Die Kinder von Teheran - Mikhal Dekel - E-Book

Die Kinder von Teheran E-Book

Mikhal Dekel

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Beschreibung

"Tehran Children": die stellvertretende Lebensgeschichte eines jüdischen Flüchtlingskindes Von Polen in den Iran ist es ein weiter und beschwerlicher Weg. Kaum vorstellbar, dass fast 900 polnisch-jüdische Kinder diese Route bewältigen mussten. Doch genau auf diesen verschlungenen Pfaden entkam der Vater der Autorin der Judenverfolgung durch die Nazis. Zeit seines Lebens sprach er nicht darüber, was er im 2. Weltkrieg durchlebte: Flucht, Todesangst und die Hoffnung auf einen Neuanfang in einem unbekannten Land. Seine Tochter zeichnet in berührender Weise den Weg des kleinen polnischen Flüchtlingsjungen nach - stellvertretend für die über eine Million Juden aus Polen, die über die Sowjetunion vor den Naziverbrechen flohen. - Eine Erzählung von literarischer Eleganz: Wer waren die "Kinder von Teheran"? - Stationen einer Flucht: Russland, Usbekistan, Kasachstan, Iran und schließlich Palästina - Spätfolgen des NS-Regimes: Was sieben Jahrzehnte Verdrängung in einer Familie bewirken - Spurensuche in den Archiven: Die Geschichte Israels und der Flüchtlinge des 2. Weltkriegs - Eine unbeachtete Folge des Holocaust: Wie Juden im Iran aufgenommen wurdenDie Biografie des Vaters führt zur Erforschung eines kaum bekannten Kapitels der Shoah Mikhal Dekels Vater entkam den Nazis in Polen und überlebte den 2. Weltkrieg - doch die Konsequenzen seiner Kindheit blieben stets gegenwärtig. Gerade der Aspekt des Vergessen-Wollens beeinflusste die folgenden Generationen nachhaltig. Die Autorin hat sich in Archiven und in Gesprächen mit Zeitzeugen auf Spurensuche begeben. Schicht für Schicht legt sie ihre Familiengeschichte frei. So entstand eine einfühlsame Erzählung über Nächstenliebe, den Einfallsreichtum der jüdischen Hilfsorganisationen und über die Schrecken des 2. Weltkriegs. Ein Buch über den Holocaust, in dessen Mittelpunkt nicht das Konzentrationslager, sondern der Flüchtling steht, und dessen Schauplatz nicht Europa, sondern Zentralasien und der Nahe Osten ist!

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Seitenzahl: 836

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 bei W. W. Norton & Company unter dem Titel Tehran Children. A Holocaust Refugee Odyssey.

Copyright © 2019 by Mikhal Dekel

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© der deutschen Übersetzung 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Kristine Althöhn, Mainz

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Umschlaggestaltung: Patrizia DiStefano, Berlin

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Printed in Europe

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4278-2

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-8062-4317-8

eBook (epub): 978-3-8062-4318-5

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Inhalt

Einleitung – New York City, 2007

1„Hier fühlen sich alle wie neu geboren“ – Iran, August 1942

2Eine liberale Familie – Ostrów Mazowiecka (Polen), 1939

3Über die Grenze – Von Hitler zu Stalin

4Ukasniks in der Sowjetunion – Als Zwangsarbeiter in Archangelsk und Komi

5„Ich bin Jude“ – „Ich bin Usbeke“

6Polnische Exilanten und jüdische Hilfsaktionen – London, New York und die UdSSR

7Samarkand – Die Stadt voller Flüchtlinge

8Polen und Juden in Teheran – Zwei Nationen erfinden sich

9Die Kinder Israels – Im Kibbuz En Charod

Die Welt mit den Augen der Flüchtlinge sehen

Nachwort von Aleida Assmann

Anhang

Dank

Anmerkungen

Archive

Literatur

Filme und Videos

Interviews

Abbildungsnachweis

Register

Einleitung

New York City, 2007

Der Tag, an dem ich mich auf die Spuren der Kinder von Teheran begab, war der Tag, an dem ich Salar Abdoh traf. Wobei „treffen“ eigentlich nicht das richtige Wort ist. Unsere Blicke waren sich schon oft begegnet, und das nicht ohne eine gewisse Neugier: im Postraum, bei Fakultätssitzungen, auf den Fluren des North Academic Center – das ist der fensterlose, trostlose Fremdkörper auf dem altehrwürdigen, mit Prachtbauten im neugotischen Stil übersäten Campus des City College of New York, an dem wir beide englische Literatur unterrichteten. Vielleicht hatten wir sogar schon einmal einige Worte gewechselt. Aber am letzten Tag des akademischen Jahres 2007 / 2008 führten wir unser erstes richtiges Gespräch, das erste von Hunderten.

Die paar Jahre vor meiner Begegnung mit Salar waren die schlimmsten Jahre meines Lebens gewesen. Ich hatte ein Kind bekommen – einen Säugling, der schließlich zum Kleinkind geworden war, aber trotzdem niemals schlief; ich hatte eine bislang noch unförmige Doktorarbeit zu schreiben begonnen und viele, viele Seminare zu unterrichten. Ich hatte nur wenig – bezahlte – Unterstützung und keine weiteren Verwandten in New York. An drei Nachmittagen in der Woche schneite ich im North Academic Center herein, um meine Seminare zu halten, und eilte danach gleich zurück nach Hause, zu meinem Sohn. Am Abend schrieb ich, zwischen den Fütterungen, an meiner Dissertation.

So verging ein akademisches Jahr, dann das nächste, und meine Doktorarbeit nahm – irgendwie – doch Form an. Als ich auf dem Weg zu meiner mündlichen Promotionsprüfung an der Columbia University die Treppen der Kent Hall hinaufstieg, traf ich meine Mentorin, die inzwischen leider verstorbene Literaturtheoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick, die mir aufmunternd zunickte. Ich fühlte mich unglaublich leicht. Schon Ende Mai sollte ich in Talar und Barett bei der Abschlussfeier der Columbia University meine erfolgreiche Promotion begehen, und im September dann meine Stelle am City College vom „Instructor“ zum „Assistant Professor“ hochgestuft werden, was ein höheres Gehalt bei niedrigerer Lehrverpflichtung bedeuten würde. Im April zeigte sich der Frühling von seiner herrlichsten Seite: Der Himmel über New York war klar und blau, ein angenehm frisches Lüftchen wehte. Ich hatte mich entschieden, die letzte Seminarsitzung des Semesters im Freien zu halten, und saß mit meinen Studenten auf dem frisch gemähten Rasen vor der Shepard Hall, wo wir uns leise, aber angeregt, über Melville und Freud unterhielten. Auf dem Rückweg vom Seminar traf ich Salar, der mich und ein paar andere in sein Büro einlud, um auf den Abschluss des Semesters anzustoßen.

Salars Dienstzimmer war sehr anheimelnd, es gab kleine Teppiche auf dem Boden und andere, sogenannte Kelims, an den Wänden, dazu Lampen für indirektes Licht, und so wurde die Eintönigkeit des Institutsgebäudes in Luft aufgelöst. Es gab auch eine Art Sitzecke, wo einige von uns herumlungerten, Rotwein nippten und dabei den neuesten Uni-Klatsch austauschten. Ich weiß noch, dass mir Salars ein wenig altmodische Manieren auffielen, eine Herzlichkeit und Etikette, wie ich sie von meinem Vater und Großvater kannte, die den Angehörigen unserer eigenen Generation jedoch abhandengekommen schien. Mir fiel auch auf, dass er von allen unseren Kollegen das größte Interesse an Israel zeigte (wo ich aufgewachsen war), dabei jedoch am wenigsten moralisierte. Als das Gespräch schließlich auf die Küstenlandschaften des Nahen Ostens kam – die wir, wie sich herausstellte, beide liebten, und Salars Familie hatte vor der Islamischen Revolution ein Haus am Kaspischen Meer besessen –, da erwähnte ich, dass wohl mein Vater das Kaspische Meer überquert hatte, als er im Zweiten Weltkrieg in den Iran gekommen war. Sicher wusste ich, dass mein Vater damals auch eine Weile in Teheran gewesen war, dass er und seine Schwester dort zu einer Gruppe junger Flüchtlinge gehört hatten, die Tehran Children genannt wurden – die „Kinder von Teheran“ –, aber viel mehr wusste ich nicht.

Salar stand auf, ging zum Schreibtisch und tippte ein paar Worte in seinen Computer. Dann rief er mich zu sich herüber, um mir etwas zu zeigen. Auf dem Bildschirm sah ich eine Ausgabe von The Iranian, einem Onlinemagazin über das politische und kulturelle Geschehen im Iran. Es war die Nummer vom 23. Februar 2006, und auf der Titelseite las ich die Überschrift „Fehler, die tief blicken lassen – der Iran, die Juden und der Holocaust: Eine Antwort an Mr. Black“ und darunter einen Meinungskommentar des Politikwissenschaftlers Abbas Milani. Dann begann ich weiterzulesen, und ich las das Folgende:

„Anfang Januar dieses Jahres hat ein prominenter US-Journalist eine Polemik gegen den Iran veröffentlicht, deren Abwegigkeit verblüfft: Am Holocaust soll das Land beteiligt gewesen sein! … [Black] behauptet, wenn wir uns der ‚Vergangenheit [des Irans] zur Hitlerzeit‘ zuwendeten, würden wir feststellen, dass ‚der Iran und die Iraner eng mit dem Holocaust und dem Hitlerregime verbunden waren‘. Dabei belegen die historischen Fakten das genaue Gegenteil von dem, was Mr. Black uns weismachen will. Sobald die ersten Anzeichen der mörderischen ‚Endlösung‘ sichtbar wurden, teilte die damalige iranische Regierung den Nazi-‚Rassenexperten‘ in Deutschland mit, dass die iranischen Juden seit mehr als 2500 Jahren im Iran gelebt hätten und vollständig assimilierte iranische Bürger seien, weshalb ihnen auch alle Bürgerrechte zustünden. Die Nazis ließen sich überzeugen, akzeptierten diese Argumentation, und die Leben sämtlicher iranischer Juden, die sich im Herrschaftsbereich des NS-Regimes aufhielten, wurden gerettet. … Außerdem wurden …, als die deutsche Vernichtungsmaschinerie zur massenhaften Ermordung unschuldiger polnischer Juden anlief, 1388 Juden, darunter 871 Kinder, nach Teheran gebracht, wo sie bis zu ihrer Ausreise nach Israel in relativer Sicherheit leben konnten. … In der History of Contemporary Iranian Jews [‚Geschichte der iranischen Juden in der Gegenwart‘] findet sich ein Bericht über diese sogenannten ‚Kinder von Teheran.‘“1

Eine ganze Weile starrte ich auf den Bildschirm, dann zu Salar hinüber – und dann musste ich mich erst einmal setzen, um mir den Artikel in aller Ruhe genauer durchzulesen. Die „Kinder von Teheran“, zu denen auch mein Vater Hannan (Hannania), seine Schwester Riwka (Regina) und ihre Cousine Noemi (Emma) gehörten, waren jüdische Flüchtlingskinder aus Polen, die 1943 über den Iran nach Palästina kamen. Aber bis zu jenem Moment in Salars Büro hatte ich das Wort „Teheran“ in der Bezeichnung nie als einen tatsächlichen Ort aufgefasst. Dass mein Vater ein „Kind von Teheran“ war, hatte für mich immer ganz selbstverständlich zu den Merkmalen seiner Person gehört, so wie er ja auch glattes, ein wenig grobes, schwarzes Haar gehabt hatte, das er stets zurückgekämmt trug über seinen kleinen, blauen, leicht schräg gestellten Augen. Oder dass er am 10. Oktober 1993 gestorben war, ein Jahr nach seinem Abschied bei der israelischen Luftwaffe, wo er 48 Jahre lang Dienst getan hatte.

Zwar hatte ich als Komparatistin – als Spezialistin für vergleichende Literaturwissenschaft – gelernt, gleichsam über Staats- und Ländergrenzen hinweg zu lesen und zu interpretieren; aber bis zu jenem Moment wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, mir die Geschichte der „Kinder von Teheran“ in irgendeiner anderen Verbindung oder Deutung vorzustellen als jener, mit der ich in Israel aufgewachsen war: als eine erfolgreiche Mission zur Rettung jüdischer Kinder, durchgeführt von der Zionistischen Weltorganisation. Die Geschichte meines Vaters war eine typisch israelische Geschichte, ein Bestandteil der kollektiven Mythologie unseres Landes, und deshalb konnte sie in der Geschichtsschreibung eines anderen Landes gar nicht vorkommen – und schon gar nicht in der historischen Erinnerung eines Staats, der in neuerer Zeit zu einem politischen Gegner Israels geworden war. In meinen Augen war mein Vater noch nicht einmal ein Holocaustüberlebender. Holocaustüberlebende, das waren Leute, die im Israel meiner Kindheit und Jugend eine Aura gedämpfter Scham und Angst verströmten. Die „Kinder von Teheran“ hingegen, das waren echte Israelis: Kibbuzniks, Armeegeneräle, Leute in den Medien, erfolgreiche Unternehmer. Nicht die Verstoßenen Europas, sondern die ersehnten, verheißenen Söhne und Töchter Israels, sprichwörtliche „Glückskinder“, die der aufstrebende Judenstaat hatte unter seine Fittiche nehmen können. Wenn mich in meiner Kindheit jemand fragte, ob mein Vater ein Überlebender sei, hatte ich immer dieselbe Antwort parat: „Nein – er war ein ‚Kind von Teheran‘!“

Die Gründerväter meiner Forschungsdisziplin, der Komparatistik oder vergleichenden Literaturwissenschaft, sind Flüchtlinge gewesen: René Wellek, Erich Auerbach und andere. Wellek war in Wien geboren und konnte 1939 in die Vereinigten Staaten fliehen. Der aus Berlin stammende Auerbach emigrierte zunächst in die Türkei und gelangte später ebenfalls in die Vereinigten Staaten. Beide schrieben sie nicht über ihre Fluchterfahrungen, sondern verfassten in ihrem Exil regelrechte Oden auf einzelne Nationalliteraturen und auf einen geeinten, stabilen europäischen Kanon. Die beiden wichtigsten Historiker, die sich im 20. Jahrhundert mit dem Begriff der Nation auseinandergesetzt haben – Eric Hobsbawm und Ernest Gellner –, wurden durch ganz ähnliche Erfahrungen geprägt. Hobsbawm kam als Kind jüdischer Eltern im ägyptischen Alexandria zur Welt. Seine Mutter war Österreicherin, die Familie des Vaters, eines britischen Kaufmanns und Beamten, stammte aus Polen. Seine Kinder- und Jugendjahre verbrachte Hobsbawm in Wien und Berlin, musste dann 1933 nach London fliehen und diente während des Krieges in Pionier- und Schulungseinheiten der britischen Armee. Gellner wurde in Paris geboren und wuchs in Prag auf, bis er 1939 vor den Nazis in das englische St. Albans floh. Aus einer solchen Perspektive der „Wandernden und Wurzellosen“, wie Gellner es formuliert hatte, schrieb Auerbach im Istanbuler Exil seine große Studie Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, und unter ähnlichen Vorzeichen begann Gellner mit seinen Forschungen zu Nation und Nationalismus. „Als ich zum ersten Mal die Berberdörfer des Mittleren Atlas sah, mit ihren dicht an dicht gedrängten Stampflehmhäusern – von denen eines exakt wie das nächste aussah, was im Gesamtbild einen geradezu überwältigenden Eindruck von Gemeinschaft* erzeugte –, da war mir schlagartig klar, dass ich eines unbedingt herausfinden musste: Ich wollte erfahren (so gut das einem Außenseiter eben möglich war), wie es war, dort drinnen zu sein“, erklärte Gellner später.2

Ich selbst wurde in eine Gemeinschaft hineingeboren. Ich wusste früh, „wie es war, dort drinnen zu sein“. Aber mein „dort drinnen“ war kein jahrhundertealtes Berberdorf – es war ein gerade einmal zwei Jahrzehnte junger Nationalstaat mit noch immer nicht abschließend festgelegten Grenzen, mit ständigen Konflikten und einer Bevölkerung, die zu weiten Teilen – so wie mein Vater – anderswo geboren war. Aber jenes „Anderswo“, die Diaspora, hatte in meiner Kindheit keinen Platz. Es wurde „verleugnet“, wie der zionistische Schriftsteller Josef Chaim Brenner schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärt hat. Aufgrund dieser Verleugnung wurde Israel zu meiner einzigen Heimat. Schließlich war es ein Daseinszweck des Staates Israel, dass er Kinder hervorbringen möge, die, unbeschriebenen Blättern gleich, von der schmerzlichen Vergangenheit des jüdischen Volkes frei sein würden. Ich war ein solches Kind. Mir fehlte jeglicher Bezugsrahmen, um mir das Verhältnis meines Vaters zum Iran oder zu den anderen Orten, an denen er gelebt oder die er passiert hatte, bevor er ein Israeli geworden war, überhaupt nur vorzustellen. Ja, ich hatte noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie sein Leben in Polen vor dem Krieg gewesen sein mochte – in Polen, wo, wie ich später herausfinden sollte, seine Familie schon seit acht Generationen gelebt hatte –, ein Leben, das so vollständig ausgelöscht worden war, dass noch nicht einmal in seiner Erinnerung eine Spur davon geblieben schien. In so gut wie jedem der dürftig möblierten Apartments in den verschlafenen Wohnvierteln auf dem Berg Karmel meiner Jugend gab es das: ein Leben, das vor dem Krieg anderswo gelebt worden war, eine komplexe Überlebensgeschichte und eine ganze Familie – Eltern, Geschwister, manchmal auch frühere Kinder oder Ehepartner –, die es vor dem Krieg gegeben hatte und die nun nicht mehr da war. Keiner sprach darüber. Es wurde alles verleugnet.

„Das solltest du aufschreiben!“, sagte Salar. „Die Geschichte deines Vaters meine ich.“ Ich winkte lachend ab: „Nein, nein – aber du könntest das schreiben. Du bist doch im Iran geboren. Und du bist nicht in den Holocaust verwickelt. Deine Vorfahren waren weder Täter noch Opfer damals. Und du kennst dich besser mit Flüchtlingen aus als ich.“ Salar und seine Brüder waren nach der Islamischen Revolution von 1979 als Teenager in die Vereinigten Staaten geflohen, wie er mir erzählt hatte. Bald fielen mir gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihm und meinem Vater auf, kleine, beinahe mikroskopische Wesenszüge und Angewohnheiten, die man wohl nur bemerken konnte, wenn man sich von Kindheit an in das Zusammenleben mit einem Geflohenen eingeübt hatte: die Art etwa, wie Salar ein Papierhandtuch säuberlich in zwei Hälften teilte, um die zweite Hälfte für später aufzuheben; wie er stets seinen Teller leer aß; sein überhaupt leicht ängstlich-besorgtes Verhältnis zu Nahrung; seine Befürchtung, sich zu verkühlen; seine Vorsicht und Zurückgezogenheit.

„Mein Vater hat keine Geschichte“, gab ich Salar zur Antwort. „Ich werde mich an seinem Porträt versuchen“, hatte ich immer gesagt, wenn Leute mich nach ihm fragten, „aber es wird mir niemals gelingen.“ Vater war ein ruhiger, unauffälliger Mann aus einem beschaulichen Städtchen im Norden Israels gewesen, und inzwischen, vierzehn Jahre nach seinem Tod, war das Bild, das ich von ihm hatte, verschwommen und ziemlich sachlich geworden: ein durchaus umgänglicher, aber zurückhaltender Mann, nicht ganz ohne Strenge, der zu gelegentlichen Wutausbrüchen neigte. Von seiner Familiengeschichte wusste ich nichts; und ich glaubte auch nicht, dass ich auf diesem Weg viel über ihn erfahren würde. Wörter wie „Trauma“ und „Verdrängung“, „Vertreibung“ oder „Zwangsmigration“ kamen mir nicht in den Sinn, wenn ich an ihn dachte – ja, seltsamerweise noch nicht einmal das Wort „Flüchtling“. In meiner Vorstellung war er wohl zuallererst ein Arbeiter – ein fleißiger Mann, der in einer Art von zermürbender Dauergegenwart lebte, wo er tagein, tagaus seine Pflicht erfüllte. Gefühle zeigte er nur selten und hat in meiner Gegenwart nur ein einziges Mal geweint: als nämlich Christopher Walken als amerikanischer Kriegsgefangener in dem Film Die durch die Hölle gehen von seinen Vietcong-Wächtern zu einer Partie russisches Roulette gezwungen und brutal misshandelt wird. Wir schauten uns diesen Film zu Hause im Fernsehen an, mein Vater, mein Bruder und ich, und ich kann mich noch genau erinnern, wie ich zu Vater hinübersah – es war Winter, wenn ich mich recht entsinne, und in unserer Wohnung in Haifa war es wie immer ein bisschen zu kalt – und bemerkte, dass seine blauen Augen gerötet waren und Tränen seine Wangen hinunterliefen.

Zu Hause waren wir zu sechst: meine Eltern, meine Geschwister und ich, dazu meine Großmutter väterlicherseits, Rachel (Ruchela), die wir „Achel“ nannten: eine zierliche, magere Frau mit bleicher, runzliger Haut und blauen, leicht schräg gestellten Augen, ganz wie mein Vater sie hatte. Hannan war während des Krieges von seiner Mutter getrennt worden, und als sie dann Jahre später in Israel ankam, zog sie bei ihm ein, wohnte dann bei meiner Mutter und ihm, schließlich bei uns allen. Solange ich zurückdenken kann und bis zu ihrem Tod im Jahr 1981 hatte sie ihr kleines Zimmerchen gleich neben der Küche in unserer ruhigen Etagenwohnung auf dem Berg Karmel hoch über Haifa. Wir redeten nicht viel mit ihr, und sie redete nur wenig mit uns – sie redete überhaupt wenig, sondern verbrachte einen großen Teil des Tages in ihrem Zimmer, wo sie las oder Radio hörte. Meine Mutter, die für sie kochte und putzte und ihre Wäsche machte, konnte ihre Schwiegermutter nicht ausstehen. Mein Vater, der meiner Mutter gegenüber oft, uns Kindern gegenüber manchmal, die Beherrschung verlor, ohne dass ein Grund dafür erkennbar gewesen wäre, behandelte Achel stets mit einer liebevollen Fürsorglichkeit. Manchmal blieb die Großmutter den ganzen Tag in ihrer Kammer und kam erst heraus, wenn ihr Sohn von der Arbeit zurückkehrte. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater und seine Mutter jemals gestritten hätten, es gab keinerlei Spannungen zwischen ihnen, nur eine tief empfundene Harmonie. Immer war es, als träten zwei Mannschaften gegeneinander an: er und sie gegen meine Mutter und uns Kinder.

Als ich sechs oder sieben Jahre alt war – ich hatte gerade schreiben gelernt –, schrieb ich meinem Vater einen Brief, in dem ich ihn fragte, weshalb er seine Mutter lieber hätte als uns. Ich steckte die Botschaft unter sein Kissen im Ehebett meiner Eltern und wartete mit banger Sorge ab, was er dazu sagen würde. Als Hannan den Brief fand, geriet er außer sich vor Wut und schimpfte mich aus, dass er es niemals gewagt hätte, seinem Vater einen derartigen Brief zu schreiben. Ich kann mich noch gut an mein Schuldgefühl erinnern, an die Scham, an den verzweifelten Wunsch, meine Worte zurücknehmen zu können – lauter Gefühle, die mich über Jahre gequält haben. Mein Vater hat danach lange Zeit kein Wort mit mir geredet, und obwohl wir noch ein erfülltes gemeinsames Leben vor uns hatten – viele Momente zusammen, auch viele glückliche –, sollten wir doch nie wieder ganz unbefangen miteinander umgehen.

In New York, wohin ich 1992 gezogen war, wurde das Leben leichter. Ich heiratete einen Mann, der heiterer war, schuf mir ein Zuhause, das heiterer war, und begann Literaturwissenschaft zu studieren. Mein Vater schickte mir Briefe – rührende, gut geschriebene, überraschend warmherzige –, in denen von einem möglichen Besuch in New York die Rede war und von anderen Plänen, die er für die Zeit seines Ruhestands schmiedete. Aber noch im selben Jahr – er war gerade von einer Reise nach Polen zurückgekehrt, wo er zum ersten Mal seit 53 Jahren seine Vaterstadt besucht hatte – wurde er krank. Im Jahr darauf starb er, im Alter von 66 Jahren, an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, einer seltenen degenerativen Hirnerkrankung.

Ich flog nach Israel, um ihn vor seinem Tod noch ein letztes Mal zu sehen. Zum damaligen Zeitpunkt konnte er noch Auto fahren (wenn auch sehr viel waghalsiger als gewöhnlich), und so rasten wir die steilen Serpentinen des Derech ha’jam („Meerweg“) von Haifa hinunter bis zum Strand von Karmel, wo wir schon Jahre zuvor gemeinsam gewesen waren. Anders jedoch als bei den Strandausflügen meiner Kindheit – ein großes, spannungsreiches, potenziell explosives Unterfangen, bei dem Handtücher, Strandmuscheln, Kühlboxen, Sandwiches und fünf menschliche Körper in einen winzigen Renault 4 aus Militärbesitz (und ohne Klimaanlage) gezwängt wurden –, anders als bei jenen vergangenen Ausflügen waren wir jetzt nur zu zweit und hatten jeder nur ein kleines Handtuch dabei, was so etwas wie Nähe, ja sogar eine gewisse Lockerheit ermöglichte, wenn auch der Hauch von Entfremdung nie ganz zu vertreiben war, der sich über uns gelegt hatte, als ich sechs oder sieben Jahre alt gewesen war. Als wir am Saum des Meeres angekommen waren, legte mein Vater seine Oberbekleidung ab (die Badehose trug er schon darunter), legte alles ordentlich zusammen und platzierte den Kleiderstapel zusammen mit seinen blank gewienerten braunen Ledersandalen fein säuberlich auf seinem kleinen Handtuch. Eine ganze Weile ließ er sich im Mittelmeer treiben, die Augen geschlossen, vollkommen friedlich sah das aus. „Eize jam“, sagte er, „was für ein Meer“ – wie er es immer sagte, wenn das Wasser als eine absolut glatte, tiefblaue Ebene vor uns lag. Mein Vater war noch nie ein Mann vieler Worte gewesen, und jetzt hatte er sogar nur noch weniger. Auf der Heimfahrt sagte er mir, ohne dass ich ihn darauf angesprochen hätte, dass er in der letzten Zeit ein paarmal Probleme mit seinem Gedächtnis gehabt habe.

Als ich einen Monat darauf wieder nach Israel flog, sprach er plötzlich Polnisch – eine Sprache, die ich ihn noch nie zuvor hatte verwenden hören –, lächelte selig und nannte meine Mutter siostra. „Ist das deine Schwester?“, fragte ich ihn. „Natürlich!“, antwortete er, und die Frage schien ihn zu erstaunen. Dann wandte er sich wieder, als wäre nichts gewesen, dem Omelett zu, das meine Mutter ihm vorgesetzt hatte – an demselben kleinen, unaufgeräumten, klebrigen Küchentisch, an dem wir all unsere Mahlzeiten eingenommen hatten, solange ich auf der Welt war. Sanft und milde sah er aus, so als ob die äußere und innere Anspannung, die sich ein Leben lang in seine Züge eingegraben hatte, mit einem Mal einfach dahingeschmolzen wäre und das liebliche, friedvolle ein wenig stumpfsinnige Gesicht eines Kindes freigelegt hätte – eines Polnisch sprechenden Kindes. Noch einmal sechs Wochen später lag er im Koma auf der neurologischen Station der Klinik auf dem Berg Karmel. Sein Körper zuckte und krümmte sich wie in Krämpfen, sein Mund war aufgerissen wie vor Schmerz. Einen Monat darauf starb er.

In der Woche, als wir nach jüdischem Trauerbrauch für meinen Vater Schiwe saßen, sahen wir uns alte Fotos von ihm an: als ein pausbäckiger Junge in Mütze, Jacke und langen Strümpfen, der auf einem gepflasterten Gehweg seiner polnischen Heimatstadt Ostrów Mazowiecka vor seiner Schwester Riwka (die damals Regina hieß) und seinen Eltern Zindel und Ruchela hermarschiert; als ein sonnengebräunter, inzwischen deutlich schlankerer junger Bursche, der im Kibbuz En Charod auf einem Pony reitet. Als Kadett der israelischen Luftwaffe war er dann wieder ziemlich füllig, trug inzwischen jedoch Schnurrbart. Auf den Fotos von seiner Hochzeit mit meiner schönen jungen Mutter – er war 34, sie 23 – strahlt er übers ganze Gesicht, während er die Hochzeitstorte anschneidet. Mit mir als Kleinkind ist er am Strand zu sehen, und die Fotos von ihm in diversen amerikanischen Nationalparks müssen in den Jahren zwischen 1977 und 1980 entstanden sein, als Hannan für die Ausbildung des Bodenpersonals der israelischen F-15-Kampfjets am Produktionssitz des Luftfahrt- und Rüstungsunternehmens McDonnell Douglas in St. Louis, Missouri, zuständig war. Hannan, der unbestimmt lächelt. Hannan, das Rätsel.

„War er eigentlich immer schon so?“, fragte ich seine Cousine Noemi, deren ursprünglicher, polnischer Name „Emma“ gewesen war. Damit meinte ich: umgänglich, aber distanziert, unnahbar. „Oder hat erst der Krieg ihn so werden lassen?“ „Immer schon, er war immer schon so“, antwortete sie. „Mit dem Krieg hat das nichts zu tun.“ Noemi-Emma, die fünf Jahre jünger war als mein Vater, war von der Sowjetunion in den Iran gefahren und von dort weiter nach Palästina – zusammen mit meinem Vater und beinahe eintausend anderen jungen Flüchtlingen. Ihre Antwort erleichterte mich, fast war ich stolz auf meinen Vater, dass er sich nicht hatte unterkriegen lassen – ich ahnte ja noch nicht, dass die Erwiderung meiner Großcousine eine bloße Formel war. Wie so viele „Kinder von Teheran“ wies Noemi – die sieben Jahre alt war, als der Krieg ausbrach, in dem sie ihre Mutter, ihren Vater und ihren einzigen Bruder verlieren sollte – die Vorstellung weit von sich, diese Vergangenheit hätte sie oder ihre Cousins auf irgendeine Weise gezeichnet. „Wir haben den Krieg bewältigt“, sagte sie, „wir sind Israelis geworden.“

Als Salar nach meinem Vater fragte, erzählte ich ihm, was Noemi zu mir gesagt hatte. „Wenn ich daran zurückdenke, werde ich immer ein bisschen skeptisch“, meinte ich, „was dieses ‚Bewältigen‘ des Krieges angeht, und dass sie danach voll und ganz Israelis geworden seien.“ In den linksliberalen Akademikerkreisen, in denen wir beide uns bewegten, wurde Israel damals zunehmend kritisiert, infrage gestellt, ja richtiggehend abgelehnt, und oft ertappte ich mich dabei, wie ich halbherzig das verteidigte, was ich meine Heimat nannte, viele meiner Freunde jedoch als „das zionistische Projekt“ bezeichneten.

Und je länger ich in New York lebte, desto mehr vermisste ich das Leben in Israel – seine Gerüche, den immer blauen Himmel, die Strände bei Sonnenuntergang –, während mich zugleich die israelischen Politiker und ihre Politik so sehr beunruhigten, dass ich mir ernsthafte Sorgen um die Zukunft unseres Landes machte. Dabei war es nicht nur Israel als solches, sondern die Vorstellung einer nationalen Zugehörigkeit überhaupt, die ich nicht mehr ohne Weiteres für bare Münze nehmen konnte. Schließlich hatte ich mir, wie viele meiner Kommilitonen, die in den 1990er-Jahren an amerikanischen Universitäten ihr Studium absolvierten, die Erkenntnis des Politologen Benedict Anderson zu eigen gemacht, dass Nationen keineswegs historisch ehrwürdige, gleichsam ewige Wesen waren, sondern vielmehr imagined communities, „vorgestellte Gemeinschaften“, die durch ihre geteilten Gründungstexte, Symbol-bilder und Gedenktage überhaupt erst zu einer Gemeinschaft wurden. Wie viele andere Nachwuchswissenschaftlerinnen hatte ich Jahre damit zugebracht, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wie solche Gemeinschaften „konstruiert“, „imaginiert“ und „manipuliert“ wurden. Aber nun, im Angesicht der Fluchterfahrung meines Vaters, erschien mir dieses Modell plötzlich nicht mehr erkenntnisfördernd – ich konnte mir damit ja noch nicht einmal einen Reim auf die Wendungen meines eigenen Lebens machen.

„Nationen können was Schönes sein“, meinte Salar, „nationale Rituale auch, ein nationales Zugehörigkeitsgefühl – das alles erscheint herrlich, vor allem, wenn man es verloren oder nie gehabt hat.“

„So einfach ist das nicht“, erwiderte ich, aber eigentlich war ich für seine Bemerkung dankbar. Ich fragte mich, ob mein Vater sein Leben mit Freunden oder mit Fremden geteilt hatte, mit anderen Menschen als uns, seiner Familie. Wie der Psychiater und Traumaexperte Dori Laub schreibt, der selbst als Kind den Holocaust überlebt hatte, ist das Leben vieler jüdischer Überlebender nach dem Krieg entscheidend davon beeinflusst worden, dass die mehr oder minder unbeteiligten Zeugen der Vernichtung – und nicht selten auch die anderen Opfer – jegliche Empathie vermissen ließen, woraus bei den Betroffenen ein Dasein in sozialer Isolation und ohne Freunde resultierte. Langsam begann ich mich zu fragen, ob derartige Mechanismen nicht auch das Leben meines Vaters entscheidend geprägt haben könnten – und damit auch mein eigenes, das von seiner Distanziertheit so sehr beeinflusst worden war. Natürlich konnte ich noch nicht ahnen, wie sehr sowohl Salars Anteilnahme an der Geschichte meines Vaters und mein eigener Anteil daran als auch mein späteres Anteilnehmen an den Geschichten anderer und wiederum die Teilnahme anderer an meiner eigenen Geschichte das Buch prägen würden, von dem ich ja noch gar nicht wusste, dass ich es einmal schreiben würde – das alles wurde mir erst im Laufe meiner Recherchen klar, als ich immer tiefer in die Vergangenheit meiner Familie vordrang und dabei erkannte, wie komplex und vielfältig ihre Verwobenheit mit anderen Vergangenheiten war. Noch wusste ich nicht, dass aus dieser Quelle alle Hoffnung – und auch alles Herzweh – meines Buches strömen würde.

Aber die Erwähnung der „Kinder von Teheran“ in dem Artikel des Iranian weckte immerhin meine Neugier. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Teheran ja nicht nur der rettende Ort war, von dem aus mein Vater nach Israel kam, sondern auch der Ort, wo er während des Krieges tatsächlich gelebthatte. Und das warf unweigerlich weitere Fragen auf: Wie war er überhaupt im Iran gelandet? Hatte die iranische Regierung die jüdischen Flüchtlingskinder tatsächlich mit offenen Armen empfangen, wie Abbas Milani behauptete, oder war ihr Eintreffen dort ein bloßes Ergebnis des Zufalls? Der Name „Iran“ bedeutet ursprünglich „Land der Arier“. Hatten diese persischen Arier vielleicht meinem Vater das Leben gerettet?

Und so begann ich, ganz allmählich, der weiten Reise meines Vaters von Polen in den Iran nachzuspüren. Ich las und las, und ich schmiedete Pläne für eine Reise nach Ostrów Mazowiecka, wo mein Vater geboren war, und von dort weiter an einige andere Orte, wo er sich aufgehalten hatte, nachdem er bei Kriegsausbruch über die Grenze zur Sowjetunion geflohen war. Ich folgte seinen Spuren durch ehemals sowjetische Grenzstädte und zur Deportation in eine sibirische „Sondersiedlung“, dann weiter nach Usbekistan, wo er, wie ich herausfand, an Bord eines Schiffes mit Ziel Iran gegangen war, bevor er nach Indien und schließlich – endlich – in das britische Mandatsgebiet Palästina kam. Am 19. Februar 1943 erreichten Hannan, seine Schwester und ihre Cousine ihr Ziel. Mehr als 20 000 Kilometer hatten sie zurückgelegt, den halben Erdumfang, bis sie von Polen nach Palästina gelangt waren. Ich selbst begab mich langsam, vorsichtig, auf die Spuren ihrer Odyssee, ohne eine vorgefasste Theorie, ohne Modell oder festen Fahrplan – „den Akteuren folgen“, würde das der Soziologe Rogers Brubaker nennen –, anstelle irgendwelcher Vorannahmen. Ich folgte den „Kindern von Teheran“ nicht auf einer Reise aus dem „Elend der Diaspora“ in das rettende „Land der Verheißung“, und eigentlich noch nicht einmal von Punkt A nach Punkt B, sondern vielmehr auf einem ergebnisoffenen Weg, auf dem jeder beliebige Durchgangspunkt sich durchaus auch als das Ziel hätte entpuppen können (wie es in anderen Fällen auch durchaus geschehen ist). Ich bemühte mich, ihrer Route so zu folgen, wie sie sie erlebt hatten, wollte mir jeden ihrer Aufenthalte mit eigenen Augen ansehen, um so auch das Hätte, Wäre und Könnte ihrer Reise ans Licht zu bringen.

Natürlich konnte ich nicht einfach in den Brunnen der väterlichen Vergangenheit hinabsteigen, um dort ungehindert aus dem Vollen zu schöpfen. Dagegen sprachen schon die sieben Jahrzehnte des Schweigens, die es zu überwinden galt, dazu die tiefe Kluft des Vergessens, die der Holocaust mit seinem Vernichtungswerk aufgerissen hatte, ganz abgesehen von einem halben Jahrhundert kommunistischer Revisionsbestrebungen sowie der aktuellen Politik in Israel, Iran, Russland, Polen, Usbekistan und den Vereinigten Staaten – einer Politik, die aus der Geschichte folgt, aber selbst auch Folgen dafür hat, wie diese Geschichte erzählt wird. Noch dazu war es nicht leicht, die Geschichte von Flüchtlingen aufzudecken, die ohnehin kaum Spuren hinterlassen und von der Erinnerungskultur und -arbeit der Nationalstaaten meist übergangen werden. Und es war ja auch nicht nur die Geschichte meines Vaters.

So gut wie alle europäischen Juden, die während des Krieges nicht ermordet wurden, waren in der Folge Flüchtlinge. „Die Zeitgeschichte [hat] eine neue Gattung von Menschen geschaffen“, schrieb die politische Philosophin Hannah Arendt – selbst 1933 aus Deutschland geflohen – in einem Essay, der in demselben Jahr und Monat in New York erschien, in dem mein Vater nach Jerusalem kam: „Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden“. Und weiter: „Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten von uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ‚Flüchtling‘ gewandelt. ‚Flüchtlinge‘ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren.“3 Damit hatte sie natürlich recht, aber wie ich schon bald feststellen sollte, gibt es auch noch andere Arten von Flüchtlingen, existieren viele Wege, um Zuflucht zu suchen: kürzere oder längere, brutale oder ein wenig freundlichere.

Die meisten jener polnischen Juden, die der Vernichtung durch die Nazis entgingen – etwa 250 000 von rund 350 000 nämlich, die nach dem Krieg noch am Leben waren –, überlebten, wie mein Vater, durch Deportationen ins Innere der Sowjetunion, und dann als Exilanten und Flüchtlinge in Zentralasien, Iran, Indien und Palästina. Hunderttausende von katholischen Polen, Ukrainern, Litauern und vertriebenen Russen waren auf denselben Straßen unterwegs gewesen. Aber auch die Menschen, die schon an den Orten lebten, an die mein Vater und die anderen kamen – Russen, Usbeken, Kasachen und Perser, Juden und Nichtjuden –, wurden von ihrer Begegnung mit den Flüchtlingen beeinflusst, und dasselbe gilt für ihre Fluchthelfer sowie regionale und internationale Hilfsorganisationen. Die Geschichte der Holocaustflüchtlinge gehörte nicht ihnen allein, sondern war zugleich auch die Geschichte Polens, Russlands, Usbekistans, Irans, Israels und zum Teil sogar der Vereinigten Staaten, die Flüchtlingshilfe leisteten. Ihr Schicksal verfing sich in einem Spiel der Kräfte, das bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist: im Verhältnis zwischen Polen und Juden; zwischen dem Iran, den Juden und Israel; zwischen „Ostjuden“ und westlich-assimilierten Juden; zwischen Flüchtlingen und der ortsansässigen Bevölkerung; zwischen Juden, Christen und Muslimen. Nur sehr wenig ist bisher über diese komplexe Geschichte geschrieben worden – teils, weil die entsprechenden Archive in Russland, Polen und Zentralasien erst seit vergleichsweise kurzer Zeit der Forschung zugänglich sind; teils aber auch, weil für lange Zeit (und trotz jahrzehntelanger Forschungsarbeit zum Holocaust nebst einem regelrechten „Boom“ von Holocaustgeschichten in der Populärkultur) die Geschichte all jener, die vor den Nazis in die Sowjetunion und in den Nahen Osten flohen, noch immer nicht als Teil der Kategorie „Geschichte des Holocaust“ wahrgenommen wurde. Und so habe ich begonnen, sie zu schreiben.

Abbildung 1: Die Route der „Kinder von Teheran“.

*Kursivierte Begriffe sind auch im amerikanischen Original deutsch.

1 „Hier fühlen sich alle wie neu geboren“

Iran, August 1942

Eine Frau mittleren Alters sitzt in ihrer Wohnung in Teheran. Ihre Augen sind blau, ihre Haut braun gebrannt. Ihr Name ist Anna Borkowska und sie erzählt, im Grunde, die Geschichte meines Vaters. Geboren ist sie in Warschau und lebt nun noch immer in Teheran. Sie schildert ihren Leidensweg, vom Beginn des Krieges, als sie mit ihrer Mutter von Warschau über die Grenze in die Sowjetunion entkam, über ihre Deportation nach Sibirien und ihren mühsamen Weiterzug nach Usbekistan bis zu ihrer letztlichen Evakuierung in den Iran. Mit halb geschlossenen Augen spielt sie auf ihrem Klavier ein Chopin-Nocturne und erzählt dann von ihrer sorglosen polnischen Kindheit und ihrer Ankunft im Iran im August 1942, in demselben Monat also, ja vielleicht sogar auf demselben Schiff wie mein Vater und die tausend anderen Kinder, die man in Israel nur als die „Kinder von Teheran“ kennt.

Einige Zeit nachdem wir beschlossen hatten, über den Aufenthalt meines Vaters in Teheran im Zweiten Weltkrieg gemeinsam ein Buch zu schreiben, brachte Salar mir aus dem Iran, wo er den Sommer verbracht hatte, eine Kopie des 1983 veröffentlichten iranischen Dokumentarfilms Marsiye-ye gomshode mit (der internationale Verleihtitel lautet The Lost Requiem). Darin geht es um die polnischen Flüchtlinge im Iran der Kriegsjahre, und Anna Borkowska ist die zentrale Protagonistin. In der Dokumentation des Regisseurs Khosrow Sinai ist nie direkt von jüdischen Flüchtlingen die Rede, sondern bloß von der Gesamtheit der Flüchtlinge als „Polen, die in den Iran kamen“. Den Film eröffnet eine Szene auf einem Friedhof: Ein Mann geht mit einem Blumenstrauß in der Hand eine Reihe identischer Grabsteine entlang. Die Gräber sind schlicht, aber nicht ungepflegt. Als die Kamera langsam über die Grabsteine schwenkt, entdeckt man, dass sie polnische Aufschriften tragen. Wir befinden uns auf dem polnischen Gräberfeld der katholischen Abteilung des Doulab-Friedhofs, Teherans größter christlicher Begräbnisstätte. In Pole-e-Firuzeh, einer persischsprachigen Zeitschrift, die Salar mir außerdem mitbrachte, schrieb der Regisseur Sinai, dass er mit der Arbeit an seinem Film begonnen habe, nachdem er anlässlich der Trauerfeier für einen christlichen Freund im Jahr 1969 ganz zufällig auf die polnischen Grabsteine gestoßen war: „Ich sah … Grabsteine, auf die seltsame, fremdartige Namen eingraviert waren. Die Todesdaten lagen alle zwischen 1941 [und] 1945. … Meine Neugier war geweckt … [Die Leute auf dem Friedhof] wussten nichts. Schließlich kam der Priester herüber und sagte: ‚Das sind die Gräber der Polen, die während des Zweiten Weltkriegs aus Sibirien hierhergekommen sind. Bis sie endlich im Iran angekommen sind, mussten sie so viel Hunger und Krankheit erleiden, dass sie hier dann gestorben sind wie die Fliegen. Aber die Iraner waren sehr gut zu ihnen.‘“ Der Film erzählt die Geschichte dieser Güte.

Zwei Jahre nach unserem ersten Gespräch über die „Kinder von Teheran“ in Salars Büro beschlossen wir, gemeinsam ein Buch über sie zu schreiben. Als israelischer Staatsbürgerin war es mir nicht erlaubt, in den Iran einzureisen, aber Salar fuhr oft dorthin und konnte dort also recherchieren, was mir – und den meisten anderen – so nicht möglich war. Mir gefiel der Gedanke an unsere Zusammenarbeit; sie fühlte sich wie ein Puffer an zwischen der schmerzlichen Vergangenheit meines Vaters und meiner eigenen Gegenwart. Und es war, als hätte ich für meine Betrachtung der jüdischen Vergangenheit ein neues Objektiv bekommen, das meine Perspektive weitete. In politischer, intellektueller und emotionaler Hinsicht war mir das nur recht. Es schien mir eine probate Möglichkeit, solche letztlich ahistorischen Kategorien wie etwa „Antisemitismus“ zu überwinden, und heikle Gegensätze wie die zwischen Juden, Christen und Muslimen noch dazu. Und ich konnte auf diese Weise die tiefe (und immer noch tiefere) Lähmung umgehen, die das Verhältnis zwischen Israel und der Islamischen Republik Iran belastet. Es tat gut, einen verständnisvollen Beobachter an meiner Seite zu wissen, den die Last der jüdischen Geschichte aber dennoch nicht aus dem Gleichgewicht bringen würde.

Zusammen lasen wir die englische Übersetzung eines zuerst auf Polnisch erschienenen Buches mit Zeitzeugeninterviews von „Teheran-Kindern“, Dzieci Syjonu (in deutscher Übersetzung erschienen als Kinder Zions), gesammelt und zusammengestellt von Henryk Grynberg, einem polnisch-jüdischen Schriftsteller. Und zusammen besuchten wir Grynberg, der schon seit vielen Jahren in McLean, Virginia, lebt, in seinem Haus. Noch nie zuvor hatte ich einen polnisch-jüdischen Schriftsteller getroffen – ja, mir einen solchen auch nur vorgestellt –, der tatsächlich auf Polnisch schrieb; alle polnisch-jüdischen Schriftsteller, die ich aus Israel kannte, schrieben ja auf Hebräisch. Grynbergs Verbindung zur Geschichte der „Kinder von Teheran“ war mir außerdem noch nicht bekannt gewesen. Meine Tante Riwka in Israel, die Schwester meines Vaters, hatte die hebräische Übersetzung von Kinder Zions gelesen und mir erzählt, wie sehr das Buch sie erschüttert hatte, weil die Darstellung ihren eigenen Erfahrungen so genau entsprach.

Henryk Grynbergs andere Bücher – darunter Der jüdische Krieg, Der Sieg und Drohobycz, Drohobycz, die Salar und ich vor unserem Treffen mit ihm ebenfalls lasen – sind fiktionale Werke, die auf den Erfahrungen des Autors im deutsch besetzten Europa beruhen. Darüber wusste ich schon mehr, und in den meisten Fällen hatte Grynberg sie aus der Perspektive eines kindlichen Erzählers geschrieben. Zions Kinder hingegen war ein nichtfiktionales, ein Sachbuch – eine Collage von Material aus den sogenannten Protokoły Palestyny („Palästina-Protokolle“): Mitschriften von Interviews mit polnischen Juden, die während des Zweiten Weltkriegs als Flüchtlinge über den Iran nach Palästina gelangt sind. Diese Interviews, erklärte Henryk Grynberg uns, waren 1943 in Jerusalem von Mitarbeitern des polnischen Centrum Informacji na Wschód („Informationszentrum Ost“) aufgezeichnet worden, zumeist in polnischer Sprache.1 Das Informationszentrum war ein Organ der polnischen Exilregierung, die alle polnischen Bürgerinnen und Bürger repräsentierte, egal, ob diese sich im besetzten Polen oder im Ausland aufhielten. Sie war nach der deutschen Besetzung Polens geschaffen worden und wurde von den Alliierten anerkannt.

Diese Koalition aus Sozialisten, Sozialdemokraten, der Bauern- und der Nationalpartei, die sich zunächst in Paris und Angers ansiedelte, wohin ein großer Teil der politischen und militärischen Elite Polens nach Kriegsausbruch geflüchtet war, bevor der deutsche Vormarsch sie nach London gehen ließ, wurde unter der Führung des Exgenerals und früheren Politikers Władysław Sikorski geschlossen, der auch als ihr Ministerpräsident amtierte. Diese Exilregierung war, wie mir plötzlich klar wurde, die Regierung meines Vaters gewesen, als er in Palästina ankam. Nach dem Krieg, erzählte uns Grynberg, waren die Protokolle der Aussagen von Tausenden polnisch-jüdischer und polnisch-katholischer Flüchtlinge von dem „Informationszentrum Ost“ gesammelt und von Jerusalem nach England übermittelt worden, wo sich die polnische Exilregierung befand. Von dort wurden sie nach Irland weitergeleitet – eines von nur zwei Ländern, welche die Exilregierung auch nach Kriegsende noch anerkannten – und gelangten später in den Besitz der Hoover Institution an der kalifornischen Stanford University. Dort schlummerten sie ungestört bis Mitte der Achtzigerjahre, als der Osteuropahistoriker Norman Naimark sie fand und an Grynberg, wie dieser uns weiter erzählte, Kopien der Protokolle schickte, weil er dachte, der Schriftsteller könne diese vielleicht für ein Buch gebrauchen. Aus den Aussagen der jüdischen Kinder aus Palästina stellte Grynberg Zions Kinder zusammen, das neben der polnischen Erstausgabe auch in deutscher, hebräischer und englischer Übersetzung erschien.2 Auf den letzten Seiten des Buches fand ich eine Liste der „polnischen Bürger, die aus der Sowjetunion und dem Iran nach Palästina evakuiert wurden“, und auf dieser Liste wiederum fand ich meinen Vater, seine Schwester und die Cousine der beiden: „Teitel Hannania, lat 14, Ostrów Mazowiecka“; „Teitel Regina, lat 11, Ostrów Mazowiecka“ und „Perelgric Emma, lat 10, Warszawa“. „Teitel“ oder „Tejtel“ (so die polnische Schreibung) war der ursprüngliche Nachname meines Vaters gewesen, bis er ihn in den 1950er-Jahren in „Dekel“ hebraisierte. „Dekel“ ist eine genaue Übersetzung von „Teitel“ – es bedeutet „Palmbaum“.

Dass mein israelischer Vater hier als ein evakuierter polnischer Bürger aufgelistet war, der womöglich 1943 dem polnischen Informationszentrum in Jerusalem eine Zeugenaussage in polnischer Sprache geliefert hatte, brachte mich mindestens so sehr durcheinander wie damals die Lektüre des Kommentars von Abbas Milani in Salars Büro. Und Henryk Grynberg selbst hatte eine Geschichte, die ihn sehr von allen polnischen Juden unterschied, die ich bisher kennengelernt hatte: Er und seine Mutter waren vor dem Holocaust weder geflohen noch waren sie ins Konzentrationslager gekommen, sondern hatten sich den Krieg über in Polen unter einer falschen katholischen Identität versteckt gehalten. „Ich habe den Holocaust doppelt erlebt: als Jude und als Katholik“, sagte er Salar und mir mit einem traurigen, etwas unsteten Lächeln, „und ich weiß genau, was mit den Juden und den Polen in Warschau passiert ist.“ Er machte Tee für uns, den wir in dem stillen, aufgeräumten Wohnzimmer seines Farmhauses in Virginia tranken, während er aus dem Keller einen Stapel von Originalprotokollen heraufholte, die ihm als Quelle für Zions Kinder gedient hatten. Die Aussage meines Vaters war nicht darunter.

Nach dem Krieg, erzählte Grynberg, seien einige seiner Klassenkameraden Flüchtlinge gewesen, die aus der Sowjetunion zurückgekehrt waren, aber über sie habe er kaum etwas gewusst. Auch in Polen redete man nämlich nicht darüber, was während des Krieges geschehen war, und seine eigenen schrecklichen Erlebnisse im und nach dem Krieg – darunter die brutale Ermordung seines Vaters durch einen polnischen Nachbarn – rückten erst in den späten 1950er-Jahren ins Zentrum seines nunmehr autobiografisch-fiktionalen Schreibens. Inzwischen, sagte er, bereue er es, seine damaligen Erfahrungen fiktionalisiert zu haben, und sei es auch noch so wenig – so viel sei er seinen Lesern schuldig –, und deshalb habe er die Interviewprotokolle, die er aus Stanford erhielt, in seiner „dokumentarischen Erzählung“ ganz bewusst nur wortgetreu wiedergegeben. Ich erzählte ihm, dass meine Tante sich in seinem Buch wiedererkannt habe, doch auch nach ihrer Aussage suchten wir in dem Stapel leider vergebens. Doch auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe seines Buches, die 1995 erschienen ist, da entdeckte ich sie: Meine Tante Riwka Binyamini – die damals noch Regina Teitel hieß – als ein mageres Kind mit blauen Augen und blassen, schmalen Lippen, in einer viel zu großen Wolljacke, die einmal einer Frau mittleren Alters gehört haben musste, ihr Haar mit einem Kopftuch bedeckt. Wie ein „Zigeunermädchen“ sah sie aus, eine kleine Bosnierin oder Polin, vielleicht sogar ein deutsches Mädel: ein blondes, blauäugiges Flüchtlingskind wie aus dem Bilderbuch. Doch ihr Gesicht erkannte ich sofort – ihr Gesicht, das Jahrzehnte später mit seiner Kindlichkeit auch seine Ängstlichkeit verloren hatte, aber doch unverkennbar ihres blieb: der eindringliche, aufgeweckte Blick meiner Tante, ihre vorstehenden Wangenknochen, der blassblaue Farbton ihrer Augen, die ganz denen meines Vaters glichen.

„Sie sollten alles daransetzen, auch die Berichte Ihres Vaters und Ihrer Tante zu finden“, meinte Grynberg, als er mir ein signiertes Exemplar von der deutschen Ausgabe seines Buches überreichte – als Geschenk für meine Tante. „Da werden sie viel erfahren. Kinder manipulieren Informationen nicht; sie sprechen die Dinge aus, wie sie sind.“ Und tatsächlich schien es sich bei den Augenzeugenberichten, die er in seinem Buch zusammengestellt hatte, um schlichte, aufrichtige Schilderungen dessen zu handeln, was diese Kinder erlebt hatten, und zumeist handelten sie davon, was ihnen vor ihrer Ankunft im Iran widerfahren war. Bei der Lektüre stößt man auf eine schier endlose Litanei der Schrecken – Flucht und Bombardierungen, grausame Tode, brutale Gewalt, Diebstahl, Hunger, Zwangsarbeit –, ohne allzu viel über den größeren Zusammenhang zu erfahren, in dem diese Dinge geschehen waren. Die Details konnte ich nicht verkraften, jedenfalls noch nicht. Dafür waren sie zu erdrückend.

„Komm, wir schauen bei meinem Freund Homa vorbei“, schlug Salar vor, und keine Stunde später saßen wir auf einem schicken, bequemen Sofa in einem Washingtoner Vorort, gegenüber ein offener Kamin, ein Glas Wein in der Hand, und lachten mit Homa und Lida, die im Iran geboren ist und deren jüdische Familie auf Los Angeles, Washington, Teheran und Tel Aviv verstreut lebt. Lidas Schwester, die mit einem Muslim verheiratet war, wohnte noch immer in Teheran. Ihre restlichen Geschwister waren in Israel, wo sie selbst auch schon gelebt hatte. Bei ihrer Arbeit als Kellnerin begegnete ihr dort einmal der damalige israelische Verteidigungsminister Mosche Dajan. „Die Hand, die er mir geschüttelt hatte, hab’ ich danach drei Tage nicht gewaschen“, erzählte sie. Wir lachten schallend. Die meisten persischen Juden waren Zionisten; und die meisten verließen den Iran nach der Islamischen Revolution von 1979. Manche waren festgenommen und gefoltert worden; einige wurden sogar hingerichtet. Aber dennoch schien Lidas Beziehung zum Land ihrer Geburt weitaus weniger kompliziert zu sein, als etwa das Verhältnis Henry Grynbergs (oder auch das meines Vaters) zu Polen. Wir vier hatten wirklich einen sehr schönen Abend zusammen. Und kurz darauf, im Juli 2009, brachen Salar und ich, jeder für sich, in Richtung Naher Osten auf. Dort wollten wir weitere Informationen über die polnischen Flüchtlinge aufspüren.

*

In allen Haushalten Israels konnte man im Fernsehen mit anhören, wie der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad die Massen mit scharfen Worten auf den alljährlichen Al-Kuds-Tag („Jerusalemtag“) einstimmte: „Der Vorwand für die Errichtung des zionistischen Regimes ist eine Lüge, eine Lüge, die auf unbelegten Annahmen, frei erfundenen Behauptungen beruht.“ Das war 2009, in dem Jahr, in dem eine gewaltige Welle von Protesten, die „grüne Bewegung“, den Iran erfasste, die sich an der fragwürdigen Wiederwahl Ahmadinedschads zum Präsidenten entzündet hatte. Der islamisch-fundamentalistische Hardliner hatte zu diesem Zeitpunkt bereits so oft den Holocaust geleugnet und zur „Tilgung Israels von der Landkarte“ aufgerufen, dass die israelischen Medien geradezu besessen von ihm waren. Wenn der Iran dort in den Nachrichten behandelt wurde, dann wenig nuanciert und dafür umso aufgeregter. Der Mainstream-Berichterstattung aus Israel stand ich deshalb eher skeptisch gegenüber, doch als ich in New York die Begriffe „Iran“ und „Zionismus“ in die Suchmaske der Columbia-Universitätsbibliothek eingegeben hatte, waren mir im Handumdrehen Dutzende von Veröffentlichungen entgegengesprungen, deren Titel (etwa „Die Juden und der Zionismus: Anatomie eines Unheils“) mir wie persische Variationen auf die dunklen Verschwörungslegenden der Protokolle der Weisen von Zion vorkamen, nur noch abwegiger. „Die Zionisten“, hieß es da etwa, „exportieren in muslimische Länder sieben verschiedene Sorten Kaugummi, die nicht nur Impotenz hervorrufen, sondern sogar zu dauerhafter Unfruchtbarkeit führen …“ – und so weiter. Erschienen waren diese Schriften allesamt bei Bustan-e Ketab („Garten der Bücher“), dem wichtigsten Verlag aus der schiitischen Gelehrtenhauptstadt Ghom, etwa hundert Kilometer südlich von Teheran.

Dennoch war der Sommer 2009 so etwas wie ein Sommer der Hoffnung. In Teheran wollte die iranische Opposition sich nicht zum Al-Kuds-Tag mobilisieren lassen, sondern brachte stattdessen selbst Demonstranten auf die Straße, die gegen ihre eigene Regierung protestierten. In Tel Aviv hing eines Morgens eine drei Meter hohe Plakatwand in der Nähe des Jitzchak-Rabin-Platzes, auf die man die iranische und die israelische Flagge gepinselt hatte, versehen mit der hebräischen Aufschrift Kan tipatach b’karov schagrirut Iran b’Jisrael („Hier eröffnet bald die iranische Botschaft in Israel!“). Und in Jerusalem verkündete ein Künstlerkollektiv, das sich Ha’mabul („Die Flut“) nennt, dass es seine eigene „Kultur-Botschaft“ für die Islamische Republik eröffnen werde, in der Werke von iranischen Künstlerinnen und Künstlern ausgestellt werden sollten, um damit „ein anderes Gesicht [des Iran] zu zeigen als das, welches uns jeden Tag in den Medien präsentiert wird“.3

Salar interviewte den Regisseur Khosrow Sinai in seinem Haus in Teheran. Sein Interesse an der Geschichte der polnischen Flüchtlinge gehe schon auf die frühen Siebzigerjahre zurück, erzählte Sinai ihm, denn damals habe er begonnen, mit den noch immer im Iran verbliebenen katholischen Polen Interviews zu führen. Geld gab es für sein Vorhaben jedoch keines – „der Zweite Weltkrieg hat die iranische Öffentlichkeit damals nicht interessiert“ –, und so gab er das Projekt schließlich auf. Nachdem jedoch 1974 einige der polnischen Flüchtlinge von einst dem Schah bei einer Audienz überschwänglich „für die Menschlichkeit und die große Gastfreundschaft der Iraner“ gedankt hatten, nahm Sinai das zum Ansporn, seinen Film doch noch zu drehen. Aber noch zögerte er, weil er nicht wie ein schmeichlerischer Höfling des Schahs erscheinen wollte – dieser forderte nämlich, dass er selbst, der „König der Könige“, im Mittelpunkt des Films stehen solle!4 Schließlich vertagte der angehende Filmemacher, der vier Jahre lang in Wien Architektur studiert hatte, sein Vorhaben auf unbestimmte Zeit – so lange, bis, wie er es formulierte, „das Schicksal in Gestalt der [Islamischen] Revolution mir die Entscheidung aus der Hand nahm“. Als 1983 dann die Premiere von The Lost Requiem stattfinden konnte – die Dreharbeiten waren vom Kulturministerium der Islamischen Republik finanziert worden –, saßen im Publikum Iraner polnischer Herkunft, ihre Kinder und Enkel. Als Ort der Aufführung hatte man sich für eine Kirche in der Straße „Neauphle-le-Château“ entschieden (die – als Standort der französischen Botschaft in Iran – so benannt wurde, nachdem Ajatollah Chomeini aus seinem Exil in der gleichnamigen französischen Kleinstadt vor den Toren von Paris zurückgekehrt war).

Ein Vierteljahrhundert später sah ich mir Sinais Film in der Haifaer Wohnung meiner Kindheit an, inmitten der Fotos meines Vaters und zahlreicher Andenken aus seiner Zeit bei der Luftwaffe – winzige Tragflächen einer F-15 in einem Schmuckrahmen, diverse Zertifikate und Ehrenurkunden –, und hörte zu, wie Anna Borkowska und andere vormalige Flüchtlinge in den höchsten Tönen von der „Gastfreundschaft“, „Menschlichkeit“ und „Güte“ des Iran sprachen. Der Film wollte erzählen, wie ein Volk einem anderen geholfen hatte: „Niemals wieder“, verkündet der Erzähler des Films in dessen letzter Szene pathetisch, „soll eine Nation erdulden müssen, was das polnische Volk erduldet hat – den Gang ins Exil!“ Sinai war überhaupt nicht bewusst gewesen, wie er Salar gegenüber erklärte, dass sich unter den polnischen Flüchtlingen auch Juden befunden hatten, und selbst jetzt, da er es wusste, schien dieses Wissen für ihn keinen großen Unterschied zu machen. Auch mir, die ich vorerst nur wenig über das Verhältnis zwischen den katholischen und den jüdischen Flüchtlingen nach ihrem Eintreffen im Iran wusste, schien der Unterschied zwischen meinem Vater und den Protagonistinnen Sinais – die meisten waren Polinnen, die Iraner geheiratet hatten – nicht so sehr in einer Spaltung zwischen „Katholiken hier“ und „Juden dort“ zu bestehen, sondern vielmehr in dem unterschiedlichen Ausgang, den die Geschichte für Borkowska und für meinen Vater jeweils genommen hatte. Für ihn war der Iran nur ein Zwischenhalt auf einer langen Reise gewesen; für sie war er die Endstation. Der Iran wurde ihr zur Heimat, so wie er es – nach Angaben des Historikers Lior Sternfeld – für bis zu 5000 der polnischen Flüchtlinge im Iran geworden ist.5 Anna Borkowska war eine Iranerin, deren Wiege in Polen gestanden hatte.

Während Salar in Teheran mit Khosrow Sinai über dessen Film sprach, machte ich mich in Israel daran, neben meiner Tante und ihrer Cousine noch mehr ehemalige „Kinder von Teheran“ aufzuspüren, die nun im ganzen Land verstreut lebten. Die meisten konnten sich nur noch schemenhaft an ihre Zeit im Iran erinnern; einer, der damals schon etwas älter gewesen war, hatte immerhin noch bruchstückhaft im Gedächtnis, wie er einmal einen Ausflug in das Stadtzentrum von Teheran machen durfte, um den Sabbat im Haus einer iranischjüdischen Familie zu verbringen. Einen richtigen Schatz konnte ich aber erst in Jerusalem heben: Das frühere Flüchtlingsmädchen Ilana Karniel, auf deren Geburtsurkunde noch der Name Alina Landau gestanden hatte, überließ mir eine Kopie des Reisetagebuchs, das ihr älterer Bruder Emil Landau auf der weiten Fahrt geführt hatte. Die Geschwister Landau waren fünfzehn und zehn Jahre alt, als sie im Iran ankamen – genauso alt wie mein Vater und seine Schwester Regina. Sie waren in Warschau zur Welt gekommen, ihre Mutter war Pianistin. Sie sprachen – und schrieben – nur Polnisch. Ergänzt wurde der Bericht, den mir ein Schriftsteller aus meinem israelischen Bekanntenkreis ins Hebräische übersetzte, durch eine Karte mit der Reiseroute, die Emil selbst gezeichnet hatte und deren Präzision mir den Atem verschlug.

Das allererste Detail, das Emil Landau in seinem ersten Eintrag aus dem Iran festhält – er erzählt darin, wie ihr Schiff sich mithilfe von Schleppdampfern der Südküste des Kaspischen Meeres nähert –, betrifft die „Reihen von Studebakers und Chevrolets“, die im Hafen geparkt sind. Damals befanden sich Hunderttausende alliierter Soldaten im Iran; das Land war 1942 gewissermaßen voll von amerikanischen Lastwagen, die diesen Truppen zugeführt werden sollten. Werbezeichnungen jener Jahre halten fest, wie Studebakers vor den berühmten Felsreliefs von Persepolis und Schiras entlangbrausen, dass die Kopftücher der iranischen Frauen vom Fahrtwind nur so flattern – der Jahrgang 1942 des Reportagemagazins Life ist voll davon. „Lange Kolonnen von großen Militärlastwagen der Marke Studebaker donnern im Iran an den ältesten Denkmälern der persischen Kultur vorbei“, heißt es in dem begleitenden Werbetext. „Wo immer unsere Truppen auch anlangen – Studebaker-Lastkraftwagen aus der Heimat warten dort schon auf sie!“6 Der 15-jährige Emil Landau war gleichfalls wie gebannt, und seine Begeisterung für den Iran konnte es – zumindest anfänglich – durchaus mit der von Sinais Interviewpartnern aufnehmen:

„An dem historischen Datum des 16. August 1942 … näherte sich ein kleines Boot unter persischer Flagge der Kaganowitsch … Bei vierzig Grad Hitze und drückender Schwüle geht die erste Passagiergruppe an Bord des Schleppers und erreicht nach einer halben Stunde Überfahrt den kleinen Hafen von Bandar Pahlavi. Schwierig, den ersten Eindruck aufzuschreiben. Hier fühlen sich alle wie neugeboren, wie wenn man an einen Ort außerhalb der Welt gekommen wäre. Das Hafenbecken ist übersät mit farbenfrohen Booten; an Land wird es umgeben von Rasenflächen und Blumenbeeten; Reihen von beeindruckenden Chevrolets und Studebakers warten auf den Weitertransport, und alles erscheint gut und schön, alles scheint zu lächeln, wie auch die Perser lächeln und die indischen Soldaten, die uns Neuankömmlingen mitleidig entgegenschauen. Als wir an Land sind, umarmen sich alle.“

Der erste Berührungspunkt Emils – und Hannans – mit dem Iran war die Hafenstadt Bandar Pahlavi, die heute Bandar Anzali heißt und an der südöstlichen Küste des Kaspischen Meeres liegt. Hier war – im Gegensatz zu dem Bild, das die Studebaker-Werbeanzeigen im Life Magazine vom Iran zeichneten – von Wüste weit und breit keine Spur. Ein persischer Fotograf, der Aufnahmen von den Ankömmlingen machte und in Sinais The Lost Requiem interviewt wird, hat auf seinen Bildern auch den üppig grünen, sorgfältig gemähten Rasen festgehalten, von dem in Emils Tagebuch die Rede ist. Durch seine Linse konnte ich gleichsam mit den Augen meines Vaters sehen. Ich hatte mir diesen Ort immer ein wenig wie die staubigen ägyptischen Küstenstädtchen vorgestellt, die ich in meiner Jugend besucht hatte: Vor meinem inneren Auge waren die Buden und Schaufenster von Scharm el-Scheich erschienen, das geschäftige, quicklebendige, vollkommen chaotische Pulsieren des Nahen Ostens. Aber in Bandar Pahlavi herrscht ein subtropisches Klima, das eher dem von Südostasien ähnelt. Ruhig und elegant war die Stadt; geschwungene Marmorstiegen führten vom Ufer hinauf in einen sorgsam manikürten Park, dessen Eingang zwei gleichfalls marmorne Löwen bewachen. Es war die erste Stadt, die mein Vater seit Ausbruch des Krieges zu Gesicht bekommen hatte, in der nicht Zerstörung und Hunger das Bild bestimmten.

„Uns erscheint es … wie ein Himmelreich“, schrieb Dr. Chaim Ze’ev Hirschberg, ein Rabbiner und Gelehrter, der an der Wiener Universität Persisch studiert hatte und ungefähr zur selben Zeit wie mein Vater in den Iran kam, in einem Artikel, den ich später entdecken sollte, über seine ersten Eindrücke von der feinen Stadt am Meer.7

„Der Iran heißt uns willkommen“, heißt es in dem Tagebuch, das Krystyna Wartanowicz, eine junge Polin Anfang dreißig, auf ihrer Flucht führte und das ich gleichfalls später zitiert gefunden habe.8

So wie sie empfanden auch viele andere.

*

Der Iran, in den mein Vater im Sommer 1942 kam, war – in dieser Hinsicht vielleicht nicht anders als heute – ein hochkomplexes und keineswegs widerspruchsfreies Land: eine konstitutionelle Monarchie, die im Widerstreit mit einer Reihe repressiver Dynastien stand; eine islamische Nation, die ihre zoroastrischen Wurzeln nicht gänzlich gekappt hatte; ein Land, das reich an Öl war und deshalb von den Imperialmächten Großbritannien und Russland sowohl umworben als auch manipuliert, jedoch niemals völlig kolonisiert wurde; ein im Grunde armes Land, das sich in einem rasanten Modernisierungsprozess befand und im Jahr 1942 über ein staatliches Bildungssystem mit Schulpflicht, eine Nationaluniversität, neu gebaute Straßen und Brücken sowie über eine „Transiranische Eisenbahn“ verfügte, die den Persischen Golf mit dem Kaspischen Meer verband.

Die Brücken und Eisenbahnstrecken im Reich des Schahs waren in den 1920er- und 1930er-Jahren unter der Anleitung deutscher Ingenieure gebaut worden. Angehende iranische Ingenieure, unter ihnen auch Salars Onkel Yahya, gingen zum Studium nach Deutschland. Deutsches Know-how war dem Schah lieber als das der Sowjets oder der Briten, die bereits mit der Anglo-Persian Oil Company – Keimzelle der späteren British Petroleum (BP) – einigen Einfluss im Land hatten. Hitlers Aufstieg zur Macht tat dem deutsch-persischen Bündnis keinen Abbruch. Im Frühjahr 1942, nur wenige Monate, bevor mein Vater im Iran ankam, machte Onkel Yahya an der Königlich Sächsischen Technischen Hochschule in Dresden – der heutigen Technischen Universität – seinen Abschluss als Chemieingenieur und nahm ein Stellenangebot bei der I. G. Farben an, die später durch die Produktion des Giftgases Zyklon B sowie zahlreiche weitere Verstrickungen mit dem Naziregime berüchtigt werden sollte. Nazideutschland brauchte Öl, und der Iran brauchte dringend einen Verbündeten gegen den übermächtigen Druck der Sowjets und Briten.

Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg zog in seinem Buch Der Mythus des

20. Jahrhunderts (dem nach Mein Kampf am weitesten verbreiteten und einflussreichsten Buch im „Dritten Reich“) Parallelen zwischen dem „arische[n] Persien“ und dem „germanische[n] Europa“: „Das arische Persien dichtete uns den religiösen Mythus, von dessen Kraft wir alle noch heute zehren … Und das germanische Europa beschenkte die Welt mit dem leuchtendsten Ideal des Menschentums …“, schrieb Rosenberg, der 1946 in Nürnberg wegen der deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet wurde.9 Im Jahr 1933 erschien in Teheran die Zeitschrift Iran-e Bastan („Der alte Iran“), ein rassistisches Propagandablatt in persischer Sprache, das von Nazi-Sympathisanten aus der iranischen Intelligenz finanziert wurde, um die Vorstellung von der natürlichen Überlegenheit der beiden Nationen zu verbreiten. Genauer gesagt, hieß es, seien die Iraner die auserwählte Rasse Asiens, so wie die Deutschen die Herrenrasse Europas verkörperten.10 1936 dann ersetzte der Name „Iran“ – vom altpersischen Aryānām für „[Land] der Arier“ – die bisherige Bezeichnung „Persien“ auch offiziell. Zuvor war Aryānām eine Art von Spitzname gewesen, der nur innerhalb des Landes verwendet wurde. Daraufhin erließ das „Dritte Reich“ eine Verordnung, durch welche Iraner (sowie auch ein paar andere nicht-„germanische“ Volksgruppen) von den Beschränkungen der Nürnberger Rassengesetze ausgenommen wurden – mit der Begründung, sie seien „reinrassige Arier“.

Im selben Jahr begannen deutsche Juden, die sich zur Flucht aus ihrem Heimatland gezwungen sahen, bei der persischen Botschaft in Berlin Visa zur Einreise in den Iran zu beantragen. Die dortige Regierung gelangte zu dem Schluss, dass diese Emigranten „möglicherweise nützlich sein könnten“, und ließ „Ärzte, Ingenieure, Agrarfachleute, Handwerksmeister und Facharbeiter, Architekten, Mechaniker, Musiker und Künstler“ fortan ins Land.11

Marianne Leppmann, geborene Hempel, eine Kinderärztin, die 1903 in eine Münchner Familie von, wie sie schreibt, „gebildeten, kultivierten und interessanten Leuten mit der höchsten moralischen Integrität“ geboren war, kam 1934 mit ihrem Ehemann Joachim und ihren zwei jungen Töchtern in den Iran. Bei der Reichstagswahl im März 1933 hatte die Familie sich gerade zum Urlaub in Neapel befunden. Nachdem sie die Wahlergebnisse gelesen hatte, schreibt Marianne Leppmann, habe sie sich „voller Sorge ins Gras gelegt und geweint. … [Dann] setzte ich mich wieder auf und schärfte mir ein, dass dies die letzten Tränen gewesen sein sollten, die ich um das verlorene Vaterland weinen wollte.“ Sie und ihr Mann, der Bauingenieur war, erhielten Visa für den Iran, wo Joachim eine Stelle beim Landwirtschaftsministerium antrat. Einige Monate darauf stießen seine Frau und die Töchter zu ihm. „Mit dem Vaterlandsunsinn ist es für mich auf ewig vorbei“, schrieb Marianne in ihr Tagebuch, „von nun an kenne ich nur noch eine Nationalität: die schlicht menschliche.“ Sie und ihre Familie sollten mehr als ein Jahrzehnt lang in Teheran bleiben, genauso wie drei- oder viertausend andere Westeuropäer. Unter diesen befanden sich auch