Die Kinder des Wüstenplaneten - Frank Herbert - E-Book

Die Kinder des Wüstenplaneten E-Book

Frank Herbert

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Beschreibung

Paul Atreides, der Retter des Wüstenplaneten, ist verschwunden. In seiner Abwesenheit regiert seine Schwester Alia mit immer grausamerer Hand, bis sich schließlich die anderen Kinder von Paul Atreides gegen sie erheben. Doch der Machtkampf hat ungeahnte Folgen für den Planeten und das ganze Sternenimperium …

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DAS BUCH

Die ferne Zukunft: Der Dschihad, der Heilige Krieg der Fremen, ist längst vorüber, und das Imperium trägt den Keim des Zerfalls in sich, seit Paul Atreides, genannt Muad’Dib, in der Wüste von Arrakis verschwunden ist. Er hat seine Fähigkeit, die Erinnerung der Vorfahren wieder zu erwecken und in die Zukunft zu blicken, seinen beiden Kindern Ghanima und Leto II. vererbt. Aber trotz der ungeheuren Kräfte, über die sie verfügen, sind sie verletzlich und müssen sich gegen zahlreiche Feinde zur Wehr setzen, die ihnen nach dem Leben trachten – darunter Pauls Schwester Alia, die zur Herrscherin aufgestiegen ist und eine grundlegende ökologische Veränderung des Wüstenplaneten plant. Da kommt eines Tages ein blinder Prediger aus der Wüste und prophezeit den Untergang. Ist er der wiederauferstandene Muad’Dib? Oder ein tödliches Werkzeug der Gegner des Imperiums?

Mit Der Wüstenplanet schrieb Frank Herbert den berühmtesten und erfolgreichsten Science- Fiction-Roman aller Zeiten. Von David Lynch erstmals verfilmt, kommt demnächst die spektakuläre Neuverfilmung von Denis Villeneuve in die Kinos. Herbert ließ seinem Roman mehrere Fortsetzungen folgen, in denen er seine Weltenschöpfung auf faszinierende Weise ausbaute.

Neu übersetzt von Jakob Schmidt, liegt nun eine großartige Neuausgabe dieses monumentalen Zukunftsepos vor.

DER AUTOR

FRANK HERBERT (1920–1986) wurde in Tacoma, Washington geboren. Nach einem Journalismus-Studium arbeitete er unter anderem als Kameramann, Radiomoderator, Dozent und Austerntaucher, bevor 1955 sein Debütroman The Dragon in the Sea zur Fortsetzung in einem Science-Fiction-Magazin veröffentlicht wurde. Der Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm schließlich Mitte der 1960er-Jahre mit seinem Roman Der Wüstenplanet, der sowohl mit dem Hugo Award als auch dem Nebula Award ausgezeichnet wurde. Bis heute gilt Der Wüstenplanet zusammen mit den Nachfolgeromanen als einzigartige literarische Weltenschöpfung, die jede Generation von Leserinnen und Lesern neu für sich entdeckt.

Mehr zu Autor und Werk finden Sie auf:

FRANK HERBERT

DIE KINDER DES

WÜSTENPLANETEN

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Jakob Schmidt

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

CHILDREN OF DUNE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Neuausgabe 12/2020

Redaktion: Alexander Martin

Copyright © 1976 by Frank Herbert

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung von Motiven von sergioboccardo / Shutterstock, diversepixel / Shutterstock und TOP67 / Shutterstock

Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-23358-7V005

www.diezukunft.de

Für Bev

– wegen des wunderbaren Versprechens unserer Liebe, und um ihre Schönheit und Weisheit mit anderen zu teilen, denn sie hat dieses Buch wahrhaft inspiriert.

Muad’Dibs Lehren sind zum Spielplatz für Scholastiker geworden, für die Abergläubischen und Korrupten. Er hat eine ausgewogene Art zu leben gelehrt, eine Philosophie, mit der ein Mensch den Problemen begegnen kann, die ein sich in stetem Wandel befindliches Universum hervorbringt. Er hat erklärt, dass sich die Menschheit immer weiterentwickelt, dass sie sich in einem nie endenden Prozess befindet. Er hat erklärt, dass diese Evolution veränderlichen Prinzipien folgt, die nur die Ewigkeit kennt. Wie kann ein korrumpiertes Denken mit einer solchen Essenz spielen?

– Worte des Mentaten Duncan Idaho

Ein Lichtfleck erschien auf dem tiefroten Teppich, der den nackten Fels des Höhlenbodens bedeckte. Das Licht hatte keine erkennbare Quelle, es existierte scheinbar einzig und allein auf dem roten, aus Gewürzfasern gewebten Stoff. Es bewegte sich unvorhersehbar, ein suchender Kreis von etwa zwei Zentimetern Durchmesser, der mal eine längliche, mal eine ovale Form annahm. Als es auf einen tiefgrünen Bettkasten traf, sprang es hoch und kroch über die faltigen Laken.

Unter der grünen Decke lag ein Kind mit rostrotem Haar, das Gesicht mit den vollen Lippen noch rund vom Babyspeck. Sein Körper hatte nichts von der Sehnigkeit der Fremen, war aber auch nicht so wasserfett wie der eines Außenweltlers. Als das Licht über die geschlossenen Lider des Kindes strich, regte sich die kleine Gestalt. Das Licht verschwand.

Nun waren nur regelmäßiges Atmen und, leise im Hintergrund, das beruhigende Tropfen des Wassers zu hören, das sich im Auffangbecken der Winddestille weit oberhalb der Höhle sammelte.

Erneut erschien das Licht in dem Zimmer, diesmal etwas größer und einige Lumen heller. Seine Quelle ließ sich nun vage erkennen: Eine Gestalt in einem Kapuzenmantel stand im Türbogen des Zimmers. Von ihr ging das Licht aus. Einmal mehr glitt es durch den Raum, prüfend, suchend. Es hatte etwas Bedrohliches an sich, eine ruhelose Unzufriedenheit. Diesmal hielt es sich von dem schlafenden Kind fern, verharrte auf dem Belüftungsgitter in der oberen Ecke und tastete sich an einer Wölbung der grün-goldenen Wandbehänge entlang, mit denen der umliegende Fels verdeckt war.

Dann erlosch das Licht wieder. Ein verräterisches Rascheln von Stoff erklang, als sich die Kapuzengestalt bewegte und neben den Türbogen stellte. Jeder, der mit den Abläufen hier im Sietch Tabr vertraut war, hätte sofort erahnt, dass es sich um Stilgar handelte, den Naib des Sietchs und Wächter der Waisenzwillinge, die eines Tages das Werk ihres Vaters, Paul Muad’Dibs, fortsetzen würden. Stilgar inspizierte nachts häufig die Gemächer der Zwillinge, wobei er immer erst in das Zimmer ging, in dem Ghanima schlief, und sich anschließend hier im Nachbarzimmer davon überzeugte, dass Leto keine Gefahr drohte.

Ich bin ein alter Narr, dachte Stilgar.

Er betastete das kalte Gehäuse des Lichtwerfers und steckte ihn dann in seinen Gürtel zurück. Das Ding ärgerte ihn, obwohl er nicht ohne es auskam. Es war ein fein eingestelltes Gerät aus dem Imperium, mit dem man größere Lebensformen aufspüren konnte. In den königlichen Schlafgemächern hatte es ihm lediglich die beiden schlafenden Kinder gezeigt.

Stilgars Gedanken und Gefühle ähnelten diesem Gerät. Es war, als könnte er sein inneres Suchlicht nicht abstellen. Die Bewegungen dieses Lichts wurden von einer höheren Macht gelenkt, die ihn in diesen Augenblick warf, in dem er das ganze Ausmaß der Gefahr spürte. Hier war der Fokus für die größten Träume überall im bekannten Universum. Hier lagen der Schatz der Zeit, die säkulare Herrschaft und der mächtigste aller mystischen Talismane: die göttliche Authentizität von Muad’Dibs religiösem Vermächtnis. Diese Zwillinge – Leto und seine Schwester Ghanima – waren das Brennglas einer Furcht einflößenden Macht. Solange sie lebten, lebte Muad’Dib, der für tot gehalten wurde, in ihnen fort.

Es waren keine gewöhnlichen neunjährigen Kinder. Sie waren eine Gewalt der Natur, die man anbetete und fürchtete. Sie waren die Kinder von Paul Atreides, der zu Muad’Dib geworden war, dem Mahdi aller Fremen. Muad’Dib hatte die menschliche Zivilisation zum Explodieren gebracht. In einem Dschihad waren die Fremen von ihrer Heimatwelt aufgebrochen und hatten ihre religiöse Herrschaft, deren Ausmaße und Allgegenwart auf jedem Planeten Spuren hinterlassen hatten, in das Universum getragen.

Und doch sind diese Kinder Muad’Dibs aus Fleisch und Blut, dachte Stilgar. Zwei Stöße meines Messers würden genügen, um ihren Herzschlag zum Erliegen zu bringen. Ihr Wasser würde zurück an den Stamm gehen.

Der Gedanke versetzte sein Inneres in Aufruhr.

Muad’Dibs Kinder töten …

Doch die Jahre hatten ihn auch weise werden lassen. Er kannte den Ursprung eines so entsetzlichen Gedankens – er rührte von der linken Hand des Verdammten her, nicht von der rechten des Gesegneten. Ayat und Burhan des Lebens hielten nur noch wenige Geheimnisse für ihn bereit. Einst war er stolz gewesen, sich als Fremen und die Wüste als seinen Freund zu betrachten, seinen Planeten in Gedanken den Wüstenplaneten und nicht Arrakis zu nennen, wie er auf den Sternenkarten des Imperiums verzeichnet war.

Wie einfach doch alles noch war, als unser Messias nur ein Traum gewesen war. Indem wir unseren Mahdi gefunden haben, haben wir unzählige Träume von Erlösung auf das Universum losgelassen. Jedes vom Dschihad unterworfene Volk träumt nun von einem zukünftigen Führer.

Er spähte in die Dunkelheit des Schlafgemachs.

Wenn mein Messer all diese Menschen befreien würde, würden sie dann mich zum Messias machen?

Jetzt hörte er, wie sich Leto in seinem Bett regte.

Stilgar seufzte. Er hatte den Atreides-Großvater, nach dem das Kind benannt war, nie kennengelernt. Aber viele sagten, dass die moralische Stärke Muad’Dibs aus dieser Quelle stammte. Würde die fruchtbare Eigenschaft der Richtigkeit eine Generation überspringen? Stilgar stellte fest, dass er die Frage nicht beantworten konnte.

Sietch Tabr gehört mir. Ich herrsche hier. Ich bin ein Naib der Fremen. Ohne mich hätte es keinen Muad’Dib gegeben. Aber diese Zwillinge … Durch Chani, ihre Mutter und meine Verwandte, fließt mein Blut in ihren Adern. Ich bin mit Chani und Muad’Dib und all den anderen in diese Sache verwickelt. Was haben wir unserem Universum nur angetan?

Er konnte sich nicht erklären, warum ihn nachts solche Gedanken heimsuchten und warum sie derartige Schuldgefühle verursachten. In seinem Kapuzenmantel kauerte er sich auf den Boden. Die Realität entsprach ganz und gar nicht dem Traum. Die Freundliche Wüste, die sich einmal von Pol zu Pol erstreckt hatte, war auf die Hälfte ihrer früheren Größe geschrumpft, und das mythische Paradies sich ausbreitenden Grüns erfüllte Stilgar mit Verzweiflung. Es war einfach nicht wie in dem Traum. Und er wusste, dass auch er sich mit seinem Planeten verändert hatte. Er war jetzt ein weit kultivierterer Mann als noch zu seinen Zeiten als Sietchoberhaupt. Er wusste nun über vieles Bescheid – über Staatskunst und über die weitreichenden Folgen kleinster Entscheidungen. Und doch empfand er dieses Wissen und diese Kultiviertheit als dünne Fassade über dem eisernen Kern eines einfacheren, deterministischen Denkens. Und dieser Kern rief ihn, flehte ihn um eine Rückkehr zu klareren Werten an.

Die morgendlichen Sietchgeräusche mischten sich in seine Gedanken. Die Bewohner nahmen ihre Wege durch die Höhlen auf. Stilgar spürte einen Luftzug an den Wangen – die Türsiegel öffneten sich in die Dunkelheit vor der Morgendämmerung. Der Luftzug verriet nicht nur, wie spät es war, sondern zeugte auch von Achtlosigkeit. Die Bewohner unterirdischer Stätten hielten sich nicht mehr an die strenge Wasserdisziplin früherer Zeiten. Warum sollten sie auch, wenn man auf dem Planeten schon Regen gespürt hatte, wenn man Wolken sah, wenn acht Fremen von einer plötzlichen Flut in einem Wadi in den Tod gerissen worden waren? Bis zu diesem Ereignis hatte es das Wort »ertrunken« in den Sprachen des Wüstenplaneten nicht gegeben. Aber dies war nicht mehr der Wüstenplanet. Dies war Arrakis. Und heute stand ein ereignisreicher Tag bevor.

Jessica, die Mutter Muad’Dibs und Großmutter der königlichen Zwillinge, kehrt heute nach Arrakis zurück. Warum beendet sie gerade jetzt ihr selbstauferlegtes Exil? Warum lässt sie den sicheren Planeten Caladan hinter sich, um sich den Gefahren von Arrakis zu stellen?

Und das war nicht das Einzige, was Stilgar zu denken gab. Würde Jessica seine Zweifel bemerken? Sie war eine Bene-Gesserit-Hexe. Man hatte sie in die tiefsten Geheimnisse der Schwesternschaft eingeweiht. Und sie war eine Ehrwürdige Mutter. Solche Frauen waren scharfsinnig – und gefährlich. Würde sie ihm befehlen, sich in sein eigenes Messer zu stürzen, so wie man es dem Umma-Beschützer von Liet-Kynes befohlen hatte?

Würde ich ihr gehorchen?, fragte er sich.

Auch diese Frage konnte er nicht beantworten, aber nun dachte er über Liet-Kynes nach, den Planetologen, der als Erster davon geträumt hatte, die Wüste in jene menschenfreundliche, grüne Welt zu verwandeln, zu der sie nun wurde. Liet-Kynes war Chanis Vater gewesen. Ohne ihn hätte es keinen Traum gegeben. Keine Chani. Keine königlichen Zwillinge. Diese fragile Verkettung beunruhigte Stilgar.

Wie sind wir hier zusammengekommen?Wie haben wir uns miteinander verbunden? Zu welchem Zweck? Ist es meine Aufgabe, all dem ein Ende zu setzen, dieses große Zusammenspiel zu zertrümmern?

Nun gestand er sich seinen schrecklichen inneren Drang ein. Er konnte diese Entscheidung treffen, konnte der Liebe und der Familie zuwiderhandeln, um das zu tun, was ein Naib zuweilen tun musste: zum Wohl des Stammes ein Todesurteil fällen. Aus einer bestimmten Perspektive stellte ein solcher Mord den absoluten Verrat dar, die ultimative Schandtat. Kinder zu töten! Aber sie waren nicht nur Kinder. Sie hatten die Melange zu sich genommen, hatten an der Sietchorgie teilgenommen, sie hatten in der Wüste nach Sandforellen gestochert und auch die anderen Spiele der Fremenkinder gespielt … und sie saßen im Königlichen Rat. Kinder in einem so zartem Alter – und doch klug genug, um im Rat zu sitzen. Körperlich mochten sie Kinder sein, doch an Erfahrungen waren sie uralt, mit einem umfassenden genetischen Gedächtnis geboren, einer entsetzlichen Bewusstheit, die sie und ihre Tante Alia von allen anderen lebenden Menschen unterschied.

In vielen Nächten hatte Stilgar bemerkt, dass seine Gedanken um diesen Unterschied kreisten, der die Zwillinge und ihre Tante kennzeichnete. Viele Male hatten ihn diese quälenden Gedanken aus dem Schlaf hochschrecken lassen, und er war mit nicht zu Ende geträumten Träumen in die Schlafgemächer der Zwillinge gegangen. Nun kristallisierten sich seine Zweifel klar heraus. Auch wenn man keine Entscheidung traf, war das eine Entscheidung, das war ihm bewusst. Die Zwillinge und ihre Tante hatten im Mutterleib nicht nur das Bewusstsein erlangt, sondern auch alle Erinnerungen, die ihre Vorfahren ihnen vererbt hatten. Die Abhängigkeit vom Gewürz hatte das bewirkt, die Abhängigkeit der Mütter: Lady Jessica und Chani. Jessica hatte, bevor sie vom Gewürz abhängig geworden war, einen Sohn zur Welt gebracht, Muad’Dib. Alia war danach geboren waren. Im Rückblick war die Sache völlig klar. Die von den Bene Gesserit gesteuerte Zuchtwahl hatte nach zahllosen Generationen Muad’Dib hervorgebracht, doch die Melange war in den Plänen der Schwesternschaft nicht vorgesehen gewesen. Oh, sie hatten von dieser Möglichkeit gewusst und sich vor ihr gefürchtet, hatten sie als Abscheulichkeit bezeichnet. Für ein solches Urteil mussten sie Gründe gehabt haben. Und wenn sie sagten, dass Alia eine Abscheulichkeit war, dann traf das mit Sicherheit auch auf die Zwillinge zu, denn auch Chani war abhängig gewesen, ihr Körper gesättigt vom Gewürz, und ihre Gene hatten die von Muad’Dib ergänzt.

Die Gedanken brodelten in Stilgars Kopf. Es bestand kein Zweifel daran, dass diese Zwillinge etwas waren, das über ihren Vater hinausging. Aber in welche Richtung? Der Junge sprach von der Fähigkeit, sein Vater zu sein – und er hatte diese Fähigkeit auch schon unter Beweis gestellt. Bereits als Säugling hatte Leto von Erinnerungen erzählt, von denen nur Muad’Dib hätte wissen können. Gab es weitere Vorfahren, die in diesem unermesslichen Spektrum von Erinnerungen warteten – Vorfahren, deren Glaubensdogmen und Methoden tödliche Gefahren für die Lebenden mit sich brachten?

Abscheulichkeiten, so nannten sie die heiligen Hexen der Bene Gesserit. Und doch begehrte die Schwesternschaft die Genophase dieser Kinder. Sie wollten Spermium und Eizelle ohne das störende Fleisch, das beides in sich trug. War das der Grund für Lady Jessicas Rückkehr? Sie hatte einst mit der Schwesternschaft gebrochen, um ihren Herzog zu unterstützen, aber den Gerüchten zufolge hatte sie sich den Bene Gesserit inzwischen wieder angeschlossen.

Ich könnte all diesen Träumen ein Ende machen, dachte Stilgar. Wie einfach es doch wäre.

Und einmal mehr erstaunte es ihn, dass er diese Möglichkeit überhaupt in Betracht ziehen konnte. Waren Muad’Dibs Zwillinge verantwortlich für die Wirklichkeit, die die Träume anderer auslöschte? Nein. Sie waren lediglich die Linse, durch die sich das Licht ergoss, um neue Formen im Universum zu erhellen.

Sein gequälter Geist floh zu einem uralten Fremenglauben: Gottes Befehl wird kommen, versuche nicht, ihn zu drängen. Es ist an Gott, den Weg zu weisen, und manche weichen von ihm ab.

Es war Muad’Dibs Religion, die Stilgar am meisten verstörte. Warum machte man einen Gott aus ihm? Warum vergöttlichte man einen Mann, von dem man wusste, dass er aus Fleisch und Blut war? Muad’Dibs Goldenes Elixier des Lebens hat ein bürokratisches Monstrum erzeugt, das rittlings über allen menschlichen Belangen saß. Regierung und Religion waren eins, sodass der Gesetzesbruch zur Sünde würde. Wie Rauch stieg ein Geruch von Blasphemie von jedem Zweifel an einem Regierungsedikt auf. Und wer sich der Rebellion schuldig machte, beschwor das Höllenfeuer auf sich herab.

Und doch waren es Menschen, die für jene Regierungsedikte verantwortlich waren.

Traurig schüttelte Stilgar den Kopf; er nahm die Bediensteten, die das königliche Vorzimmer zur Verrichtung ihrer morgendlichen Pflichten betreten hatten, nicht einmal wahr. Er betastete das Krismesser an seiner Hüfte, dachte an die Vergangenheit, die es symbolisierte, dachte daran, dass er mehr als einmal mit sinnlosen Aufständen sympathisiert hatte, die man auf seinen eigenen Befehl hin niedergeschlagen hatte. Er spürte eine große Verwirrung und hätte zu gerne gewusst, wie sie sich ausmerzen ließ, um wieder zu den einfachen Prinzipien zurückzukehren, für die das Messer stand. Doch die Räder des Universums ließen sich nicht zurückdrehen. Sie waren ein zu gewaltiges und zu komplexes Getriebe, das auf die graue Leere des Nicht-Seins projiziert wurde. Wenn Stilgars Messer den Zwillingen den Tod brachte, würde das nur neue Komplexitäten erzeugen, die sich in die menschliche Geschichte einwoben. Es würde neue Wogen des Chaos auslösen und die Menschheit dazu anstiften, neue Formen von Ordnung und Unordnung zu erproben.

Er seufzte. Und langsam wurde er sich der Bewegungen um ihn herum bewusst. Ja, diese Bediensteten stellten eine Art Ordnung dar, deren Dreh- und Angelpunkt Muad’Dibs Zwillinge waren. Sie bewegten sich von einem Augenblick zum nächsten und kümmerten sich um die Notwendigkeiten, die sie dort jeweils erwarteten.

Am besten macht man es ihnen nach, dachte Stilgar. Am besten kümmert man sich um alles erst dann, wenn es so weit ist … Ich bin nach wie vor ein Diener. Und mein Herr ist der mitfühlende Gott. In Gedanken rezitierte er: »Gewiss haben Wir ihnen Halseisen angelegt, die bis ans Kinn reichen, damit sie erhobenen Hauptes gehen. Und Wir haben vor ihnen eine Mauer errichtet und hinter ihnen eine Mauer errichtet. Und Wir haben sie bedeckt, damit sie nichts sehen.« So stand es im alten Glauben der Fremen geschrieben.

Stilgar nickte. Zu sehen, den nächsten Moment so vorauszuahnen, wie Muad’Dib es mit seinen Ehrfurcht gebietenden Zukunftsvisionen getan hatte, erweiterte die menschlichen Angelegenheiten um eine Gegenkraft. Es erzeugte neue Räume für Entscheidungen. Frei von Ketten zu sein – das konnte auf eine Laune Gottes hindeuten. Eine weitere Komplexität, die außerhalb menschlicher Reichweite lag.

Er nahm die Hand vom Messer. Seine Finger kribbelten von der Berührung, doch die Klinge, die einst im Maul eines Sandwurmes geschimmert hatte, blieb in der Scheide. Stilgar wusste, dass er sie nicht ziehen würde, um die Zwillinge zu töten. Er war zu einer Entscheidung gelangt. Lieber wollte er sich eine alte Tugend bewahren: Loyalität. Lieber die Komplexitäten, die man zu kennen glaubte, als die, die sich jeglichem Verständnis entzogen. Besser das Hier und Jetzt als die Zukunft eines Traumes. Der bittere Geschmack in seinem Mund verriet ihm, wie leer und abstoßend manche Träume sein konnten.

Nein, dachte er. Keine Träume mehr!

Frage: »Hast du den Prediger gesehen?«

Antwort: »Ich habe einen Sandwurm gesehen.«

Frage: »Was hat es mit dem Sandwurm auf sich?«

Antwort: »Er schenkt uns die Luft, die wir atmen.«

Frage: »Warum zerstören wir dann sein Land?«

Antwort: »Weil Shai-Hulud [der vergöttlichte Sandwurm] es befiehlt.«

– Rätsel von Arrakis, von Harq al-Ada

Wie es bei den Fremen Sitte war, standen die Atreides-Zwillinge eine Stunde vor Morgengrauen auf. Sie gähnten und streckten sich in heimlichem Einklang in ihren benachbarten Zimmern und spürten die Geschäftigkeit um sie herum. Sie hörten, wie die Bediensteten in der Vorkammer das Frühstück bereiteten, eine einfache Grütze mit Datteln und Nüssen, versehen mit einer von halbfermentiertem Gewürz abgeschöpften Flüssigkeit. Im Vorzimmer gab es Leuchtgloben, sodass ein sanfter gelber Schein durch die offenen Türbögen in die Schlafgemächer fiel. Die Zwillinge zogen sich rasch an, wobei jedes Kind das andere hörte. Sie waren übereingekommen, Destillanzüge zu tragen, um sich vor dem ausdörrenden Wüstenwind zu schützen.

Kurz darauf trafen sich die beiden im Vorzimmer, wo sie bemerkten, dass die Bediensteten ganz plötzlich verstummt waren. Leto trug einen hellbraunen Umhang mit schwarzem Saum über dem grauen, glatten Destillanzug. Seine Schwester hatte einen grünen übergeworfen. Am Hals wurden ihre Umhänge durch eine Brosche in der Form des Atreides-Falken zusammengehalten. Sie war aus Gold mit roten Edelsteinen als Augen.

Als Harah, eine von Stilgars Frauen, sah, wie sich die beiden Zwillinge herausgeputzt hatten, sagte sie: »Wie ich sehe, erweist ihr heute mit eurer Kleidung eurer Großmutter die Ehre.«

Leto nahm seine Frühstücksschale in die Hand, dann blickte er Harah in das dunkle, vom Wind gegerbte Gesicht. Er schüttelte den Kopf. »Woher willst du wissen, dass wir uns nicht selbst die Ehre erweisen?«

Unbeirrt begegnete Harah Letos spöttischen Blick und erwiderte: »Meine Augen sind genauso blau wie eure.«

Ghanima lachte laut auf. Seit jeher war Harah äußerst begabt im Fremenspiel der Rätselfragen. In einem einzigen Satz hatte sie gesagt: »Zieh mich nicht auf, Junge. Du magst von königlichem Geblüt sein, aber wir tragen beide das Mal der Gewürzabhängigkeit – Augen ohne Weiß. Welcher Fremen braucht darüber hinaus noch einen feinen Aufzug oder mehr Ehre?«

Leto lächelte und schüttelte reuig den Kopf. »Harah, meine Liebe, wenn du nur jünger wärst und nicht schon Stilgar gehören würdest, ich würde dich zu der Meinen machen.«

Harah nahm ihren kleinen Sieg ohne viel Aufhebens zur Kenntnis und bedeutete den anderen Bediensteten, die Gemächer weiter für diesen wichtigen Tag vorzubereiten. »Esst euer Frühstück. Ihr werdet heute Kraft brauchen.«

»Dann bist du auch der Meinung, dass wir uns nicht zu sehr für unsere Großmutter herausgeputzt haben?«, fragte Ghanima mit vollem Mund.

»Fürchtet sie nicht, Ghani«, sagte Harah.

Leto schluckte eine Portion Brei herunter und bedachte Harah mit einem durchdringenden Blick. Sie war eine bauernschlaue Frau, die das Spiel von Tand und Schein nur zu schnell durchschaute. »Wird sie denken, dass wir sie fürchten?«, fragte Leto.

»Das kann gut sein«, erwiderte Harah. »Denkt dran, dass sie unsere Ehrwürdige Mutter war. Ich kenne ihre Methoden.«

»Wie war denn Alia gekleidet?«, fragte Ghanima.

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte Harah mit tonloser Stimme und wandte sich ab.

Leto und Ghanima wechselten einen Blick, der von geteilten Geheimnissen zeugte, dann beugten sie sich schnell wieder über ihr Frühstück. Nachdem sie es beendet hatten, traten sie auf den Hauptgang hinaus.

»Heute haben wir also eine Großmutter«, sagte Ghanima in einer der alten Sprachen, die sie durch ihre genetische Erinnerung miteinander teilten.

»Das macht Alia schwer zu schaffen«, erwiderte Leto.

»Ja, wer gibt schon gerne ein solches Maß an Autorität auf?«

Leto lachte leise, ein seltsam erwachsener Laut aus einem so jungen Körper. »Es ist mehr als das.«

»Werden die Augen ihrer Mutter sehen, was wir gesehen haben?«

»Warum sollten sie nicht?«

»Ja … vielleicht fürchtet sich Alia davor.«

»Wer erkennt eine Abscheulichkeit besser als eine andere Abscheulichkeit?«

»Denk daran, dass auch wir uns irren könnten.«

»Aber wir irren uns nicht.« Und Leto zitierte aus dem Buch Azhar der Bene Gesserit: »Es ist aus gutem Grund und schrecklicher Erfahrung heraus so, dass wir die Vorgeborenen als Abscheulichkeit bezeichnen. Denn wer weiß, welche verlorenen und verdammten Persönlichkeiten aus unserer bösen Vergangenheit das lebende Fleisch übernehmen können.«

»Ich kenne die Geschichte dahinter«, sagte Ghanima. »Aber, wenn das wahr ist, warum erleiden wir dann nicht diesen inneren Ansturm?«

»Vielleicht halten unsere Eltern in unserem Inneren Wache.«

»Und warum hat Alia keine Wächter?«

»Das weiß ich nicht. Es könnte daran liegen, dass ein Elternteil noch unter den Lebenden weilt. Vielleicht ist der Grund auch einfach, dass wir noch jung und stark sind. Wenn wir älter und zynischer werden …«

»Wir müssen bei unserer Großmutter sehr vorsichtig sein.«

»Und nicht über den Prediger reden, der über den Planeten zieht und ketzerische Reden führt?«

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass er unser Vater ist?«

»Ich fälle darüber kein Urteil. Aber Alia fürchtet ihn.«

Ghanima schüttelte energisch den Kopf. »Ich glaube diesen Unsinn von den Abscheulichkeiten nicht.«

»Du hast ebenso viele Erinnerungen wie ich. Du kannst glauben, was du willst.«

»Du meinst, es liegt daran, dass wir im Gegensatz zu Alia nicht das Wagnis der Gewürztrance eingegangen sind.«

»Eben das meine ich.«

Sie verfielen in Schweigen und mischten sich unter die Menschen im Hauptgang. Es war kühl in Sietch Tabr, aber die Destillanzüge waren warm, und die Zwillinge hatten die Kondensationskapuzen zurückgeschlagen, sodass ihr rotes Haar gut sichtbar war. Ihre Gesichter verrieten ihre gemeinsamen Gene: volle Lippen und weit auseinanderstehende Augen, die im Blau-in-Blau des Gewürzabhängigen schimmerten.

Leto bemerkte als Erster, dass sich ihre Tante Alia näherte.

»Da kommt sie«, sagte er und wechselte in die Kampfsprache der Atreides, um seine Schwester zu warnen.

Alia blieb vor ihnen stehen, und Ghanima nickte ihrer Tante zu. »Eine Kriegsbeute grüßt ihre erhabene Verwandte«, sagte sie in Chakobsa und hob dabei die Bedeutung ihres eigenen Namens hervor: Kriegsbeute.

»Wie du siehst, geliebte Tante«, sagte Leto, »bereiten wir uns auf unsere Begegnung mit deiner Mutter vor.«

Alia, die einzige Person im königlichen Haushalt, die vom erwachsenen Verhalten der Zwillinge nicht im Geringsten überrascht war, warf Leto und Ghanima einen finsteren Blick zu. »Schweigt still, alle beide!«, zischte sie. Ihr bronzefarbenes Haar wurde hinten von zwei goldenen Wasserringen zusammengehalten. Auf ihrem ovalen Gesicht lag ein Stirnrunzeln, und ihre breiten Lippen mit den leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln, die eine gewisse Verwöhntheit verrieten, waren fest zusammengepresst. Sie hatte fächerförmige Sorgenfalten in den Winkeln der ganz und gar blauen Augen. »Ich habe euch beide bezüglich eures Benehmens heute vorgewarnt«, fuhr sie fort. »Ihr kennt den Grund dafür genauso gut wie ich.«

»Wir kennen deine Gründe, aber vielleicht kennst du nicht die unseren«, erwiderte Ghanima.

»Ghani!«, knurrte Alia.

Leto bedachte seine Tante seinerseits mit einem finsteren Blick. »Heute werden wir nicht so tun, als wären wir einfältige Kleinkinder.«

»Niemand will, dass ihr euch einfältig zeigt«, sagte Alia. »Aber wir halten es für unklug, wenn ihr meine Mutter auf gefährliche Gedanken bringt. Irulan ist der gleichen Meinung. Wer weiß, für welche Rolle sich Lady Jessica entscheiden wird. Sie ist immerhin eine Bene Gesserit.«

Leto schüttelte den Kopf. Warum erkennt Alia nicht, was wir vermuten?, fragte er sich. Hat sie die Grenze schon zu weit überschritten? Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die subtilen Genmarker in Alias Gesicht, die auf ihren Großvater mütterlicherseits hindeuteten. Baron Vladimir Harkonnen war keine sehr angenehme Person gewesen. Als sich Leto das bewusst machte, spürte er, wie sich in ihm eine leise Unruhe regte. Er ist auch mein Vorfahr. Laut sagte er: »Man hat Lady Jessica zum Herrschen ausgebildet.«

Ghanima nickte. »Warum hat sie beschlossen, gerade jetzt zurückzukehren?«

Alia runzelte die Stirn. »Könnte es sein, dass sie einfach nur ihre Enkelkinder sehen will?«

Das hoffst du, liebe Tante, dachte Ghanima. Aber es ist sehr unwahrscheinlich.

»Sie kann hier nicht herrschen«, fuhr Alia fort. »Sie hat Caladan. Das muss ihr genügen.«

»Als unser Vater zum Sterben in die Wüste gegangen ist«, sagte Ghanima, »hat er dich als Regentin zurückgelassen. Er …«

»Willst du dich beschweren?«, unterbrach sie Alia unwirsch.

»Es war eine vernünftige Wahl«, sagte Leto. »Du warst die Eine, die wusste, wie es ist, wie wir geboren zu sein.«

»Den Gerüchten zufolge ist meine Mutter in den Schoß der Schwesternschaft zurückgekehrt«, sagte Alia. »Und ihr wisst beide, wie die Bene Gesserit über …«

»Abscheulichkeiten«, warf Leto ein.

»Ja!«, zischte Alia.

»Einmal eine Hexe, immer eine Hexe – so heißt es«, sagte Ghanima.

Schwester, du spielst ein gefährliches Spiel, dachte Leto und sagte: »Unsere Großmutter war eine einfachere Frau als andere ihrer Art. Du teilst ihre Erinnerungen, Alia. Du weißt doch sicher, was wir zu erwarten haben.«

»Einfacher!« Alia schüttelte den Kopf, blickte sich zu den vorbeiziehenden Menschen um und sah dann wieder die Zwillinge an. »Wenn meine Mutter so einfach wäre, gäbe es keinen von euch beiden. Und mich auch nicht. Ich wäre ihre Erstgeborene gewesen, und nichts von alledem …« Ein Zucken, das fast wie ein Schaudern aussah, ließ Alias Schultern erzittern. »Ich warne euch, nehmt euch heute gut in Acht.« Sie blickte auf. »Da kommt meine Wache.«

»Und du denkst immer noch, dass es nicht sicher für uns ist, dich zum Raumhafen zu begleiten?«, fragte Leto.

»Wartet hier«, wies Alia die Zwillinge an. »Ich bringe sie her.«

Leto sah kurz zu seiner Schwester, dann sagte er: »Du hast uns schon viele Mal gesagt, dass die Erinnerungen, die wir von unseren Vorfahren haben, nicht besonders nützlich sind, solange wir nicht in unseren eigenen Körpern genug Erfahrungen gemacht haben, um sie in etwas Wirkliches zu verwandeln. Meine Schwester und ich glauben das. Wir gehen davon aus, dass die Ankunft unserer Großmutter gefährliche Veränderungen zur Folge haben wird.«

»Dann glaubt das auch weiterhin«, sagte Alia. Sie wandte sich ab, trat zurück in den Schutz ihrer Wachen und ging mit ihnen rasch den Gang entlang zum Hauptportal, wo mehrere Ornithopter auf sie warteten.

Ghanima wischte sich eine Träne aus dem rechten Auge.

»Wasser für die Toten?«, flüsterte Leto und legte die Hand auf ihren Arm.

Ghanima holte tief seufzend Luft und dachte daran, was sie bei Alia mit den Methoden, die sie aus den gesammelten Erinnerungen ihrer Vorfahren am besten kannte, beobachtet hatte. »Kommt es von der Gewürztrance?«, fragte sie.

»Hast du eine bessere Idee?«

»Um der Diskussion willen: Warum ist unser Vater … oder unsere Großmutter … nicht dem gleichen Schicksal anheimgefallen?«

Für einen Moment sah Leto seine Schwester an. Dann sagte er: »Du kennst die Antwort auf diese Frage ebenso gut wie ich. Sie hatten bereits gefestigte Persönlichkeiten, als sie nach Arrakis kamen. Die Gewürztrance … nun …« Er zuckte mit den Schultern. »Bei ihrer Geburt waren sie noch nicht von ihren Vorfahren besessen. Alia hingegen …«

»Warum hat sie den Warnungen der Bene Gesserit keinen Glauben geschenkt?« Ghanima kaute auf ihrer Unterlippe. »Sie konnte doch auf die gleichen Informationen zurückgreifen wie wir.«

»Man hat sie bereits als Abscheulichkeit bezeichnet. Reizt es dich nicht, herauszufinden, ob du stärker bist als all diese …«

»Nein, das reizt mich nicht.« Unter dem forschenden Blick ihres Bruders wandte sich Ghanima ab und erschauerte. Sie musste nur auf ihre genetischen Erinnerungen zurückgreifen, damit die Warnungen der Schwesternschaft lebhafte Gestalt annahmen. Die Vorgeborenen neigten sichtlich dazu, als Erwachsene hässliche Gewohnheiten zu entwickeln. Und die wahrscheinliche Ursache dafür … Erneut erschauerte sie.

»Ein Jammer, dass wir nicht ein paar Vorgeborene unter unseren Ahnen haben«, sagte Leto.

»Vielleicht haben wir das ja.«

»Aber dann würden wir … Ah ja, die alte unbeantwortete Frage: Haben wir wirklich freien Zugriff auf das gesamte Erfahrungsmaterial unserer Vorfahren?« Sein eigener innerer Aufruhr ließ Leto erahnen, wie sehr dieses Gespräch seine Schwester verstören musste. Schon viele Male hatten sie über diese Frage nachgedacht und waren dabei nie zu einem Ergebnis gekommen. »Wir müssen es hinauszögern, wieder und wieder, wenn sie uns die Trance aufdrängen will«, sagte er. »Extreme Vorsicht, wenn es um hohe Gewürzdosen geht, das ist die beste Strategie.«

»Es müsste schon eine wirklich hohe Dosis sein«, sagte Ghanima.

»Ja, wir verfügen vermutlich über eine gewisse Toleranz. Denk nur daran, wie viel Alia braucht.«

»Sie tut mir leid. Das Gewürz war bestimmt eine unmerkliche Lockung für sie, bis eines Tages …«

»Sie ist ein Opfer, ja. Eben eine Abscheulichkeit.«

»Wir könnten uns irren.«

»Stimmt.«

»Ich frage mich immer, ob die nächste Erinnerung eines Vorfahren, die ich aufsuche, die von …«

»Die Vergangenheit ist nur so weit entfernt wie dein Kopfkissen.«

»Wir müssen eine Gelegenheit finden, mit unserer Großmutter darüber zu sprechen.«

Leto nickte. »Ja, dazu drängen mich ihre Erinnerungen in mir.«

Ghanima begegnete seinem Blick. »Zu viel Wissen führt niemals zu einfachen Entscheidungen.«

Der Sietch am Rande der Wüste

War der von Liet, der von Kynes

War der von Stilgar, war Muad’Dibs

Und einmal mehr war er Stilgars.

Ein Naib nach dem anderen schläft im Sand

Aber der Sietch besteht fort.

– Aus einem Fremenlied

Alia spürte das Pochen ihres Herzens, als sie sich von den Zwillingen entfernte. Einige pulsierende Sekunden lang hatte sie den Drang verspürt, die beiden um Hilfe zu bitten. Welch alberne Schwäche! Die Erinnerung daran schickte eine warnende Ruhe durch ihren Körper. Würden die Zwillinge es wagen, in die Zukunft zu blicken? Der Weg, der ihren Vater verschlungen hatte, musste auch sie locken – die Gewürztrance mit ihren Zukunftsvisionen, die wie Gaze in einem launischen Wind wogten.

Warum kann ich nicht in die Zukunft sehen?, fragte sie sich. So sehr ich es auch versuche, warum entzieht sie sich mir?

Man musste die Zwillinge dazu bringen, es zu versuchen, sagte sie sich. Man könnte sie dorthin locken. Sie hatten die Neugier von Kindern – verbunden mit Erinnerungen, die Jahrtausende umspannten.

Genau wie ich.

Alias Wachen öffneten die Feuchtigkeitssiegel am Hauptportal des Sietchs, und sie trat auf die Landezunge, wo die Ornithopter warteten. Der Wüstenwind wehte Staub über den Himmel, aber es war dennoch ein heller Tag. Als Alia aus der Leuchtglobendüsternis des Sietchs ins Tageslicht trat, weiteten sich ihre Gedanken.

Warum kehrte Lady Jessica gerade jetzt zurück? Waren Gerüchte nach Caladan vorgedrungen, dass die Regentschaft …

»Wir müssen uns beeilen, Mylady«, sagte eine der Wachen mit lauter Stimme, um das Heulen des Windes zu übertönen.

Alia ließ sich in ihren Ornithopter helfen und legte das Sicherheitsgeschirr an, doch ihre Gedanken eilten ihr voraus.

Ja, warum jetzt?

Als sich die Flügel des Ornithopters senkten und sich das Fluggerät in die Lüfte erhob, spürte sie den Glanz und die Macht ihrer Position als etwas Körperliches – und als etwas Zerbrechliches, so Zerbrechliches!

Warum jetzt, wo ihre Pläne noch nicht vollendet waren?

Die Staubwolke hob sich, und Alia sah die sich verändernde Landschaft des Planeten im hellen Sonnenlicht: breite Streifen grünen Bewuchses, wo es einst nur ausgedörrten Boden gegeben hatte.

Ohne eine Zukunftsvision versage ich möglicherweise. Ach, welche Magie ich doch wirken könnte, wäre ich nur in der Lage zu sehen, wie Paul gesehen hat. Ich würde nicht unter der Verbitterung leiden, die die Vorahnungen bei ihm erzeugt hatten.

Ein quälender Hunger ließ sie erzittern, und sie wünschte sich, all dieser Macht entsagen zu können. Zu sein wie andere waren – gefangen in der sichersten Blindheit, die es nur gab. Das hypnoide Halbleben zu leben, in das der Geburtsschock die meisten Menschen stürzte. Aber nein! Sie war als eine Atreides zur Welt gekommen, als Opfer jenes äonentiefen Bewusstseins, das die Gewürzabhängigkeit ihrer Mutter erzeugt hatte.

Warum kehrt meine Mutter heute zurück?

Gurney Halleck würde bei ihr sein – immer der treue Diener, der Auftragsmörder mit dem hässlichen Gesicht, loyal und geradlinig, ein Musiker, der mit flinkem Dolch den Tod brachte und mit der gleichen Leichtigkeit auf dem neunsaitigen Balisett zu unterhalten wusste. Einige behaupteten, er sei zum Liebhaber ihrer Mutter aufgestiegen. Diesem Gerücht sollte sie nachgehen, so etwas konnte sich als höchst wertvolles Druckmittel erweisen.

Jetzt verließ sie der Wunsch, wie andere zu sein, wieder.

Ja, Leto muss in die Gewürztrance gelockt werden, dachte sie.

Sie erinnerte sich, dass sie den Jungen gefragt hatte, wie er mit Gurney Halleck umgehen wollte. Und Leto, der erahnt hatte, dass sich mehr hinter ihrer Frage verbarg, hatte geantwortet, dass Halleck »geradezu übertrieben« loyal sei, und hatte hinzugefügt: »Er hat … meinen Vater verehrt.«

Alia war sein kurzes Zögern aufgefallen. Statt »meinen Vater« hatte Leto beinahe »mich« gesagt. Ja, es war nicht leicht, die genetischen Erinnerungen vom Akkord des lebendigen Fleisches zu unterscheiden. Gurney Halleck würde diese Unterscheidung für Leto nicht leichter machen.

Ein kaltes Lächeln huschte über Alias Lippen.

Gurney hatte sich dafür entschieden, nach Pauls Tod gemeinsam mit Lady Jessica nach Caladan zu reisen. Seine Rückkehr nach Arrakis würde viele Verwicklungen nach sich ziehen, er würde hier die vorhandenen Fäden um seine eigenen Komplexitäten ergänzen. Er hatte Pauls Vater gedient – und der Thron war von Leto I. auf Paul und dann auf Leto II. übergegangen. Und aus dem Zuchtprogramm der Bene Gesserit waren nach Jessica erst Alia und dann Ghanima hervorgegangen – ein Nebenzweig. Gurney, der die Verwirrung der Identitäten noch vergrößerte, mochte sich hier als wertvoll erweisen.

Was würde er tun, wenn er herausfände, dass wir das Blut der Harkonnen in uns tragen, die er so erbittert hasst?

Das Lächeln auf Alias Lippen kehrte sich nach innen. Die Zwillinge waren trotz allem Kinder. Kinder mit unzähligen Eltern, deren Erinnerungen zur gleichen Zeit anderen und ihnen selbst gehörten. Sie würden auf der Felsklippe vor dem Sietch Tabr stehen und die Spur betrachten, die das Schiff ihrer Großmutter bei der Landung im Becken von Arrakeen hinterließ. Das brennende Mal eines vorbeifliegenden Schiffes am Himmel – würde das Jessicas Ankunft für ihre Enkelkinder wirklicher werden lassen?

Meine Mutter wird mich nach der Ausbildung der beiden fragen. Ob ich die Prana-Bindu-Disziplinen für sie klug zusammenstelle? Ich werde ihr sagen, dass sie sich selbst ausbilden – genau so, wie ich es einst getan habe. Ich werde ihren Enkel zitieren: »In die Verantwortung des Befehlshabers fällt die Notwendigkeit, zu bestrafen. Aber nur, wenn das Opfer es verlangt.«

Alia wurde klar, dass sie die Aufmerksamkeit Lady Jessicas nur nachdrücklich genug auf die Zwillinge lenken musste, damit andere einer genaueren Begutachtung entgingen.

So etwas ließ sich bewerkstelligen. Leto ähnelte Paul sehr. Und warum auch nicht? Er konnte Paul sein, wann immer er wollte. Auch Ghanima verfügte über diese erschütternde Fähigkeit.

So, wie ich zu meiner Mutter werden kann oder zu jeder anderen, die ihr Leben mit uns geteilt hat.

Vor diesem Gedanken zurückschreckend, sah Alia auf die vorbeiziehende Landschaft des Schildwalls hinab. Wie war es für meine Mutter, dachte sie, die Sicherheit des wasserreichen Caladan hinter sich zu lassen und nach Arrakis zurückzukehren, auf den Wüstenplaneten, wo man ihren Herzog ermordet hat und ihr Sohn als Märtyrer gestorben ist?

Warum kehrte sie gerade jetzt zurück?

Alia fand keine Antwort, keine Gewissheit. Sie konnte am Ichbewusstsein eines anderen teilhaben, doch wenn Erfahrungen getrennte Wege gingen, begannen auch die Motive voneinander abzuweichen. Entscheidungen entstanden aus den Handlungen einzelner. Für die vorgeborenen, die vielgeborenen Atreides war dies eine übergeordnete Realität, die eine weitere Art von Geburt darstellte: die absolute Trennung, die das lebende, atmende Fleisch erfuhr, wenn es den Mutterleib verließ, in dem das multiple Bewusstsein es heimgesucht hatte.

Alia fand nichts Seltsames daran, ihre Mutter zugleich zu lieben und zu hassen. Es handelte sich um eine Notwendigkeit, ein erforderliches Gleichgewicht, das keinen Raum für Schuldgefühle oder Schuldzuweisungen ließ. Wo hörte Lieben oder Hassen auf? Konnte man den Bene Gesserit die Schuld daran geben, dass sie Lady Jessica auf einen bestimmten Weg gebracht hatten? Schuld und Schuldzuweisungen verschwammen, wenn das Gedächtnis Jahrtausende umfasste. Die Schwesternschaft hatte versucht, einen Kwisatz Haderach zu züchten, das männliche Gegenstück zu einer voll entwickelten Ehrwürdigen Mutter – und mehr: einen Menschen von überlegener Wahrnehmungsfähigkeit und Bewusstheit, der an vielen Orten zugleich sein konnte. Und Jessica, die bei diesem Zuchtprogramm lediglich eine von vielen Spielfiguren gewesen war, hatte sich in den ihr zugeteilten Zuchtpartner verliebt, ein unerhörter Vorgang. Empfänglich für die Wünsche ihres Herzogs, hatte sie entgegen dem Willen der Schwesternschaft als erstes Kind einen Sohn anstelle einer Tochter geboren.

Sie hat zugelassen, dass ich erst nach Beginn ihrer Gewürzabhängigkeit zur Welt kam. Und nun will man mich nicht. Nun fürchtet man mich! Aus gutem Grund.

Mit Paul, dem Kwisatz Haderach, hatten die Bene Gesserit ihr Ziel erreicht. Aber es war eine Generation zu früh – ein kleiner Rechenfehler in einem riesigen, weit ausgreifenden Plan. Und sie hatten ein weiteres Problem: die Abscheulichkeit, die die kostbaren Gene in sich trug, nach denen die Schwesternschaft über so viele Generationen hinweg gesucht hatte.

Alia bemerkte einen Schatten, der über die Scheibe des Thopters zog, und blickte auf. Ihre Eskorte stieg höher, um sie bei der Landung abzuschirmen. Verwundert darüber, wie weit ihre Gedanken gewandert waren, schüttelte sie den Kopf. Was brachte es schon, die alten Zeiten ans Licht zu zerren und die damals begangenen Fehler hin und her zu wälzen? Das hier war die Gegenwart.

Auch Duncan Idaho hatte sein Mentatenbewusstsein der Frage zugewandt, warum Jessica gerade jetzt zurückkehrte und das Problem gemäß seiner Gabe nach Art eines menschlichen Computers betrachtet. Seinen Worten zufolge kehrte Jessica zurück, um für die Schwesternschaft die Kontrolle über die Zwillinge zu übernehmen. Denn auch die Zwillinge trugen die kostbaren Gene in sich. Duncan mochte recht haben. Das könnte Grund genug sein, um Lady Jessica aus ihrer selbstauferlegten Abgeschiedenheit auf Caladan zu holen. Wenn es die Schwesternschaft befahl … Warum sonst sollte sie an den Schauplatz so vieler Ereignisse zurückkehren, die sie am Boden zerstört zurückgelassen hatten?

»Wir werden sehen«, murmelte Alia.

Sie spürte, wie der Ornithopter auf dem Dach ihrer Festung aufsetzte, ein Ruck, der sie mit grimmiger Erwartung erfüllte.

Melange (me´-lange, auch ma,lanj), n., fem., Ursprung unklar (es wird jedoch angenommen, dass es aus dem urterranischen Frandj stammt): a) Eine Mischung von Gewürzen; b) Gewürz von Arrakis mit geriatrischen Eigenschaften, die zuerst von Yanshuph Ashkoko, dem königlichen Chemiker zur Regierungszeit von Shakkad dem Weisen, bemerkt wurden; Arrakisches Gewürz, ausschließlich im tiefsten Wüstensand des Planeten zu finden, steht im Zusammenhang mit den prophetischen Visionen von Paul Muad’Dib (Atreides), dem ersten Fremen-Mahdi; wird auch von den Navigatoren der Raumgilde und den Bene Gesserit eingesetzt.

– Königliches Wörterbuch, fünfte Auflage

Im Licht der Morgendämmerung kamen die zwei Großkatzen in lockerem Trott über den Felsenkamm. Sie waren gerade nicht auf der Jagd, sondern begutachteten ihr Revier. Sie wurden Lazatiger genannt, eine ganz besondere Art, die man vor beinahe achttausend Jahren hierher, auf den Planeten Salusa Secundus, gebracht hatte. Durch Manipulationen ihrer von der alten Erde stammenden Gene hatte man einige ihrer ursprünglichen Tiger-Eigenschaften beseitigt und andere verfeinert. Ihre Reißzähne waren nach wie vor lang. Ihre Gesichter waren breit, die Augen wachsam und intelligent. Ihre Pfoten hatte man vergrößert, um ihnen besseren Halt auf unebenem Gelände zu geben. Ihre Krallen konnten sie bis zu zehn Zentimeter weit ausfahren, und die aufgerauten Krallenscheiden sorgten dafür, dass ihre Spitzen rasiermesserscharf waren. Ihr Fell war von einem glatten, ebenmäßigen Hellbraun, das sie im Sand beinahe unsichtbar machte.

Und noch in einer anderen Hinsicht unterschieden sie sich von ihren Vorfahren: Als Kätzchen hatte man ihnen Servostimulatoren ins Gehirn eingesetzt. Diese Stimulatoren machten sie zu Marionetten desjenigen, der den dazugehörigen Transmitter besaß.

Es war kalt, und als die Katzen innehielten, um den Blick über die Landschaft schweifen zu lassen, stieg ihr Atem in Dampfwolken auf. Die Gegend um sie herum war ein Teil von Salusa Secundus, den man kahl und unfruchtbar belassen hatte, ein Ort, der einige wenige Sandforellen beherbergte, die man von Arrakis hierher geschmuggelt hatte und nun mit großer Mühe am Leben hielt, weil man davon träumte, das Melange-Monopol des Wüstenplaneten zu brechen. Wo die Großkatzen standen, erhoben sich einige braunrote Felsen und ein paar dürre Sträucher, die in den langen Schatten der Morgensonne silbergrün aussahen.

Eine winzige Bewegung ließ die Katzen mit einem Mal aufmerken. Ihre Augen wanderten langsam nach links, dann drehten sie auch ihre Köpfe. Weit unten in der rissigen Ebene mühten sich zwei Kinder Hand in Hand eine trockene Rinne hoch. Sie schienen im gleichen Alter zu sein, vielleicht neun oder zehn Standardjahre. Ihr Haar war rot. Sie trugen Destillanzüge, die von prächtigen weißen Burkas verdeckt waren. Die Säume und die Stirnpartien der Burkas waren mit Stickereien aus Flammensteinfäden verziert, die das Falkenwappen des Hauses Atreides zeigten. Während sie aufstiegen, plapperte die Kinder fröhlich miteinander, und ihre Stimmen trugen deutlich hörbar bis zu den Katzen. Die Lazatiger kannten dieses Spiel, sie hatten es schon einige Male gespielt, trotzdem blieben sie vorerst ruhig und warteten darauf, dass die Servostimulatoren das Signal zum Beginn der Jagd gaben.

In diesem Moment erschien ein Mann auf dem Felskamm hinter den Katzen. Er hielt inne und begutachtete die Szenerie: die Katzen, die Kinder. Der Mann trug die grauschwarze Arbeitsuniform der Sardaukar mit den Abzeichen eines Levenbrech, dem Helfer eines Baschar. In seinem Nacken und unter seinen Armen hindurch verliefen Gurte, die den Servotransmitter vor seiner Brust hielten, sodass er mit jeder Hand leicht an die Steuerkonsole kam.

Die Katzen wandten sich nicht um, als er sich näherte. Sie erkannten den Mann an den Geräuschen, die er verursachte, und an seinem Geruch. Er kletterte den Hang hinab, blieb zwei Schritte von den Katzen entfernt stehen und wischte sich über die Stirn. Die Luft war kühl, aber bei dieser Arbeit wurde ihm immer heiß. Erneut ließ er den Blick seiner hellen Augen über die Szenerie schweifen: die Katzen, die Kinder. Er schob eine feuchte blonde Haarsträhne unter den schwarzen Arbeitshelm zurück und legte die Hand an das in seinen Kehlkopf implantierte Mikrofon.

»Die Katzen haben Sichtkontakt aufgenommen.«

Durch den hinter seinen beiden Ohren eingesetzten Empfänger erhielt er die Antwort: »Wir sehen sie.«

»Diesmal?«, fragte der Levenbrech.

»Machen sie es ohne Jagdbefehl?«, erwiderte die Stimme.

»Sie sind bereit.«

»Nun gut. Dann wollen wir sehen, ob vier Konditionierungssitzungen genügen.«

»Sagen Sie, wenn es losgehen soll.«

»Jederzeit.«

»Dann jetzt.« Der Levenbrech berührte die rote Taste auf der Konsole des Servotransmitters, nachdem er den Riegel gelöst hatte, mit dem sie gesichert war. Jetzt wurde den Katzen kein Signal mehr übermittelt, das sie zurückhielt. Dann hielt er die Hand über eine schwarze Taste unterhalb der roten, mit der er die Tiere jederzeit stoppen konnte, sollten sie sich gegen ihn wenden. Aber die Katzen nahmen ihn gar nicht zur Kenntnis. Sie kauerten sich hin und schlichen den Felskamm hinab auf die Kinder zu. Die großen Pfoten setzten mit geschmeidigen, gleitenden Bewegungen auf dem rissigen Boden auf.

Der Levenbrech ging in die Hocke, um zuzusehen, wohl wissend, dass irgendwo in seiner Nähe ein verstecktes Übertragungsauge all diese Ereignisse an die Festung seines Herrn weitergab.

Jetzt bewegten sich die Katzen in weiten Sätzen. Und dann rannten sie.

Die Kinder, die den Weg durch das steinige Gelände nehmen wollten, waren sich der Gefahr noch immer nicht bewusst. Eines von ihnen lachte, ein hoher, trällernder Laut in der klaren Luft. Das andere Kind stolperte, und dann, als es sein Gleichgewicht wiederfand, sah es die Katzen. Es deutete mit dem Finger auf sie. »Schau mal!«

Die Kinder hielten inne und starrten diese interessanten Eindringlinge in ihr gewohntes Leben an. Sie standen immer noch da, als sich die Lazatiger auf sie stürzten, einer auf jedes Kind. Die Kinder starben mit beiläufiger Schnelligkeit, die Hälse innerhalb eines Augenblicks gebrochen. Die Katzen fingen an zu fressen.

»Soll ich sie zurückrufen?«, fragte der Levenbrech.

»Lassen Sie sie auffressen. Sie haben ihre Sache gut gemacht. Das wusste ich gleich – diese beiden sind erstklassig.«

»Die besten, die ich je gesehen habe«, pflichtete der Levenbrech bei.

»Sehr gut. Wir schicken jemanden, der Sie abholt. Ende.«

Der Levenbrech erhob sich und streckte seine Glieder. Er vermied es, direkt nach links oben zu blicken, wo ein Glitzern den Standort des Übertragungsauges verriet, das seine Leistung an seinen Baschar weitergegeben hatte, der sich weit entfernt in den grünen Ländereien der Hauptstadt befand. Der Levenbrech lächelte. Seine heutige Arbeit würde ihm eine Beförderung eintragen. Er spürte schon das Abzeichen eines Bators am Hals … und eines Tages das eines Bursegs … und irgendwann das eines Baschars. Wer im Korps von Farad’n, dem Enkel des verstorbenen Shaddam IV., gute Arbeit leistete, verdiente sich ansehnliche Beförderungen. Und bald, wenn der Fürst auf seinem rechtmäßigen Thron saß, würden die Beförderungen sogar noch üppiger ausfallen. Wer weiß, vielleicht war er als Baschar ja noch nicht am Ende seiner Karriere. Es gab Baronien und Grafschaften auf den vielen Welten des Reiches zu vergeben … wenn die Atreides-Zwillinge erst beseitigt waren.

Der Fremen muss zu seinem ursprünglichen Glauben zurückkehren, zu seinem Genie darin, menschliche Gemeinschaften zu bilden. Er muss in die Vergangenheit zurückkehren, als er diese überlebenswichtige Lektion im Kampf mit Arrakis lernte. Der Fremen sollte einzig und allein damit beschäftigt sein, seine Seele den inneren Lehren zu öffnen. Die Welten des Imperiums, des Landsraads und der MAFEA-Konföderation haben ihm nichts zu vermitteln. Sie rauben ihm nur die Seele.

– Der Prediger in Arrakeen

Um Jessica herum, bis weit auf die graubraune Fläche des Landefelds hinaus, auf dem ihr Transporter nach seinem Flug durch den Weltraum knackend und ächzend ruhte, war ein Meer von Menschen. Sie schätzte, dass die Menge aus etwa einer halben Million Personen bestand, von denen wohl nur ein Drittel Pilger waren. Sie verharrten in ehrfürchtiger Stille, die Aufmerksamkeit auf die Landerampe des Transporters gerichtet, wo Jessica und ihre Begleiter, noch in den Schatten verborgen, in der Ausstiegsluke standen.

Es waren noch zwei Stunden bis Mittag, aber in der Luft über der Menge war schon jetzt ein staubiger Schimmer zu sehen, der einen heißen Tag versprach.

Jessica berührte ihr kupferrotes und silberdurchwirktes Haar, das unter der Kapuze der Aba-Robe ihr ovales Gesicht umrahmte. Ihr war bewusst, dass sie nach der langen Reise ziemlich mitgenommen aussah und dass ihr das Schwarz der Robe nicht besonders gut stand. Aber sie trug dieses Kleidungsstück nicht zum ersten Mal. Die Fremen wussten um die Bedeutung der Aba-Robe. Jessica seufzte. Raumflüge bekamen ihr nicht, und dann war da noch die Bürde der Erinnerung – an jene andere Reise von Caladan nach Arrakis, als man ihren Herzog gezwungen hatte, dieses Lehen zu übernehmen.

Sie ließ den Blick über die Menge schweifen und hielt dabei mit den Fähigkeiten, die ihr die Bene-Gesserit-Ausbildung verlieh, nach auffälligen Details Ausschau. Da waren stumpfgraue Destillanzugskapuzen, die Kleidung der Fremen aus der tiefen Wüste; da waren weiß gewandete Pilger mit Büßerstriemen auf den Schultern; da waren reiche Händler, die keine Kapuzen und nur leichte Kleidung trugen, um zu zeigen, dass sie der Verlust von Wasser an Arrakeens ausdörrende Luft nicht kümmerte … Und da war eine Delegation von der Gesellschaft der Gläubigen in grünen Roben und mit schweren Kapuzen, die den Kreis ihrer eigenen frommen Gruppe nicht verließ.

Erst als Jessica den Blick von der Menge hob, begann die Szenerie jener zu ähneln, die sich ihr damals bei der Ankunft zusammen mit ihrem Herzog dargeboten hatte. Wie lange war das her? Über zwanzig Jahre. Sie dachte nicht gerne über die Herzschläge nach, die in jener Zeit verstrichen waren. Die Zeit lag ihr im Magen wie ein totes Gewicht, und doch kam es ihr vor, als hätten sich die Jahre weit weg von diesem Planeten nie ereignet.

Einmal mehr in den Drachenschlund, dachte sie.

Hier, auf dieser Ebene, hatte ihr Sohn dem inzwischen verstorbenen Shaddam IV. das Imperium entrissen. Eine Zuckung der Geschichte hatte diesen Ort dem Geist und dem Glauben der Menschen eingeprägt.

Jessica spürte, wie das Gefolge hinter ihr unruhig wurde, und erneut seufzte sie. Sie mussten auf Alia warten, die sich verspätete. Gerade sah man, wie sich Alias Trupp vom anderen Ende der Menge her näherte, wobei ihr die königliche Wache einen Weg bahnte und die Menschen wie eine Bugwelle vor sich herschob.

Einmal mehr ließ Jessica den Blick über die Landschaft schweifen. Ihrem Auge offenbarten sich zahlreiche Neuerungen. Der Kontrollturm des Landefelds hatte nun einen Balkon für einen Prediger. Und weit zur Linken, jenseits der Ebene, stand die Ehrfurcht gebietende Trutzburg aus Plastahl, die sich Paul als Festung errichtet hatte: sein »Sietch über dem Sand«. Es war das größte Einzelbauwerk, das Menschen jemals errichtet hatten. Innerhalb seiner Mauern hätte man ganze Städte gründen können, ohne dass es eng geworden wäre. Derzeit hatte dort die wichtigste regierende Macht ihren Sitz, Alias »Gesellschaft der Gläubigen«, die sie auf dem Leichnam ihres Bruders erbaut hatte.

Dieser Ort muss verschwinden.

Alias Delegation hatte nun den Fuß der Landerampe erreicht und verharrte erwartungsvoll. Jessica erkannte Stilgars runzlige Züge. Und – Gott behüte! – dort stand auch Prinzessin Irulan, die ihre Wildheit hinter einem verführerischen Körper mit einer Krone aus goldenem Haar versteckte, das im Wind flatterte. Die Prinzessin schien nicht einen Tag gealtert zu sein – ein Affront.

An der Spitze des Keils der Delegation stand Alia. Aus unverschämt jugendlichen Zügen blickten ihre Augen nach oben in die Schatten der Luke. Jessica presste die Lippen fest zusammen, als sie das Gesicht ihrer Tochter musterte. Ein bleiernes Gefühl durchströmte ihren Leib, und die Brandung ihres Lebens klang ihr in den Ohren. Die Gerüchte stimmten! Wie furchtbar! Alia war dem verbotenen Pfad anheimgefallen. Jede Initiierte konnte die Hinweise darauf deutlich erkennen.

Eine Abscheulichkeit!

In den wenigen Augenblicken, die sie brauchte, um sich von dieser Erkenntnis zu erholen, begriff Jessica, dass sie gehofft hatte, die Gerüchte unbegründet zu finden.

Was ist mit den Zwillingen?Sind auch sie verloren?

Langsam, wie es der Mutter eines Gottes gebührte, trat Jessica aus den Schatten und auf die Rampe. Ihr Gefolge blieb wie angewiesen zurück. Die nächsten Augenblicke waren die entscheidenden. Jessica stand allein, deutlich sichtbar für die Menge. Sie hörte, wie sich Gurney Halleck hinter ihr nervös räusperte. »Nicht einmal mit einem Schild am Leib?«, hatte er zuvor eingewandt. »Bei den Göttern der Unterwelt, Frau, du bist wahnsinnig!« Doch zu den Eigenschaften Gurneys, die Jessica am meisten schätzte, gehörte sein gehorsamer Kern. Er sagte seine Meinung, und dann gehorchte er. Auch jetzt.

Als Jessica zum Vorschein kam, gab die Menschenmenge einen Laut von sich, der wie das Rascheln eines gewaltigen Sandwurms klang. Sie hob die Arme für den Segen, auf den die Priesterschaft das gesamte Imperium konditioniert hatte. Es gab zwar hier und da zögernde Gruppen, aber schließlich sanken die Menschen wie ein einziges großes Lebewesen auf die Knie. Sogar das offizielle Begrüßungskomitee fügte sich.

Jessica hatte genau darauf geachtet, wo nur verzögert reagiert worden war, und sie wusste, dass sich andere Augen sowohl aus ihrem Gefolge als auch von ihren Agenten in der Menge das Geschehen ebenfalls eingeprägt hatten, um die Widerstrebenden aufzufinden.

Während Jessica mit erhobenen Armen stehen blieb, traten Halleck und seine Männer aus dem Schatten. Schnell gingen sie an ihr vorbei die Rampe hinunter, wobei sie die überraschten Blicke des Begrüßungskomitees ignorierten, und sich zu den Agenten gesellten, die sich durch Handzeichen zu erkennen gaben. Dann schwärmten sie in der Menge aus, sprangen über die Knienden hinweg, rannten durch schmale Gassen. Einige der Zielpersonen erkannten die Gefahr und versuchten zu fliehen. Sie waren am leichtesten zu erwischen – ein geworfenes Messer, eine Würgeschlinge, und der Rennende ging zu Boden. Andere trug man an Händen und Füßen gebunden aus dem Gedränge.

Während all das geschah, verharrte Jessica mit ausgestreckten Armen, segnete die Menge durch ihre Anwesenheit, hielt sie unterwürfig. Aber ihr war klar, dass sich Gerüchte verbreiteten, und das vorherrschende davon kannte sie, weil man es planvoll in die Welt gesetzt hatte: »Die Ehrwürdige Mutter kehrt zurück, um die Drückeberger auszumerzen. Gesegnet sei die Mutter unseres Herrn!«

Dann, als alles vorbei war – einige tote Körper lagen im Sand, während man die Gefangenen in Haltekäfige unter dem Landeturm gebracht hatte –, senkte Jessica die Arme. Kaum mehr als drei Minuten waren vergangen. Sie wusste, dass Gurney und seine Männer nicht die Rädelsführer gefasst hatten, diejenigen, die eine wirkliche Bedrohung darstellten. Zweifellos waren das wachsame Leute mit einem feinen Gespür. Doch auch unter denen, die sie erwischt hatten, würde sich neben dem üblichen Beifang der eine oder andere interessante Fisch verbergen.

Als Jessica die Arme senkte, sprangen die Menschen jubelnd auf, und als sei nichts weiter passiert, schritt sie allein die Rampe hinab, wobei sie den Blick ihrer Tochter mied und ihre Konzentration ganz bewusst auf Stilgar richtete. Der schwarze Bart, der sich über dem Halskragen seines Destillanzugs auffächerte wie ein wirres Flussdelta, zeigte graue Strähnen, aber seine tiefblauen Augen blickten noch mit der gleichen Eindringlichkeit wie bei ihrer allerersten Begegnung in der Wüste. Stilgar wusste, was gerade geschehen war, und er hieß es gut. Hier stand ein wahrer Fremennaib, ein Anführer, der zu blutigen Entscheidungen fähig war. Seine ersten Worte passten ganz und gar zu ihm.

»Willkommen zu Hause, Mylady. Es ist immer erfreulich, direktes und wirkungsvolles Handeln zu beobachten.«

Jessica gestattete sich ein winziges Lächeln. »Riegle den Raumhafen ab, Stil. Niemand verlässt ihn, bevor wir die Festgenommenen befragt haben.«

»Schon geschehen, Mylady. Gurneys Männer und ich haben diese Sache zusammen geplant.«

»Dann waren es also deine Männer, die geholfen haben.«

»Einige davon, Mylady.«

Sie nahm seinen unausgesprochenen Vorbehalt wahr und nickte. »Du hast mich in den alten Zeiten sehr genau studiert, Stil.«

»Wie Sie mir einst unter großen Mühen vermittelt haben, Mylady, beobachtet man am besten die, die überleben, und lernt von ihnen.«

In diesem Moment trat Alia vor. Stilgar machte Platz, als sich Jessica ihrer Tochter zuwandte. In dem Wissen, dass sie ohnehin nicht verbergen konnte, was sie herausgefunden hatte, versuchte sie es gar nicht erst. Alia konnte die Feinheiten der Situation ganz nach Bedarf lesen – so gut wie jede Schülerin der Schwesternschaft. Sie musste längst an Jessicas Verhalten erkannt haben, was gesehen worden war und wie man es interpretiert hatte. Sie waren Todfeinde, für die das Wort Tod nur an der Oberfläche kratzte.

Alia wählte Zorn als einfachste und angemessenste Reaktion. »Wie kannst du es wagen, eine derartige Aktion zu planen, ohne mich hinzuzuziehen?«, fauchte sie und trat dicht an Jessica heran.

»Wie du gerade gehört hast«, erwiderte Jessica sanft, »hat Gurney nicht einmal mich in alle Einzelheiten des Plans eingeweiht. Man war der Meinung …«

Alia fuhr herum. »Und du, Stilgar! Wem hältst du die Treue?«

»Mein Eid gilt den Kindern Muad’Dibs«, sagte Stilgar steif. »Wir haben eine Bedrohung für sie beseitigt.«

»Und warum erfüllt dich das nicht mit Freude … Tochter?«, fragte Jessica.

Alia blinzelte, warf ihrer Mutter einen Blick zu, unterdrückte ihren inneren Aufruhr und brachte sogar ein Lächeln zustande. »Ich bin von Freude erfüllt … Mutter.« Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, dass sie tatsächlich froh war – dass sie ein schreckliches Entzücken darüber verspürte, dass nun endlich alles zwischen ihr und ihrer Mutter offen zutage lag. Der Augenblick, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, lag hinter ihr, und das Machtgleichgewicht hatte sich praktisch nicht verändert. »Wir werden diese Angelegenheit zu einem passenden Zeitpunkt eingehender erörtern«, sagte sie, sowohl an ihre Mutter als auch an Stilgar gerichtet.

»Aber natürlich.« Mit einer herablassenden Geste wandte sich Jessica von Alia ab und sah Prinzessin Irulan an.

Einige Herzschläge lang standen sich Jessica und die Prinzessin schweigend gegenüber und musterten sich, zwei Bene Gesserit, die aus dem gleichen Grund mit der Schwesternschaft gebrochen hatten: aus Liebe. Aus Liebe zu Männern, die inzwischen beide tot waren. Die Prinzessin hatte Paul vergeblich geliebt, sie war seine Frau, aber nicht seine Gefährtin geworden. Und nun lebte sie nur noch für die Kinder, die Pauls Fremenkonkubine Chani ihm geboren hatte.

Jessica sprach als Erste: »Wo sind meine Enkelkinder?«

»In Sietch Tabr.«

»Hier ist es zu gefährlich für sie. Ich verstehe.«

Irulan gestattete sich ein leises Lächeln. Sie hatte den Wortwechsel zwischen Jessica und Alia verfolgt, ihn jedoch in der Weise interpretiert, auf die Alia sie vorbereitet hatte: »Jessica ist in den Schoß der Schwesternschaft zurückgekehrt, und wir wissen beide, dass der Orden Pläne für Pauls Kinder hat.«

Irulan war keine besonders begabte Bene-Gesserit-Schülerin gewesen, ihr Wert hatte in erster Linie darin bestanden, dass sie eine Tochter Shaddams IV. war. Sie war oft zu stolz, um sich bei der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten ernsthaft anzustrengen, und auch jetzt entschied sie sich mit einer Abruptheit für eine Seite, die ihre Ausbildung in keinem guten Licht erscheinen ließ.

»Wirklich, Jessica«, sagte Irulan, »man hätte den königlichen Rat hinzuziehen sollen. Es war falsch von dir, nur über …«

»Soll ich etwa glauben«, unterbrach sie Jessica, »dass ihr beide Stilgar nicht vertraut?«

Irulan war schlau genug, um zu wissen, dass es auf eine solche Frage keine Antwort geben konnte. Daher war sie froh, dass sich die priesterlichen Gesandten, die ihre Ungeduld nicht länger im Zaum halten konnten, nach vorne drängten. Sie wechselte einen Blick mit Alia und dachte: Jessica ist so hochmütig und selbstsicher wie eh und je! Ungebeten kam ihr ein Axiom der Bene Gesserit in den Sinn: »Die Hochmütigen errichten nur Burgmauern, hinter denen sie ihre Zweifel und Ängste zu verbergen suchen.« Traf das auch auf Jessica zu? Sicher nicht. Also handelte es sich lediglich um eine Pose. Aber zu welchem Zweck nahm sie sie ein? Die Frage verwirrte Irulan.

Die Priester nahmen Muad’Dibs Mutter nun lärmend in Beschlag. Manche berührten sie nur an den Armen, aber die meisten verbeugten sich tief und begrüßten sie wortreich.

Zuletzt waren die beiden Anführer der Delegation an der Reihe. Sie nahmen die ihnen zugedachte Rolle – »Die Ersten werden die Letzten sein« – mit eingeübtem Lächeln hin und sagten Jessica, dass man sie in der Festung, Pauls ehemaliger Burg, zur offiziellen Lustrationszeremonie erwartete.

Jessica betrachtete die beiden und befand sie für abstoßend. Der eine hieß Javid, ein junger Mann mit missmutiger Miene, runden Wangen und tief liegenden Augen, die das aus ihnen sprechende Misstrauen nicht verbergen konnten. Der andere war Zebataleph, der zweite Sohn eines Naib, den Jessica zu ihren Fremenzeiten gekannt hatte, woran er sie auch gleich erinnerte. Er ließ sich leicht einordnen: Heiterkeit, gepaart mit Skrupellosigkeit, ein schmales Gesicht mit blondem Bart und einer Ausstrahlung, die auf heimliche Erregung und mächtiges Wissen hindeutete. Jessica hielt Javid für den deutlich Gefährlicheren der beiden, ein Mann, der seine Ratschlüsse für sich behielt, der zugleich anzog und – ihr fiel kein anderes Wort ein – abstieß. Sie fand seinen Akzent seltsam, voller alter Fremenklänge, als stamme er aus einem isolierten Teil seines Volkes.

»Sag mir, Javid«, sagte sie, »woher kommst du?«

»Ich bin nur ein einfacher Fremen aus der Wüste«, erwiderte er, und jede einzelne Silbe strafte seine Worte Lügen.