatz zugänglich.« Schwangyus Tonfall verriet, dass sie von dieser Entscheidung ganz und gar nichts hielt.

»Aber es glaubt doch niemand, dass aus diesem Ghola ein neuer Kwisatz Haderach werden könnte.«

Schwangyu zuckte nur mit den Schultern.

Lucilla stand reglos da und dachte nach. War es wirklich möglich, dass dieser Ghola zur männlichen Entsprechung einer Ehrwürdigen Mutter werden würde? Konnte dieser Duncan Idaho lernen, den Blick nach innen zu richten, an jenen Ort, den keine Ehrwürdige Mutter zu betreten wagte?

Schwangyu sagte mit verdrießlicher, beinahe knurrender Stimme: »Die Struktur dieses Projekts – dahinter steckt ein gefährlicher Plan. Womöglich machen sie denselben Fehler noch einmal …« Sie brach ab.

Sie, dachte Lucilla. Ihr Ghola. »Ich wüsste zu gerne, wie Ix und die Fischsprecherinnen zu dieser Sache stehen.«

»Die Fischsprecherinnen!« Bei dem Gedanken an die Überreste jener Frauenarmee, die einst dem Tyrannen gedient hatte, schüttelte Schwangyu den Kopf. »Sie glauben an Wahrheit und Gerechtigkeit.«

Mit einem Mal schnürte sich Lucillas Kehle zusammen. Schwangyu hatte sich offen zu ihrer Opposition bekannt. Und dennoch hatte sie hier das Kommando inne. Die politische Regel war einfach: Jene, die das Projekt ablehnen, müssen es überwachen, sodass sie es beim ersten Anzeichen von Problemen abbrechen können. Doch das dort unten auf dem Rasen war ein echter Duncan-Idaho-Ghola. Zellvergleiche und Wahrsagerinnen hatten es bestätigt.

Taraza hatte gesagt: »Du sollst ihn die Liebe in all ihren Formen lehren.«

Lucilla hielt ihre Aufmerksamkeit auf den Ghola gerichtet und sagte: »Er ist so jung.«

»Jung, ja«, erwiderte Schwangyu. »Ich nehme an, dass Sie zunächst seine kindlichen Reaktionen auf mütterliche Zuwendung wecken werden. Später dann …« Sie zuckte mit den Schultern.

Lucilla zeigte keine Regung. Eine Bene Gesserit gehorchte. Ich bin eine Prägerin. Also … Tarazas Befehle und die spezielle Ausbildung einer Prägerin gaben einen bestimmten Lauf der Ereignisse vor. »Es gibt eine Person, die wie ich aussieht und mit meiner Stimme spricht. Für diese Person fungiere ich als Prägerin. Darf ich fragen, um wen es sich handelt?«

»Nein.«

Lucilla senkte den Blick. Sie hatte nicht damit gerechnet, Genaueres zu erfahren, aber es war mehr als einmal erwähnt worden, dass sie der Leitenden Mutter des Sicherheitsdienstes Darwi Odrade auffallend ähnlich sah. »Eine junge Odrade.« Diese Worte hatte Lucilla mehrmals gehört. Natürlich: Lucilla und Odrade gehörten beide zur Linie der Atreides, die mit den Nachfahren Sionas stark rückgekreuzt worden war – auf diese Gene hatten die Fischsprecherinnen kein Monopol. Aber die Erweiterten Erinnerungen einer Ehrwürdigen Mutter verschafften Lucilla, der linearen Selektivität und der Beschränkung auf die weibliche Seite zum Trotz, wichtige Hinweise auf die groben Umrisse des Ghola-Projekts. Sie stützte sich inzwischen sehr auf die Erfahrungen der Jessica-Persona, die fünftausend Jahre tief in den genetischen Manipulationen der Schwesternschaft vergraben lagen, und jetzt nahm sie von dieser Seite ein großes Entsetzen wahr. Das Muster war vertraut. Es verbreitete so schlimme Vorahnungen, dass Lucilla automatisch in die stumme Litanei gegen die Angst verfiel, ganz so, wie man es ihr bei ihrer Einführung in die Riten der Bene Gesserit beigebracht hatte: »Ich darf keine Angst haben. Die Angst tötet den Geist. Die Angst ist der kleine Tod, der die völlige Vernichtung bringt. Ich werde mich meiner Angst stellen. Ich werde sie über mich hinweg- und durch mich hindurchziehen lassen. Und wenn sie vorübergezogen ist, dann richte ich mein inneres Auge auf den Weg, den sie genommen hat. Wo die Angst vorübergezogen ist, wird nichts mehr sein. Nur ich werde noch da sein.« Ihre Gelassenheit kehrte zurück.

Schwangyu, die ansatzweise spürte, was in Lucilla vorging, ließ sich für einen Moment ihre Gefühle anmerken. Lucilla war nicht dumm, sie war keine jener besonderen Ehrwürdigen Mütter mit einem leeren Titel und Kenntnissen, die gerade einmal genügten, um die Schwesternschaft nicht in Verlegenheit zu bringen. Lucilla war rundum echt, und gewisse Reaktionen ließen sich nicht vor ihr verbergen, auch nicht die einer anderen Ehrwürdigen Mutter. Nun gut, sollte sie also wissen, wie viel Widerstand es gegen dieses närrische, dieses gefährliche Projekt gab!

»Ich glaube nicht, dass der Ghola lange genug leben wird, um Rakis zu Gesicht zu bekommen«, sagte Schwangyu.

Lucilla ging nicht auf diese Bemerkung ein, sondern erwiderte: »Erzählen Sie mir von seinen Freunden.«

»Er hat keine Freunde, nur Lehrer.«

»Wann lerne ich sie kennen?« Lucilla hatte den Blick wieder auf die gegenüberliegende Brüstung gerichtet, wo Patrin lässig an einem niedrigen Pfosten lehnte, die Lasgun bereit. Und in diesem Moment begriff sie, dass Patrin sie beobachtete. Patrin war eine Botschaft des Baschars! Offensichtlich sah Schwangyu das ebenfalls und verstand. Wir wachen über ihn!

»Ich nehme an, dass Miles Teg derjenige ist, den Sie so dringend kennenlernen wollen«, sagte Schwangyu.

»Unter anderem.«

»Wollen Sie nicht erst Kontakt zu dem Ghola aufnehmen?«

»Ich habe bereits Kontakt zu ihm aufgenommen.« Mit einer Kopfbewegung deutete Lucilla in den Hof hinunter, wo das Kind einmal mehr fast bewegungslos dastand und zu ihr hochsah. »Er ist ein nachdenklicher Junge.«

Schwangyu nickte. »Bei den anderen verfüge ich nur über Berichte. Aber ich nehme an, dass er der Nachdenklichste dieser Reihe ist.«

Lucilla unterdrückte ein Schaudern angesichts der Bereitschaft zu gewalttätigem Widerstand, die sich Schwangyus Worten und ihrer Haltung entnehmen ließ. Nichts deutete darauf hin, dass das Kind zu ihren Füßen für Schwangyu ein Mensch war.

Während Lucilla das dachte, wurde die Sonne, wie so oft um diese Tageszeit, von Wolken verdeckt. Ein kalter Wind wehte über die Festungsmauern und wirbelte durch den Innenhof. Der Ghola wandte sich von den beiden Ehrwürdigen Müttern ab und beschleunigte seine Bewegungen, um sich warm zu halten.

»Wo geht er hin, wenn er allein sein will?«, fragte Lucilla.

»Meistens in sein Zimmer«, erwiderte Schwangyu. »Er hat einige gefährliche Eskapaden unternommen, doch davon konnten wir ihn abbringen.«

»Er muss uns sehr hassen.«

»Da bin ich mir sicher.«

»Damit werde ich mich befassen müssen.«

»Eine Prägerin zweifelt doch kaum an ihrer Fähigkeit, Hass zu überwinden.«

»Ich dachte an Geasa.« Lucilla warf Schwangyu einen wissenden Blick zu. »Ich finde es erstaunlich, dass Sie zugelassen haben, dass Geasa einen derartigen Fehler begeht.«

»Ich mische mich nicht in den Ablauf des Unterrichts ein. Wenn eine der Lehrerinnen eine Zuneigung zu dem Ghola entwickelt, ist das nicht mein Problem.«

»Er ist ein attraktiver Junge.«

Die beiden Ehrwürdigen Mütter standen noch eine Weile da und sahen dem Duncan-Idaho-Ghola bei seinem Trainingsspiel zu. Beide dachten kurz an Geasa, eine der ersten Lehrerinnen, die man für das Ghola-Projekt nach Gammu gebracht hatte. Schwangyus Haltung zu Geasa war klar und eindeutig: Sie war ein schicksalhafter Fehlschlag. Lucilla dachte nur: Schwangyu und Geasa haben meine Aufgabe verkompliziert. Keine der beiden Frauen dachte auch nur flüchtig daran, inwiefern sie sich mit diesen Gedanken ihre jeweiligen Loyalitäten bestätigten.

Während sie das Kind unten im Hof beobachtete, machte sich Lucilla einmal mehr klar, wie viel der tyrannische Gottkaiser doch erreicht hatte. Leto II. hatte diesen Ghola-Typus ungezählte Lebensalter lang verwendet, über dreitausendfünfhundert Jahre hinweg, einen nach dem anderen. Und der Gottkaiser war keine gewöhnliche Naturgewalt gewesen, sondern die zerstörerischste Macht, die es in der menschlichen Geschichte je gegeben hatte. Leto II. hatte alles niedergewalzt: Gesellschaftssysteme, natürliche und unnatürliche Hassgefühle, Regierungsformen, Rituale (sowohl Tabus wie auch Verpflichtungen), beiläufige und tief empfundene religiöse Praktiken. Das Gewicht des Tyrannen hatte überall seine Spur hinterlassen, auch bei den Bene Gesserit.

Leto II. hatte das als den »Goldenen Pfad« bezeichnet, und der jeweilige Duncan-Idaho-Ghola hatte bei dem Ehrfurcht gebietenden Vorüberziehen des Gottkaisers eine wichtige Rolle gespielt. Lucilla hatte die Aufzeichnungen der Bene Gesserit über diese Zeit studiert – vermutlich die beste existierende Informationsquelle. Noch heute verspritzten frisch verheiratete Paare auf den Planeten des Alten Imperiums Wassertropfen nach Osten und Westen und murmelten dabei ihre lokale Variante von »Lass Deinen Segen von dieser Gabe her auf uns kommen, oh Gott der Grenzenlosen Macht und der Grenzenlosen Gnade«.

Einst waren es die Fischsprecherinnen und ihre zahme Priesterschaft gewesen, die dafür gesorgt hatten, dass das Volk dem Gottkaiser auf diese und andere Weise die Ehre erwies. Aber die Dinge hatten ein eigenes Momentum entwickelt und waren zu einem allgegenwärtigen inneren Zwang geworden. Selbst der zögerlichste Gläubige sagte: »Schaden kann es ja nicht.« Es war eine Leistung, die die Religionskonstrukteurinnen der Missionaria Protectiva mit Ehrfurcht erfüllte. Der Tyrann hatte die besten Köpfe der Bene Gesserit übertroffen. Und auch eintausendfünfhundert Jahre nach seinem Tod konnte die Schwesternschaft immer noch nicht den zentralen Knoten seiner furchtbaren Manipulationen lösen.

»Wer ist für die religiöse Ausbildung des Jungen zuständig?«, fragte Lucilla.

»Niemand«, erwiderte Schwangyu. »Warum sollten wir uns die Mühe machen? Wenn man seine ursprünglichen Erinnerungen wiederherstellt, wird er ohnehin seine eigenen Vorstellungen haben. Mit denen befassen wir uns, wenn die Notwendigkeit dazu entsteht.«

Das Kind unter ihnen war am Ende seines Trainings angelangt. Ohne noch einmal hochzublicken, verließ es den Innenhof durch einen breiten Durchgang auf der linken Seite. Auch Patrin räumte seinen Posten und würdigte dabei die beiden Ehrwürdigen Mütter keines Blickes.

»Lassen Sie sich von Tegs Leuten nicht für dumm verkaufen«, sagte Schwangyu. »Sie haben Augen im Hinterkopf. Wie Sie wissen, war Tegs leibliche Mutter eine von uns. Er bringt diesem Ghola Dinge bei, die besser nie nach außen dringen sollten.«

Eine Explosion bedeutet zugleich eine Kompression von Zeit. Alle beobachtbaren Veränderungen im natürlichen Universum sind zu einem gewissen Grad und je nachdem, von welchem Standpunkt aus man sie betrachtet, explosiv; sonst würde man sie nicht bemerken. Ein gleichförmiger, kontinuierlicher Wandel wird, findet er nur langsam genug statt, von Beobachtern, deren Zeit/Aufmerksamkeitsspanne zu kurz ist, nicht bemerkt. Und so kann ich von mir behaupten, dass ich Veränderungen beobachtet habe, die euch entgangen sind.

– Leto II.

Die Frau, die im Morgenlicht des Ordensburgplaneten der Ehrwürdigen Mutter Oberin Alma Mavis Taraza auf der anderen Seite des Tischs gegenüberstand, war hochgewachsen und schlank. Die lange Aba-Robe, die sie von den Schultern bis zum Boden in schimmerndes Schwarz hüllte, konnte die Anmut, mit der ihr Körper jede einzelne Bewegung ausführte, nicht verbergen.

Taraza beugte sich auf ihrem Sesselhund vor und studierte die Akte, die in verdichteten Bene-Gesserit-Schriftzeichen nur für ihre Augen sichtbar auf die Tischplatte projiziert wurde.

Die Akte identifizierte die Frau als Darwi Odrade und ließ eine kurze biografische Übersicht folgen, die Taraza allerdings schon in allen Einzelheiten kannte. Die Projektion diente mehreren Zwecken – sie war eine Gedächtnisstütze für die Mutter Oberin, gestattete es ihr, gelegentlich zum Nachdenken innezuhalten, während sie so tat, als werfe sie einen Blick darauf, und lieferte ihr nicht zuletzt eine Begründung für ein abschließendes Urteil, sollte sich das Gespräch negativ entwickeln.

Odrade hatte neunzehn Kinder für die Bene Gesserit ausgetragen, teilte die Akte Taraza mit. Jedes Kind hatte einen anderen Vater. Daran war zwar nichts Ungewöhnliches, aber auch der kritischste Blick hätte keinerlei Anzeichen dafür entdeckt, dass Odrades Körper unter diesem für die Schwesternschaft so wertvollen Dienst gelitten hätte. Odrades Gesichtszüge mit der langen Nase und den kantigen Wangenknochen vermittelten natürlichen Hochmut. Sämtliche Linien liefen in einem schmalen Kinn zusammen. Ihre Lippen jedoch waren voll und versprachen eine Leidenschaft, die sie sorgfältig kontrollierte.

Auf die Atreides-Gene ist doch immer Verlass, dachte Taraza.

Odrade warf einen Blick über die Schulter, als hinter ihr ein Fenstervorhang flatterte. Sie waren in Tarazas Morgenzimmer, einem kleinen, elegant in Grüntönen gehaltenen Raum. Nur das grelle Weiß des Sesselhunds hob Taraza von diesem Grün ab. Durch das Bogenfenster hatte man einen Blick auf den Garten und den Rasen. In der Ferne glitzerten die schneebedeckten Berge des Ordensburgplaneten.

Ohne den Blick zu heben, sagte Taraza: »Ich war sehr froh, als du und Lucilla den Auftrag angenommen habt. Das macht meine Aufgabe viel leichter.«

Odrade sah auf Tarazas Kopf hinunter. »Ich hätte mich gerne mit dieser Lucilla getroffen.« Sie sprach mit einer sanften Altstimme.

Taraza räusperte sich. »Dazu besteht keine Notwendigkeit. Lucilla ist eine unserer besten Prägerinnen. Selbstverständlich habt ihr beide die identische liberale Konditionierung erhalten, um euch auf euren Einsatz vorzubereiten.«

Die Beiläufigkeit, mit der Taraza das sagte, hatte fast etwas Beleidigendes, und Odrades Verärgerung wurde nur durch den Umstand besänftigt, dass sie schon lange mit Taraza zusammenarbeitete. Sie begriff, dass sie vor allem das Wort »liberal« irritierte. Ihre Atreides-Vorfahren begehrten auf, wenn sie es hörten. Es war, als würden sich ihre gesammelten weiblichen Erinnerungen gegen die unbewussten Annahmen und unhinterfragten Vorurteile wehren, die sich hinter diesem Konzept verbargen. »Nur Liberale denken ernsthaft nach. Nur Liberale sind intellektuell. Nur Liberale verstehen die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen.« Wie viel Bösartigkeit doch in diesem Wort steckte. Welches Ego mit dem Wunsch, sich über andere zu erheben. Dann rief sich Odrade ins Gedächtnis, dass Taraza das Wort trotz ihres beleidigend beiläufigen Tonfalls in einem allgemeineren Sinne verwendet hatte: Lucillas Ausbildung war sorgfältig auf die von Odrade abgestimmt worden.

Taraza lehnte sich zurück, hielt die Aufmerksamkeit aber auf die Projektion gerichtet. Das Licht, das durch das Fenster an der Ostwand kam, fiel direkt auf ihr Gesicht und erzeugte Schatten unter der Nase und dem Kinn. Sie war eine kleine Frau und etwas älter als Odrade, doch sie hatte sich viel von jener Schönheit bewahrt, die sie einst zu einer zuverlässigen Zuchtmutter für schwierige Erzeuger gemacht hatte. Ihr Gesicht war ein langes Oval mit weichen, runden Wangen. Sie hatte das schwarze Haar zu einem festen Knoten zurückgebunden, sodass man ihre hohe Stirn mit dem spitzen Scheitel sah. Ihr Mund öffnete sich beim Sprechen kaum – ein Hinweis darauf, wie genau sie ihre Bewegungen unter Kontrolle hatte. Wer sie ansah, neigte dazu, die Aufmerksamkeit auf ihre vollkommen blauen Augen zu richten. So entstand der Eindruck einer glatten Gesichtsmaske, die fast nichts über ihre wahren Gefühle verriet.

Odrade wusste, was die Körperhaltung der Mutter Oberin zu bedeuten hatte. Gleich würde Taraza anfangen, Selbstgespräche zu führen. Und tatsächlich begann sie in diesem Moment, leise vor sich hin zu murmeln.

Die Mutter Oberin dachte nach und behielt dabei die Projektion mit Odrades biografischen Daten im Blick. Sie war mit einer ganzen Reihe von Angelegenheiten beschäftigt.

Dieser Gedanke beruhigte Odrade. Taraza glaubte nicht an irgendeine wohlmeinende Macht, die über die Menschheit wachte. In ihrem Universum kam es ausschließlich auf die Missionaria Protectiva und die Absichten der Schwesternschaft an. Was immer diesen Absichten diente, einschließlich der Machenschaften des toten Tyrannen, wurde als gut bewertet. Alles andere war böse. Eindringlingen aus der Zerstreuung – insbesondere jenen Heimkehrenden, die sich als »Geehrte Matres« bezeichneten – durfte man nicht trauen. Tarazas Weggefährtinnen, auch jene Ehrwürdigen Mütter, die sich im Rat gegen sie stellten, waren die ultimative Ressource der Bene Gesserit, das Einzige, worauf man sich verlassen konnte.

Den Blick immer noch gesenkt, sagte Taraza: »Wusstest du, dass die Abnahme größerer Konflikte, wenn man die Jahrtausende vor dem Tyrannen mit denen nach seinem Tod vergleicht, phänomenal ist? Seit dem Tyrannen ist die Zahl dieser Konflikte auf weniger als zwei Prozent gesunken, im Vergleich zur Zeit vor ihm.«

»Soweit wir wissen«, erwiderte Odrade.

Jetzt sah Taraza kurz zu ihr auf. »Wie bitte?«

»Wir können nicht wissen, wie viele Kriege geführt wurden, ohne dass wir etwas davon mitbekommen haben. Hast du Statistiken aus der Zerstreuung?«

»Natürlich nicht.«

»Du willst also sagen, dass Leto uns gezähmt hat.«

»Wenn du es so ausdrücken möchtest.« Taraza markierte etwas in der Projektion.

»Aber haben wir das nicht auch teilweise unserem geschätzten Baschar Miles Teg zu verdanken? Oder seinen talentierten Vorgängern?«

»Diese Leute haben wir ausgewählt.«

»Wie auch immer, ich wüsste nicht, was die Erörterung von Kriegen zu unserem Thema beiträgt. Was hat das mit unserem gegenwärtigen Problem zu tun?«

»Einige sind der Meinung, dass wir mit einem hässlichen Knall in den Zustand zurückkehren könnten, wie er vor dem Tyrannen herrschte.«

»Ach ja?« Odrade schürzte die Lippen.

»Mehrere Gruppen der zurückgekehrten Verschollenen verkaufen Waffen an alle, die welche wollen und sie sich leisten können.«

»Gibt es darüber genauere Informationen?«

»Hoch entwickelte Waffen überfluten Gammu, und es besteht kein Zweifel daran, dass die Tleilaxu einige der bösartigeren Exemplare horten.« Taraza rieb sich die Schläfen und fügte leise hinzu: »Wir glauben, dass wir Entscheidungen von größter Tragweite und auf der Grundlage der höchsten Prinzipien treffen.«

Auch das war Odrade nicht neu. »Zweifelt die Mutter Oberin daran, dass die Bene Gesserit im Recht sind?«

»Zweifeln? Nein. Aber ich empfinde Frustration. Unser ganzes Leben lang arbeiten wir auf diese elaborierten Ziele hin, und was stellen wir letztendlich fest? Dass ganz viele jener Dinge, denen wir unsere Leben gewidmet haben, in kleinlichen Entscheidungen wurzeln. Man kann sie auf den Wunsch nach persönlicher Annehmlichkeit oder Bequemlichkeit zurückführen, sie haben nichts mit unseren Idealen zu tun. Im Grunde geht es nur um Abmachungen, die den Bedürfnissen derjenigen entsprachen, die eine Entscheidung treffen konnten.«

Odrade nickte. »Du hast das auch schon mal als politische Zweckdienlichkeit bezeichnet.«

Taraza hielt ihre Stimme fest unter Kontrolle, während sie sich wieder der Projektion zuwandte. »Wenn wir unsere Urteile institutionalisieren, werden wir die Bene Gesserit zerstören, das ist sicher.«

»In meiner Biografie wirst du keine kleinlichen Entscheidungen finden.«

»Ich suche nach möglichen Schwächen, nach Makeln.«

»Die wirst du dort ebenfalls nicht finden.«

Taraza verbarg ein Lächeln. Sie war mit dieser Egozentrik vertraut – es war Odrades Art, die Mutter Oberin zu ärgern. Odrade war sehr gut darin, ungeduldig zu erscheinen, während sie sich in Wahrheit in einem zeitlosen Strom aus Geduld bewegte.

Da Taraza den Köder nicht schluckte, nahm Odrade wieder ihre gelassene Warteposition ein – ruhiger Atem, klare Gedanken. Vor langer Zeit hatte ihr die Schwesternschaft beigebracht, Vergangenheit und Gegenwart in simultane Bewegungen aufzuspalten. Während sie ihre Umgebung beobachtete, konnte sie auf einzelne Teile ihrer Vergangenheit zurückgreifen und sie erneut durchleben, ganz so, als liefen sie über einen Bildschirm, der die Gegenwart überlagerte. Gedächtnisarbeit, dachte Odrade. Notwendige Dinge, die man hervorholte und dann zur Ruhe bettete. Barrieren, die es zu beseitigen galt. Wenn sie alles andere langweilte, gab es immer noch ihre komplizierte Kindheit.

Es gab einmal eine Zeit, in der Odrade wie die meisten anderen Kinder lebte: in einem Haus mit einem Mann und einer Frau, die, wenn sie auch nicht ihre Eltern waren, sich doch wie Eltern verhielten. Alle anderen Kinder, die sie damals kannte, lebten in ähnlichen Verhältnissen. Sie hatten Papas und Mamas. Manchmal hatte nur Papa eine Arbeit außer Haus, manchmal ging nur Mama zur Arbeit. In Odrades Fall blieb die Frau zu Hause, es gab keine andere Betreuerin. Später erfuhr Odrade, dass ihre leibliche Mutter viel Geld dafür bezahlt hatte, ihr neugeborenes Mädchen auf diese Weise vor aller Augen zu verstecken.

»Sie hat dich zu uns gebracht, weil sie dich liebte«, erklärte die Frau, als Odrade alt genug war, um es zu verstehen. »Deshalb darfst du auch nie jemandem verraten, dass wir nicht deine echten Eltern sind.«

Aber wie Odrade herausfand, hatte Liebe mit all dem nichts zu tun gehabt. Die Beweggründe von Ehrwürdigen Müttern waren nie so profan. Und Odrades leibliche Mutter war eine Bene-Gesserit-Schwester gewesen.

All das erfuhr Odrade genau so, wie es der Plan vorsah. Auch ihren Namen: Odrade. Wenn die Person, die sie ansprach, nicht gerade besonders liebevoll oder wütend war, nannte man sie Darwi, und ihre jungen Freundinnen und Freunde verkürzten das zu Dar.

Allerdings verlief nicht alles nach Plan. Odrade erinnerte sich an ein schmales Bett in einem Zimmer, dem die Bilder von Tieren und fantastischen Landschaften an den pastellblauen Wänden eine fröhliche Atmosphäre verliehen. Ein weißer Vorhang flatterte am Fenster in den Frühlings- und Sommerbrisen. Sie erinnerte sich, wie sie auf dem Bett herumgehüpft war. Ein wunderbares Spiel: hoch, runter, hoch, runter. Viel Gelächter. Arme, die sie mitten im Sprung fingen und fest an sich drückten. Männerarme. Ein rundes Gesicht mit einem kleinen Schnurrbart, der sie kitzelte, sodass sie kichern musste. Jedes Mal, wenn sie hüpfte, stieß das Bett gegen die Wand, die dadurch schon einige Blessuren davongetragen hatte.

Odrade ließ diese Erinnerung Revue passieren. Es widerstrebte ihr, sie im Brunnen der Vernunft zu entsorgen. Spuren an der Wand. Spuren von Gelächter und Freude. Wie klein diese Spuren doch waren – dafür, dass sie für so viel standen.

Es war seltsam, dass sie in letzter Zeit immer wieder über Papa nachdachte. Es waren nicht nur gute Erinnerungen. Es gab Zeiten, in denen er traurig und wütend war und Mama davor warnte, sich »zu sehr einzulassen«. Es war seinem Gesicht anzusehen, dass er sich oft hilflos fühlte. Wenn er wütend war, klang seine Stimme wie ein Bellen. Dann verhielt sich Mama leise und vorsichtig, und ein ängstlicher Ausdruck trat in ihre Augen. Odrade spürte ihre Angst und hasste den Mann dafür, aber die Frau wusste, wie man mit ihm zurechtkam. Sie küsste ihn auf den Hals, streichelte seine Wange und flüsterte ihm ins Ohr.

Es hatte eine Analysesachwalterin der Bene Gesserit viel Mühe gekostet, Odrade diese uralten, »natürlichen« Gefühle auszutreiben, und noch immer gab es Bruchstücke davon einzusammeln und zu beseitigen. Nicht alles war verschwunden, das wusste Odrade.

Als sie jetzt sah, wie aufmerksam Taraza ihre Biografie studierte, fragte sich Odrade, ob das wohl der Makel war, den die Mutter Oberin in ihr sah.

Aber sie müssen doch inzwischen wissen, dass ich mit den Emotionen dieser frühen Jahre fertigwerde.

Das alles war sehr lange her. Und doch musste Odrade zugeben, dass sie die Erinnerungen an den Mann und die Frau in sich trug und durch ein so starkes Band mit ihnen verbunden war, dass sie womöglich nie völlig gelöscht werden konnten. Insbesondere die Erinnerungen an Mama.

Die Ehrwürdige Mutter, die Odrade zur Welt gebracht hatte, hatte sie aus Gründen, die Odrade mittlerweile verstand, in das Versteck auf Gammu gebracht. Odrade hegte keinen Groll gegen sie. Es war für ihr beider Überleben notwendig gewesen. Allerdings waren Probleme aus der Tatsache entstanden, dass die Pflegemutter Odrade das gegeben hatte, was die meisten Mütter ihren Kindern geben und dem die Schwesternschaft so misstraute – Liebe.

Als die Ehrwürdigen Mütter schließlich kamen, wehrte sich die Pflegemutter nicht dagegen, dass man ihr Kind holte. Zwei Ehrwürdige Mütter trafen mit einer Gruppe von Aufseherinnen ein. Odrade brauchte viele Jahre, um die Bedeutung dieses Moments zu begreifen. In ihrem Herzen hatte die Frau gewusst, dass der Tag der Trennung kommen würde, es war nur eine Frage der Zeit. Und doch, als die Tage zu Jahren geworden waren, sechs Standardjahre beinahe, hatte sie sich leise Hoffnungen gestattet.

Aber die Ehrwürdigen Mütter kamen. Sie hatten nur gewartet, bis sie sich sicher sein konnten, dass keine Jäger wussten, um was es sich bei dem Mädchen handelte: um einen von den Bene Gesserit geplanten Atreides-Abkömmling.

Odrade sah, wie der Pflegemutter viel Geld überreicht wurde und wie die Frau es zu Boden warf. Aber sie leistete keinen Widerstand. Die anwesenden Erwachsenen wussten, wer hier die Macht hatte. Dann sah Odrade, wie die Frau zu einem Stuhl neben dem Fenster ging, die Arme um sich schlang und sich vor und zurück, vor und zurück wiegte, ohne einen Laut von sich zu geben.

Die Ehrwürdigen Mütter setzten die Stimme und den Rauch benebelnder Kräuter und ihre überwältigende Präsenz ein, um Odrade in das wartende Bodenfahrzeug zu locken.

»Es ist nur für kurze Zeit. Deine echte Mutter hat uns geschickt.«

Odrade spürte, dass das gelogen war, aber die Neugier ließ sie mitkommen. Meine echte Mutter! Und so war das Letzte, was sie von der Frau sah, die sie als ihren einzigen weiblichen Elternteil gekannt hatte, wie sie sich mit schmerzverzerrter Miene, die Arme um den Körper geschlungen, am Fenster vor und zurück wiegte.

Später dann, als Odrade davon sprach, zu der Frau zurückzukehren, wurde die Erinnerungsvision in eine der Bene-Gesserit-Grundlektionen integriert.

»Liebe führt zu Leid. Liebe ist eine uralte Kraft, die früher einmal ihren Sinn hatte, jetzt aber nicht mehr benötigt wird, um das Überleben der Art zu sichern. Denke immer an den Fehler, den diese Frau gemacht hat, an ihren Schmerz.«

Viele Jahre lang behalf sich Odrade mit Tagträumen. Sie würde wirklich zurückkehren, wenn sie erst eine vollwertige Ehrwürdige Mutter war. Sie würde zurückkehren und diese liebevolle Frau finden, obwohl sie keinen Namen für sie hatte außer Mama und Sibia. Odrade erinnerte sich an das Lachen der Erwachsenen, die die Frau Sibia genannt hatten.

Mama Sibia.

Aber die Schwestern spürten Odrades Tagträume auf und verfolgten sie an ihren Ursprung zurück, der ebenfalls Teil einer Lektion wurde.

»Tagträumen ist der erste Schritt des Erwachens von etwas, das wir Simulstrom nennen. Es ist ein essenzielles Werkzeug des rationalen Denkens, mit dessen Hilfe sich der Geist klärt.«

Simulstrom.

Odrade konzentrierte sich wieder auf Taraza, die immer noch am Tisch ihr gegenüber saß. Kindheitstraumata mussten sorgfältig in einem rekonstruierten Gedächtnisraum verwahrt werden. Auf Gammu, dem Planeten, den das Volk von Dan nach der Hungerzeit und der Zerstreuung wieder aufgebaut hatte, war all das weit weg gewesen. Das Volk von Dan – einst Caladan. Odrade zwang sich zu rationalem Denken und machte sich dabei die Erweiterten Erinnerungen zunutze, die während der Gewürzagonie, die sie zur vollwertigen Ehrwürdigen Mutter gemacht hatte, in sie eingeströmt waren.

Simulstrom …derFilterdesBewusstseins …ErweiterteErinnerungen.

Welch mächtige Werkzeuge die Schwesternschaft ihr doch zur Verfügung gestellt hatte! Welch gefährliche Werkzeuge! All die anderen Leben warteten gleich hinter dem Schleier der Wahrnehmung. Werkzeuge des Überlebens – viel mehr, als damit nur eine beiläufige Neugier zu befriedigen.

Taraza übersetzte laut, was ihr die Projektion gerade zeigte. »Du wühlst zu viel in deinen Erweiterten Erinnerungen. Das zieht Energien ab, die du dir besser aufsparen solltest.« Aus ihren ganz und gar blauen Augen warf die Mutter Oberin einen durchdringenden Blick auf Odrade. »Zuweilen gehst du an die Grenze deiner körperlichen Toleranz. Das könnte zu deinem vorzeitigen Tod führen.«

»Ich bin vorsichtig mit dem Gewürz, Mutter.«

»Das solltest du auch sein! Ein Körper kann nur eine bestimmte Menge Melange aufnehmen und nur eine bestimmte Anzahl von Ausflügen in die Vergangenheit verkraften.«

»Hast du meine Schwäche gefunden?«

»Gammu!« Ein Wort nur, aber es sagte so viel.

Odrade nickte. Das unvermeidliche Trauma der verlorenen Jahre auf Gammu – eine Ablenkung, die mit Stumpf und Stiel ausgemerzt und rationalisiert werden musste. »Aber man schickt mich nach Rakis.«

»Und achte darauf, dass du die Aphorismen der Mäßigung nicht vergisst. Denk daran, wer du bist.« Erneut beugte sich Taraza vor, um die Projektion zu studieren.

Ich bin Odrade, dachte Odrade.

In den Bene-Gesserit-Schulen, in denen Vornamen in der Regel nicht beachtet wurden, wurde man beim Anwesenheitsappell mit dem Nachnamen aufgerufen, und Freunde und Bekannte übernahmen diesen Rufnamen. Sie lernten früh, dass man die Menschen einst zu umgarnen versucht hatte, indem man ihnen den Vornamen anbot.

Taraza, drei Klassen über Odrade, hatte den Auftrag erhalten, »das jüngere Mädchen anzuleiten«. Das bedeutete, dass man die Jüngere zuweilen herumkommandierte, aber es umfasste auch grundlegende Lektionen, die sich viel besser durch jemanden vermitteln ließen, der mehr oder weniger gleichgestellt war. Taraza, die die privaten Aufzeichnungen ihrer Schülerin einsehen konnte, begann, das jüngere Mädchen Dar zu nennen, und Odrade reagierte darauf, indem sie die Ältere Tar nannte. Die beiden Namen fügten sich gut zusammen: Dar und Tar. Und obwohl zufällig mithörende Ehrwürdige Mütter sie für diese Art des Umgangs miteinander gerügt hatten, fielen sie gelegentlich in das alte Fehlverhalten zurück, und sei es nur zum Spaß.

Odrade sah Taraza mit festem Blick an und sagte: »Dar und Tar.«

Ein Lächeln umspielte Tarazas Mundwinkel.

»Was soll in meiner Akte zu finden sein, das du nicht längst weißt?«, fragte Odrade.

Taraza lehnte sich zurück und wartete, bis sich der Sesselhund an ihre neue Haltung angepasst hatte. Dann legte sie die verschränkten Hände auf den Tisch und blickte zu der Jüngeren auf. So viel jünger ist sie ja gar nicht, dachte sie. Aber seit der Schulausbildung hatte Taraza Odrade als Mitglied einer deutlich jüngeren Altersgruppe betrachtet und damit eine Kluft zwischen ihnen erzeugt, die auch der Lauf der Jahre nicht mehr schließen konnte. »Anfänge erfordern größte Sorgfalt, Dar.«

»Dieses Projekt ist weit über seinen Anfang hinaus.«

»Aber deine Rolle darin beginnt erst jetzt. Und was wir jetzt wagen, hat noch nie jemand gewagt.«

»Erfahre ich nun, welche umfassenderen Pläne es für diesen Ghola gibt?«

»Nein.«

Das war alles. Sämtliche Hinweise auf Konflikte zwischen den Ehrwürdigen Müttern und darauf, dass »nur das Nötigste« verlautbart wurde, wurden mit einem einzigen Wort beiseite gewischt. Aber Odrade verstand. In der ursprünglichen Ordensburg der Bene Gesserit war ein Bewertungsschema festgelegt worden, das die Jahrtausende mit nur geringen Veränderungen überdauert hatte. Die Bene Gesserit waren durch klare vertikale und horizontale Grenzen in voneinander getrennte Zellen eingeteilt, die nur hier, an der Spitze, zu einer Einheit zusammenflossen. Die Schwestern verrichteten ihre Pflichten, die ihnen »zugewiesenen Rollen«, innerhalb ihrer jeweiligen Zellen. Oft kannten aktive Schwestern der einen Zelle ihre Genossinnen in den Parallelzellen gar nicht. Aber ich weiß, dass die Ehrwürdige Mutter Lucilla Teil einer Parallelzelle ist, dachte Odrade. Das ist die einzig logische Erklärung. Sie akzeptierte die Notwendigkeit einer solchen Struktur. Es war ein Schema, das man sich bei uralten revolutionären Geheimbünden abgeschaut hatte. Die Bene Gesserit sahen sich seit jeher als Revolutionärinnen – eine permanente Revolution, die nur in der Zeit des Tyrannen Leto II. eingehegt worden war. Eingehegt, aber nicht gestoppt oder von ihrem Ziel abgelenkt.

Taraza räusperte sich. »Sag mir, ob du in dem, was du tun wirst, eine unmittelbare Bedrohung für die Schwesternschaft siehst.«

Das war eine von Tarazas eigenartigen Fragen, und Odrade hatte gelernt, eine rein instinktive Antwort auf solche Fragen zu geben. »Wenn wir nicht handeln, ist das schlimmer«, erwiderte sie schnell.

»Wir sind bereits zu dem Schluss gekommen, dass die Angelegenheit gefährlich ist.« Tarazas Stimme klang spröde und abwesend. Sie rief Odrades Gabe nicht gerne wach. Die Jüngere besaß einen hellsichtigen Instinkt, wenn es darum ging, Bedrohungen für die Schwesternschaft zu erspüren, und dieser Instinkt gründete in ihrer Abstammungslinie – er kam von den Atreides mit ihren gefährlichen Talenten. Odrades Akte hatte einen besonderen Vermerk: »Sorgfältige Begutachtung aller Nachkommen«. Zwei dieser Nachkommen hatte man schon stillschweigend getötet.

Ich hätte Odrades Talent heute nicht wachrufen sollen, nicht einmal für einen kurzen Moment, dachte Taraza. Aber manchmal war die Versuchung eben sehr groß.

Taraza schob den Projektor zurück in den Tisch und betrachtete die glatte Oberfläche. »Selbst wenn du einen perfekten Erzeuger findest, darfst du dich nicht ohne unsere Erlaubnis fortpflanzen.«

»Der Fehler, den meine leibliche Mutter begangen hat.«

»Nein. Ihr Fehler war es, zuzulassen, dass man sie erkannte, während sie sich fortpflanzte.«

Das hörte Odrade nicht zum ersten Mal. Die Atreides-Linie erforderte eine sorgfältige Überwachung durch die Zuchtmeisterinnen. Das unberechenbare Talent dieser Linie! Odrade war sich über dieses Talent, das den Kwisatz Haderach und den Tyrannen hervorgebracht hatte, im Klaren. Aber worauf hatten die Zuchtmeisterinnen es jetzt abgesehen? War ihre Herangehensweise in erster Linie negativ? Keine gefährlichen Geburten mehr? Odrade hatte keines ihrer Babys nach der Geburt wiedergesehen, was innerhalb der Schwesternschaft allerdings nicht ungewöhnlich war. Und sie hatte nie ihre persönliche genetische Akte gesehen. Auch was das anging, achtete die Schwesternschaft sorgfältig auf eine klare Grenzziehung. Und die Einschränkungen, die man meiner Erweiterten Erinnerung auferlegt hat! Odrade hatte die weißen Flecken in ihrer Erinnerung gefunden und sich Zugang zu ihnen verschafft. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten nur Taraza und zwei weitere Ratsmitglieder (Bellonda, nahm sie an, und eine andere ältere Ehrwürdige Mutter) Zugriff auf diese heiklen Zuchtinformationen.

Hatten Taraza und die anderen wirklich geschworen, eher zu sterben, als derart privilegierte Informationen Außenseitern zugänglich zu machen? Immerhin gab es ein genau festgelegtes Nachfolgeritual, wenn eine wichtige Ehrwürdige Mutter starb, die nicht bei ihren Schwestern war und keine Gelegenheit hatte, die in ihr enthaltenen Leben weiterzugeben. In der Regierungszeit des Tyrannen war dieses Ritual oft zum Einsatz gekommen. Eine furchtbare Zeit! Zu wissen, dass er Einblick in die revolutionären Zellen der Schwesternschaft gehabt hatte. Dieses Monster! Wie Odrade wusste, hatten sich ihre Schwestern nie vorgemacht, dass Leto II. die Bene Gesserit aus irgendeiner tief sitzenden Loyalität zu seiner Großmutter Lady Jessica heraus verschonen würde.

Bist du hier, Jessica?

Odrade spürte, wie sich tief in ihr etwas regte. Das Versagen einer Ehrwürdigen Mutter: »Sie hat es sich erlaubt, sich zu verlieben!« Nur eine Kleinigkeit, aber wie groß waren die Folgen! Dreitausendfünfhundert Jahre Tyrannei!

Der Goldene Pfad. Unendlich? Was war mit den Megabillionen von Menschen in der Zerstreuung? Welche Bedrohung stellten diese Verschollenen dar, die nun heimkehrten?

Als hätte sie Odrades Gedanken gelesen, was sie offenbar zuweilen wirklich tat, sagte Taraza: »Die Verschollenen sind dort draußen … Sie warten nur auf den richtigen Moment, um über uns herzufallen.«

Odrade kannte die Argumente. Einerseits waren die Verschollenen eine Bedrohung, andererseits besaßen sie eine magnetische Anziehungskraft. So viele Unbekannte. Die Schwesternschaft, die ihre Fähigkeiten über Jahrtausende hinweg mit der Melange geschärft hatte – was konnte sie mit all diesen unbefleckten menschlichen Ressourcen erreichen? Man denke nur an all die Gene dort draußen. An die potenziellen Talente, die frei durch das Universum trieben.

»Es ist das Nichtwissen, das die größten Ängste auslöst«, sagte Odrade.

»Und die größten Ambitionen«, erwiderte Taraza.

»Reise ich also nach Rakis?«

»Wenn es an der Zeit ist. Ich jedenfalls bin der Meinung, dass du der Aufgabe gewachsen bist.«

»Sonst hättest du mich nicht mit ihr betraut.«

Ein solches Gespräch hatten sie schon zu Schulzeiten geführt, aber Taraza stellte fest, dass sie nicht bewusst in alte Muster zurückgefallen war. Sie beide waren einfach durch zu viele Erinnerungen miteinander verstrickt: Dar und Tar. Das musste sie im Auge behalten.

»Vergiss nicht, wo deine Loyalitäten liegen«, sagte Taraza.

Die Existenz von Nicht-Schiffen erweitert die Möglichkeiten, ganze Planeten zu zerstören, ohne dafür eine Vergeltung fürchten zu müssen. Ein großes Objekt, ein Asteroid oder etwas Vergleichbares, kann gegen den Planeten eingesetzt werden. Oder man kann die Bewohner des Planeten mittels sexueller Unterwanderung gegen sich selbst kehren und dann bewaffnen, damit sie sich gegenseitig auslöschen. Offenbar bevorzugen die Geehrten Matres letztere Technik.

– Analyse der Bene Gesserit

Auch wenn man es ihm nicht anmerkte, hielt Duncan Idaho von seiner Position im Hof aus stets die Aufmerksamkeit auf seine Beobachter gerichtet. Da war natürlich Patrin, aber Patrin zählte nicht. Es waren die Ehrwürdigen Mütter auf der gegenüberliegenden Seite, die er im Auge behalten musste. Als er Lucilla sah, dachte er: Das ist die Neue. Bei diesem Gedanken lief eine Erregung durch seinen Körper, die er durch verstärkte Anstrengung beim Training abreagieren musste.

Er schloss die ersten drei Bewegungsserien des Trainingsspiels ab, das ihm Miles Teg aufgetragen hatte, in der vagen Annahme, dass Patrin Bericht erstatten würde, wie gut er sich machte. Duncan mochte Teg und den alten Patrin und spürte, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Was jedoch die neue Ehrwürdige Mutter anging – ihre Anwesenheit ließ auf interessante Veränderungen schließen. Zum einen war sie deutlich jünger als die anderen. Außerdem versuchte sie nicht, ihre Augen zu verbergen, gewöhnlich der erste Hinweis auf eine Zugehörigkeit zu den Bene Gesserit. Als Duncan Schwangyu zum ersten Mal gesehen hatte, waren ihre Augen hinter Kontaktlinsen verborgen gewesen, die die Pupillen und das blutunterlaufene Weiß einer Nicht-Abhängigen simulierten. Später hatte er von einer der Akoluthinnen in der Festung gehört, dass Schwangyus Linsen zur Korrektur einer astigmatischen Schwäche dienten, »die man zugunsten anderer Qualitäten, die sie an ihre Nachkommen weitergibt, in Kauf nimmt«.

Damals hatte Duncan von diesen Worten kaum etwas verstanden, und als er die Begriffe in der Festungsbibliothek nachschlug, fand er nur wenige und sehr knappe Erläuterungen. Schwangyu selbst ließ seine Nachfragen zu dem Thema an sich abprallen, doch das Verhalten seiner Lehrerinnen in den folgenden Wochen verriet ihm, dass er die Ehrwürdige Mutter verärgert hatte. Es war typisch für sie, ihren Zorn an anderen auszulassen.

Was sie wohl wirklich erzürnt hatte, war, dass er wissen wollte, ob sie seine Mutter war.

Schon seit Langem war Duncan bewusst, dass er etwas Besonderes war. Es gab Orte in der weitläufigen Festungsanlage, die er nicht betreten durfte. Um solche Verbote zu umgehen, hatte er geheime Wege gefunden, und so hatte er hin und wieder durch dicke Plazscheiben und offene Fenster auf Wachtposten und breite Streifen gerodeten Grunds geblickt, die sich von strategisch positionierten Bunkern aus unter Beschuss nehmen ließen. Miles Teg selbst hatte ihm die Bedeutung dieser Stellungen erläutert.

Gammu hieß der Planet inzwischen. Einst kannte man ihn als Giedi Primus, aber ein Mann namens Gurney Halleck hatte den Namen geändert. All das war ferne Vergangenheit. Langweiliger Kram. Und doch haftete der Erde des Planeten noch immer ein leichter Geruch nach bitterem Öl aus den prä-danianischen Zeiten an. Jahrtausende einer speziellen Bepflanzung hatten den Geruch abgemildert, hatten ihm seine Lehrerinnen erklärt. Teile davon konnte er von der Festung aus sehen. Sie war von Kiefern und anderen Baumarten umgeben.

Während Duncan weiter die beiden Ehrwürdigen Mütter im Blick hatte, schlug er einige Räder hintereinander. Dabei ließ er seine beeindruckenden Muskeln spielen, ganz so, wie es Teg ihm beigebracht hatte.

Teg unterrichtete ihn auch in planetarer Verteidigung. Etliche Kundschafterschiffe umkreisten Gammu. Die Familien der Besatzungsmitglieder blieben unten auf dem Planeten, als Geiseln, damit die Posten in der Umlaufbahn auch wachsam blieben. Und es gab auch unauffindbare Nicht-Schiffe dort draußen, deren Besatzungen sich ausschließlich aus den Männern des Baschars und aus Bene-Gesserit-Schwestern zusammensetzten.

»Wenn man mir nicht das volle Kommando über alle Verteidigungsmaßnahmen gegeben hätte«, erklärte Teg, »hätte ich diesen Auftrag nicht angenommen.«

Duncan begriff, dass er dieser Auftrag war. Die Festung existierte, um ihn zu schützen. Und Tegs Wachtposten in der Umlaufbahn, einschließlich der Nicht-Schiffe, schützten die Festung.

Das alles war Teil einer militärischen Ausbildung, deren Elemente Duncan seltsam vertraut vorkamen. Als man ihm beibrachte, wie man einen verwundbaren Planeten gegen Angriffe aus dem Weltraum verteidigte, wusste er, wann die Streitkräfte korrekt positioniert waren und wann nicht. Als Ganzes war das äußerst kompliziert, aber die einzelnen Elemente ließen sich benennen und verstehen. Zum Beispiel die ständige Kontrolle der Atmosphäre und des Blutserums der Bevölkerung von Gammu – überall gab es Suk-Ärzte, die für die Bene Gesserit arbeiteten.

»Krankheiten sind Waffen«, sagte Teg. »Unsere Verteidigung gegen Krankheiten muss exakt auf die Bedrohung zugeschnitten sein.« Oft wetterte der Baschar gegen passive Verteidigungsmaßnahmen, bezeichnete sie als »Produkt einer Belagerungsmentalität, von der man seit Langem weiß, dass sie für tödliche Schwächen verantwortlich ist«. Bei Tegs militärischen Lektionen hörte Duncan genau zu, denn sowohl Patrin als auch die Aufzeichnungen in der Bibliothek bestätigten, dass der Mentaten-Baschar Miles Teg einst ein bedeutender militärischer Anführer in den Diensten der Bene Gesserit gewesen war. Patrin erzählte oft davon, wie sie zusammen gedient hatten, und in den Geschichten war Teg stets der Held.

»Mobilität ist der Schlüssel zum militärischen Erfolg«, sagte Teg. »Wenn man in einer Befestigungsanlage steckt, und sei sie auch ein ganzer Planet, ist man immer verwundbar.« Der Baschar mochte Gammu nicht besonders. »Du weißt ja inzwischen, dass dieser Planet früher Giedi Primus hieß. Von den Harkonnen, die hier einst herrschten, haben wir so einiges gelernt. Dank ihnen haben wir eine bessere Vorstellung davon, wie brutal menschliche Wesen sein können.«

Während sich Duncan diese Worte ins Gedächtnis rief, wurde ihm bewusst, dass die beiden Ehrwürdigen Mütter, die ihn von der Brüstung aus beobachteten, gerade über ihn redeten.

Bin ich die Mission der Neuen?

Es gefiel ihm nicht, beobachtet zu werden, und er hoffte, dass ihm die Neue etwas Zeit für sich zugestehen würde. Anders als Schwangyu machte sie keinen allzu strengen Eindruck.

Im Rhythmus seiner heimlichen Litanei setzte er die Übungen fort: Verdammte Schwangyu! Verdammte Schwangyu!

Seit seinem neunten Lebensjahr hasste er Schwangyu, seit mittlerweile vier Jahren also. Er glaubte nicht, dass sie von seinem Hass wusste. Vermutlich hatte sie den Vorfall, an dem er sich entzündet hatte, längst vergessen.

Als er gerade neun geworden war, war es ihm gelungen, am inneren Ring der Wachen vorbei in einen Tunnel zu schlüpfen, der zu einem der Bunker führte. Ein Geruch nach Pilzen. Schwaches Licht. Feuchtigkeit. Er hatte durch die Schießscharten nach draußen gespäht, bis man ihn geschnappt und zurück in die Festung gebracht hatte.

Dieser Ausflug hatte eine strenge Zurechtweisung von Schwangyu zur Folge gehabt. Eine ferne, bedrohliche Gestalt, deren Befehle zu befolgen waren – so sah er sie bis heute, auch wenn er inzwischen wusste, was es mit der Stimme der Bene Gesserit auf sich hatte, jener Modulation des Sprechens, mit der man einem untrainierten Zuhörer seinen Willen aufzwingen konnte.

Man muss ihr gehorchen.

»Wegen dir muss eine ganze Wacheinheit diszipliniert werden«, hatte Schwangyu gesagt. »Man wird sie schwer bestrafen.«

Das war das Schlimmste daran gewesen. Duncan mochte einige der Wachen, manchmal gelang es ihm sogar, eine von ihnen zu einem Spiel zu verleiten, bei dem sie lachten und herumtobten. Mit seinem Ausflug hatte er seinen Freunden geschadet.

Und Duncan wusste, was es bedeutete, bestraft zu werden.

Verdammte Schwangyu! Verdammte Schwangyu!

Nach Schwangyus Worten war er zu seiner damaligen Hauptlehrerin gelaufen, der Ehrwürdigen Mutter Tamalane, eine hochmütige alte Frau mit schneeweißem Haar über einem schmalen Gesicht und ledriger Haut. Er wollte von ihr wissen, wie man die Wachen bestrafen würde. Tamalane reagierte überraschend nachdenklich, und ihre Stimme klang wie Sand, der über Holz schabte, als sie sagte: »Strafen? Nun ja.«

Sie befanden sich in dem kleinen Unterrichtszimmer, das von den größeren Übungsräumen abging. Tamalane zog sich jeden Abend hierhin zurück, um den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten. Es war ein Ort voller Blasen- und Spulenlesegeräte und anderer Methoden zum Speichern und Abrufen von Informationen. Duncan mochte dieses Zimmer viel lieber als die Bibliothek, aber er durfte es nicht unbeaufsichtigt betreten. Es wurde von suspensorgetragenen Leuchtgloben erhellt.

Tamalane wandte sich von den Unterlagen ab, die sie gerade für ihn zusammenstellte, und sah Duncan an. »Es gibt eine Art Opferbankett bei schweren Strafen. Und die Wachen werden natürlich schwer bestraft werden.«

»Ein Bankett?« Duncan war verwirrt.

Tamalane drehte sich mit ihrem Stuhl zu ihm. Ihre stählernen Zähne glitzerten im hellen Licht. »Die Geschichte ist selten gut zu jenen, die bestraft werden müssen.«

Als er das Wort »Geschichte« hörte, zuckte Duncan zusammen. Es war eines von Tamalanes Signalen. Sie würde ihm nun eine Lektion erteilen, eine weitere langweilige Lektion.

»Bene-Gesserit-Strafen vergisst man nie.«

Duncan richtete seine Aufmerksamkeit auf Tamalanes alten Mund. Und plötzlich begriff er, dass sie aus persönlicher Erfahrung sprach. Er würde also doch etwas Interessantes erfahren.

»Unsere Strafen vermitteln eine Lektion, der man sich nicht entziehen kann«, fuhr Tamalane fort. »Sie umfassen mehr als nur Schmerz.«

Duncan setzte sich Tamalane zu Füßen auf den Boden. Aus dieser Perspektive erschien die Ehrwürdige Mutter als eine in schwarze Schatten gehüllte, Unheil verkündende Gestalt.

»Wir bestrafen nicht durch ultimative Qual. Das ist der Gewürzagonie der Ehrwürdigen Mütter vorbehalten.«

Duncan nickte. Er hatte in der Bibliothek Verweise auf diese »Gewürzagonie« gefunden, jene geheimnisvolle Prüfung, durch die eine Bene Gesserit zur Ehrwürdigen Mutter wurde.

»Ernste Strafen sind aber dennoch schmerzhaft. Sie bereiten vor allem emotionalen Schmerz. Wir zielen auf das Gefühl, das wir für den größten Schwachpunkt des Übeltäters halten. Auf diese Weise stärken wir den Bestraften.«

Tamalanes Worte erfüllten Duncan mit einem diffusen Entsetzen. Was würden sie seinen Wachen antun? Er brachte kein Wort heraus, doch das war auch nicht nötig. Tamalane war noch nicht fertig.

Die Ehrwürdige Mutter klatschte sich mit den Händen auf die Knie und sagte: »Die Bestrafung endet immer mit einer Nachspeise.«

Duncan runzelte die Stirn. Eine Nachspeise? Das war Teil eines Banketts. Wie konnte ein Bankett eine Bestrafung sein?

Tamalane malte mit ihrer Klauenhand einen Kreis in die Luft. »Tatsächlich geht es nicht um ein Bankett, sondern um die Idee eines Banketts. Die Nachspeise, die serviert wird, ist etwas ganz und gar Unerwartetes. Der Übeltäter denkt: Ah, man hat mir also doch vergeben! Verstehst du?«

Duncan schüttelte den Kopf.

»Es ist die Süße des Augenblicks. Man hat sämtliche Gänge eines Schmerzbanketts hinter sich, und schließlich kommt am Ende etwas Genießbares. Doch während man es genießt, kommt der schmerzhafteste Moment von allen, die Erkenntnis, das Begreifen, dass es sich nicht um das glückliche Ende handelt. Ganz und gar nicht. Das ist der ultimative Schmerz bei einer schweren Strafe. Auf diese Weise wird einem die Lektion der Bene Gesserit für immer eingeprägt.«

»Aber was wird sie mit den Wachen anstellen?« Die Worte fielen Duncan geradezu aus dem Mund.

»Ich weiß nicht, welche spezifischen Elemente die jeweiligen Strafen enthalten. Ich muss es auch nicht wissen. Ich kann dir nur sagen, dass jeder seine eigene Art von Strafe erhalten wird.«

Mehr hatte Tamalane zu diesem Thema nicht zu sagen. Sie wandte sich wieder ihren Unterlagen zu. »Morgen machen wir weiter«, sagte sie. »Dann bringe ich dir bei, wie man die Herkunft unterschiedlicher Galach-Akzente bestimmt.«

Auch niemand sonst, nicht einmal Teg oder Patrin, wollten Duncan eine Antwort auf seine Fragen zu den Strafen geben. Sogar die Wachen weigerten sich, von dem zu erzählen, was ihnen widerfahren war, als er sie später wiedersah. Manche von ihnen reagierten sehr barsch, als er sie darauf ansprach, und niemand spielte mehr mit ihm. Keiner von ihnen würde ihm vergeben, das stand fest.

Verdammte Schwangyu! Verdammte Schwangyu!