Die Kleidermacherin - Núria Pradas - E-Book
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Die Kleidermacherin E-Book

Núria Pradas

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Beschreibung

Barcelona, 1917. Die hübsche Laia tritt eine Anstellung als Verkäuferin im Textilgeschäft Santa Eulalia an, in dem ihre Mutter als Näherin arbeitet. Laia ist von den luxuriösen Stoffen und schönen Kleidern fasziniert – und von der eleganten Roser. Diese will aus dem traditionsreichen Unternehmen ihrer Familie das erste moderne Modehaus Spaniens machen. Allen sozialen Gegensätzen zum Trotz freundet Laia sich mit der privilegierten Roser an. Doch dann tritt der charismatische Ferrán in ihr Leben – eine Begegnung, die das Leben beider Frauen für immer verändert …

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NÚRIA PRADAS

DIE KLEIDERMACHERIN

Roman

Aus dem Spanischen von Sonja Hagemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die katalanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Somnis a mida« bei Columna Edicions, Barcelona.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

1. Auflage 2016

Copyright © 2015 Núria Pradas.

Translation rights arranged by Sandra Bruna Agencia Literaria, S.L. through SvH Literarische Agentur.

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by

Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House,

Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Coverfoto: Richard Jenkins und ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl pondkungz; Sergey Titov; Muzhik (2); PhilipYb Studio/shutterstock Redaktion: Angela Kuepper

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20046-6V002

www.penguin-verlag.de

TEIL 1VERSTAND UND LEIDENSCHAFT

1CAMPRODON, FRÜHLING 1926

Es war ein sonniger Nachmittag, an dem nicht ein einziger Windhauch wehte. Die Luft duftete nach Frühling. Das Automobil, ein nagelneuer gelber Boattail, fuhr eine von Ulmen gesäumte Straße entlang. Sie hatten eben Sant Pau de Segúries hinter sich gelassen und näherten sich nun Camprodon. Ferran saß am Steuer und blickte konzentriert auf die Straße, während Roser, seine Frau, die vorbeisausenden Bäume vom Beifahrersitz aus betrachtete. Ihre riesigen Augen waren unter dem eng anliegenden Glockenhut kaum zu sehen.

Plötzlich funkelte ein Sonnenstrahl zwischen den Bäumen, und ein völlig neues Licht erhellte den Blick der jungen Frau. Sie sah hinüber zu ihrem Mann und lächelte, während sie die Hand auf seiner Schulter ruhen ließ. Ferran spürte ihren Blick, strich ihr zärtlich über die behandschuhten Finger und schenkte ihr sein schönstes Lächeln, ohne dabei die kurvenreiche Straße aus den Augen zu lassen. Der Augenblick währte nur ein paar Sekunden, aber in diesen vergaßen Ferran und Roser all die finsteren Gedanken, die sie zuvor so bedrückt hatten.

Das Ehepaar Ferran Clos und Roser Molins stand in enger Verbindung zu einem der renommiertesten Modehäuser in Barcelona: Santa Eulalia. Roser war die Tochter von Antoni Molins Gil, der das Geschäft bis zu seinem Tod im Jahr 1917 geführt hatte, und die Schwester des gegenwärtigen Besitzers, Andreu Molins Ros. Ferran Clos hatte 1918 unter etwas ungewöhnlichen Umständen bei Santa Eulalia zu arbeiten begonnen. Zunächst war er ein einfacher Angestellter in der Abteilung für Herrenbekleidung gewesen, aber bald hatte der junge Direktor Andreu Molins sein Talent fürs Zeichnen, sein Gespür für Farben und sein Auge für Texturen entdeckt. Ferran Clos hatte sich perfekt als neues Rädchen in das Getriebe von Santa Eulalia eingefügt, und Andreu Molins war froh, auf sein Potenzial zurückgreifen zu können, das so wunderbar zu seinen Expansionsplänen passte. So war ein unzertrennliches Duo entstanden, welches das Modegeschäft in sein goldenes Zeitalter geführt hatte. Dank des klaren Verstandes von Andreu Molins, einem weitsichtigen und effi­zienten Unternehmer, und der sprühenden Kreativität von Ferran Clos hatte sich das einst so bescheidene Bekleidungsgeschäft bald einen Namen in der Modewelt von Barcelona gemacht.

Abgesehen von seiner anspruchsvollen Arbeit, der all seine Leidenschaft galt, hielt Santa Eulalia für Ferran ein unerwartetes Geschenk bereit, nämlich Roser. Als er sie kennenlernte, war sie achtzehn Jahre alt, ein groß gewachsenes blondes Mädchen. Roser hatte einen schneeweißen Teint, eine edle Nase, feine Lippen, die sich nur selten zu einem Lachen verzogen, und riesige dunkle Augen. Auf den ersten Blick wirkte ihr ernstes Gesicht ein wenig melancholisch. Wer sie besser kannte, wusste jedoch, dass ihre Augen sprühen und ihre Lippen in verführerischer Unschuld lachen konnten. Außerdem hatte sie eine hervorragende Bildung genossen und war zu einer jungen Dame mit bemerkenswerter Ausstrahlung herangewachsen. Sie konnte nahezu jeder Unterhaltung folgen und auch etwas dazu beitragen, schließlich hatte sie nicht umsonst eine der besten kirchlichen Schulen für junge Fräulein in der Stadt besucht. Hinzu kam eine angeborene ­Eleganz, die Roser zu eigen war, und so richteten sich alle Blicke auf sie, wenn sie im Opernhaus Liceu am Arm ihres Vaters oder Bruders die große Freitreppe hinunterschritt. Ferran verliebte sich in sie, wie er sich in alle schönen Mädchen verliebte, die ihm über den Weg liefen. Aber bei Roser schwang noch etwas anderes mit. Er wusste, sie würde ihm Halt geben und seinem teils recht stürmischen, zu Exzessen neigenden Leben Beständigkeit verleihen. Sie heirateten am 18. Mai 1921 in Sant Pau del Camp; er war damals fünfundzwanzig und sie einundzwanzig Jahre alt. Niemand würde bestreiten, dass sich Ferran seine Position bei Santa Eulalia durch Talent und Schweiß hart erarbeitet hatte. Durch seine Ehe mit Roser ging er jedoch auch eine ersehnte Verbindung mit einer der bekanntesten Familien der Stadt ein. Nun gehörte er voll und ganz zur Firma dazu, und es lag ohne jeden Zweifel eine vielversprechende Zukunft vor ihm. Somit erreichte er eines der Ziele, die er sich insgeheim gesetzt hatte, als er im Winter 1918 mit nicht mehr als einem Empfehlungsschreiben von seinem Vater, Dr. Clos, in Barcelona und Santa Eulalia eingetroffen war.

Bevor allerdings an jenem wunderschönen Morgen im Mai die Hochzeit gefeiert werden konnte, warteten auf sie Verrat, Geheimnisse und Lügen.

Und Schmerz.

Unendlicher Schmerz.

Wieder betrachtete Roser die Bäume. Wie rasch sie vor ihren Augen vorbeihuschten! Ihr wurde beinahe schwindelig von dem Anblick, der ihr in Erinnerung rief, in welchem Tempo die fünf Jahre ihrer Ehe mit Ferran vorbeigeflogen waren. Leider auf ganz andere Art und Weise, als sie es sich erhofft hatte. Jedermann hatte ihnen eine glänzende Zukunft vorhergesagt, und es stimmte schon, dass sie sich über das Leben an der Seite ihres Mannes kaum beklagen konnte. Ob Reisen oder Feste – ihr wurde alles zu Füßen gelegt, bevor sie auch nur darum bitten musste. Dies war das Leben, von dem sie immer geträumt hatte, für das man sie erzogen hatte. Dennoch war sie nicht glücklich.

Für Roser war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sie Ferran damals im Modehaus ihrer Eltern über den Weg gelaufen war. Der junge Mann hatte vor Gefälligkeit, Selbstsicherheit und Vitalität nur so gesprüht. Er war nicht sehr groß, aber stattlich und trug das hellbraune Haar mit Pomade zurückgekämmt. Auf seinen Lippen lag fast immer ein Lächeln, so verschmitzt wie der Blick aus seinen kleinen, lebhaften Augen, die sie an Murmeln erinnerten, durchsichtig mit einem Farbtupfer in der Mitte. Er kleidete sich äußerst sorgfältig und achtete generell auf sein Äußeres. Roser mochte es, wie sein zurechtgestutzter Schnurrbart sie kitzelte, wenn er sie küsste. Und wie er sie damals geküsst hatte! Aber diese Tage schienen so lange zurückzuliegen, jene Zeit des Werbens, als er ihr die schönsten Worte zugeflüstert hatte, die man je zu ihr gesagt hatte. Damals hatte er ihr Woche für Woche sehnsuchtsvolle Briefe geschickt, voller Worte, die man nicht aussprechen, sondern nur aufschreiben durfte.

Das war für Roser die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Oh ja, damals war jeder Tag einem Freudentag gleichgekommen.

Es waren lichterfüllte Tage voller Hoffnung gewesen, bevor eine Zeit voller Einsamkeit und Flucht vor all den Verdächtigungen anbrach.

So vielen Verdächtigungen!

Schon vor ihrer Hochzeit waren Wolken aufgezogen, aber damals wagte Roser wenigstens noch zu hoffen. Vielleicht war sie auch einfach naiver. Sie dachte nämlich, nach der Trauung könnte sie die unbeständige Bestie bändigen, die Ferran in sich zu tragen schien. Aber da lag sie falsch, das Biest war unbezähmbar. Hinter Ferrans gewinnender und charmanter Fassade verbarg sich ein Frauenheld – ein wahrer Egoist, dessen Verantwortungslosigkeit keine Grenzen kannte, auch wenn er sich stets bezaubernd und unwiderstehlich gab. Nach und nach wurden die Verdächtigungen zu Gewissheiten, und das Glück bekam erste Risse. ­Ferran beteuerte zwar immer wieder, dass er sie liebte, und so war es auch wirklich. Aber sein Herz gehörte eben nicht ihr allein!

Roser hoffte, dass bald Kinder die zerbrechliche Bindung zwischen ihnen stärken würden, aber der ersehnte Nachwuchs blieb aus. Seine Abwesenheit legte sich auf ihre Brust wie ein dunkler Schatten und nahm ihr die Luft zum Atmen.

Am Anfang war ihre Kinderlosigkeit nur ein weiterer Rückschlag. Roser war dazu erzogen worden, repräsentative Pflichten in der Gesellschaft wahrzunehmen. Und so zeigte sie ihre Enttäuschung nicht in der Öffentlichkeit, sondern schützte eine Ruhe und Charakterstärke vor, über die sie in Wirklichkeit nicht verfügte. Sie ging auf Feiern, lachte, tanzte und tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihr Mann und sie ja noch jung waren, dass sie alle Zeit der Welt hatten, um Eltern zu werden.

Trotzdem wuchs mit jedem Monat die Traurigkeit in ihr, und schon bald wusste sie sich nicht mehr zu trösten. Mehr noch, die dumpfe Wut, die ihre Seele erfüllte, drohte all ihre Träume zu zerstören.

Im Laufe der Zeit verwandelte sich die Enttäuschung in Be­sessenheit. Der Schmerz war so groß und hatte sich so dauerhaft in ihr eingenistet, dass sie ihn nicht länger verstecken konnte. Deshalb hielt sie es für nötig, mit Ferran darüber zu sprechen.

»Wir werden mit Sicherheit Eltern, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, meine Liebe. Daran zweifle ich nicht einen Moment. Du musst eben Vertrauen haben, gräm dich nicht länger.«

Aber Ferrans Worte erreichten Roser nicht, und sie versank weiter in ihrem Schmerz. Die Sehnsucht nach alten Zeiten und die Enttäuschung über ihr Leben wuchsen gleichermaßen.

Ferran hingegen vergaß die Sorge seiner jungen Frau augenblicklich wieder. Er wollte zwar durchaus Vater werden, aber dieser Wunsch war in seinem Leben nur zweitrangig. Schließlich gab es so viel anderes, was ihn gefangen nahm – Geheimnisse, Liebe, Arbeit, Projekte …

Ja, Projekte! Andreus und Ferrans gemeinsame Projekte! Die beiden verwandelten Santa Eulalia, das traditionsreiche Bekleidungsgeschäft an der Pla de la Boqueria, in ein modernes Unternehmen. Inspiriert von den allerneuesten Trends aus Paris, würden sie bald die Haute Couture in Barcelona einführen. Besonders wichtig war Ferran dabei sein neuestes Vorhaben. Roser würde niemals sein Gesicht vergessen, als er ihr davon erzählt hatte.

»Wir möchten zum ersten Mal unsere eigene Kollektion entwerfen. Sie wird ganz allein unser Werk sein und die unverwechselbare Handschrift unseres Hauses tragen.«

Roser kämmte sich gerade im Schlafzimmer vor dem Frisierspiegel die Haare. Sie trug hautfarbene Nachtwäsche, ein Hemdchen und eine kurze Hose mit Borten aus erdbeerfarbenem Crêpe de Chine, der letzte Schrei. Im Spiegel betrachtete sie ihren Mann, der aufgeregt hin und her lief und dabei begeistert erzählte.

»Erinnerst du dich noch an die Boutique von Vionnet auf der Fifth Avenue?«

»Natürlich, du fandest sie so beeindruckend, dass du eine Woche lang von nichts anderem gesprochen hast«, erwiderte Roser lächelnd.

»Stimmt, und du weißt doch sicher auch noch, warum«, fuhr Ferran enthusiastisch fort. »Weil das nicht einfach nur ein ­Mode­geschäft ist. Oh nein, dort residiert nämlich eine wahre Modeschöpferin, jawohl, eine echte Künstlerin. Zum ersten Mal wurde mir die Bedeutung der Kreativität für die Mode bewusst. Wirklich beeindruckend!«

»Nun ja, ihr Laden ähnelt damit im Prinzip den großen Modehäusern in Paris. Vergiss nicht, dass Vionnet Französin ist. Alles, was in der Mode ›beeindruckend‹ ist, wie du es nennst, kommt normalerweise aus Frankreich«, fügte Roser mit Überzeugung hinzu.

»Nein, meine Liebe, Vionnet ist noch viel mehr, sie beeindruckt auf andere Art und Weise. Ihr ist es gelungen, den Ozean zu überqueren, und weißt du auch, wie? Indem sie ihre Kundinnen, deren Bestellungen und die Modetrends ihrem kreativen Genie unterworfen hat. Ganz zu schweigen von ihrem technischen Können und ihrer Fähigkeit zur Innovation. Sie ist nicht einfach nur Schneiderin, sondern ganz ohne Zweifel eine Künstlerin!« Ferran schloss die Augen, als wolle er hinter seiner Stirn noch einmal die Kleider von Madeleine Vionnet in all ihrer Pracht heraufbeschwören. Als er weitersprach, klang er noch aufgekratzter als zuvor. »Erinnerst du dich noch an ihre Kleider mit Diagonalschnitt? Genau das will ich den Menschen vermitteln: Man muss auch mal etwas Neues ausprobieren! Nähte schräg zum Fadenverlauf, weite Röcke, Blusen ohne strenge Schultern … In einem Wort: Sinnlichkeit! Eine völlig neue Mode, die sich dem Körper der Frauen anpasst. Und über die Materialien haben wir dabei noch gar nicht gesprochen. Diese Stoffe und ihre Verarbeitung! Crêpe de Chine, Chiffon, Satin, Seide …«

Gedankenverloren verstummte Ferran, und Roser drehte sich mit der Bürste in der Hand zu ihm um. Als er erneut das Wort ergriff, war seine Stimme ruhiger: »Bis jetzt haben wir uns bei Santa Eulalia darauf beschränkt, dem Publikum französische Produkte nahezubringen. Das wollten unsere Kundinnen, die neueste Mode aus Paris.«

»Und in diesem Bereich bieten wir ihnen immer noch das Beste, oder?«, fragte Roser und erhob sich. In ihren Augen war die Neugier zu lesen, die diese Unterhaltung in ihr geweckt hatte.

Ferran trat näher an seine Frau heran.

»Aber das reicht nicht, Roser! Wir wollen eine Mode kreieren, mit der sich unsere Kundinnen vom Rest der Welt abheben. Alle werden wissen, wer Santa Eulalia trägt und was unseren besonderen Stil ausmacht. Und den präsentieren wir in einer großen Modenschau.«

Roser lachte auf. »Eine Modenschau? So wie in Paris?«

»Besser, noch viel besser. Das wird ein riesiges Spektakel und …«

»Jetzt mach aber mal halblang!«

»Hältst du das etwa nur für eine Träumerei? Glaubst du, dass ich hier Luftschlösser baue?«, erwiderte Ferran ein wenig gereizt.

»Fragst du mich ernsthaft, ob ich an dir zweifele? Nicht im Geringsten, mein Liebster. Du kannst alles schaffen, was du dir vornimmst, da bin ich mir ganz sicher. Und wenn dir außerdem noch mein Bruder hilft, dieser Dickkopf …« Sie wandte sich wieder dem Frisierspiegel zu und bürstete sich die Haare. Die nächsten Worte ihres Mannes ließen sie jedoch erstarren.

»Jedenfalls sollten wir uns wegen dieses Projekts eine Zeit in die Villa deiner Eltern in Camprodon zurückziehen.«

Roser schwieg einige Herzschläge lang, dann drehte sie sich sichtlich verblüfft zu Ferran um: »Nach Camprodon willst du? Aber … dort war ich seit Jahren nicht mehr! Du kennst ja nicht einmal das Haus. Was willst du denn da?«

»Glaube mir, ich bin auch nicht gerade begeistert, schließlich bin ich ein Stadtmensch. Aber Andreu besteht darauf, er will, dass mich nichts ablenkt. Wir müssen die Kollektion im September präsentieren, deshalb hält er es für unumgänglich, dass ich mich ein, zwei Monate in die Pyrenäen zurückziehe.«

»Natürlich. Andreu steckt also dahinter!«

Rosers Blicke, der verkniffene Mund, ihre ganze Haltung brachten ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck. Die Art und Weise, wie ihr Bruder die Dinge regelte, machte sie wahnsinnig. Warum konnte er so etwas nicht erst einmal mit ihr besprechen? Diese Entscheidung betraf schließlich auch sie, und sie erfuhr hier als Letzte davon.

»Es gibt doch so viele Orte, an denen du in Ruhe und ungestört zeichnen kannst«, wandte sie ein. »Die Villa in Camprodon ist nicht gerade besonders … komfortabel. Seit Papas Tod verbringt Mama dort nur im Sommer ein paar Tage, und Andreu fährt mit seiner Familie fast nie dorthin. Ich habe keine Ahnung, wieso er vorgeschlagen hat, dass du ausgerechnet dort die Kollektion vorbereiten sollst!« Während sie sprach, wurde ihr Gesichtsausdruck noch härter. »Das passt mir nun wirklich nicht!«

Sie legte die Bürste auf den Frisiertisch und starrte mit Tränen in den Augen die weißen Lampen in Tulpenform an, die den Spiegel umgaben. Ferran zündete sich eine Zigarette an und trat zur Tür. Er schien in Gedanken weit weg zu sein. Bevor er sich zum Gehen wandte, sagte er dann aber noch: »Wenn du lieber in ­Barcelona bleiben möchtest, kann ich das verstehen. Schön fände ich es nicht, aber ich werde schließlich den ganzen Tag nur dasitzen und zeichnen. Ich möchte nun wirklich nicht, dass du dich langweilst … Ich kann auch allein fahren.«

»Auf gar keinen Fall!«

Auf gar keinen Fall wollte Roser allein in Barcelona zurückbleiben. Sie würde Ferran begleiten, wohin er auch ging. Und so befanden sie sich an diesem leuchtenden Frühlingsnachmittag auf dem Weg nach Camprodon.

Sie kamen am frühen Abend an, erreichten nach einer letzten Kurve den Ort und durchquerten ihn bis zum Passeig de la Font Nova, der ersten ausgebauten Promenade in Camprodon. Man würde sie für immer mit dem Namen von Dr. Robert in Verbindung bringen, weil er es gewesen war, der Sommeraufenthalte in Campordon unter der Bourgeoisie von Barcelona in Mode gebracht hatte.

Rund um den breiten Weg vom Camí de Dalt bis zum Brunnen hatte man Bäume gepflanzt und steinerne Bänke aufgestellt. Es gab dort sogar elektrische Beleuchtung, und bald waren links und rechts herrschaftliche Villen wie Pilze aus dem Boden geschossen.

»Das ist ja wunderschön!«, rief Ferran, um sich über den ­Motorenlärm hinweg verständlich zu machen.

»Ja, das ist es«, nickte Roser. »Ich habe gehört, dass ein gewisser Maristany im Ort eine ähnliche Promenade bauen will, die noch beeindruckender werden soll.« Sie deutete auf einen Eisenzaun mit offenem Tor. »Hier müssen wir rein.«

Sie fuhren einen von Bäumen gesäumten Weg entlang, der sie bis zu einem dreistöckigen Gebäude mit quadratischem Grundriss führte. Die Ecken des Hauses waren farblich und vom Material her abgesetzt.

»Fantastisch!«

Ferran war bereits aus dem Auto gesprungen und bewunderte voller Begeisterung die Villa. Als nun auch Roser ausstieg und das Haus betrachtete, in dem sie so viele Sommer verbracht hatte, wiegten sich im Garten die Zweige und säuselten im Wind. Sie hatte den Eindruck, eine leere Bühne zu betrachten, auf der die Zeit stehen geblieben war. Ein Schauder überkam sie, doch nicht vor Kälte. Trotzdem eilte Ferran diensteifrig zum Auto zurück und legte ihr den warmen, weichen Mantel aus braunem Samt um die Schultern. Mit einem Lächeln dankte sie ihm für die liebevolle Geste. Noch bevor die beiden das Haus erreichten, öffnete sich die Tür, und eine rundliche Frau erschien.

»Agustina!«, rief Roser und lief die kurze Treppe hinauf. Wie das kleine Mädchen, das sie einst gewesen war, warf sie sich der Frau in die Arme.

»Herzlich willkommen, Senyoreta, wie schön, Sie endlich mal wieder zu sehen. Ich dachte schon, Sie hätten uns völlig ver­gessen.«

Agustina war die Haushälterin, die sich zusammen mit ihrem Mann Tomàs das ganze Jahr über um die Villa kümmerte. Ihr stiegen Tränen in die Augen, als sie die Tochter ihrer Dienstherrin fest an sich drückte.

Irgendwann machte sich die junge Frau aus den kräftigen, an harte Arbeit gewöhnten Armen los und betrachtete Agustina eingehend. Roser musste feststellen, dass sie nicht länger die Frau aus ihren Erinnerungen vor sich sah. Inzwischen durchzogen ­Falten die Stirn der Haushälterin, und sie hatte dunkle Tränensäcke unter den Augen. Auf ihren Lippen lag jedoch immer noch dasselbe Lächeln wie früher.

Nacheinander betraten sie das Haus, und Agustina führte sie in das große Esszimmer mit der getäfelten Decke, das auf einen weitläufigen Garten hinausblickte. Eine Reihe von Buntglasfenstern ließ das Licht so geheimnisvoll funkeln wie Feuerwerk.

Roser nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch das kurze helle Haar, das sie in einem hochmodernen Garçon-Schnitt trug. Sie blickte sich um. In jeder Ecke des Hauses schienen versteckte Erinnerungen zu lauern. Zögerliche, nebelgleiche Erinnerungen, wie stille Schatten am Grund eines Sees. Sie wurde blass.

»Das Fräulein ist ja weiß wie die Wand. Geht es Ihnen gut?«

»Mir ist nach den ganzen Kurven nur ein bisschen schwindelig, Agustina«, beeilte Roser sich zu sagen.

Die Haushälterin lachte und wandte sich nun an Ferran. Er betrachtete die Szene mit einem kleinen Lächeln, das die Grübchen auf seinen Wangen sichtbar machte.

»Der junge Herr muss wissen, dass die Senyoreta schon als kleines Mädchen immer kreidebleich war, wenn sie im Sommer hier ankam. Genau wie jetzt! Dann habe ich ihr einen Tee gebracht, und sie hat sich schnell wieder erholt. Wissen Sie das noch, Senyoreta?«

»Aber natürlich, Agustina.«

»Ich werde Tereseta bitten, Ihnen einen Tee zu kochen, und dann ruhen Sie sich bis zum Abendessen am besten ein bisschen aus.«

»Tereseta?«

»Erinnern Sie sich denn nicht mehr an meine kleine Teresa?«

In diesem Moment erschien im Türrahmen ein kräftiger Mann mit sympathischem Äußeren, der eine Mütze in den Händen hin und her drehte. Neben ihm stand ein Mädchen von nicht mehr als vierzehn Jahren mit tief gebräunter Haut und schwarzen Haaren, die im Nacken zusammengebunden waren. Aus dunklen ­Augen musterte sie neugierig und schüchtern zugleich die Gäste.

»Tomàs!«, rief Roser und machte einen Schritt auf den Mann zu, um ihn zu begrüßen. Er wischte sich hastig die Hand an seiner Cordhose ab, bevor er sie ihr reichte.

»Senyoreta Roser, herzlich willkommen.«

»Und du … du musst dann wohl Tereseta sein.«

Das Mädchen senkte verlegen den Blick.

»Mein Gott, bist du groß geworden!«

Agustina begann augenblicklich damit, Aufgaben zu verteilen.

»Los, Tereseta, lauf in die Küche und mach für die Senyoreta eine schöne Tasse Tee und für den jungen Herrn etwas zu essen. Nicht zu wenig, er soll bei uns schließlich keinen Hunger leiden. Zu viel aber auch nicht, sonst kriegt er beim Abendessen keinen Bissen runter. Und du, Tomàs, steh da nicht rum und guck blöd, sondern geh raus zum Auto und hol das Gepäck. Die Herrschaften möchten sich doch bestimmt umziehen …«

Roser war indessen zu einem der Fenster gegangen und öffnete es. Es kam ihr vor, als würde diese vergessene und ihr doch so vertraute Landschaft auf der Suche nach ihr hereinströmen. Als würden jene sanften Sommertage ihrer Kindheit und Jugend nach ihr verlangen, genau wie die zähen Nächte voller Mondschein.

Doch sie war sich nicht sicher, ob sie jenen Tagen und Nächten noch einmal begegnen wollte, ganz und gar nicht sicher.

2

Als das erste Morgenlicht sich hinter dem Horizont hervorwagte, stand Ferran auf und schloss sich in dem Raum ein, der einst das Büro von Rosers Vater gewesen war und den er sich zum Zeichnen eingerichtet hatte. Nach und nach vertrieb die Sonne den Nebel, der über dem Rasen im Garten hing. In der Küche begann Agustina mit den Vorbereitungen für den Tag, während der Rest des Hauses noch schlief.

Obwohl Ferran die Arbeit an seiner ersten Kollektion liebte und sie ihn voll in Anspruch nahm, vermisste er Barcelona. Tagsüber fehlten ihm die Boulevards der Stadt, ihre belebten und geschäftigen Straßen. Abends, wenn dieses Barcelona schlief, fehlte ihm die andere Seite der Stadt, die erwachte, wenn in Theatern und Varietés die Lichter eingeschaltet wurden, während draußen Nachtwächter ihre Runde drehten. Wie er das Funkeln und den Lärm von Barcelona vermisste, die Lebensfreude, die seine geliebte Stadt wie eine Welle überrollte!

Zum Glück hielten diese Momente der Sehnsucht nie lange an, denn Ferran war von einem fieberhaften Schaffensdrang erfüllt. Er konnte gar nicht anders, er zeichnete, zeichnete, zeichnete. Tag für Tag schloss er sich im Arbeitszimmer ein, wo selbst Roser ihn nur selten zu stören wagte, und füllte dort unzählige Hefte mit Kritzeleien, wahren Hieroglyphen, die nur er korrekt interpretieren konnte und die in seiner Vorstellungskraft zum Leben erwachten. Voller Begeisterung skizzierte er stundenlang, wie ein Kind, das gerade erst entdeckt hatte, welch zauberhafte Welten ihm Stift und Papier ­eröffnen konnten.

Von Zeit zu Zeit blieb sein Blick an einer seiner Zeichnungen hängen, und plötzlich war es, als hätte ihn der Blitz getroffen. Eine Idee ergriff von ihm Besitz und ließ ihn nicht mehr los. Dann arbeitete er den Entwurf weiter aus, verlieh dem Gedanken Form und entdeckte dabei häufig eine Silhouette, die ihm gefiel und ihm regelrecht zuzuzwinkern schien. Hatte er da womöglich schon ein Modell für seine Kollektion vor sich? Um diese Frage beantworten zu können, musste er unermüdlich weiterarbeiten, bis er nach Stunden an einen Punkt gelangte, an dem ihm die kleine Skizze die Antwort zuflüsterte.

Im Schlafzimmer öffnete Roser erst die Augen, als die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen im Fensterladen hereinfielen, schon einige Meter über den Fußboden zurückgelegt hatten und fast ihr Kopfkissen erreichten. Sie betrachtete die Strahlen, in denen goldener Staub tanzte, erhob sich schließlich mit einem Lächeln auf den Lippen und machte das Fenster weit auf. Der Himmel über Camprodon wirkte im Frühling klar und rein, wie frisch gewaschen. Roser verspürte einen inneren Frieden, wie sie ihn schon lange nicht mehr empfunden hatte. Dieser Rückzug, die erzwungene Zweisamkeit mit Ferran, hatte sie in alte Zeiten zurückversetzt, die glücklicher und unschuldiger gewesen waren. Sie war wieder verliebt in diesen Mann, den sie hier für sich allein hatte. Und wie früher ließ sie sich völlig von ihm mitreißen, verwandelte sich in seinen Schatten, in eine stumme Begleiterscheinung, der alles andere egal war.

Schläfrig zog sie sich an und frisierte sich. Sie machte sich jeden Tag so sorgfältig zurecht, als habe sie große Pläne, obwohl es für diese Inszenierung nur einen einzigen Zuschauer gab. ­Roser hatte die allerneueste Mode mit nach Camprodon gebracht. Ihre Lieblingsstücke waren zwei Wollkostüme aus Paris, wo Coco Chanel die Kombination aus Rock und Jacke in Mode gebracht hatte. Ihre schlichten Schnitte waren der höchste Ausdruck von Modernität, und Roser fühlte sich sehr wohl in den einfarbigen plissierten Röcken, die knapp bis unters Knie reichten. Während ihres Zwangsurlaubs auf dem Land kombinierte sie sie mit sportlicheren Elementen und war damit sowohl bei Spaziergängen in Camprodon als auch dann gut angezogen, wenn sie zu Hause ­ihren Lieblingsbeschäftigungen nachging – Nähen und Lesen.

Bevor sie sich zum Frühstück nach unten begab, suchte sie unter all den Accessoires auf ihrem Frisiertisch nach etwas, das die übermäßige Schlichtheit ihres Kostüms ein wenig durchbrechen konnte. Vielleicht eine Perlenkette, eine hübsche Brosche oder ­einer der extravaganten Armreifen, die sie von einer Reise nach Paris mitgebracht hatte? Nach einem letzten beifälligen Blick in den Spiegel machte sich Roser auf den Weg zum Arbeitszimmer, wo Ferran schon seit Stunden zeichnete. Sie wollte ihm nicht viel von seiner Zeit rauben, nur einen winzig kleinen Moment. So leise wie möglich ging sie zur Tür, öffnete sie und schlich sich in das Heiligtum ihres Mannes. Dann brachte sie ein sanftes »Guten Morgen« hervor, das einen Moment lang unentschieden in der Luft zu schweben schien. Wie zur Antwort fuhr sich Ferran mit der Hand durchs Haar, blickte mit einer Zigarette im Mundwinkel kurz auf und lächelte sie inmitten der Rauchwolke an. Sein Lächeln war für Roser wie eine warme Welle, wie ein Kuss, der alle Zärtlichkeit der Welt enthielt. Wie gern hätte sie diesen kurzen Moment in die Länge gezogen, aber sie wollte Ferran nicht von der Arbeit abhalten. Deshalb stützte sie nur schweigend die Arme auf der Rückenlehne seines Stuhls auf und sah ihrem Mann beim Zeichnen über die Schulter. Sie strich ihm eine Strähne aus der Stirn, kämmte ihm mit den Fingern durchs Haar und legte ihm dann zum Abschied kurz beide Hände auf die Schultern.

Ohne sich zu ihr umzudrehen, sagte Ferran: »Bis später, Liebste.«

»Bis später«, antwortete sie so leise, dass sie ihre eigene Stimme kaum erkannte, und verließ schweren Herzens das Büro.

Beim Frühstück munterte sie die Unterhaltung mit Agustina wieder auf. Die Haushälterin erzählte fröhlich von allerlei Leuten im Ort, von denen Roser noch nie gehört hatte oder die schon vor langer Zeit in den Windungen der Erinnerung verloren gegangen waren. Mit ihrem Klatsch und Tratsch brachte Agustina sie immer zum Lachen, selbst gegen ihren Willen.

»Angeblich soll die Promenade von Senyor Maristany so fantastisch werden, dass die Leute sich gar nicht mehr einkriegen werden. Wer soll denn so was glauben? Wir haben hier in Camprodon schon einen fantastischen Boulevard, was sollen wir mit noch einem?«

»Aber Agustina, das ist doch alles zum Wohle des Ortes.«

»Von wegen, Senyoreta, wo hat man denn so was schon gehört? Eine zweite Promenade! Die werden hier alles auf den Kopf stellen. Na, ich wünsch denen auf jeden Fall viel Glück. Das werden sie wohl brauchen, so wie die Dinge heutzutage laufen.«

Die kleine Teresa eilte derweil immer wieder von der Küche ins Esszimmer und zurück, damit es Senyoreta Roser an nichts fehlte. Gleichzeitig versuchte sie jedoch, möglichst viel von der Unterhaltung der beiden Frauen mitzubekommen.

Das stille Mädchen mit dem lieblichen Gesicht war der eleganten Senyoreta aus Barcelona augenblicklich zugetan gewesen. Mit weit aufgerissenen Augen folgte sie ihrer jungen Herrin und sog begierig jedes Detail auf: Ihre Kleider gingen bis kurz unter die Knie und zeigten sanft gerundete Beine in schimmernden, durchsichtigen Strumpfhosen. Sie trug glänzende Halstücher aus Seide, wunderschöne Handtaschen, Schuhe mit kleinem eckigem Absatz und Bändern um die Knöchel. Jugendliche, frühlingshafte Hüte verdeckten meist das kurz geschnittene Haar. Und dann ihr Duft … Die Senyoreta roch nach Veilchen, und Agustinas Tochter hatte ihr Parfüm den ganzen Tag in der Nase. Für Teresa war es das Aroma eines fremden Universums. Bei ihr zu Hause rochen die Menschen nicht nach Blumen, sondern nach Arbeit und Schweiß. Die Frauen in ihrem Umfeld, ihre Mutter, sie selbst und die wenigen Freundinnen schlüpften morgens hastig und ohne große Umstände in ihre Kleider. Über das Hemd, in dem sie schliefen – im Winter aus Wolle, im Sommer aus Baumwolle –, zogen sie einen Unterrock, darüber dann einen Rock und eine Bluse. Die Unterwäsche wechselte man einmal in der Woche – so war das in ihrer Welt.

In das Zimmer der Herrschaften zu gehen, dort Ordnung zu schaffen und das Bett zu machen, war für Teresa der schönste Moment des Tages. Zunächst hatte sie es nicht gewagt, Rosers Sachen zu berühren, um den Staub abzuwischen. Sie hatte gefürchtet, die Kostbarkeiten mit ihren Händen zu beschmutzen, die so schöne Dinge nicht gewohnt waren. Aber nach und nach besiegte ihre Neugier die Angst. Eines Morgens griff Teresa, während sie den Frisiertisch aufräumte, nach einem der Armreifen, die Roser oft trug. Er war breit und aus glänzendem Elfenbein. Von einem eindrucksvollen roten Stein in der Mitte gingen goldene Strahlen aus, die an den Enden mit kleinen Brillanten verziert waren. Teresa streifte ihn sich probeweise über. Dass es so etwas Schönes geben konnte! Und wie schwer er war! Sie schloss die Augen und ließ sich von den neuen, verrückten Träumen mitreißen, die dieser Gegenstand in ihr weckte.

Mit der Zeit wurde Teresa immer mutiger und erlaubte es sich, den Schrank der Senyoreta zu erforschen, in dem all die wunderbaren Kleider hingen. Zunächst beschränkte sie sich darauf, zärtlich darüberzustreichen. Dann kam der Tag, an dem sie mit zitternden Händen nach einem Seidenschal griff und ihn sich ganz vorsichtig um die Schultern legte. Für ein paar Minuten tauchte sie ein in die Welt von Senyoreta Roser und hüllte sich in ihren Duft, umfing sich mit unbekanntem und sehnsüchtig bewundertem Luxus. Wie herrlich, so in einen Traum einzutauchen, während sie doch zugleich hellwach war.

Dabei gab Teresa stets gut acht, alles wieder sorgfältig zu verstauen. Nicht, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte oder fürchtete, entdeckt zu werden. Sie empfand den Sachen von Senyoreta Roser gegenüber einfach großen, ehrfürchtigen Respekt. Allerdings ahnte sie nicht, dass Roser über Teresas kleine Ausflüge in ihre Welt genau im Bilde war.

Zunächst waren es nur Kleinigkeiten gewesen, Kleidungsstücke hingen im Schrank plötzlich nicht mehr an derselben Stelle, eine Halskette schaute aus dem Schmuckkasten hervor oder Kopfbedeckungen hatten in den Hutschachteln den Platz getauscht. Einer weniger akkuraten Person wären diese Details vermutlich nicht einmal aufgefallen. Roser hingegen achtete ganz genau darauf, was da in ihrem Schlafzimmer passierte, wenn vielleicht auch nur aus Langeweile. Sie war gespannt, welches Gespenst dort umging, obwohl sie gleich vermutete, dass Teresa ihr kleiner Geist war. Als Roser ihre Ahnung schließlich bestätigt sah, erfasste sie eine merkwürdige Rührung. Gequält fragte sie sich, ob sie wohl einst selbst eine Tochter haben würde, deren Augen so vor Bewunderung glänzten wie Teresas. Ihre Tochter stellte sie sich blond vor, so wie sie selbst, aber mit dem lebhaften Blick ­ihres Vaters. Der Name lag ihr bereits auf den Lippen, die Kleine würde Carlota heißen, und zusammen mit Ferran würde sie sie zu einem guten Menschen heranziehen, zu einer tüchtigen und anständigen jungen Frau.

Und so überkreuzten sich die Träume von Roser und Teresa, spielten miteinander Fangen, ohne sich dabei je zu berühren. Während Teresa im Zimmer feine Dame spielte, träumte Roser auf dem Flur von einer Tochter. Vielleicht lag es an diesem unerfüllten Wunsch, dass sie Teresa mit immer liebevollerem Blick betrachtete, und wahrscheinlich kam ihr auch deshalb eine Idee.

Agustina hatte für Roser den Kuchen gebacken, den sie als Kind am liebsten gemocht hatte, und Roser verspeiste ihn mit kleinen, genüsslichen Bissen. Dann tupfte sie sich mit einer Serviette den Mund ab und nahm einen tiefen Schluck Milchkaffee.

»Agustina, mein altes Kinderzimmer sieht noch genauso aus wie früher, nicht wahr?«

»Allerdings, Senyoreta, das benutzt ja niemand. Ihre Neffen schlafen in dem kleinen Zimmer mit den zwei Betten, wenn sie mit Ihrem Bruder zu Besuch kommen.«

Roser nickte zufrieden. »Also hängen dort auch noch meine alten Kleider im Schrank?«

Mit einem Frühstückstablett in den Händen durchquerte Teresa­ auf dem Weg zu Ferrans Arbeitszimmer den Raum.

»Aber natürlich!«, antwortete Agustina. »Ihre Frau Mutter hat immer gesagt, dass Sie die Sachen schon in Ordnung bringen würden, wenn Sie mal wieder herkommen.« Die Haushälterin legte eine dramatische Pause ein und seufzte tief. »Aber leider sind Sie nie gekommen … Nun ja, bis jetzt natürlich.«

Roser nahm einen weiteren Schluck vom heißen, süßen Kaffee­ und sprach mit schelmischem Leuchten in den Augen weiter. »Weißt du was? Der Schrank muss voll von Kleidern sein, die längst nicht mehr in Mode, aber trotzdem schön und von guter Qualität sind. Teresa und ich könnten zusammen ein paar aus­suchen, die ich dann für sie anpasse. Du weißt doch, wie gerne ich nähe und …« Sie konnte den Satz nicht zu Ende führen, weil ein ohrenbetäubender Lärm auf dem Flur ihre Worte verschluckte.

»Aber Tereseta, Mädchen, was machst du nur? Bist du verrückt geworden?«, stöhnte Agustina, verdrehte die Augen und setzte einen übertrieben verzweifelten Gesichtsausdruck auf, während Roser ein Lächeln unterdrückte und ihre Tasse bis auf den letzten Tropfen leerte.

»Und dieses hier, gefällt dir das?«

Teresas Augen begannen zu leuchten, als sie das blau-weiß ­gestreifte Kleid sah, das Roser aus dem Schrank holte. Die beiden lächelten, Teresa ganz verzückt, Roser beinahe entschuldigend.

»Inzwischen ist es natürlich furchtbar altmodisch. Überleg nur, ich muss so alt wie du gewesen sein, als ich es getragen habe. Aber sieh dir den Stoff an, wie herrlich er fällt. Das ist Baumwollkrepp, wirklich schön. Und wie kräftig die Farben immer noch leuchten!«

Teresa streckte die Hand aus, traute sich aber nicht, den zauberhaften Stoff zu berühren.

»Das Umnähen dieser Kleider wird ein schönes Projekt, darauf freue ich mich schon! Weißt du, bei uns im Geschäft habe ich schon Zeit in der Schneiderwerkstatt verbracht, als ich noch kaum laufen konnte. Eines kann ich dir sagen, ich habe die Näherinnen in den Wahnsinn getrieben, weil ich ihnen immer wieder Stofffetzen stibitzt und mit den Schnittmustern gespielt habe. Aber dabei habe ich ganz von selbst gelernt, die einzelnen Materialien von­einander zu unterscheiden: Seidenmusselin, Chantilly …« Roser sah das Mädchen an und brach dann in fröhliches, beinahe kindliches Gelächter aus. »Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, oder?«

»Doch, Senyoreta Roser, meine Mutter hat mir erklärt, dass Ihr Geschäft, also …«

»Sieh mal!«, ergriff Roser wieder das Wort und hielt erneut das blau-weiße Kleid hoch. »Ich könnte die Rüsche am Hals wegnehmen und durch einen größeren runden Ausschnitt ersetzen. Den Rock kürze ich, sodass er dir bis knapp unter die Knie geht. Das wird wunderbar aussehen! Dann müssen wir nur noch einen passenden Gürtel finden, und voilà! Ich sehe es schon vor mir, ­Tereseta, du auch?«

Natürlich konnte sich Teresa das nicht vorstellen, aber sie nickte dennoch.

»Also, das nehmen wir auf jeden Fall. Lass uns noch nach ­einem Gürtel suchen, hier muss irgendwo einer sein. Reich mir doch mal den runden Karton von ganz oben. Den, der wie eine Hutschachtel aussieht.«

»Diesen hier, Senyoreta?« Teresa streckte sich nach oben.

»Genau, aber sei vorsichtig, nicht, dass du dir noch wehtust.«

Der Karton war viel zu groß, und als Teresa ihn mit beiden Händen zu umfassen versuchte, geriet der Stuhl, auf dem sie stand, ins Wanken. Um sich festzuhalten, ließ sie die Schachtel los, die mit großem Getöse zu Boden fiel.

»Es tut mir so leid«, stammelte Teresa kleinlaut.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja, Senyoreta. Ich …«

Als Roser sich vorbeugte, um den auf dem Fußboden ver­teilten Inhalt der Schachtel in Augenschein zu nehmen, schlug sie die Hände vor den Mund und unterdrückte einen Aufschrei. »Oh mein Gott, das kann doch nicht sein!«

»Senyoreta, es tut mir so leid, ich … ich dachte, ich würde fallen­.«

Aber Roser schien sie gar nicht zu hören. Sie blätterte längst in den vergilbten Seiten eines kleinen Büchleins. Ihre Augen waren ganz feucht geworden.

»Das Tagebuch … mein Tagebuch. Das hatte ich ganz vergessen.« Als sie wieder aufschaute, sah Teresa sie sorgenvoll an. »Lass mich jetzt bitte allein«, bat Roser, sie brauchte einen Moment für sich.

Mit einem Kloß im Hals huschte Teresa davon. Sie befürchtete, die junge Dame mit ihrer Ungeschicktheit verärgert zu haben. Aber so war es gar nicht.

Roser hatte das Tagebuch von ihrer Patin zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt bekommen. Sie erinnerte sich noch gut daran. Über Jahre hinweg hatte sie nach und nach die leeren Seiten gefüllt und das Büchlein vor fremden Blicken verborgen wie einen geheimen Schatz. Und dann war das Tagebuch eines Tages einfach verschwunden, sie hatte es verloren und wusste nicht, wo. Jetzt begriff sie, dass sie es hier in Camprodon vergessen hatte, wo es wie immer gut versteckt gewesen war. Eine Zeit lang hatte es ihr wohl gefehlt, aber dann war ihr Vater gestorben, sie war auf einen Schlag erwachsen geworden und hatte das Tagebuch schließlich völlig vergessen. Dabei hatte es hier all die Zeit auf sie gewartet wie ein treuer Freund.

Roser schlug das Buch auf und blätterte wahllos zu einem Eintrag.

4. Juli 1916

Heute hat Mama furchtbar mit mir geschimpft, ich bin die ganze Heulerei wirklich leid.

Alles fing damit an, dass ich mit Maria Camprubí ins Dorf gegangen bin, und als wir dann über den Camí de la Font zurückgekommen sind, haben wir ihren Bruder Víctor und ein paar Freunde getroffen, die mit dem Fahrrad unterwegs waren. Ich kannte nicht alle, aber wir haben geredet und gelacht, sodass die Zeit wie im Flug verging. Irgendwann habe ich dann gemerkt, dass ich längst zum Mittagessen hätte zu Hause sein müssen. Víctor war so nett und hat mir angeboten, mich mit dem Fahrrad heimzubringen. Ich bin hinten aufgestiegen, habe die Füße hochgezogen, und wir sind losgefahren. Mama hatte sich schon aufgeregt, weil ich zu spät war, aber als sie mich dann mit Víctor auf dem Fahrrad gesehen hat, war sie außer sich vor Wut. Sie hat zu zetern angefangen, sobald ich das Haus betrat, und mich ohne Essen auf mein Zimmer geschickt.

Was denkt sich Mama denn nur? Dass ich noch ein kleines Mädchen bin? Wann kann ich endlich kommen und gehen, ohne irgendjemanden um Erlaubnis bitten zu müssen? Ich träume von einem Mann, der mich hier rausholt, denn in dieser Familie denken immer alle schlecht von mir, selbst bei den unschuldigsten Dingen. Wie gern werde ich das alles hinter mir lassen, wenn ich erst den finde, mit dem ich mein Leben verbringen will. Dann werde ich frei und glücklich sein.

Wenigstens hat mir Agustina vorhin noch einen Teller mit Aufschnitt hochgebracht. Heimlich, versteht sich …

Roser ließ sich in einer Ecke nieder und umarmte das Büchlein wie einen wiedergefundenen Freund. Dann lächelte sie traurig. Die flüchtigen Erinnerungen hatten für einen Moment Vergangenheit und Zukunft zusammengeführt. Sie fragte sich, was von jenem unschuldigen und verträumten Mädchen noch übrig war. Was blieb vom ersehnten Glück?

Ein düsteres Gefühl der Beklemmung durchbohrte sie, während sie in die Vergangenheit reiste, wo ihre Erinnerungen gefangen waren.

3BARCELONA, JUNI 1917

Lächelnd und kerzengerade ging die junge Frau auf den Spiegel zu, dann trat sie einen Schritt zurück und schob kokett die linke Schulter vor. Sie raffte ihr langes Haar mit beiden Händen, ließ es wieder fallen und schüttelte es, als würde der Wind durchs Fenster wehen. Als sie sich mit gesenkten Lidern in dem großen Spiegel am Schrank betrachtete, riss sie die Augen wieder auf, weil der Effekt sie selbst überraschte. Dann griff sie nach ihrem Rock, hob ihn ein wenig hoch und ließ ihn hin und her schwingen. Laias Augen leuchteten, und ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Das neue Kleid, das ihre Mutter für sie genäht hatte, saß wie angegossen. Ihre Freundinnen würden wieder einmal vor Neid platzen.

Mit ihren siebzehn Jahren wusste Laia bereits, wie schön sie war, begriff aber noch nicht, welche Macht über andere damit einherging. Laia war klein und schlank. Von ihrem Vater, an den sie sich kaum noch erinnern konnte, hatte sie eine dicke, gewellte Mähne geerbt, und das braune Haar ließ ihre makellose helle Haut nur noch mehr leuchten. Von ihrer Mutter hatte sie die tief liegenden bernsteinfarbenen Augen, die in ihrem Gesicht mit den perfekt geformten, vollen Lippen fröhlich und lebhaft leuchteten. Ein Blick aus diesen Augen konnte Chaos säen. Woher sie ihre Dreistigkeit und Wildheit hatte, ihre ein wenig leichtsinnige Zwanglosigkeit, wusste allerdings niemand.

»Laieta!«

Laia warf ihrem Spiegelbild eine Kusshand zu, konnte sich aber nur schwer davon losreißen. »Ich komme schon, Mutter!«, rief sie.

Wie ein Wirbelwind fiel sie dann in die kleine Stube ein, wo Carmen neben der Balkontür saß, um das letzte Nachmittagslicht zum Nähen zu nutzen.

»Sehen Sie nur, Mutter, was meinen Sie?«, fragte das junge Mädchen, raffte erneut den Rock und drehte sich wie ein Kreisel. Carmen löste den Blick von ihrer Handarbeit.

»Das ist wirklich hübsch geworden, nicht wahr, Laieta?«

Ungläubig riss Laia die Augen auf und begann zu lachen.

»Hübsch? Das ist das schönste Kleid, das ich je hatte, und Sie sind die beste Schneiderin. Und die beste Mutter!« Noch während sie sprach, warf sie sich ihrer Mutter kichernd um den Hals.

Carmen war Schneiderin im Modehaus Santa Eulalia an der Pla de la Boqueria. Der erste Direktor des Geschäfts, der vor ­einigen Monaten verstorbene Antoni Molins Gil, hatte 1909 eine Damenabteilung eröffnet, und die kurz zuvor verwitwete Carmen hatte dort nicht nur eine feste Anstellung gefunden. Die Arbeit bei Santa Eulalia hatte ihr auch die Sicherheit zurückgegeben, die sie durch den Tod ihres geliebten Valentí verloren hatte.

Vor ein paar Monaten hatte Laia dann im selben Modehaus als Verkäuferinnenlehrling angefangen, mit dem üblichen Vierjahresvertrag. Viel Geld gab es dafür nicht, und eigentlich war für die jungen Mädchen schon allein der niedrige Lohn eine Prüfung, weshalb auch nur die wenigsten die lange Ausbildung beendeten. Wer sich für die Arbeit eignete und diesen Prozess der natürlichen Auslese überstanden hatte, musste noch einmal zwei Jahre lang Hilfstätigkeiten ausführen, bevor er dann endlich in den Rang der Verkäuferinnen aufstieg und damit den Neid der ganzen Branche auf sich zog. Diese Stellen wurden nämlich sehr ordentlich bezahlt.

Carmen kannte ihre Tochter nur zu gut, die so einige Flausen im Kopf hatte und der die Ernsthaftigkeit, die Bereitschaft zu harter­, aufopfernder Arbeit fehlte. Sie wusste ganz genau, dass Laia noch Lichtjahre davon entfernt war, die Ansprüche an das künftige Verkaufspersonal von Santa Eulalia zu erfüllen. Laia hatte diese Stelle nur deshalb bekommen, weil der junge Senyor Molins, der genauso großzügig war wie sein Vater, Carmen damit einen Gefallen hatte tun wollen. Jetzt aber musste Laia sich beweisen, und ihre Ausbildung würde anspruchsvoll sein, daran hatte ihre Mutter keinen Zweifel. Es bedrückte sie, dass sie nicht sicher war, ob ihre Tochter die Lehrzeit erfolgreich beenden würde.

»Na, na, Dummchen, jetzt steh schon auf und lass mich ­weiternähen. Auf der Straße warten deine Freundinnen seit einer ganzen Weile auf dich.«

»Wenn sie erst dieses Kleid sehen …«

Carmen hatte aus dem Gedächtnis ein gerade im Modehaus eingetroffenes Kleid kopiert. Es handelte sich um einen hochmodernen Entwurf aus Paris: Das taillierte Modell hatte einen runden Ausschnitt und einen Gürtel, der zu einer Schleife gebunden wurde. Der Rock war aus leicht durchscheinendem Musselin und fiel mit drei Volants sanft bis zu den Knöcheln hinunter. Carmen­ hatte sich für das Kleid ihrer Tochter keinen teuren Stoff leisten können, aber durch all die Liebe, die sie in das Projekt ­gesteckt hatte, ein wahres Wunder vollbracht. Die Schwielen an ihren Händen zeugten davon, seit wie vielen Jahren sie schon mit Nadel und Faden arbeitete.

Laia drückte ihrer Mutter einen schmatzenden Kuss auf die schon faltige Wange und ging zurück in ihr Zimmer, um sich die Haare zu kämmen. Von dort aus rief sie: »Warum kommen Sie denn nicht mit, Mutter? Das wird bestimmt sehr vergnüglich. Marias Mutter schließt sich uns auch oft an und hat immer viel Spaß. Sie ist ja auch allein, genau wie Sie.«

Carmen hatte längst wieder nach ihrer Nadel gegriffen und nähte am Kragen des Kleidungsstücks auf ihrem Schoß weiter. Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich dieses Kleid für SenyoraNatalia fertig machen muss, ihr Sohn heiratet nächste Woche. Heute ist die letzte Anprobe.«

Vor dem Spiegel kniff sich Laia in die Wangen, damit sie ein bisschen Farbe bekamen. »Ich weiß wirklich nicht, warum Sie immer noch so viel zu Hause nähen, Mutter. Sie haben doch eine gute Arbeitsstelle, und ich jetzt auch.«

Darauf erwiderte Carmen nichts. Was sollte sie auch sagen? Ihre Tochter stand einfach nicht mit beiden Beinen fest auf der Erde. Wann würde sie wohl erwachsen werden?

Endlich war Laia fertig und trat aus ihrem Zimmer. »Aber Mutter, heute ist doch Sonntag. Denken Sie doch morgen wieder an die Arbeit. Wollen Sie sich nicht einmal amüsieren?«

Carmen schüttelte den Kopf. »Na, los, jetzt geh schon, Laieta­. Und um acht Uhr bist du wieder zu Hause, morgen musst du früh raus!«

Laia lebte in der Carrer de Piquer, im Stadtviertel Poble Sec, das schon immer ihr Zuhause gewesen war. Als sie die Treppe zur Straße hinunterlief und dabei immer zwei Stufen auf einmal nahm, hatte sich über ihre sonst so fröhlichen Augen ein leichter Schatten gelegt. Warum nur ging ihre Mutter kaum aus dem Haus? Sie schien es geradezu darauf anzulegen, früh alt zu werden. Ihre Mutter war immer dunkel angezogen und widmete ihr ganzes Leben der Arbeit und dem Gedenken an ihren vor vielen Jahren verstorbenen Ehemann. Laia hatte noch nie gesehen, dass Carmen irgendetwas zum Spaß machte. Sie selbst war da ganz anders. Ihrer Meinung nach musste man das Leben in vollen Zügen genießen und jede Sekunde voll ausschöpfen. Laia war sich ganz sicher, dass sie nie eine so verbitterte Frau wie ihre Mutter werden würde, was auch geschah. Niemals!

Als sie auf die Straße hinaustrat, warteten dort schon Neus und Maria auf sie. Immer und immer wieder musste sie sich vor ihnen im Kreis drehen, damit die beiden ihr neues Kleid bewundern konnten. Durch die begeisterten Ausrufe ihrer Freundinnen waren die traurigen Gedanken schnell vergessen. Die drei vor J­ugend nur so strotzenden Mädchen schlangen einander die Arme um die Taille und liefen von der Carrer de Piquer aus den Camí de l’Esparver de Montjuïc entlang, der sie zur Pla del Gurugú führen würde. Dort verbrachten die Arbeiter der Stadt den Sonntag, ließen sich auf den Bänken nieder, um etwas zu essen oder zu trinken, und für die jungen Leute wurde zum Tanz aufgespielt. Die Kinder liefen unbehelligt herum, und die jungen Mädchen träumten davon, von einem Burschen aufgefordert und herumgewirbelt zu werden, in den sie sich verlieben konnten. Die meisten tanzten dann aber doch mit ihren Freundinnen. Laia nicht, ihr fehlte es nie an männlichen Tanzpartnern, und seit einigen Sonntagen tanzte sie mit einem, der wirklich etwas hermachte. Er sah immer aus wie aus dem Ei gepellt und roch nach Rasierwasser. Ob er heute wohl auch wieder da sein würde?

Als ihre Tochter das Haus verlassen hatte, ließ Carmen ihre Handarbeit sinken und trat auf den Balkon, um ihr unten auf der Straße hinterherzusehen. Jetzt, zum Sommeranfang, schien noch immer der Geruch nach Feuer und Asche von den Johannisfeuern in der Luft zu liegen. Bevor sie wieder hineinging, schnupperte Carmen noch kurz an den Geranien, deren Duft sie an ihre Heimat erinnerte, und zupfte hier und da ein trockenes Blatt ab. Zurück in der Wohnstube nahm sie ihr Hochzeitsfoto von der Kommode und strich mit dem Daumen liebevoll über Valentís Gesicht. Wie elegant er damals ausgesehen hatte! Mit dem Rahmen in der Hand setzte sie sich schließlich hin, um mit ihrem Ehemann zu plaudern. Zum Glück hatte Laia keine Ahnung, dass sie mit dem Bild ihres verstorbenen Mannes sprach, wenn sie ­allein war. Sie würde sie sonst wohl für verrückt erklären. Aber eigentlich war Carmen das egal, ihr waren diese gemeinsamen Momente einfach wichtig.

»Wie hübsch unser Mädchen ist, Valentí! Es gibt doch nichts Schöneres als die Jugend, und unsere Laia ist einfach unvergleichlich. Allerdings weiß ich wirklich nicht, nach wem die Kleine kommt. So gut ausgesehen haben wir ja beide nicht.«

Ihre von Fältchen umgebenen Augen starrten einen Moment ins Leere und wurden dabei immer sanfter und liebevoller. Dann sah Carmen wieder die Fotografie an, und ihr Lächeln wurde schelmisch. »Nein, Valentí, jetzt sei mal nicht eingeschnappt, du warst wirklich ein schöner Mann. Allerdings weiß ich immer noch nicht, was du eigentlich in mir gesehen hast, der kleinen Schneiderin vom Dorf. Zum Glück kommt unser Mädchen nach dir.«

Carmen stellte den Rahmen auf den Tisch vor sich und nahm erneut ihr Nähzeug zur Hand. Als sie den Kragen festgenäht hatte, strich sie das Kleid glatt, um es im Ganzen zu betrachten. Anschließend zog sie es der alten Schneiderpuppe an.

»Hast du gehört, Valentí? Da fragt sie mich, ob ich mich nicht mal amüsieren will!«, murmelte sie mit einem Mund voller Stecknadeln. »Wie soll man sich denn vergnügen, wenn man Tag und Nacht arbeiten muss, um über die Runden zu kommen?« Carmen senkte den Blick und konzentrierte sich auf das Kleid, an dem sie arbeitete. Dann trat sie ein paar Schritte zurück und betrachtete es mit geübtem Blick. »Und davon ganz abgesehen – den Schmerz kann nichts überdecken, Valentí. Das geht einfach nicht. Das Leben ist eben nicht bunt und fröhlich, wenn man selbst so traurig ist.«

Carmen war nie zur Schule gegangen, kannte die Geschichte ihres Heimatortes Alcaudete jedoch gut. Er lag in der Sierra de Orbes, im Südwesten der Provinz Jaén …

»Der Palast wurde einst von den Mauren aus Granada angegriffen«, hatte ihre Mutter erklärt, während sie ihrem Töchterchen das Nähen beibrachte. Carmen war noch so klein gewesen, dass sie kaum selbst einen Faden einfädeln konnte.

»Ist das lange her, Mutter?«

»Oh, und ob! Das war vor vielen, vielen Jahren. Damals kam der Maurenkönig mit einer riesigen Armee von Soldaten zu Pferd und zu Fuß, mit Kanonen und anderem Kriegsgerät.«

Gebannt sah die kleine Carmen zu ihrer Mutter auf. Das Nähzeug in ihrer Hand war plötzlich vergessen.

»Wo heute das Kreuz steht, hat einst der Maurenherrscher sein Zelt aufgeschlagen. Seine Mannen griffen die Festung dreimal an und wurden dreimal abgewehrt, dann ließ er einen unterirdischen Gang graben, um den Palast im Herzen zu treffen. Es war ein furchtbarer Kampf, und bald türmten sich so viele tote Angreifer, dass kein Vorankommen mehr war. Die Schlacht dauerte zwei Tage.«

»Aber es haben doch die Christen gewonnen, oder, Mutter?«

»Natürlich. Und die Stelle, an der der Maurenkönig sein Lager hatte, nennt man heute Humilladero.«

Carmen schloss die Augen und konnte nach all den Jahren noch immer die Stimme ihrer Mutter mit dem sanften Akzent des Südens hören, den sie selbst inzwischen verloren hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie die Nadel über den Stoff huschte, wenn ihre Mutter rasch Stich um Stich nähte. Und als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich an die Hochsommerhitze und die unbarmherzig brennende Sonne an jenem Tag, als man ihre Mutter auf dem kleinen Friedhof von Alcaudete begraben hatte.

Carmen war allein zurückgeblieben, ihr Vater war ein paar Jahre zuvor gestorben, und ihre Mutter hatte ihn nicht lange überlebt. Carmen besaß nichts, ihr gehörte nicht einmal das Haus, in dem sie geboren war. Mit zwanzig Jahren hatte sie einzig eine Tante in Barcelona, die sie aber nicht persönlich kannte. Und zu ihr machte Carmen sich dann auf den Weg.

Tante Rosa war Witwe und älter als Carmens Mutter. Der Himmel schien Tante Rosa die dünne, ein wenig zerbrechlich wirkende Nichte geschickt zu haben, denn seit dem Auszug ihres einzigen Sohnes vor vielen Jahren war sie allein. Sie empfing Carmen mit offenen Armen und behandelte sie wie eine Tochter. Und Carmen tat auch in Barcelona das Einzige, was sie konnte: Sie nähte.

Natürlich fehlte ihr eine geregelte Ausbildung, aber sie war zielstrebig und liebte, was sie tat. Schnell sprach sich unter ­Rosas Nachbarinnen und Freundinnen herum, was für wundervolle Kreationen ihre Nichte zauberte, sodass Carmen sich bald zum Nähen bei einigen von ihnen einfand und auch Aufträge nach Hause mitnahm.

Tante Rosa war schlau wie ein Fuchs und setzte auf Carmen. Ihr war schnell klar, dass ihre Nichte als Schneiderin großes Talent­ hatte, dieser Rohdiamant aber noch geschliffen werden musste. Ihr erstes selbstverdientes Geld hatte Carmen brav ­ihrer Tante übergeben, und die meldete sie damit in der Schule von Carme Martí Missé in der Carrer dels Banys Nous an, wo nach dem bekannten Martí-System gelehrt wurde.

Dort verbesserte Carmen ihre Zuschnitttechnik und lernte viel über die Arbeit mit verschiedenen Stoffarten. Mit dem Unterricht, dem Nähen und den Anproben mit Kundinnen war die junge Frau durchgehend beschäftigt und hatte kaum mehr eine freie Minute. Sie ging nicht wie Gleichaltrige aus, um sich zu vergnügen, und hatte es mit ihrer ruhigen, verschlossenen Art in Barcelona nicht leicht, Freundinnen zu finden.

Die Zeit verging wie im Flug, und Carmen baute sich während der Lehrjahre im Stadtviertel ihrer Tante, Poble Sec, eine treue Klientel auf. Rosa war stolz auf den Fortschritt ihrer Nichte und richtete für sie in ihrer Wohnung in der Carrer Poeta Cabanyes ein Zimmer als Nähstube ein. Dort hatte Carmen alles Nötige: ­einen großen Tisch zum Zuschneiden und eine gebrauchte Singer-­Nähmaschine, die sie später durch eine mühsam abbezahlte neue ersetzen würde, ein Tischchen mit Zeitschriften, eine Schneiderpuppe aus Weidenruten. Von nun an fanden sich die Kundinnen zur Anprobe dort ein, und Carmen stellte in Zeiten mit viel ­Arbeit sogar eine Gehilfin zur Unterstützung ein.

Sie arbeitete hart, es fehlte ihr nie an Aufträgen, und mit dem Verdienten kam sie gut über die Runden. Den Großteil ihrer Einnahmen übergab sie ihrer Tante und behielt für sich nur das ­Nötigste. Tante Rosa, die gute Seele, legte es für sie als Aussteuer zurück, aber mit ihren siebenundzwanzig Jahren dachte Carmen noch längst nicht ans Heiraten. Bis sie Valentí begegnete.

Wenn Carmen für die Kleider ihrer Kundinnen Seidenbänder oder Posamenten kaufen musste, tat sie das meistens in den uralten Straßen des Call-Viertels von Barcelona, in Geschäften wie Fany, Roch oder Dotti. In Letzterem lernte sie an einem leuchtenden Herbstmorgen, als die Dächer der Stadt in der Sonne glänzten, Valentí Calvet kennen. Diesen Tag würde sie niemals ver­gessen.

Valentí war Anfang dreißig, ein sympathischer junger Mann mit optimistischem Blick, attraktiv, dabei offen und zugänglich. Als Vertreter einer Kurzwarenfirma war er mit seinem Köfferchen voller Muster in ganz Katalonien unterwegs, und aus seinen Augen sprach ungetrübte Lebensfreude.

Als Carmen bei Dotti zur Tür hereinkam, war sie die einzige Kundin. Außer ihr befand sich im Laden nur noch dieser junge Mann, der einen offenen Koffer auf den Tresen gestellt hatte, übertrieben gestikulierte und mit tänzelndem Akzent einen ­wahren Wortschwall auf den Angestellten niedergehen ließ.

Carmen wartete darauf, dass er fertig wurde, und ließ derweil den Blick über die Regale voller Schachteln wandern, die wahre Schätze bargen: Baumwollgarn zum Häkeln oder Stricken, Nadeln und Knöpfe, Fingerhüte, Seidenbänder und alle möglichen anderen Knäuel, Rollen und Spulen. Vor ihr erstreckte sich eine ganze Welt aus Formen und Farben. Als der Verkäufer die Kundin bemerkte, wimmelte er den Vertreter ab, der daraufhin die Muster in seinem Koffer ordnete und sich dann zu Carmen umdrehte. Ihre Blicke trafen sich, auf den Lippen beider zeigte sich ein Lächeln, und Carmen hatte zum ersten Mal in ihrem Leben Schmetterlinge im Bauch.

Damit war die Sache besiegelt.

Zur großen Freude von Tante Rosa heirateten Carmen und Valentí ein Jahr später – warum noch länger warten, schließlich waren beide nicht mehr die Jüngsten. Wie alle Paare, die ein gemeinsames Leben anfangen, blickten sie voller Träume und Ideen in die Zukunft. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit ihnen. Bereits ein halbes Jahr nach der Hochzeit starb Tante Rosa völlig überraschend nach einem Herzinfarkt, und Carmens Vetter forderte die Wohnung für sich ein.

Deshalb musste sich das Paar etwas Neues suchen. Sie wollten auf jeden Fall im gleichen Viertel bleiben, weil Carmen an der gewohnten Umgebung hing und ihre Kundinnen nicht verlieren wollte. Die einzige bezahlbare Wohnung, die sie fanden, lag in der Carrer de Piquer und hatte eine Stube und ein Schlafzimmer zur Straße hin. Die Küche und ein kleineres Zimmer gingen hinten auf den Lichtschacht hinaus. Das dunkle Zimmer eignete sich nicht für die Arbeit der jungen Schneiderin, und sie brauchten den Raum ohnehin für das Kind, das sie erwarteten. Deshalb brachte Carmen den Zuschneidetisch, die Modezeitschriften und die Schneiderpuppe in der Wohnstube unter. Jetzt würde sie eben dort nähen und zur Anprobe wieder zu ihren Kundinnen nach Hause gehen.

Im Sommer 1900 wurde ihre Tochter geboren, und Valentí wollte sie gern nach seiner Mutter Laia benennen. Am Anfang fand Carmen den Namen ein wenig merkwürdig, sie konnte ihrem heiß geliebten Ehemann den Wunsch jedoch nicht abschlagen.

Zusammen mit Valentí und Laieta verlebte Carmen die beiden glücklichsten Jahre ihres Lebens. Nur zwei Jahre, wie schnell sie verstrichen waren! Sie schien bloß einen kurzen Blick auf das Glück erhascht zu haben, da wurde es ihr schon wieder entrissen. Eines Tages brach Valentí mit seinem Köfferchen nach Sabadell auf und kehrte nicht mehr zurück. Genau wie Tante Rosa verstarb er völlig unvorhergesehen, und auch bei ihm war die Rede von einem Infarkt. Carmen wollte jedoch nie glauben, dass das junge Herz in seiner Brust einfach zu schlagen aufgehört hatte.

Die so plötzliche und für Carmen unerklärliche Abwesenheit ihres Mannes tauchte ihre Welt in Dunkelheit, sie fühlte sich, als hätte sie eine Handvoll Stecknadeln verschluckt. Aber sie hatte eine Tochter und musste irgendwie weitermachen, um jeden Preis. Jahrelang klapperte sie Woche um Woche ihre Kundinnen ab und nahm jeden Auftrag an, auch wenn sie dafür ihre Nachtruhe ­opfern musste. Laia sollte es an nichts fehlen, und Carmen war schließlich daran gewöhnt, in harten Zeiten nach vorn zu ­blicken. Im Jahr 1909 erzählte ihr dann eine Kundin bei der Anprobe, dass das Bekleidungsgeschäft Santa Eulalia an der Pla de la Boqueria eine Abteilung für Damenkonfektion eröffnen würde.

»Himmel, hoffentlich verlierst du dadurch keine Aufträge, Carmen«, sagte die Kundin und heuchelte Besorgnis, die sie gar nicht verspürte.

Carmen war versucht, sie mit der Stecknadel zu piken, am Ende tat sie aber etwas Sinnvolleres und bewarb sich bei Santa Eulalia.

Und dort blieb sie dann.

4

Das Sonnenlicht streifte bereits die Geländer der Dachterrassen, und die Schwalben zwitscherten laut, als Carmen und ihre Tochter auf dem Weg zu Santa Eulalia die Rambla überquerten. Zu dieser frühen Stunde war die Luft noch frisch und half der verschlafenen Laia beim Wachwerden. Glänzend rekelte sich die Stadt in der Sonne, Meer und Himmel zeigten sich strahlend blau. Es herrschte viel Verkehr, Kutschen und Straßenbahnen drängten sich auf den Straßen, und auch im Inneren des Modehauses summte es bereits wie in einem Bienenstock, obgleich es von außen noch zu schlafen schien.

Mutter und Tochter betraten das Geschäft und verabschiedeten sich voneinander. Dann ging Carmen in den zweiten Stock ­hinauf, wo sich die Schneiderwerkstätten befanden, jeder Raum mit einer eigenen Nummer. Sie stand in Saal drei einem kleinen Heer von Lehrmädchen vor. Alle nahmen ihre Plätze ein, und dann führten die Lehrlinge das erste Ritual des Tages aus: Mit präzisen, schon Tausende Male wiederholten Bewegungen entfernten sie die großen Planen, die nachts die Ware schützten. Das Ganze ging mit viel Lärmen und Getöse vor sich, dazwischen immer wieder ein »Vooorsicht!«-Ruf, mit dem die Kollegen gewarnt wurden.

Nun zeigten die Regale die während der Nacht verwahrten Schätze, ganz oben die leichten Seidenstoffe, durchscheinend wie das Meer, die geduldig darauf warteten, von den erfahrenen Händen der Angestellten zum Leben erweckt zu werden. In der Mitte lagen die dickeren Materialien wie Brokat und Damast, außerdem Samt in unzähligen Farben. Auf den unteren Regalbrettern ruhten Wollstoffe wie Tweed, Merino und Cheviot in neutralen Tönen, auf denen weiße Etiketten leuchteten. In diesem Reigen­ aus Luxus und Sinnlichkeit schienen einem selbst die dicken Wollballen verführerisch zuzuzwinkern.

Nun begannen Lehrjungen und -mädchen, die Ladentische aus Mahagoni zu polieren, bis sie glänzten, während die Verkäufer ihre Posten einnahmen und in der Ferne das Klappern einer schweren Schreibmaschine erklang.